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Quelle: Beiträge zur romanischen Philologie 27, 1988, S. 123–134.

Herr Palomar und die Komplexität der Welt

Bemerkungen zu Italo Calvinos Spätwerk

Italo Calvino ist stets ein in hohem Maße unvorhersehbarer Autor gewesen. Man erinnere sich etwa der zeitlichen Nachbarschaft von Erzählungen, die in der Art ihres Wirklichkeitsbezugs so wenig vergleichbar sind wie Il barone rampante und La speculazione edilizia [1] , oder an den Anfang von Se una notte d’inverno un viaggiatore. Dort spricht sogar der Text selber von seiner Unvorhersehbarkeit, indem er den Leser ironisch auf einen offenbar allgemein bekannten Charakterzug des Autors Calvino hinweist: „[...] chi ha mai detto che questo autore ha un accento inconfondibile? Anzi, si sa che è un autore che cambia molto da libro a libro. E proprio in questi cambiamenti si riconosce che è lui“ [2] .
Konnte derart schon Se una notte beanspruchen, neue Verfahrensweisen in das bis dahin vertraute Calvinosche Repertoire einzuführen („Qui però sembra che non c’entri proprio niente con tutto il resto che ha scritto, almeno a quanto tu ricordi“) [3] , so wiederholt und vertieft sich ein solches „cambiamento“ mit dem auf Se una notte folgenden Band Palomar. Nach der metaliterarischen Bestandsaufnahme des Romans über die Romane [4] bietet Calvinos letztes vollendetes Buch eine Sammlung kurzer Prosastücke, die unter manchen Aspekten zu einem traditionelleren Referentialitätstyp zurückkehren. In ihm wird nicht mehr vorrangig die Wahrnehmung von Literatur, also von vermittelter Wirklichkeit, problematisiert, sondern durchaus wieder die Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst. So präsentiert Palomar im Vergleich zu der gewissermaßen ‚manieristischen‘ Autoreflexivität des vorausgegangenen Buchs eine Oberfläche von geradezu ‚klassischem‘ Maß und (relativ) unvermittelter Anschaulichkeit. Unter dieser Oberfläche sind auf den zweiten Blick jedoch bald Widersprüche – etwa zwischen der Serialität der Episodenstruktur und den Andeutungen eines autobiografischen Zusammenhangs, zwischen alltäglichem Anlaß und universaler, ja kosmischer Signifikanz verschiedener Skizzen – zu bemerken, welche womöglich noch tiefer irritieren als die manifesten Komplikationen früherer Texte.
Um die verborgenen Paradoxien des Buches Palomar näher zu charakterisieren, beginnen wir am besten bei jener, die den Episoden eine kontinuierliche Spannung mitteilt: Gemeint ist der sonderbar widersprüchliche Status ihres Protagonisten. Einerseits ist er nämlich der Inbegriff dessen, was man eine Kunst- oder Textfigur nennen könnte. Seinen Namen, der dem Buch zugleich den Titel gibt, teilt er mit ‚einem berühmten Observatorium‘ (vgl. S. 39) [5] : so steht er von vornherein in einer symbolischen Beziehung zur Oberservation, zur Astronomie und zum Kosmos. Unverkennbar ist auch eine gewisse Förmlichkeit, mit der sein Autor ihn behandelt. Meistens heißt der Protagonist nicht einfach „Palomar“, sondern „il signor Palomar“: im ersten Stück Lettura di un’onda sogar ausnahmslos, als scheue der Autor davor zurück, eine allzu intime Vertrautheit mit dem traurigen, doch zweifelsohne intellektuellen Helden erkennen zu lassen.
Solche Förmlichkeit der Namensnennung ist indes nur Teil einer weiterreichenden Formelhaftigkeit, welche den Situationen anhaftet, denen Herr Palomar sich aussetzt. Sie erscheinen formelhaft insofern, als sie immer wieder die gleiche Erfahrungsfigur variieren, die ungefähr folgendermaßen resümiert werden kann: Herr Palomar entschließt sich zu einem Projekt oder zu einem bestimmten Verhalten, um bei der Durchführung jeweils die Erfahrung von unauflöslichen Aporien, von Enttäuschungen und Niederlagen zu machen. Derart wird Palomar zum Akteur, oft auch zum bloßen Objekt einer Episodenserie, welche in ihrem Register melancholischer Komik manchmal Assoziationen an Flauberts Bouvard et Pécuchet oder an die Unglücksfälle Charlie Chaplins erlaubt. Unterstrichen wird der Charakter paradigmatischer Reihung nicht zuletzt durch die Rekurrenz einiger auffälliger Wendungen wie etwa der Versicherung, Palomar habe sich ‚entschieden‘ („deciso“), ‚von nun an‘ („d’ora in poi“ oder „d’ora in avanti“) einem wohlüberlegten Plan zu folgen. Beispielsweise heißt es, als Palomar vergeblich nach Erklärungen für das Verhalten der spätherbstlichen Schwärme von Zugvögeln sucht: „Stando cosí le cose, il signor Palomar ha deciso di limitarsi a guardare, a fissare nei minimi dettagli il poco che riesce a vedere“ (S. 63f.). Am Beginn des Stückes Il mondo guarda il mondo steht der Satz: „In seguito a una serie di disavventure intellettuali che non meritano d’essere ricordate, il signor Palomar ha deciso che la sua principale attività sarà guardare le cose dal di fuori“ (S. 115). Darauf folgt wenig später eine Art Steigerung: „Il signor Palomar ha deciso che d’ora in avanti raddoppierà la sua attenzione“ (ebd.), und den Anfang der letzten Episode Come imparare a essere morto bildet der erstaunliche Satz: „Il signor Palomar decide che d’ora in poi farà come se fosse morto, per vedere come va il mondo senza di lui“ (S. 123).
Andererseits beziehen sich auf Herrn Palomar, der so offenkundig (ähnlich wie Flauberts dilettantische Enzyklopädisten) eine literarische ‚Funktion‘ im Dienst der Episodenstruktur des Buches darstellt, aber auch Mitteilungen, welche hinter seinen episodischen Auftritten die Geschichte einer biographischen Entwicklung andeuten. Die vielleicht prägnanteste habe ich bereits zitiert: Sie erklärt das Ethos äußerlicher Betrachtung, das Palomar ‚neuerdings‘ prägt, als Folge einer ,Serie intellektueller Unglücksfälle, die nicht wert sind, in Erinnerung gebracht zu werden‘. Auf jeden Fall handelt es sich um ein Ethos, zu dem Palomar sich erst in fortgeschrittenem Alter durchgerungen hat; denn wiederholte Rückblicke in die Jugendzeit zeigen eine ganz andere Gestalt. Wir erfahren, daß Herr Palomar früher eine Moral heroischer Anspannung und Selbstüberforderung vertrat; z. B. ist die Rede von einer „morale che in gioventú il signor Palomar aveva voluto far sua: cercare sempre di fare qualcosa un po’ al di là dei propri mezzi“ (S. 61). Diese Moral entsprach dem Geiste ‚jugendlicher Ungeduld‘, der Palomar lange daran hinderte, seine Aufmerksamkeit den Dingen in ihrem konkreten Dasein zuzuwenden und die Abenteuer der Beobachtung zu suchen. Selbst im Alter, das heißt: im Moment des Berichts, gilt die Überwindung der ‚jugendlichen Ungeduld‘ als höchst prekär. Einmal wird – im Tone des Bedauerns – festgehalten, Palomar sei „arrivato troppo tardi a liberarsi dalle impazienze giovanili e a capire (solo in teoria) che l’unica salvezza è nell’applicarsi alle cose che ci sono“ (S. 54); ein anderes Mal: „A tratti s’illude d’essersi liberato almeno dall’impazienza che l’ha accompagnato tutta la vita al vedere gli altri sbagliare in tutte le cose che fanno e al pensare che anche lui al loro posto sbaglierebbe non meno di loro ma comunque se ne renderebbe conto“ (S. 125f.).
So erhält die Textfigur, welche die Serie zusammenhält, gelegentlich überraschende Züge einer biographischen Identität. Wie ansonsten diverse Informationen über Familienverhältnisse, Wohnorte und Reisen nahelegen, kommt man bei diesem Bild kaum umhin, an ein Porträt des Autors Calvino selbst zu denken. Das heißt: die biographische Identität präzisiert sich in vielen Belangen als eine autobiographische. Um so schärfer wirkt dann freilich der Widerspruch, der das Autobiographische von jenen konträren Zügen scheidet, welche die Figur Palomars gewissermaßen auf Distanz halten, indem sie an ihr eine bloße Allegorie hervorkehren. Ist Palomar zum einen gleichsam Calvinos Statthalter, zum anderen jedoch der Typus einer Serienfigur, muß es mit der autobiographischen Transparenz, die man ihm zusprechen kann, wohl eine besondere Bewandtnis haben. Offensichtlich soll sie nicht in erster Linie auf die lebensgeschichtlichen Gegebenheiten verweisen, die dem Aspekt der Serienfigur fremd bleiben. Vielmehr verrät die ausgeprägt textliche Funktionalität der Palomar-Gestalt, daß die häufigen Erwähnungen eines ,moralistischen‘ Abstands zwischen Alter und Jugend etwas anderes meinen: weniger die reale Entwicklung der Autorenbiographie als – spezifischer – die literarisch-ideologische Differenz von Calvinos späten und frühen Texten. Betroffen ist folglich ein Phänomen, das man (terminologische Umständlichkeiten nicht scheuend) mit Brian T. Fitch ,Intra-Intertextualität‘ nennen könnte [6] .
Demnach signalisiert die wiederholte Rückschau auf Palomars Mentalität in der Jugend, oder genereller: in vergangenen Lebensstadien, daß dieser späte Text eine bewußte und immer wieder bewußt gemachte Beziehung zu den früheren Texten unterhält. Um den eigentümlichen Charakter der Beziehung zu verdeutlichen, wenden wir uns nun jener sonderbar konstanten Erfahrungsfigur zu, welche von den Episoden – wie gesagt – kontinuierlich erneuert wird. Ihre Grundgestalt ist in exemplarischer Weise bereits der Episode Lettura di un’onda zu entnehmen, die das Buch eröffnet. Herr Palomar steht am Meeresstrand und betrachtet eine Welle. Dabei kommt es dem Autor darauf an, die Aktivität des „guardare un’onda“ scharf von der ebenfalls vorstellbaren Haltung einer selbstversunkenen „contemplazione delle onde“ zu unterscheiden: „Non che egli sia assorto nella contemplazione delle onde. Non è assorto, perchè sa bene quello che fa: vuole guardare un’onda e la guarda“ (S. 5). Auch die Betrachtung der Welle ist also eine „operazione“, zu der Palomar sich bewußt entschlossen hat: nicht eine Hingabe an die Natur, sondern planmäßige Beobachtung, sozusagen ein Beobachtungsexperiment. Daß dies Experiment scheitert, habe ich beim einleitenden Resümee der Regelmäßigkeiten des Buchs schon angedeutet. Tatsächlich erweist es sich als überaus schwierig, eine Welle von der anderen zu trennen oder die Störungen zu beseitigen, die durch die Rückströmung oder durch seitwärts einfallende Wellen entstehen. Am Ende sehen wir deshalb, wie Herr Palomar unverrichteter, oder besser: unbeobachteter Dinge am Strand entlang davonschreitet: „coi nervi tesi com’era arrivato e ancor piú insicuro di tutto“ (S. 10).
Einen solchen Ausdruck der Enttäuschung über das Mißlingen einer Perzeption, die nach Genauigkeit strebte, mag man für übertrieben halten. Immerhin gibt die Übertriebenheit der Reaktion aber zu erkennen, daß sich hinter Palomars Beobachtungsexperiment eine umfassendere und grundsätzlichere Absicht verbirgt. Wenn Herr Palomar für jeden Perzeptionsakt, um ‚vage Empfindungen zu vermeiden‘, ein „oggetto limitato e preciso“ wählt (vgl. S. 5), hat das ein Motiv, das durch Palomars prekäre Stellung in der und zur Welt begründet wird:
Uomo nervoso che vive in un mondo frenetico e congestionato, il signor Palomar tende a ridurre le proprie relazioni col mondo esterno e per difendersi dalla nevrastenia generale cerca quanto piú puòdi tenere le sue sensazioni sotto controllo (S. 6).
Dem Versuch, die eigenen ,Empfindungen unter Kontrolle zu halten‘, muß – nach außen gewendet – der Versuch korrespondieren, ,die Komplexität der Welt zu beherrschen‘, und eben diesem Ziel könnte, wie einmal vermutet wird, auch die „operazione visiva“ der ,Lektüre einer Welle‘ dienlich sein: ,,[...] forse potrebbe essere la chiave per padroneggiare la complessità del mondo riducendola al meccanismo piú semplice“ (S. 8) [7] .
Damit ist nun in der Tat das Pathos erklärt, mit dem sich die Enttäuschung über den Mißerfolg der Perzeption äußert; denn bevor Palomar die ,Geduld verliert‘, lautete das Ziel, das die ,zweite Phase der Operation‘ („seconda fase dell’operazione“) nach der ,Lektüre‘ der Welle verfolgen sollte: „estendere questa conoscenza all’intero universo“ (S. 10). Worum es bei Palomars Experimenten geht, ist jeweils eine Probe auf die Möglichkeit, die Welt – obwohl nur in kleinsten Ausschnitten – durch exakte Wahrnehmung zu ordnen und verstehbar zu machen. Daher durchzieht das Buch die ständig erneute Beschwörung eines „modello“, eines „disegno“ oder einer „costante“, welche der „realtà mal padroneggiabile“ (S. 113) abzugewinnen oder gegen sie auszuspielen wären. Zentrale Bedeutung gewinnt solche Suche nach Ordnungen des Inneren und des Äußeren natürlich in Stücken wie Il modello dei modelli;doch prägt sie auch unscheinbare Episoden, zum Beispiel die Betrachtung der Giraffen, die Palomar faszinieren, weil sie in ihren unharmonischen Bewegungen eine geheime Harmonie zweiten Grades zu entwickeln scheinen, „una proporzione interna che lega tra loro le piú vistose sproporzioni anatomiche“ (S. 81). Und so sieht Palomar in den Giraffen geradezu Sinnbilder des Chaos der Außen- und Innenwelt und erklärt sich sein Interesse, dem leise Hoffnungen beigemischt sind, mittels der folgenden Gründe:
Forse perché il mondo intorno a lui si muove in modo disarmonico ed egli spera sempre di scoprirvi un disegno, una costante. Forse perché lui stesso sente di procedere spinto da moti della mente non coordinati, che sembrano non aver niente a che fare l’uno con l’altro e che è sempre piú difficile far quadrare in un qualsiasi modello d’armonia interiore (S. 81).
Bezeichnend ist hier freilich, daß die Hoffnungen, welche die paradoxale Harmonie in der Disharmonie der Giraffen weckt, durch die Reflexion am Schluß des Stückes wieder weithin zurückgenommen werden. Die Entdeckung eines ‚Plans‘ oder einer ‚Konstante‘ bleibt eben eine bloß subjektive Hoffnung des Betrachters, und was die denkbaren ‚Modelle innerer Harmonie‘ anlangt, so zeigt sich, daß sie den Wirrwarr ‚nicht koordinierter‘ Impulse immer weniger zu fassen vermögen. Wo die Beherrschung der Komplexität der Welt als intellektuelles Projekt in Angriff genommen wird, fällt der Blick regelmäßig auf Palomars Ohnmacht, in welche auch die allerbesten Intentionen zu münden pflegen. So ist das Schlüsselwort, das in der ersten Episode die Absichten des Protagonisten bezeichnet, gleichzeitig und vor allem eine Art thematischer Propositio, die den schließlich universalen Bereich seines Scheiterns umschreibt.
Dabei kann sich Palomars Scheitern beim Versuch des „padroneggiare la complessità del mondo“ oder der „padronanza sulle proprie inclinazioni e azioni“ (vgl. S. 121) auf verschiedene Weise und in verschiedener Intensität vollziehen. Jedenfalls scheint es möglich, einige typische Konstellationen des Palomarschen Mißerfolgs zu skizzieren. Die erste und allgemeinste besteht wohl darin, daß ein Bemühen um die rechte Ordnung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Moral in unaufhebbaren Paradoxien oder Aporien endet. Ein Beispiel dafür ist etwa das im leichten Register der ‚Commedia all’italiana‘ gehaltene zweite Stück Il seno nudo. Beim einsamen Küstenspaziergang erblickt Herr Palomar den nackten Busen einer sich sonnenden jungen Frau und versucht, zu dem Anblick ein angemessenes, unbefangenes Verhältnis zu gewinnen. Indessen ist das leichter gedacht als getan; denn Unbefangenheit bezeugt – wie sich nach tieferer Überlegung herausstellt – weder ein höfliches Wegschauen noch forcierte Indifferenz noch gespannte Aufmerksamkeit. So macht sich Herr Palomar dann daran, im wiederholten Vorbeischreiten die bestmögliche Einstellung zu erproben. Doch just als er das Ideal erreicht zu haben meint: ein „incoraggiamento disinteressato“, ermutigenden Beifall ohne egoistische Hintergedanken sozusagen, springt die junge Frau auf, um ‚mit verärgertem Schulterzucken‘ davonzueilen, als gelte es, den ‚peinlichen Zudringlichkeiten eines Satyrs‘ zu entkommen. Darauf folgt der Schlußsatz, gewissermaßen die Subscriptio des Pictura-Teils im Emblem: „Il peso morto d’una tradizione di malcostume impedisce d’apprezzare nel loro giusto merito le intenzioni piú illuminate, conclude amaramente Palomar“ (S. 14). Oder mit anderen Worten: Palomar hat erfahren, daß in der geschichtlichen Welt, die ihre Traditionen und Traditionsreflexe hat, wirkliche Unbefangenheit von Betrachtung und Verhalten weder vorzustellen noch kommunikativ zu verwirklichen ist.
Ein anderes Beispiel wäre die Verwirrung der Gefühle, die Palomar beim Einkauf in einer Metzgerei, offenbar einer Pariser ‚Boucherie‘, überfällt. Nebenbei gesagt, erreichen Calvinos Beschreibungskünste, denen keine Nuance an Farben oder Konsistenzen entgeht, in dieser Szene (Il marmo e il sangue)eine solche Virtuosität, daß sie bei italienischen Kritikern gelegentlich die durchaus ambivalent empfundene Erinnerung an die „prosa d’arte“ oder auch „écriture artiste“ zumal des Fin de Siècle hervorgerufen haben [8] . Tatsächlich lädt das Stück zu einem spontanen Vergleich mit den Deskriptionen ähnlicher Auslagen und Ladeninterieurs in Zolas Le Ventre de Paris ein. Gerade dieser Vergleich läßt aber erkennen, daß die „écriture artiste“, die zum Beweis der Beschreibungsbravour um ihrer selbst willen tendiert, hier weit stärker die Sache des Naturalisten Zola ist, während sich Calvinos deskriptives Verfahren durch eine funktionale Ökonomie seiner Mittel auszeichnet. Bei Calvino erstellt die Beschreibung des Fleisches, der Messer und der Sägen nämlich nicht allein das Bild eines bestimmten Milieus, das Einkaufsstätte und Tempel, „sapienza macellatrice“ und „sapienza sacrificale“ verbindet. Mehr noch dient sie einer Einsicht, welche erneut die Komplikationen von Wahrnehmung und Empfindung betrifft. Erfaßt wird durch diese Einsicht jenes unauflösliche Gemisch von Lust und Erschrecken, das entsteht, wenn der Bürger als dankbarer Erbe die Gaben einer Kultur genießt und gleichzeitig den Anteil von Gewalt erkennt, den die Macht der Kultur als Zwang über die Natur immer schon voraussetzt. Und so wird sich Herr Palomar auch in der Boucherie eines Gefühls ohnmächtiger Perplexität bewußt; denn:
Un sentimento non esclude l’altro: lo stato d’animo di Palomar che fa la fila nella macelleria é insieme di gioia trattenuta e di timore, di desiderio e di rispetto, di preoccupazione egoistica e di compassione universale, lo stato d’animo che forse altri esprimono nella preghiera (S. 79).
Weitere Paradoxien, die elementar in der Natur der Dinge und der Zeichen liegen, werden durch die Episoden Dal terrazzo oder Serpenti e teschi pointiert. Von der Terasse schaut Herr Palomar auf seine Stadt (Rom), um deren ,wahre Form‘ zu begreifen, und lernt dabei folgende Aporie: „Solo dopo aver conosciuto la superficie delle cose [...] ci si può spingere a cercare quel che c’è sotto. Ma la superficie delle cose è inesauribile“ (S. 57). Vor den Ruinen von Tula erfährt Palomar, daß es mit dem Verständnis der Zeichen nicht besser bestellt ist. Interpretationen erweisen sich ihm hier als Ketten von Übersetzungen, unter denen keine eine abschließende Bedeutung annehmen kann. Deshalb sieht er ein, daß keine Interpretation die Wahrheit ergibt, und weiß doch zugleich: „Non interpretare è impossibile, come è impossibile trattenersi dal pensare“ (S. 100).
Zu diesen Paradoxien, die jede Erkenntnis begleiten, treten nun Erfahrungen, die das Ich des Erkennenden und Betrachtenden selbst zum Paradox oder mindestens zum Problem machen. In der einfachsten Form handelt es sich um Episoden, bei denen das beobachtende Subjekt, das nach moderner Doxa an seine konstitutive Bedeutung für das beobachtete Phänomen glaubt, auf den gewissermaßen kränkenden Gedanken kommt, daß die Phänomene auch ohne seine Beteiligung existieren. Mit solchen Offenbarungen der eigenen Irrelevanz wird Palomar in zwei Episoden konfrontiert, deren innere Zusammengehörigkeit durch das – sicher nicht zufällig entstandene – schriftstellerische Detail einer fast identischen Schlußformel zu belegen ist: Beide Male bemerkt Palomar, daß eine (hier visuelle) Erscheinung auf seine Perzeption nicht angewiesen ist, und ‚geht nach Hause‘. So endet z. B. Luna di pomeriggio in dem Moment, als der blasse und nur mit Mühe wahrzunehmende Mond des Nachmittags sich in den leuchtend evidenten Vollmond einer Winternacht verwandelt:
A questo punto, assicuratosi che la luna non ha piú bisogno di lui, il signor Palomar torna a casa (S. 37).
Ein ähnliches Ende nimmt das Stück La spada del sole,in dem Palomars Blick dem schwertförmigen Reflex der im Meer untergehenden Sonne zugewandt ist, von dem er als abendlicher Schwimmer gefesselt wird:
Ora tutte le tavole del surf sono state tirate a riva, e anche l’ultimo bagnante infreddolito – di nome Palomar – esce dall’acqua. Si è convinto che la spada esisterà anche senza di lui: finalmente s’asciuga con un telo di spugna e torna a casa (S. 20).
Dabei sind diesem Ende, das Palomar enttäuscht (oder erleichtert, doch jedenfalls seiner Relevanz entkleidet) nach Hause gehen läßt, Momente vorausgeschickt, die den Gedanken an die „spada [...] senza di lui“ zur Reflexion des „mondo senza di lui“ amplifizieren. Gemeint ist die Welt vor Palomars Geburt und nach Palomars Tod, dann die Welt vor der Existenz des menschlichen Auges und die blinde Welt, wie sie demnächst nach einer Katastrophe oder ‚langsamer Korrosion‘ zurückbleiben könnte, wenn es keine menschlichen Augen mehr gibt. Auch diese Vorstellung erscheint in Calvinos Spätwerk mehrfach variiert. Sie durchzieht das letzte Stück Come imparare a essere morto,in dem Palomar als Toter eine neue Beziehung zur Welt einüben möchte: „Prima, per mondo lui intendeva il mondo piú lui; adesso si tratta di lui piú il mondo senza lui“ (S. 124). Unmittelbar analog zur Episode des ‚Sonnenschwerts‘ sind Palomars Reaktionen im Reptilienzoo (L’ordine degli squamati),wo er befindet: „Al di là del vetro d’ogni gabbia c’è il mondo di prima dell’uomo, o di dopo, a dimostrare che il mondo dell’uomo non è eterno e non è l’unico“ (S. 87). Aus dem Reptilienzoo zieht sich Palomar deshalb auch mit offenkundigem Verdruß zurück, wie er vergeblich eine Vergleichbarkeit der Zeitdimensionen des Menschen mit jener der Krokodile (dem „tempo delle ere geologiche“ oder dem „lento raffreddarsi dei raggi del sole“) herzustellen sucht: „Il pensiero d’un tempo fuori della nostra esperienza è insostenibile. Palomar s’affretta a uscire dal padiglione dei rettili, che si può frequentare solo di tanto in tanto e di sfuggita“ (S. 89).
Radikalisiert wird die Irrelevanz des beobachtenden Subjekts, wenn das Ich sich überhaupt auflöst oder, genauer gesagt: selber als ein Sonderfall der Komplexität der Welt erweist. Diese extreme Wendung nehmen die „disavventure“ Palomars in zwei Episoden, die wiederum auffällige Ähnlichkeiten präsentieren und überdies nebeneinander stehen. Die eine, Il mondo guarda il mondo,stellt das Problem der Auswahl des Beobachtungswürdigen. Zunächst scheint es, als müsse solche Selektion dem Ich des Beobachters zugemutet werden. Darauf ergibt sich jedoch die Frage „Di chi sono gli occhi che guardano?“, und es setzt die Überlegung ein:
Di solito si pensa che l’io sia uno che sta affacciato ai propri occhi come al davanzale d’una finestra e guarda il mondo che si distende in tutta la sua vastità lí davanti a lui. Dunque: c’è una finestra che s’affaccia sul mondo. Di là c’è il mondo; e di qua? Sempre il mondo: cos’altro volete che ci sia? (S. 116).
Demnach verblaßt das Ich Palomars in dem Sinn, daß es nicht nur ohnmächtig, sondern nachgerade inexistent wird, ein bloßes substanzloses Medium, durch das die Welt die Welt betrachtet. So lautet jedenfalls die Antwort, die auf weitere Fragen erfolgt:
E lui, detto anche ,io‘, cioè il signor Palomar? Non è anche lui un pezzo di mondo che sta guardando un altro pezzo di mondo? Oppure, dato che c’è mondo di qua e mondo di là della finestra, forse l’io non è altro che la finestra attraverso la quale il mondo guarda il mondo (ebd.) [9] .
Wenn das Ich derart in der Komplexität der Welt verschwindet, wird verständlich, daß die ,kaum zu beherrschende Realität‘ („realtà mal padroneggiabile“), wie sie sich jenseits des Fensters ausdehnt, bei Palomar fortwirkt in der Unmöglichkeit einer ,Herrschaft über die eigenen Neigungen‘ („padronanza sulle proprie inclinazioni“). Die Vergeblichkeit der Anstrengung, die Innenwelt zu ordnen und zu beruhigen, bildet das Thema des nach Il mondo guarda il mondo situierten Stücks L’universo come specchio [10] .Es zeigt, wie Palomar auf der Suche nach einem harmonischen Verhältnis zur Außenwelt zu begreifen meint, daß er mit der Erkenntnis des Ich beginnen und das Teleskop nunmehr auf die eigene Seelenlandschaft richten muß. Mehrere rhetorische (und natürlich widersinnig a contrario formulierte) Fragen pointieren das Ergebnis der Introspektion, das allen Hoffnungen zum Trotz eben jenes Chaos darbietet, welches Palomar bereits aus der Erfahrung seines alltäglichen Lebens kennt:
Quel che appare al suo sguardo gli sembra d’averlo già visto tutti i giorni: vie piene di gente che ha fretta e si fa largo a gomitate, senza guardarsi in faccia, tra alte mura spigolose e scrostate. In fondo, il cielo stellato sprizza bagliori intermittenti come un meccanismo inceppato, che sussulta e cigola in tutte le sue giunture non oliate, avamposti d’un universo pericolante, contorto, senza requie come lui (S. 122).
Damit gilt für Palomars Beobachtungsexperimente, daß in ihnen nicht nur die Welt die Welt betrachtet, sondern – spezieller und deprimierender – das Chaos ein Chaos spiegelt.
An dieser Stelle, die – vor dem plötzlichen Sterben – den äußersten Punkt in Palomars Scheitern markiert, ist es nun angebracht, die ,intra-intertextuellen‘ Bezüge in Erinnerung zu bringen, von denen ich zu Beginn meiner Interpretation gesprochen habe. Wenn die Auflösung des Ich in Felder fragmentierter Realitäten durch die zitierten Verweise als eine Erkenntnis der späten Texte qualifiziert wird, kommt man nicht umhin, nach der Position zu fragen, welche die frühen Texte dem Ich gegenüber der Welt angetragen hatten, jene Texte also, die das Ethos verkündeten, dem Palomar während seiner Jugend huldigte: „cercare sempre di fare qualcosa un po’ al di là dei propri mezzi“. Dabei denkt man zurück an eine Moral und eine Thematik des „fare storia“, die so heroisch artikuliert worden waren, wie es im Kontext moderner Literatur zumal der Nachkriegszeit nur eben vertreten werden konnte: traktathaft explizit wie im neunten Kapitel von Il sentiero dei nidi di ragno oder märchenhaft allegorisch wie in den Abenteuern des Barone rampante,des positiven Helden, der in exemplarischer Weise vereinte, was immer seinem jungen Autor erstrebenswert schien – Engagement für eine emanzipierende Geschichte, Distanz gegenüber der etablierten Gesellschaft, vor allem (von den Bäumen herab) kritischer Einblick in deren Ordnungen und Gesetze [11] .
Diesem Heroismus des „fare storia“ mußte zwangsläufig ein Pathos der Erkenntnis und Selbstbehauptung entsprechen, das Palomars Zweifeln diametral entgegengesetzt war. Wie pointiert gegensätzlich es auf das Spätwerk bezogen werden kann, verraten mehr noch als die fiktionalen Texte der vierziger und fünfziger Jahre die sie begleitenden Essays, welche Calvino 1980, also zur Zeit der Arbeit an den Palomar-Episoden, in der Aufsatzsammlung Una pietra sopra erneut herausgegeben hat. Auch in den frühen Essays ist Calvinos besorgter Blick nämlich schon auf das Ich gerichtet, und auch dessen Irrelevanz, Auflösung und Verschwinden, wie sie Palomar schmerzlich erfährt, kommen hier bereits mit ähnlichem Nachdruck zur Sprache. So handelt z. B. ein Aufsatz von der „perdita dell’io, la calata nel mare dell’oggettività indifferenziata“, einem Phänomen, das Sartres La Nausée dargestellt habe [12] , oder mit fast identischer Formulierung befindet ein anderer Aufsatz: „Il nuovo individualismo approda a una perdita completa dell’individuo nel mare delle cose“ [13] .
Völlig verschieden von den Erfahrungen Palomars ist jedoch die argumentative Funktion, welche die Thematik der „perdita dell’io“ in den Essays Il mare dell’oggettività oder La sfida al labirinto besitzt. Der Verlust des Ich und mit ihm die Verunsicherung der Erkenntnis gelten in dieser Periode noch nicht als Ereignis, sondern lediglich als Gefahr: als eine fatale historische Tendenz, die um so stärkeren Einspruch provoziert, je bedrohlicher sie sich am Horizont der Geschichte abzeichnet. Derart beschreibt Calvino den Untergang des Ich im ‚Meer der Objektivität‘ zunächst nur, um kraft der Suggestivität dieser Beschreibung zum Widerstand gegen das von ihr Begriffene, die „soggezione biologica“ und die „soggezione industriale“, aufzurufen [14] . Solcher Widerstand richtet sich gegen das Ende der Praxis und der Geschichte („la fine del fare, della storia“) und plädiert – gestützt auf den oft beschworenen Wert des „distacco storico“ – für eine „letteratura della coscienza“ als progressive Alternative zu einer „letteratura dell’oggettività“ – eine Literatur, deren Symbol etwa in der ‚Resistenza‘ des Barone rampante zu sehen ist, das heißt: im „momento [...] della non accettazione della situazione data, dello scatto attivo e cosciente, della volontà di contrasto, della ostinazione senza illusioni“ [15] .
So fördert eben das Gefühl einer Gefährdung des Ich beim Calvino der „impazienze giovanili“ ein Pathos des Bewußtseins und der geschichtlichen Beharrung des Individuums. Seinen jugendlich emphatischsten (und zugleich bewegendsten) Ausdruck hat dies Pathos wohl in dem langen Vortrag Il midollo del leone von 1955 gefunden. Dort distanziert sich Calvino von bestimmten Texten Kafkas, Camus’, Sartres, T. S. Eliots und Hemingways, die er als „letteratura del negativo“ einstuft: „quella letteratura di processi, di stranieri, di nausee, di terre desolate e di morti nel pomeriggio“ [16] . Gegen sie wird Gramscis beziehungsweise Romain Rollands berühmtes Wort vom „pessimismo dell’intelligenza, ottimismo della volontà“ ausgespielt, das für ein illusionsloses und gleichwohl entschiedenes Engagement steht, an dem der junge Calvino vor allem den Aspekt der individuellen Entscheidung hervorhebt: „Intelligenza, volontà: già proporre questi termini vuol dire credere nell’individuo, rifiutare la sua dissoluzione“. Denn gerade wer gelernt habe, die Probleme der Geschichte als Probleme der Massen und der Klassen zu verstehen, könne heute auch lernen: „quanto vale la personalità individuale, quanto è in essa di decisivo, quanto in ogni momento l’individuo è arbitro di sé e degli altri“ [17] .
Erst wenn man zu diesen und ähnlichen Passagen des Essayisten Calvino zurückblättert (wie Calvino selber es bei der Abfassung von Palomar gewiß häufig getan hat), läßt sich ermessen, was die negative Erkenntnis bedeutet, welche Stücke wie Il mondo guarda il mondo oder L’universo come specchio vermitteln. Indem sie – zumal am Ende von L’universo come specchio – den Platz, den das luzide Ich ausfüllen sollte, durch eine chaotische Außenwelt besetzt zeigt, vollzieht sie so etwas wie eine Palinodie der Calvinoschen Anfänge. In ihr hat die Erfahrung von drei Jahrzehnten zum skeptischen Verzicht auf Überzeugungen geführt, die einst nicht nur Positionen, sondern Grundimpulse in Calvinos Schriften bildeten: die Selbständigkeit des Ich gegenüber der Welt, der Primat des Bewußtseins, die Kraft kritischer Distanz, die Möglichkeit einer Beherrschung der Geschichte [18] . Bei der Zurücknahme dieser Postulate demonstriert Palomar,wie die Komplexität der Welt, „la complessità del tutto“ (so schon 1959) [19] , vom Ich selbst Besitz ergriffen hat und wie Kontingenz, gleichsam die temporale Form von Komplexität, das Ich endgültig zerstört, als es sich im planmäßigen Anschreiben gegen den Tod eine Art Notwendigkeit zu geben versucht. So endet in den Schlußsätzen des Buches dann auch Palomars letztes Experiment mit einer nunmehr irreversiblen Niederlage: „Decide che si metterà a descrivere ogni istante della sua vita, e finché non li avrà descritti tutti non penserà piú d’essere morto. In quel momento muore“ (S. 128).
Dabei ist aufschlußreich, daß in den frühen Essays schon die positive Nennung der in Palomar enttäuschten Hoffnungen und Ideale dieselben Begriffe gebrauchte, mit denen später ihre Irrealität und Nichtrealisierbarkeit bezeichnet werden. So galt das ,Löwenmark‘, das in jeder authentischen Dichtung enthalten sein soll, beispielsweise als „un nutrimento per una morale rigorosa, per una padronanza della storia“ [20] . Statt der erhofften „padronanza della storia“ nehmen die Kapitel des Palomar dagegen nur noch die „realtà mal padroneggiabile“ wahr, in der nicht einmal mehr eine „padronanza sulle proprie inclinazioni e azioni“ erreichbar scheint, um für das verlorene Ich Wege aus dem Meer, oder jetzt besser: der Komplexität des Objektiven zu weisen. Damit ist jenes Ende der Praxis und der Geschichte, „la fine del fare, della storia“, das vormals bloß eine Tendenz und keineswegs eine historische Gewißheit darstellte, im Bewußtsein Palomars tatsächlich eingetreten. Und bezeichnenderweise erscheint der Erfolg praktisch ordnender Erkenntnis – wie Mario Barenghi scharfsichtig konstatiert – beim Buch Palomar überhaupt aus dem Text gewissermaßen ausgegliedert und extrem marginal durch die mathematisierende Form eines „Indice“ ersetzt, dessen Ordnungsfunktion sich freilich (in einer letzten Enttäuschung) ebenfalls als bloßer Anspruch und kaum als erfolgreich erweist [21] .
Was die literarische Form betrifft, entspricht dem Untergang des Ich der offenkundige Verzicht auf eine „epica moderna“, von der Calvino in den fünfziger Jahren träumte, wenn er schrieb: ,,I romanzi che ci piacerebbe di scrivere o di leggere sono romanzi d’azione [...]: ciò che ci interessa sopra ogni altra cosa sono le prove che l’uomo attraversa e il modo in cui egli le supera“ [22] . Statt der hier gefeierten „romanzi d’azione“, die bei Calvino immer schon auf Elemente des Märchens rekurrieren mußten, folgten schließlich Romane, in denen – wie in Se una notte d’inverno un viaggiatore – die Handlungen weithin aus der Montage verfügbarer literarischer Materialien gewonnen sind, und eben ein Buch wie Palomar,in dem der unglückliche Held keinerlei Probe zu bestehen weiß und bereits scheitert, sobald er sich nur auf die Mikro-Aktion einer Beobachtung einläßt. Oder anders und noch einmal mit den Begriffen des Aufsatzes Il mare dell’oggettività formuliert: Es folgte eine „letteratura della coscienza“, zu deren Hauptthema in Palomar gerade die Absenz der „coscienza“ geworden ist; denn je intensiver der Beobachter die Suche nach einem mit sich selbst identischen Bewußtsein betreibt, um so hilfloser erfährt er die Übermacht des Objektiven, „il mare dell’oggettività“ auch und vor allem im Innersten jeglicher Subjektivität.
Demnach empfängt auch Calvinos Palomar seine Spannung und Tiefe, welche der (trotz aller Verzweiflung) manchmal fast anmutig maßvollen Oberfläche des Buchs nicht unbedingt auf den ersten Blick anzusehen sind [23] , allein aus der Geschichtlichkeit seiner intertextuellen, oder in diesem Fall genauer: seiner intra-intertextuellen Relationen. Nicht schon daß es – beinahe möchte man im Kontext ‚poststrukturalistischer‘ Epistemologie sagen: wie üblich – die Abwesenheit des Ich konstatiert, macht die Bedeutung von Stücken wie etwa L’universo come specchio aus. Entscheidend ist vielmehr die durch diese Behauptung implizierte Negation bestimmter Erwartungen und Hoffnungen. Von ihnen handelten Calvinos frühere Texte, die als negierte am späteren Text teilhaben und dessen desillusionierende Befunde erst eigentlich mit Schärfe und Schmerz erfüllen.
1 In den Augen Giuseppe Bonuras z. B. erscheint die 1957 veröffentlichte Speculazione edilizia nach dem ein Jahr vorher publizierten Barone rampante „un fulmine a ciel sereno, un’altra imprevedibile inversione di rotta di Calvino“ (Invito alla lettura di Calvino,Milano 1972, S. 58), während Contardo Calligaris in seiner Calvino-Monographie das Nebeneinander der beiden verschiedenartigen Texte mit Begriffen, die er Walter Benjamin und Elio Vittorini verdankt, als eine Opposition von ,,allegoria“ und ,,neo-balzacchismo“ illustriert: ,,[...] la differenza non potrebbe essere piú grande: dall’esaltazione dei soggetto alla sua abdicazione“ (Italo Calvino,Milano 1973, S. 59).
2 I. Calvino, Se una notte d’inverno un viaggiatore, Torino 1979, S. 9.
3 Ebd.
4 Daß die Züge von Metaliteratur, welche Se una notte prägen, freilich schon in der intertextuellen Dichte des – nach Calligaris ‚allegorischen‘ – Barone rampante angelegt sind, weist überzeugend Gerhard Goebel nach. Vgl. „Mythos und Metaliteratur bei Italo Calvino“, Italienisch 8 (1982), S. 211.
5 Die im Text angeführten Seitenzahlen verweisen auf die Ausgabe: I. Calvino, Palomar,Torino (Einaudi) 1983.
6 Vgl. zu diesem Begriff B. T. Fitch, „Just between Texts: Intra-intertextuality“, in: The Narcissistic Text: A Reading of Camus’ Fiction,University of Toronto Press 1982, S. 89–108, sowie ds., „L’Intra-intertextualité interlinguistique de Beckett: la problematique de la traduction de soi“, Texte 2 (1983), S. 85–100.
7 Für das Verständnis nicht nur der Einleitungsepisode, sondern des gesamten Buches ist wichtig, daß man Palomars Absicht, ,die Komplexität der Welt zu beherrschen‘, pointiert mit der von Calvino primär thematisierten ,visuellen Operation‘ eines aktiven „guardare“ und nicht – wie H. Harth in ihrer Präsentation von Palomar vorzieht – mit der bloß sekundär und distinktiv erwähnten Haltung einer passiven „contemplazione“ in Verbindung bringt. Vgl. H. Harth, „Die Entzifferung der Phänomene“, Zibaldone 1 (1968). S. 29–47, hier S. 31. Zur Bedeutung analytischer Aktivität, welche die „Lettura di un’onda“ gerade gegenüber dem Meer, das heißt: dem „mare dell’oggettività“, annimmt, vgl. die treffenden Bemerkungen von Mario Barenghi, „Italo Calvino e i sentieri che s’interrompono“, Quaderni Piacentini 15 (1984), S. 127–150, hier S. 143f.
8 Vgl. dazu als ein Beispiel unter vielen die kurze, aber bemerkenswert genaue und scharfsichtige Rezension von Vittorio Spinazzola in der Unità vom 18. 12. 1983. Im übrigen hat Calvino selber in einem Interview auf die Nähe der Palomar-Episoden zur poetischen Gattung des Poème en prose aufmerksam gemacht. Vgl. Zibaldone 1 (1986), S. 16.
9 Nicht recht einzusehen ist, weshalb H. Harth ausgerechnet die Episode, welche das Ich zum bloßen Fenster zwischen Welt und Welt reduziert, als Beleg für die Macht des „deutenden Subjekts“ versteht, um aus ihr zu schließen, daß Palomars Subjektivität „wie ein Nessushemd an ihm klebt“. Vgl. „Die Entzifferung“, a. a. O. S. 46.
10 Vgl. zu dieser Episode und der in ihr dargestellten Introspektion die aufschlußreiche Kontroverse zwischen Gerhard Goebel und Salvatore A. Sanna, Italienisch 16 (1986), S. 82–88.
11 Freilich ist zu berücksichtigen, daß schon im Barone rampante auf die lichtvolle Allegorie von Aufklärung, welche sich mit dem Protagonisten des Romans verbindet, ein lähmender Schatten fällt, den die in der Restauration endende Geschichte des Romans hinterläßt. Vgl. dazu U. Schulz-Buschhaus, „Calvinos politischer Roman vom Baron auf den Bäumen“, Romanische Forschungen 90 (1978), S. 17–34.
12 Vgl. I. Calvino, Una pietra sopra – Discorsi di letteratura e società,Torino 1980, S. 40.
13 Vgl. ebd. S. 92.
14 In beiden Formen der Entfremdung des Ich sieht Calvino hier das (für die zeitgenössische Literatur von Gadda über Borges bis Robbe-Grillet charakteristische) Phänomen einer „resa al labirinto“, dem er das eigene Projekt einer „sfida al labirinto“ entgegensetzt (vgl. ebd. S. 93ff.). Wenn Calvino die Entwicklung der Avantgarde dabei in eine (die wissenschaftlich-technische Zivilisation nachvollziehende) „linea razionalista“ und eine (dieselbe Zivilisation kontestierende) „linea viscerale“ unterteilt, ist bezeichnend, daß er bei aller Distanzierung von beiden Tendenzen im Jahr 1962 doch deutlich stärker der ‚rationalistischen Linie‘ zuneigt, da nur in ihr („contro le posizioni del rifiuto e dell’evasione“) ein „ottimismo storicista“ aufgehoben scheint (vgl. ebd. S: 88).
15 Vgl. ebd. S. 43ff.
16 Ebd. S. 17.
17 Vgl. ebd. S. 15. Über die geradezu ‚tiefenstrukturelle‘ Rolle, welche Gramscis „parola d’ordine rivoluzionaria“ für das Verhältnis von Allegorie und Geschichte in der narrativen Komposition des Barone rampante spielt, vgl. U. Schulz-Buschhaus, „Calvinos politischer Roman“, a. a. O. S. 32ff.
18 Aus diesen Überzeugungen spricht die unmittelbar positive Version jenes „volontarismo etico“, der nach Barenghi (vgl. „Italo Calvino“, a. a. O. S. 131) die „Unità dell’opera di Calvino“ ausmacht und durch seinen Aspektwechsel zu einer Phänomenologie der Negativität und Absenz als Ursprung von Calvinos „pessimismo crescente“ (ebd.) im übrigen nur um so schärfer bewußt wird.
19 Vgl. I. Calvino, Una pietra,a. a. O. S. 45.
20 Vgl. ebd. S. 17.
21 Vgl. M. Barenghi, „Italo Calvino“,a. a. O. S. 148. Dazu meinte Calvino selbst nicht ohne Verlegenheit: „Questa nota classificatoria finale con i numeri potrebbe essere anche superflua. Non c’era nessun bisogno di metterla. Però c’è un aspetto di me stesso che si va accentuando con l’eta, il bisogno di fare delle cose sistematiche. È una mia mania e quindi prendetela come tale“ (vgl. die leicht resümierende Übersetzung des Interview-Textes in: Zibaldone 1, 1986, S. 14f.).
22 I. Calvino, Una pietra,a. a. O. S. 15.
23 Sofort deutlich erfaßt wurde die Abgründigkeit des Calvinoschen Spätwerks freilich in der schon (Anm. 8) erwähnten Zeitungsrezension von Vittorio Spinazzola, der bemerkt, daß sich unter der „compostezza elegante della pagina“ ein „resoconto di un itinerario verso il nulla“ verbirgt. Spinazzola registriert auch bereits die formale Paradoxie einer nicht-personalisierten „autobiografia intellettuale“ und äußert – diskret, doch entschieden – seine Perplexität vor den prekären politischen Folgelasten einer „epistemologia del dubbio e del caso“, die den ‚ethischen Voluntarismus‘ des späten von jenem des frühen Calvino trennt.
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