Es gibt viele Kriterien, mit deren Hilfe sich unterscheiden läßt, was man für den Idealtyp eines modernen und den eines klassischen Textes hält. Berühmt geworden sind die Kategorien des „texte scriptible“ und des „texte lisible“, durch die Roland Barthes am Beginn von S/Z die Domänen einer (neueren) Po(i)etik textueller Produktivität und einer (älteren) Ästhetik mimetischer Repräsentation abzugrenzen versucht: Während die zweite eine „structure de signifiés“ im Blick hat, verwirklicht sich die erste – von Barthes enthusiastisch gefeiert – in einer „galaxie de signifiants“
. Nicht weniger suggestiv, doch für eine literarhistorische Perspektivierung praktikabler
Vgl. R. Barthes, S/Z, Paris 1970, 9ff. Eine affirmative (und weithin repetitive) Würdigung der hier angesprochenen Passage bietet R. Bensmaïa, Barthes à l’essai,Tübingen 1986, IIff. Erhellender sind die Argumente theoretischer Kritik und philosophiegeschichtlicher Situierung, die K.W. Hempfer (Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, München 1976, 55ff.: „Barthes und das Ende der Wissenschaft“) und P.V. Zima (Literarische Ästhetik, Tübingen 1991, 267ff.: „Roland Barthes’ nietzscheanische Ästhetik des Signifikanten“) in bezug auf Barthes’ Kategorien vorbringen.
Kaum praktikabel erscheint die in S/Z entwickelte Unterscheidung vor allem deshalb, weil in ihr der „texte scriptible“ ja ein bloßes Postulat bleibt, welches genaugenommen „gar nicht zu realisieren ist“, so daß die empirische Realität, auf die es dem Literarhistoriker – anders als dem Wortführer einer Spezialästhetik – wesentlich ankommt, dann allein aus poetologisch undifferenzierten (und letztlich auch indifferenten) „textes lisibles“ bestehen muß; vgl. dazu auch Hempfer, Poststrukturale Texttheorie, 56f.
R. Barthes, Le Degré zéro de l’écriture, Paris 1972 (I. Aufl. 1953), 35.
Ebd., 36f.
Ebd., 37.
Was die Modernität im Gegensatz zur Klassizität der Dichtung ausmacht, ist hier also die explosionsartige Entfesselung der Wörter aus den relationalen Einschränkungen ihrer übergeordneten Diskurse. Mit diesem Vorgang verbindet sich jedoch auch ein Phänomen, das Barthes als „un renversement dans la connaissance de la Nature“ bezeichnet. Zu ihm stellt er Betrachtungen an, die es wert sind, im Interesse einer Phänomenologie der „poésie moderne“ ausführlicher zitiert zu werden. Sie bestätigen zunächst die neugewonnene Autonomie der Wörter durch eine entsprechende Autonomie inkohärent gewordener Gegenstände, in die sich die fragmentarisierte Natur aufzulösen beginnt: „Le discontinu du nouveau langage poétique institue une Nature interrompue qui ne se révèle que par blocs. Au moment même où le retrait des fonctions fait la nuit sur les liaisons du monde, l’objet prend dans le discours une place exhaussée: la poésie moderne est une poésie objective“
.
Ebd., 39.
La Nature y devient un discontinu d’objets solitaires et terribles, parce qu’ils n’ont que des liaisons virtuelles; personne ne choisit pour eux un sens privilégié ou un emploi ou un service, personne ne leur impose une hiérarchie, personne ne les réduit à la signification d’un comportement mental ou d’une intention, c’est-à-dire finalement d’une tendresse. L’éclatement du mot poétique institue alors un objet absolu [...]. Ces mots-objets sans liaison, parés de toute la violence de leur éclatement, dont la vibration purement mécanique touche étrangement le mot suivant mais s’éteint aussitôt, ces mots poétiques excluent les hommes: il n’y a pas d’humanisme poétique de la modernité: ce discours debout est un discours plein de terreur, c’est-à-dire qu’il met l’homme en liaison non pas avec les autres hommes, mais avec les images les plus inhumaines de la Nature; le ciel, l’enfer, le sacré, l’enfance, la folie, la matière pure, etc.
Ebd.
Wie am Schluß des Abschnitts „Y a-t-il une écriture poétique?“, der diesen Entwurf einer anti-humanistischen Poetik enthält, offenbar wird, beziehen sich die zitierten Sätze etwa auf die Dichtung eines René Char, die Barthes in unserem Zusammenhang als Inbegriff der „poésie moderne, dans son absolu“ erwähnt und von einer weniger modernen, da humanistisch gebundenen „prose poétique dans le goût des Nourritures terrestres“abhebt
. Indessen könnte die hier auf Char bezogene Poetik mit dem gleichen Recht für die futuristische Textsorte der „parole in libertà“, wie sie ungefähr vierzig Jahre zuvor am Vorabend des ersten Weltkriegs entstanden war; geltend gemacht werden. Dazu bedürfte es kaum einer sonderlichen Forcierung, da die Analogien zwischen Barthes’ „écriture poétique“, welche durch die Explosion ihrer Wörter die Kohärenz von Satzbeziehungen zerstören möchte, und Marinettis Radikalisierung der
Vgl. ebd., 40.
Vgl. dazu die reiche Dokumentation von E R Ingold, Literatur und Aviatik, Frankfurt a.M. 1980.
F.T. Marinetti, Teoria e invenzione futurista, a cura di L. De Maria, Milano 1968,40.
Zu ihrem Stellenwert in Marinettis „Syntax der Assertion“ vgl. die kritische Einschätzung von H. Finter, Semiotik des Avantgardetextes, Stuttgart 1980, 198f.
Daß die Manifeste im Unterschied zu den innovativen Texten der „ispirazione poetica“ gezwungen sind, zur Herstellung von Kommunikation programmwidrig an bestimmten Grundregeln von Satzbau und Interpunktion festzuhalten, wird auch von Marinetti selbst als Dilemma gesehen: „La filosofia, le scienze esatte, la politica, il giornalismo, l’insegnamento, gli affari, pur ricercando forme sintetiche di espressione, dovranno ancora valersi della sintassi e della punteggiatura. Sono costretto infatti, a servirmi di tutto ciò per potervi esporre la mia concezione“. Betrachtet man die Fortune Marinettis bei Zeitgenossen und Nachwelt, stellt sich heraus, daß er für diesen Kompromiß insofern belohnt worden ist, als die kommunikativ formulierten Manifeste stets ungleich größere Aufmerksamkeit erregt haben als die von Kommunikationszwängen ,befreite‘ écriture seines „lirismo essenziale e sintetico“: ein Schicksal, das Marinetti bezeichnenderweise mit den Autoren vieler späterer Avantgardebewegungen teilt.
Marinetti, Teoria, 66(Kursivierung U.SB.).
Hat der ‚telegraphische Lyrismus‘, zu dem sich die Futuristen bekennen
, die human ordnenden und perspektivierenden „legami stilistici“ getilgt, so vollzieht er gleichfalls die von Barthes angesprochene Exklusion des Menschen und der „tendresse“ eines lyrischen oder narrativen Ich. Tatsächlich macht im Futurismus die Parole „Distruggere nella letteratura l’‚io‘“ den Hauptpunkt des literarischen Programms aus; denn angesichts der Größe der Materie und der Apparate erscheint das Ich als ein Phänomen der Ohnmacht, wenn nicht der Fälschung, und Marinetti wird nicht müde, die ‚lächerliche Irrelevanz‘ des Ich neben jene der ,alten Syntax‘ zu stellen und – gemäß dem Imperativ „Guardatevi dal prestare alla materia i sentimenti umani“
Vgl. ebd. 66 oder 287: „I poeti passatisti vorrebbero denigrare le parole in libertà chiamandole lirismo telegrafico. Noi futuristi cantiamo la loro morte telegraficamente, equesto ci evita di sentire a lungo il loro fetore“. Zur Vorgeschichte des „lirismo telegrafico“ in der militärischen Informationstechnik eröffnet interessante Perspektiven F. Kittler, „Im Telegrammstil“, in: H.U. Gumbrecht – K.L. Pfeiffer (Hrsg.), Stil, Frankfurt a.M. 1986,358–370.
Vgl. Marinetti, Teoria, 44.
La materia fu sempre contemplata da un io distratto, freddo, troppo preoccupato di sé stesso, pieno di pregiudizi di saggezza e di ossessioni umane.
L’uomo tende a insudiciare della sua gioia giovane o del suo dolore vecchio la materia, che possiede una ammirabile continuità di slancio verso un maggiore ardore, un maggior movimento, una maggiore suddivisione di sé stessa. La materia non è né triste né lieta
.
Ebd., 45.
Unverkennbar ist zumal am Ende dieses Abschnitts die Affinität von Marinettis Subjektivitätsverweigerung („La materia non è né triste né lieta“) zu einer Grundposition des Nouveau Roman, wie sie z. B. inRobbe-Grillets berühmt gewordenen Sätzen „Or le monde n’est ni signifiant ni absurde. Il est tout simplement“ zum Ausdruck kommt
.
Vgl. dazu P.V. Zima, „Indifferenz und Objektivität: Von Marinetti zu Robbe-Grillet“, in: RV. Zima – J. Strutz (Hrsg.), Europäische Avantgarde, Frankfurt a.M. – Bern – New York – Paris 1987,103–113, hier 109.
Demnach scheint es wohl legitim, in bezug auf die europäische Avantgarde-Poetik die (in Relation zu deren Selbstkonzept natürlich paradoxale) Stabilität einer historischen ,longue durée‘ zu konstatieren, welche zumindest bestimmte Programmpunkte umfaßt, die sich offenbar als eine Art Topik des ‚Avantgardismus‘ etabliert haben. Zu ihnen gehört 1953 wie 1912 die Verwerfung eines Humanismus, den klassi(zisti)sche oder realistische Traditionen überliefern, zugunsten eines subjektlosen „discours plein de terreur“, und – kaum weniger verbreitet und folgenreich – das Postulat einer Befreiung der Wörter bzw. (post-saussureanisch formuliert) der Signifikanten aus den Zusammenhängen von Satzperioden, welche für die Wörter plausibel sinnvolle Signifikate garantieren sollten. Freilich existieren neben den Übereinstimmungen, aus denen sich die avantgardistische ,longue durée‘ ergibt, auch bedeutsame Unterschiede, und nur um solche Unterschiede möglichst scharf zu erfassen, haben wir bislang unser Augenmerk auf die Rekonstruktion genereller Gemeinsamkeiten gelegt (wie die erste Regel literarhistorischer Kunst ja prinzipiell darin besteht, provisorisch allgemeine Identitäten zu rekonstruieren, um in deren Bestand – als eigentliches Erkenntnisziel – dann spezifische und in ihrer Spezifizität relevante Differenzen sichtbar zu machen).
So zeigt sich, daß ein wesentliches Distinktiv, welches den Marinettischen Futurismus von späteren und poetologisch vergleichbaren Bewegungen trennt, in seinem historischen Ausgangspunkt zu sehen ist. Diesen Ausgangspunkt, der für Marinetti gleichzeitig zum literarischen Zentralmotiv werden sollte, bildet eine in der neueren Kulturgeschichte selten (oder nie) mit ähnlicher Wucht vorgetragene Apotheose des Kriegs
. Sie wird von den üblichen Darstellungen des italienischen Futurismus zwar vermerkt, aber in der Regel – gewissermaßen ad usum Delphini – heruntergespielt
Über deren Zusammenhang mit den „gleichzeitigen politischen Kriegstheorien“ sowohl nationalistischer als auch syndikalistischer Herkunft informiert materialreich (mit besonderer Berücksichtigung von Pareto, Sorel, Corradini und Papini) M. Hinz, Die Zukunft der Katastrophe. Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus, Berlin – New York 1985, 88–94 und passim.
Die verbreitetste Argumentationsstrategie besteht dabei in der strikten Trennung zwischen einem Literaten Marinetti, dessen „arte d’avanguardia“ in ihrer „forza detonante e intimamente sovversiva“ als emanzipatorisch gilt, und einem Politiker Marinetti, dessen – allgemein bedauerte – Vorstellungen demgegenüber das „più contingenziale programma politico“ ausmachen sollen (so etwa G. Lista, Arte e politica. Il Futurismo di sinistra in Italia, Milano 1980, 53).Zur Kritik an derart schematisch wertenden Distinktionen einer ‚progressiven‘ futuristischen Kunst und einer ‚reaktionären‘ futuristischen Politik, denen zumeist ein unzulängliches, da einseitig auf konservative Komponenten fixiertes Bild vom Faschismus zugrunde liegt, vgl. M. Hinz, „Il problema del rapporto Futurismo – Fascismo nella letteratura recente“, Studi Novecenteschi 12 (1985)H. 29, 51–81, bes. 54ff. und 79ff.
„Die wissenschaftlichen Ursprünge des Futurismus und Surrealismus“, Poetica 2 (1968), 371–398,hier 393.
Ebd., 392.
Um zu erläutern, wie es sich mit Marinettis literarischem, ja textuellem Militarismus genauer verhält, werfen wir zunächst einen Blick auf sein Verhältnis zu schriftstellerischen Vorläufern und Kollegen. Angesichts von Helga Finters gründlichen Untersuchungen zur Antwort des Futurismus auf die „expliziten Poesiemodelle des Kontexts“
können wir uns hierbei mit wenigen Hinweisen begnügen. Der wichtigste gilt dem Phänomen, das sich dem Leser der futuristischen Manifeste und Appelle wahrscheinlich immer wieder am frappantesten aufdrängt: Gemeint ist die zynische Klarsicht, mit der Marinetti die Beziehung sowohl zur Tradition als auch zum Kontext, in denen er operiert, ganz und gar
Vgl. H. Finter, Semiotik, 26–86.
Um mit Karl Eibl zu sprechen, hat Marinetti sich offenbar besonders luzide bewußt gemacht, daß in einem „seit Erfindung der Buchdruckerkunst“ „ständig hektischer“ werdenden „Gedrängel auf dem Parnaß“ jeder lebende Autor „mit einem Heer von Gespenstern konkurriert“; vgl. K. Eibl, „Das Realismus-Argument“, Poetica 15 (1983), 314–328,hier 326f. Dem Bewußtsein, sich in einem „Gedrängel“, das weder auf dem Parnaß noch auf dem Markt bequeme Nischen reserviert, durchsetzen zu müssen, entspricht auch Marinettis frühzeitig demonstrierte Virtuosität beim Einsatz von Reklame in allen verfügbaren Medien. So ist die Nähe von „Marinettis Syntax der Assertion“ zur Werbesprache (vgl. Finter, Semiotik, 200ff.) unter anderem schon dadurch zu erklären, daß sie kontinuierlich der Werbung in eigener Sache zu dienen hat.
Zu den in diesem Zusammenhang prägnantesten Vorstellungen, Graciáns Konzepten einer „Excelencia de primero“ und „Renovación de grandeza“, vgl. U. Schulz-Buschhaus, „Innovation und Verstellung bei Gracián“, in: Gestaltung – Umgestaltung, Tübingen 1990, 413–427.
Dies Ziel äußert sich besonders auffällig in der diskursiven Strategie, alles, was nicht Futurismus ist, auf die negative Äquivalenz eines „Passatismo“ zu reduzieren, der sich laut Marinetti ohne nennenswerte Einschnitte von Homer bis in die (falsche) Gegenwart des Erz-Konkurrenten D’Annunzio erstreckt: „Prima di noi paroliberi, gli uomini hanno sempre cantato come Omero, con la successione narrativa e il catalogo logico di fatti, immagini, idee. Fra i versi di Omero e quelli di Gabriele D’Annunzio non esiste differenza sostanziale“
.
Marinetti, Teoria, 160.
Ebd. (in quasi identischer Formulierung auch ebd., 181f.). Daher wirkt gegen Marinettis Anspruch keine Polemik schmerzlicher als der Hinweis auf die Existenz einer ,Tradition des Futurismus‘ („II disprezzo per l’antico è antichissimo“), wie er häufig von Giovanni Papini, Marinettis Rivalen vom prononcierter nationalistischen Flügel des Faschismus (und Florentiner Futurismus) geäußert worden ist. Vgl. dazu G. Papini, Opere, acura di L. Baldacci, Milano 1977, 490ff. sowie vor allem 395,wo die „celebrazione della vita moderna“ auf Whitman, Verhaeren und D’Annunzios Laudi, der „desiderio di sradicare la cultura passata“ auf Rousseau, der „disprezzo per la donna“ auf Strindberg und Weininger zurückgeführt werden.
Demnach kann man den italienischen Futurismus, wie ihn Marinetti konzipiert hat, mit einigem Recht als die erste künstlerische Innovationsbewegung bezeichnen, die sich weniger durch die Spontaneität ihrer Programmpunkte als vielmehr durch eine Serie von Oppositionen definiert, welche stets in Abhängigkeit von den Positionen der Konkurrenten und Gegner bestimmt werden. Dieser Mechanismus hat zur Folge, daß Marinetti mit der größten Vehemenz, die ihm zu Gebote steht, gerade die avanciertesten Standpunkte – vorzugsweise des Symbolismus – kontestiert. Da sie ihm das Prestige des ,Neuen‘ und ,Unerwarteten‘ streitig machen könnten
, pflegt er den verbalen Feldzug gegen solche an sich affinen Gruppen und Autoren mit besonderem Einsatz zu führen, um sie durch ein resolutes Dementi ihrer Aktualität in die verlassenen Provinzen des „Passatismo“ zurückzudrängen und solcherart unschädlich zu machen.
Wie es ja auch Papini insinuiert, wenn er – kultivierter, doch (vielleicht deswegen) weniger durchsetzungsfähig als Marinetti – an die graphischen Effekte von Mallarmés Un coup de dis oder die „innumerevoli onomatopeie di Pascoli“ erinnert; vgl. ebd., 495f.
Dafür ein paar Beispiele. Wie Marinetti 1913 die ‚typographische Revolution‘ verkündet, welche die Poetik der „parole in libertà“ begleiten
.
Marinetti, Teoria, 67. Zur ,,,Behandlung‘ des Gegners im futuristischen Diskurs“ (Finter, Semiotik, 115) gehört offensichtlich auch eine Rhetorik, die – fern jeder symbolistischen Reminiszenz – am genus demonstrativum öffentlicher Beschimpfung geschult ist.
Marinetti, Teoria, 67.
Nach Luciano De Maria das „capolavoro, forse, della marinettiana arte di far ‚manifesti‘ (vgl. Marinetti, Teoria, XXIIf.; dort auch eine Exegese der in diesem „Racconto-manifesto“ enthaltenen Allegorien). Kritischer akzentuiert sind die Interpretationen von H. Finter (Semiotik, 68–79)und besonders von M. Hinz (Die Zukunft, 93f.), der mit Recht betont, daß es für die Aggressionslust der Marinettischen Texte, welche meistens zur Lust an Hinrichtungen tendiert, im Grunde niemals ebenbürtige oder auch nur ernstzunehmende Gegner gibt: „Der Gegner erscheint sowohl als enorme Masse wie gleichzeitig als Kanonenfutter“.
Vgl. Marinetti, Teoria, 261.
Vgl. ebd., 83.
Ebd., 82.
Präsentiert sich der Tumult der Marinettischen Polemik hier vorwiegend unter dem Aspekt der Ausschaltung von Konkurrenz, so bildet deren Revers ein Wille zur Macht, der keinerlei Grenzen achtet, weder den eventuellen Widerstand der Rivalen noch die institutionellen Beschränkungen, die der Aktivität des Literaten und Künstlers in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft gemeinhin auferlegt sind. In der Tat charakterisiert die futuristischen Manifeste neben ihrer polemischen Vehemenz eine gesellschaftsverändernde Ambition, welche kontinuierlich über den Bereich der Literatur wie auch den der Künste hinausstrebt. Dabei ist die Ambition der Futuristen im Verhältnis zu anderen Avantgardebewegungen sowohl umfassender und totaler als auch durchaus mit einem gewissen soziologischen Realismus vereint. Jedenfalls orientiert sie sich nicht in erster Linie an der genaugenommen vor-soziologischen Fin-de-Siècle-Idee, den Abstand zwischen (Institution) Kunst und Leben(spraxis) zu überwinden
; denn daß unter den Bedingungen der Moderne kein institutionenenthobenes Leben reiner Spontaneität mehr vorstellbar ist, konnte ja gerade dem modernitätsfixierten Scharfblick eines Marinetti schwerlich verborgen bleiben. Stattdessen sollte die Strategie der futuristischen Bewegung offenbar darin bestehen, mit den in der Institution Kunst entwickelten Direktiven weniger die „Lebenspraxis“ schlechthin als vielmehr die übrigen sozialen Funktionssysteme zu okkupieren
In einer solchen „Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis“ sieht bekanntlich P Bürger – ein wenig verkürzt – das Grundmotiv der historischen Avantgardebewegungen; vgl. Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, 68f. und passim.
Wobei bis zu einem gewissen Grad auch die funktionalen Besonderheiten zumal der Bereiche Wirtschaft und Politik berücksichtigt wurden; vgl. dazu M. Hardt, „Futurismus und Faschismus“, RF 94 (1982), 381–419,bes. 390ff. und 409ff, sowie U. Schulz-Buschhaus, „Der Futurismus als ‚grande e forte letteratura scientifica‘“, in: Literatur und Wissenschaft, Tübingen 1987, 371–382,hier 374f.
Daher hat es seinen Sinn, wenn die Manifeste des Futurismus nicht nur eine gruppenspezifisch unverwechselbare Literatur, Malerei oder Musik entwerfen, sondern nach und nach einen geradezu enzyklopädischen (oder mit anderen Worten: totalitären) Anspruch erheben. In dieser Tendenz bewegen sich z. B. die Projekte einer futuristischen Erziehung durch die „scuole di coraggio“, welche ihre Schüler einem Curriculum simulierter Gefahren und Katastrophensituationen unterwerfen
, oder einer – freilich halb parodistisch intendierten – futuristischen Religion und Moral der Schnelligkeit, nach der die zehn Gebote des Christentums (mit Anklängen teils an Sade und teils an Nietzsche) zu einem einzigen verkehrt werden, das von der Todsünde der ,Langsamkeit‘ ausgeht: „Bisogna perseguitare, frustare, torturare tutti coloro che peccano contro la velocità“
Vgl. Marinetti, Teoria, 265. Solche Vorschläge gehören sinnigerweise zu Marinettis Kampagne „Contro i professori“, bei der es darum geht, Croce (den angeblich Germanophilen) zu vernichten und sich von Nietzsche zu distanzieren.
Vgl. ebd., 112. Marinettis „nuova religione-morale della velocità“ kennt auch neue Heiligtümer. Unter diesen „luoghi abitati dal divino“ sind erwähnenswert: „I campi di battaglia. Le mitragliatrici, i fucili, i cannoni, i proiettili sono divini. Le mine e le contro-mine veloci: far saltare il nemico PRIMA che il nemico ci faccia saltare“. Außerdem, erneut ein Indiz für Marinettis Scharfblick: „La benzina è divina“ (ebd., 114).
Aus der abundanten Literatur zu diesem Thema vgl. vor allem U. Carpi, Un bolscevico immaginista. Comunismo e avanguardie artistiche nell’Italia degli anni Venti, Napoli 1981; M. Hardt, „Futurismus“, a.a.O.; M. Hinz, „Il problema“, a.a.O.
Mit Recht sieht M. Hinz den politischen Ort des Futurismus deshalb „vicino alla prima fase spontaneista e terroristica del fascismo“ und schlägt vor, die futuristische Ideologie nicht länger an einem opportunistisch simplifizierten Faschismus-Begriff zu messen, sondern aus Marinettis Schriften selbst ein prägnanteres Bild des Faschismus zu gewinnen; vgl. „Il problema“, 80f. Im übrigen haben auch die Futuristen bei ihrer Parteigründung versucht, den Extremismus mancher Parolen zu dämpfen, indem sie einen expliziten Niveauunterschied zwischen dem „Partito Politico Futurista“ und dem „movimento artistico futurista“, „necessariamente sempre in anticipo sulla lenta sensibilità del popolo“, einführen (vgl. Marinetti, Teoria, 301). Damit verwandelt sich der „Disprezzo della donna“ aus einer provokanten These, der das Volk noch nicht gewachsen scheint, in ein ideales Fernziel.
Trotz des machtpolitischen Scheiterns (das am Ende auch die Rolle der futuristischen Fraktion innerhalb des Faschismus betrifft)
kann indessen kein Zweifel an Marinettis Absicht bestehen, eine literarische Schule zu einem omnipräsenten ideologischen System auszubauen, das sich für die Erteilung von Direktiven in allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen zuständig weiß. Dabei kann man den Willen, das bloß Literarische zu transzendieren, ebenfalls schon an der Poetik des „paroliberismo“ beobachten. Um die Poetiken, die er als ‚passatistisch‘ denunziert, zu bekämpfen, verfolgt Marinetti mit den „parole in libertà“ gleichsam eine Doppelstrategie, die bald den Aspekt einer Negation und bald jenen einer multimedialen Steigerung der Literatur hervorkehrt. Auf eine Negation von Literatur als Kunst läuft es hinaus, wenn Marinetti in Palazzeschis berühmter
Sie wurde als die terroristische ‚Linke‘ der Bewegung zumal durch institutionelle Gratifikationen (Marinetti als „Accademico d’Italia“) allmählich domestiziert und beschränkte sich schließlich weithin auf einen bescheidenen Abwehrkampf gegen kultur- und kunstkonservative Zumutungen. Zu den diesbezüglichen Konflikten mit dem faschistischen Regime, die sich während der dreißiger Jahre eher sporadisch ergaben, vgl. Hinz, Die Zukunft, 205–212.
Vgl. Marinetti, Teoria, 56 (ähnlich 47: „Bisogna sputare ogni giorno sull’ Altare dell’Arte!“). In dieser Geste, die vor allem auch das Manifest Il Teatro di Varietà prägt, trifft sich Marinetti offenkundig mit den Impulsen des Dadaismus; vgl. ebd., LVII. Von nationalistischem Elan bestärkt, kann sich die Dissakration klassischer Kunst in Marinettis ,,romanzo esplosivo“ 8 Anime in una bomba dann folgendermaßen äußern: „Via! si piscia tutti nel pianoforte a coda. Sì tutti pisciam pisciam pisciam sui vasti profondi funerarii idioti accordi di Wagner Bach Beethoven! sssssssssssssssssssssssssss Italianissimi rubinetti gloriosi“ (ebd., 723).
Die deshalb, da auf eine beachtlich kompakte Vergangenheit gestützt, auch nicht ohne weiteres als aktuelles „Indiz einer kulturgeschichtlichen Epochenschwelle“ gesehen werden sollten, wie K. Barck im Interesse einer – durchaus traditionsreichen – „integrativen Ästhetik des Lebendigen“ vorschlägt; vgl. „Materialität, Materialismus, performance“ , in: H.U. Gumbrecht – K.L. Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, 121–138, hier 133.
Vgl. dazu Finter, Semiotik, 168f. („Die Schrift als Ausdrucksgarantie“; „Die Schrift als garantierte Stimme“).
Vom Publikum sollte die ‚Performance‘ einer solchen Entfesselung der Synästhesien als Aggression, zumindest als Choc, erfahren werden. Auch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, kann es deshalb kein Zufall – nicht einmal ein bloß kontingentes bzw. marginales Phänomen – sein, daß Marinettis nach den Prinzipien des „paroliberismo“ gestaltete Texte beinahe ausschließlich ein einziges Thema umkreisen: das des Kriegs. Dabei ist sofort hinzufügen, daß die Exaltation, welche der futuristische ,,lirismo telegrafico“ betreibt, exklusiv den modernen Krieg anspricht, der ihm – als Vollzug mechanisch herbeigeführter, kollektiver Extermination verstanden – zum Inbegriff von Modernität überhaupt wird. So bedeutet „La Guerra“ für Marinetti, der ja auch realpolitisch mit einem Engagement, das dem seines Hauptkonkurrenten D’Annunzio gleichkam, erfolgreich für den Eintritt Italiens in den Ersten Welt
, nicht allein ‚intensivierten Futurismus‘ („Futurismo intensificato“) und das ‚schönste bislang erschienene futuristische Gedicht‘ („il più bel poema futurista apparso finora“)
Über die Eigenart der jeweiligen Agitationsstrategie vgl. U. Schulz-Buschhaus, „Zwei Diskurse der literarischen Kriegführung: Marinetti und D’Annunzio“, in: K. Amann – H. Lengauer (Hrsg.), Österreich und der Große Krieg 1914-1918, Wien 1989, 60-66.Während bei D’Annunzio die Erregung von Haß auf den so gefährlichen wie infamen germanischen Feind dominiert, demonstriert Marinetti, der sich im Krieg gleichsam in seinem Element fühlt, vor allem ein enthusiastisches Bewußtsein technologischer Superiorität, dem der Germane („qualche lurido e grottesco professore nordico dal cappelluccio tirolese“) nicht wie ein Dämon, sondern wie eine Karikatur des „passatismo teutonico“ und folglich als chancenloses Kriegs- und Technologieopfer erscheint; vgl. Marinetti, Teoria, etwa 32 oder 287.
Vgl. ebd., 286f.
I bombardamenti, i treni blindati, le trincee, i duelli d’artiglieria, le cariche, i reticolati elettrizzati, non hanno nulla a che fare colla poesia passatista classicheggiante, tradizionale, archeologica, georgica, nostalgica, erotica (Baudelaire, Mallarmé, Verlaine, Carducci, Pascoli, D’Annunzio). Questa poesia pacifista è sotterrata
.
Ebd.
Mit der italienischen Kriegsintervention im Jahr 1915 ereignet sich nach Marinettis Verständnis also Zusammenbruch und ‚Begräbnis‘ der ,passatistischen‘ Dichtung, die immer (und sogar im Falle des Kriegsagitators D’Annunzio) in letzter Instanz ‚pazifistisch‘ bleiben mußte, während die Dichtung der futuristischen Avantgarde in demselben Moment ihre Apotheose erlebt, welche sie – wenn man so will – einem Militarismus in zweiter Potenz verdankt. Der Anspruch sowohl militärischer wie literarischer Überlegenheit auf seiten der Futuristen hängt damit zusammen, daß sie ihre Texte nicht nur unter thematischen Gesichtspunkten zur Glorifikation des Kriegs verfassen. Vielmehr sind die „parole in libertà“ dank der Multiplikation und Beschleunigung von Choc-Effekten auch, was die Materialität ihrer Zeichenstruktur angeht, als eine geschriebene, ja graphisch figurierte und komponierte Allegorie militärischer Aktionen zu begreifen. Deshalb fährt der soeben zitierte Appell an die italienische Studentenschaft mit einer expliziten Gleichsetzung von Kriegshandlungen und graphisch-phonetischen Aggressionen fort:
Oggi trionfano le Parole in libertà, valutazione lirica delle Forze, senza prosodia, senza sintassi, senza punteggiatura, senza dettagli analitici, decorativi e gentili; lirismo che afferra il lettore colle sue tavole sinottiche di valori lirici, i suoi schizzi topografici da aviatore, le sue battaglie di caratteri tipografici e il cannoneggiamento delle sue onomatopee
.
Ebd., 287
So ist die „explosion de mots“, die sich aus den ‚Fesseln‘ ihrer syntaktischen und prosodischen Beziehungen lösen, bei Marinetti ganz wortwörtlich ein zeichenhaftes Analogon zur – vorgeblich ‚befreienden‘ – Entfesselung des Kriegs. Freilich muß hier erneut betont werden, daß der nach futuristischen Wünschen organisierte Krieg nichts mehr mit dem in vorindustriellen Gesellschaften üblichen individuellen Kampf zu tun hat, an dessen Heroismus-Ideale Marinetti lediglich noch in seinen konventionellsten Momenten leerer Rhetorik erinnert. Was militärisch wie literarisch fasziniert, ist speziell die Gewalt der Materie, des Materials und der Apparatur, die im Krieg ‚glorios‘ (ein mot-clef Marinettis) ihre humanistische Einhegung durchbrechen und das früher gefeierte heroische Individuum zur ,quantité négligeable‘ degradieren: Im übrigen erwähnt Marinetti unter den historischen Tendenzen, welche in die Richtung seiner Poetik weisen, schon 1913 eine „Modificazione della concezione della guerra, diventata il collaudo sanguinoso e necessario della forza di un populo“
.Angesichts dieser Autonomie des Materials, die den kriegführenden Menschen mehr und mehr die bloß passive Rolle von Patienten und Leichen anweist
Vgl. ebd., 59.
Vgl. dazu Th.W. Adornos Notiz zum (die futuristischen Tendenzen bestätigenden und radikalisierenden) Stil der Kriegführung im Jahr 1944: „Der Eindruck ist nicht der von Kämpfen, sondern mit unermeßlich gesteigerter Vehemenz vorgenommener mechanischer Straßen- und Sprengarbeiten, auch von ,Ausräuchern‘, Insektenvertilgung im tellurischen Maßstab. Operationen werden durchgeführt, bis kein Gras mehr wächst. Der Feind fungiert als Patient und Leiche“ (Minima Moralia, Frankfurt a.M. 71964, 66).
Vgl. Marinetti, Teoria, 44.
Vengono abolite le antiche proporzioni (romantiche, sentimentali e cristiane) del racconto, secondo le quali un ferito in battaglia aveva una importanza esageratissima in confronto degli strumenti di distruzione, delle posizioni strategiche e delle condizioni atmosferiche. Nel mio poema Zang tumb tumb, io descrivo la fucilazione di un traditore bulgaro con poche parole in libertà, mentre prolungo una discussione di due generali turchi sulle distanze di tiro e sui cannoni avversarii. Notai infatti nella batteria De Suni, a Sidi-Messri, nell’ottobre 1911, come la volata lucente e aggressiva di un cannone arroventato dal sole e dal fuoco accelerato renda quasi trascurabile lo spettacolo della carne umana straziata e morente
Ebd., 86f.
Was durch diesen Perspektivenwechsel als Postulat geäußert wird, entspricht im übrigen verblüffend genau den Beobachtungen, die Theodor W Adorno dreißig Jahre später während des Zweiten Weltkriegs als Befund notiert hat (wie die Phänomene, welche Adornos und Marinettis Aufmerksamkeit erregen, um von dem einen bekräftigt und dem anderen betrauert zu werden, überhaupt in erstaunlichem Ausmaß die gleichen sind)
. So bemerkt Adorno einmal in bezug auf den ‚Zerfall‘ des von ihm erlebten Kriegs, „an dessen Anfang sich schon keiner mehr erinnern kann, wenn er zu Ende sein wird, in diskontinuierliche, durch leere Pausen getrennte Feldzüge“:
Das gilt etwa für die Phänomene von kapitalistischer Produktivität, sportlicher Rekordjagd, Vergewaltigung der Natur (vgl. ebd., 59), Erfahrungsverlust und Kulturindustrie. Zu Marinettis begeisterter Partizipation am kulturindustriellen Betrieb vgl. Hinz, „Il problema“, 80.
Dieser mechanische Rhythmus aber bestimmt völlig das menschliche Verhalten zum Krieg, nicht nur in der Disproportion zwischen der individuellen Körperkraft und der
.
Adorno, Minima, 62f.
Wenn vom modernen Krieg aufgrund der „Unangemessenheit des Leibes an die Materialschlacht“ keine eigentliche Erzählung mehr denkbar ist und wenn den militärischen Ereignissen, die idealtypisch zu Explosionen werden, „Kontinuität, Geschichte, das ‚epische‘ Element“ abhanden kommen, dann gilt für die neuen, fragmentierten Erlebnisweisen Adornos Satz: „Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen“
. Es ist das aber eine Beschreibung, welche die „zeitlose Folge von Schocks“, die Marinettis Texte realisieren sollen, nicht weniger präzis wiedergibt als den „mechanische(n) Rhythmus“ realer Materialschlachten.
Vgl. ebd., 63.
In der Tat ähneln die Marinettischen ,,Tavole Parolibere“ – wie Sanguineti richtig bemerkt – Schlachtfeldern
. Typographisch ist in ihnen die ‚passatistische‘ Idylle der Buchseite ebenso zerrissen wie syntaktisch die zeitgliedernde Abfolge ausformulierter Sätze. Indessen zeigt sich eine der frappantesten Paradoxien futuristischer Textproduktion darin, daß die von ihr hergestellten Kriegsbilder meistens den Eindruck vermitteln, eher auf den erstarrten Zustand nach der Schlacht als auf die dynamischen Momente der Schlacht selbst bezogen zu sein
Vgl. Hinz, DieZukunft, 107.
Daß Marinettis Texte Statik erzeugen, indem sie Dynamikpausen- und distanzlos forcieren, ist die Hauptthese von Hinz’ überwiegend negativ wertenden Textanalysen; vgl. ebd., 74ffoder 103.Ähnlich lautet im übrigen das – wohl treffende – Urteil von Octavio Paz: „El poema futurista no se encaminaba hacia el futuro sino que se precipitaba por el agujero del instante o se inmovilizaba en una serie inconexa de instantes fijos. Eliminación del tiempo como sucesión y como cambio: la estética futurista del movimiento se resolvió en la abolición del movimiento“ (Los hijos del limo, Barcelona – Caracas – México 31981, 171).Freilich muß dies Urteil angesichts von Paz’ zukunftsfeindlicher „poética del instante“ nicht unbedingt einen Tadel implizieren.
An diesem Basistext der futuristischen Poetik ist nämlich ebenfalls die Schnelligkeit bemerkenswert, mit der die zu Beginn angeschlagenen Töne einer Befreiungsemphase, die den Wörtern im Kerker ihrer Syntax gilt, gleichsam im Handumdrehn der Kehrseite von Befreiung, das heißt: einem Aufruf zur Unterdrückung und Zerstörung, Platz machen. Dabei mag es nützlich sein, noch einmal genauer die Hauptpunkte des technischen Manifests zu betrachten, welche von der ‚Destruktion‘ der Syntax (Punkt I) zur ‚Destruktion‘ des Ich (Punkt II) fortschreiten
. Wie man unschwer registrieren kann, gebraucht ihre sloganartig autoritäre Formulierung geradezu trommelnd vier Synonyme von Zerstörung. Gemeint sind die Verben „distruggere“ (bezogen auf Syntax und Ich), „annullare“ (bezogen auf die Interpunktion), „sopprimere“ (bezogen auf Adjektive, Adverbien, Konjunktionen und Vergleichspartikeln), vor allem aber „abolire“ (das gleichfalls auf Adjektiv, Adverb, Interpunktion und schließlich den Menschen bezogen wird). Von Befreiung kann bei den durch diese Verben bestimmten Imperativen nicht mehr die Rede sein; denn der Gegenstand der Befehle, die hier erlassen werden, ist ja nichts anderes als die Transformation literarischer Texte in „strumenti di distruzione“, die auf die Sprache überkommener und konkurrierender Dichtung, ja auf ihr eigenes kommunikatives Potential, ähnlich einwirken wie die Schnelligkeit und Sprengkraft technisch avancierter
Vgl. Marinetti, Teoria, 41–44.
Wie das doppelte Vernichtungswerk, das Marinettis „parole in libertà“ betreiben, im einzelnen funktioniert, läßt sich schon aus praktischen Gründen typographischer Reproduzierbarkeit nur schwer darstellen. Faute de mieux, präsentieren wir als einzigen Beleg für unsere Betrachtungen einen wenig bekannten Kurztext, der in einer 1917 publizierten Version des Manifests Distruzione della sintassi (nun unter dem Titel Letteratura futurista)als Anhang und Exempel figuriert:
Avanguardie: 20 metri battaglioni-formiche cavalleria-ragni strade-guadi generale-isolotto staffette-cavallette sabbie-rivoluzione obici-tribuni nuvole-graticole fucili-martiri shrapnels-aureole moltiplicazione addizione divisione obici-sottrazione granata-cancellatura grondare colare frana blocchi valanga
.
Ebd., LXXXIX.
Was den Text, der offenbar besonders nachdrücklich die Technik des „sostantivo doppio"“exemplifizieren soll, interessant macht, ist die ihm beigefügte „Traduzione di queste parole in libertà in forma tradizionale“, also ein Beispiel dessen, was man nach Genettes Intertextualitätstypologie „auto-transtylisation“ nennen könnte
. Aus ihr geht hervor, daß die vom Text suggerierte Kriegsszene eine Konfrontation der (natürlich siegreichen) italienischen Vorhut mit (natürlich unterlegenen) türkischen Truppen zum Inhalt hat. Eine Art Höhepunkt, der vor dem durch die Infinitive „grondare“ (des Bluts) und „colare“ (der feindlichen Bataillone) eingeleiteten, lawinenhaft überwältigenden Sieg der Italiener stattfindet, ergeben nach Auskunft der Übersetzung die Syntagmen „o ici-sottrazione“ und „granata-cancellatura“. Zur „forma tradizionale” ausgeweitet, wären sie folgendermaßen zu lesen: „Gli obici, di tanto in tanto, sottraevano dalla battaglia intere compagnie. Ecco una granata cancellare tutto uno squadrone“
Vgl. G. Genette, Palimpsestes, Paris 1982, 261.
Marinetti, Teoria, LXXXIX.
Lassen wir dahingestellt sein, ob die Substantivdopplungen dieser „parole in libertà“ expressiv das erreichen, was sozusagen ihren poetologischen Auftrag ausmacht. Wesentlicher als die vielleicht bizarr mißglückte Realisierung der futuristischen Poetik erscheinen mir an einem solchen Text die Prinzipien, welche ihm zugrundeliegen, und die wirken keineswegs bizarr, sondern entschieden beunruhigend. Indem Marinetti in seiner Kriegsdichtung das Prinzip größter destruktiver Kraft mit dem Prinzip äußerster Schnelligkeit zu koppeln sucht, schreibt er nach einer Logik, die – eben futuristisch – vorauseilend die Logik von Hiroshima sein möchte. Deshalb können wir zum Schluß nicht umhin, für das nach wie vor umstrittene Urteil über Marinetti und den Rang, der ihm in der Geschichte des 20.Jahrhunderts zusteht
, Gerechtigkeit einzufordern. Sie würde essentiell darin bestehen, seine Texte und Projekte nicht länger – wohlmeinend oder übelwollend? – zu verharmlosen, sondern am Extrempunkt dessen zu situieren, was Karl Heinz Bohrer die „Imagination des Bösen“ nennt
Bezeichnenderweise hatte Marinetti neben Gegnern in allen Lagern ja stets auch Befürworter, deren politisches Spektrum – wenigstens zeitweilig – von Mussolini bis Gramsci reichte; vgl. Hinz, Die Zukunft, 155ff. und 248ff. (zur episodenreichen Rezeption Marinettis in Rußland).
Vgl. „Die permanente Theodizee“, Merkur 41 (1987) H. 458, 267–286, hier 268ff.
Bei D’Annunzio wird der Weltkrieg von einer „race élue“ gegen Österreich, dessen Kaiser „il boia d’Asburgo, l’antico / uccisor d’infermi e d’inermi, / il mutilator di fanciulli / e di femmine“ ist, und gegen Feinde, die in serbischen Orten ‚Greise ohne Augen, Frauen ohne Brüste, Kinder ohne Arme und Beine‘ hinterlassen, als ein angesichts solcher Infamien gerechter und historisch notwendiger geführt (vgl. D’Annunzio, Versi d’Amore e di Gloria, Milano 111980, 993, 1028 und 1036).Dagegen exaltiert Marinetti, der eine ‚kollektive Hygiene von Blutduschen im Rhythmus von zehn Jahren‘ (Teoria, 248:„la nostra igiene collettiva di doccia sanguinosa decennale“) liebt, die ,inspirierte‘, doch letztlich bewußt rechtfertigungslose eigene Violenz (vgl. etwa ebd., 291). Den germanischen Feind, der ohnehin unterlegen und zum ‚passatistischen‘ Opfer bestimmt ist, trifft hier nur eine vergleichsweise genetische Animosität, so wenn es beispielsweise im Widerspruch gegen den „tipo unico europeo, sognato da Nietzsche“ heißt: „Questo filosofo non odiava sufficientemente il tipo germanico, per poter comprendere l’irriducibile antipatia che divide tutte le razze dall’indigesta razza tedesca“ (ebd., 248).