« zurück
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:usb-068-244 | Druckversion | Metadaten
Quelle: bisher unveröffentlicht
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:usb-068-244 | Druckversion | Metadaten
Quelle: bisher unveröffentlicht
Zur Eigenart des literarischen ‚Barock‘ in Italien
Giovan Battista Marinos Idilli pastorali
Wenn man den Terminus ‚Barock‘ als einen Stil- und Epochenbegriff der
Literaturgeschichte verwendet, so ist das bekanntlich eine durchaus
problematische Angelegenheit. In der Tat lassen sich am Barockbegriff
exemplarisch sowohl die fragwürdigen wie die attraktiven Seiten beobachten,
welche mit aller Konzeptualisierung historischer Epochen oder Perioden
unweigerlich verbunden sind. Dabei gehört zu den fragwürdigen Seiten sicherlich
der Umstand, daß das Konzept der Epoche, die es bezeichnen soll, in diesem Fall
völlig fremd war: ein Umstand, der den Terminus Barock etwa von dem der
Renaissance oder erst recht von dem der Romantik unterscheidet. Der ausgeprägte
Konstrukt-Charakter, der bis zu einem gewissen Grad allen Epochenbegriffen zu
eigen ist, wird beim Konzept des Barock also besonders deutlich sichtbar. Wo der
Epochenbegriff sich derart offenkundig als eine sehr nachträgliche Konstruktion
erweist, kann man indes gerade wegen seiner prekären Grundlagen annehmen, daß
die späte Erfindung und Ausgestaltung dieses Begriffs einem einigermaßen
dringlichen historiographischen Bedürfnis entsprochen hat (vgl. Postmoderne) .
Dazu kommt, daß der Begriff Barock in der Literaturgeschichtsschreibung
nicht eigentlich zuhause ist, sondern ursprünglich einen Import aus der
Kunstgeschichte darstellt. Von größter Bedeutung sind hier die Schriften
Heinrich Wölfflins: zunächst die eher traditionell kunstgeschichtlich
orientierte Abhandlung Renaissance und Barock (1888),
dann in einem noch stärkeren Maß die transdisziplinär enorm erfolgreichen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe (1915), mit denen die
historischen Differenzierungen der frühen Studie zu stiltypischen Oppositionen
ausgeweitet und generalisiert wurden. Die Motive, welche den Erfolg von
Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen ausgelöst
haben, erklären gleichzeitig wohl auch die bemerkenswerte Karriere, die das
Konzept Barock seit den zwanziger Jahren in der Literaturwissenschaft gemacht
hat. Durch die Wöfflinschen Grundbegriffe erhielten die
Wissenschaften von den Künsten nämlich zum ersten Mal ein explizites
konzeptuelles Instrumentarium, mit dem sie die historistische Entdeckung einer
Multiplizität des Schönen, also einer grundsätzlich pluralisierten Ästhetik,
nicht nur postulieren, sondern darüber hinaus in detaillierten
Beschreibungen entfalten konnten.
Tatsächlich bedeuteten die Kategorien, mit denen Wölfflin das
idealtypisch barocke Kunstwerk erfaßte (das „Malerische“, die „Tiefe“, die
„offene Form“, die „Einheit“ und die „bedingte Klarheit“ alias „Dunkelheit“) ,
neben der Wahrnehmung neuer Aspekte an den thematisierten Phänomenen ja auch
deren radikale Aufwertung. Anders als bei Jacob Burckhardt ist es bei Wölfflin
eben kein „Qualitätsunterschied“ mehr, „wenn der Barock von den Idealen Dürers
und Raffaels abfiel, sondern [...] eine andere Orientierung zur Welt“; denn „dem
Werte nach“ stehen „die (klassische) Kunst des Cinquecento und die (barocke)
Kunst des Seicento“ nun – wie es bei Wölfflin ausdrücklich heißt – „auf einer
Linie“. Was von Wölfflin dem „Grundbegriff“ des Barock (statt jenem der
Renaissance) zugeordnet wird, soll folglich nicht nur neu gesehen werden. Es
erhält durch Wölfflins Kategorien vielmehr auch eine neue ästhetische Dignität,
welche gegenüber der Burckhardtschen Norm der Renaissance-Klassizität einerseits
wohl Differenz zugesteht, andererseits aber gerade durch die Differenz
Gleichrangigkeit beansprucht.
Der Effekt einer solchen Aufwertung des Nicht-Klassischen trotz oder
vielmehr dank seiner Differenz zum Klassischen mußte den Barockbegriff überall
dort willkommen erscheinen lassen, wo Kunst oder Literatur der auf die
Renaissance folgenden Periode bis dahin vorwiegend unter dem Aspekt von Verfall
oder Verirrung wahrgenommen worden waren. So kam es seit den zwanziger Jahren –
wie gesagt – zu einer raschen Rezeption des Konzepts zunächst in der
germanistischen Literaturwissenschaft, welche dann weitere Rezeptionsprozesse
jenseits der Germanistik und jenseits des deutschsprachigen Kulturraums nach
sich zog. Dabei wurde der literaturwissenschaftlich transformierte Barockbegriff
verständlicherweise mit besonderer Freude von Kulturen aufgenommen, deren
Literatur sich seit dem 18. Jahrhundert gegenüber dem hegemonialen französischen
Classicisme und Rationalismus in einem notorischen
Rechtfertigungszwang befunden hatte (Muratori, Luzán). Das gilt vor allem für
die Literaturen Italiens und Spaniens bzw. Portugals. Bei ihnen blieb die
Anwendung und Ausgestaltung des Begriffs Barock kein den deutschsprachigen
Romanisten vorbehaltenes Interesse, sondern fand seit den vierziger und
fünfziger Jahren auch mehr und mehr einheimische Interessenten. Für sie bestand
der wesentliche Reiz des Wölfflinschen Konzepts ebenso wie für die deutschen
oder österreichischen Germanisten in dem Effekt einer
stiltypologischen Positivierung von Phänomenen, deren zuvor gebräuchliche
Bezeichnungen überwiegend negative Konnotationen entwickelt hatten: wie etwa
‚Schwulst‘, Secentismo, Marinismo, Culteranismo, Gongorismo, Conceptismo usw. In
der Tat trugen die Kategorien, die im Zuge der Barock-Forschung erarbeitet
wurden, beträchtlich dazu bei, eine Reihe von Autoren, die sich eines
zweifelhaften Rufs erfreuten, vor allem in der spanischen Literatur zu
kanonisieren bzw. zu re-kanonisieren: Ich denke hier in erster Linie an die
Fälle Góngoras, Quevedos oder Graciáns, deren Nachruhm erst durch das Prestige
von seinerzeit neuartigen Stilkonzepten wie Barock oder (dazu gleichzeitig
analog und alternativ) Manierismus zu einem Rang von unangezweifelter
Kanonizität aufsteigen konnte.
Nun ist bemerkenswert, daß die spanische und die italienische Literatur
in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gegenüber den später hegemonialen
klassizistischen Entwicklungen der französischen Literatur zwar ein durchaus
ähnliches Verhältnis einnehmen, daß bei der neueren Literaturkritik und
Literaturwissenschaft aber nur die spanische Literatur von der
Konzeptualisierung der Stilepoche Barock wirklich massiv profitiert hat. Während
die vorher angefochtenen ‚Konzeptisten‘ und ‚Kulteranisten‘ in Spanien ohne
Einschränkung auf den Parnass der Nationalliteratur, ja der Weltliteratur
befördert wurden, ist in Italien ein (Re)Kanonisierungseffekt von vergleichbarer
Größenordnung ausgeblieben. Auf den ersten Blick gesehen, ist diese
Zurückhaltung bei der (Re)Kanonisierung ‚barocker‘ bzw. manieristischer
Literatur um so erstaunlicher als Italien während der ersten Jahrzehnte des
Seicento ja über einen Autor verfügte, der zu seiner Zeit nicht nur in Italien
als der fraglos größte aller Dichter galt: Ich meine Giovan Battista Marino.
Marinos Werk mochte unter den Zeitgenossen in manchen poetologischen
Einzelheiten umstritten sein; doch bestanden an seiner Größe kaum grundsätzliche
Zweifel. Die Texte des Neapolitaners wurden sowohl in Frankreich (wie etwa von
Chapelain) als auch in Spanien (wie beispielsweise von Gracián) als
außerordentliche Ereignisse wahrgenommen, und in Italien selbst beeilten sich
manche Literaten – wie der Lyriker Claudio Achillini – zu versichern, Marino sei
‚der größte Dichter, der je unter den Toskanern, den Römern, den Griechen, den
Ägyptern, den Arabern, den Chaldäern oder den Hebräern geboren worden sei‘. Oder
in einer Darstellung der italienischen Lyrik aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Federigo Meninnis Ritratto del
Sonetto, wird die Fortschrittsgeschichte der italienischen Dichtung
folgendermaßen dargestellt: (übersetzt)
‚In der Lyrik begann die erste Epoche der Perfektion im Jahr 1350
mit Petrarca, die zweite 1550 mit Luigi Tansillo, Angelo di Costanzo, Antonio
Ongaro, und die dritte, nun völlig perfekte Epoche 1600 mit Giovan Battista
Marini‘.
Man kann also – zumal in Anbetracht von Marinos Fortüne am
französischen Hof – mit Sicherheit sagen, daß seine europäische Reputation bei
den Zeitgenossen die der spanischen Barock-Autoren bei weitem übertraf. Wenn
sich seine Wertschätzung trotzdem nicht im gleichen Maß wie die der Spanier
erneuert hat, dann zeigt dieser Unterschied, der idealtypisch in den kritischen
Stellungnahmen von Hugo Friedrichs Epochen der italienischen
Lyrik zum Ausdruck kommt, daß die Dichtung des italienischen Barock,
wie sie von ihrem berühmtesten Vertreter repräsentiert wird, Züge besitzen muß,
die ihr eine bestimmte (und eher kurzfristig als langfristig
rezeptionsförderliche) Eigenart verleihen. Von Hugo Friedrich ist diese Eigenart
Marinos in einer Haltung herber Kritik mit dem Begriff einer letztlich leeren
„Überrhetorisierung“ erfaßt worden. Eine solche Überrhetorisierung führe zur
„Unangemessenheit zwischen Sache und Sprache, zwischen Momentrealismus und
Verbrämung“, und schließlich lautet Friedrichs Urteil selbst über Marinos
angeblich gelungenstes Buch, die Idyllen der Sampogna:
„Er häuft Geläufiges, ohne es von innen her zu weiten“. Dabei hat die
Friedrichsche Kritik meines Erachtens durchaus ihre Berechtigung. Allerdings
läßt die Art ihrer Formulierung nicht deutlich genug erkennen, wo genau die
spezifischen Differenzen liegen, die Marinos (abgewertete) Dichtung von Góngoras
oder Quevedos (aufgewerteter) Dichtung trennen mögen: Die Sachverhalte von
„Überrhetorisierung“ oder einer „Unangemessenheit zwischen Sache und Sprache“
sind ja Merkmale, welche für die Manierismen der konzeptistischen bzw.
kulteranistischen Spanier nicht weniger gelten als für Marinos ingeniöse
Virtuosität.
Ich versuche daher, die Eigenart von Marinos Dichtung, die ihm in
seiner Epoche Ruhm eintrug und ihn dagegen im 20.Jahrhundert hinter den Spaniern
des Siglo de Oro, aber auch hinter den Metaphysical Poets zurücktreten ließ, mit
einigen zusätzlichen und – wie ich hoffe – distinktionsschärferen
Charakteristika zu versehen. Aus kommunikativen Gründen möchte ich dabei die
wesentlichen Züge, die ich anschließend am Beispiel von zwei ‚Idilli pastorali‘
kurz exemplifiziere, zunächst summarisch vorwegnehmen. Es handelt
sich um vier Tendenzen, welche ich im Rahmen dieses Vortrags lediglich nenne,
ohne sie zugleich auch historisch erklären zu können. (Für eine Erklärung fehlt
die Zeit; oft bleiben die Fragen nach den Motiven der Stilphänomene aber auch
für mich selbst offene Probleme).
1) Auf inhaltlicher Ebene kennzeichnet Marinos Dichtung – im Adone, in den Idyllen der Sampogna, in den Sonetten und Canzonetten der Lira
– eine Neigung zu einem erotischen Sensualismus, der nicht mehr, wie
traditionell üblich, durch das Register der Komik gleichsam neutralisiert wird.
Symptomatisch dazu die Kritik des Spaniers Gracián, der im Criticón beklagt:
„Lástima es que este culto plectro del Marino haya dado en tanta inmundicia
lasciva“ (‚es ist schade, daß die virtuose Muse Marinos sich letzthin auf
solchen lasziven Schmutz eingelassen hat‘). Charakteristisch dafür erscheint
Marinos Vorliebe für das Genus des Epithalamion, das er durch Anleihen bei Ovids
Ars amatoria kühn (kühn zumal in einem
gegenreformatorischen Kontext) erneuert und sogar in das Epos des Adone integriert.
2) Auf stilistischer Ebene ist kennzeichnend, daß Marino die
epochenspezifische und für den literarischen Barock schlechthin konstitutive
Neigung zum Konzeptismus prononciert, dabei aber – in scharfem Gegensatz zu
Góngora – kaum Dunkelheiten riskiert. Um den pointierten Gedankenfiguren
möglichst großen Eclat zu geben, achtet Marino durchaus auf syntaktische
Klarheit, weshalb etwa die Figur des Hyperbaton in seinen Texten keine
sonderliche Rolle spielt. Durch das Fehlen bewußter Dunkelheit ermangelt die
Dichtung Marinos einer Góngora vergleichbaren Faszinationskraft, welche
poetologische Anschlußmöglichkeiten für die Lyrik der Moderne – des ‚Ermetismo‘,
des Surrealismus, der spanischen ‚Generation von 27‘ – bieten würde.
3) Für eine Rezeption durch die klassische Moderne wirkt gleichfalls
hinderlich, daß Marinos Dichtung, in der ein weltverhafteter Hedonismus über die
Weltvernichtung des ‚desengaño‘ dominiert, selten oder nie Spuren von
existentiellem Ernst erkennen läßt. Statt dessen sind die Texte Marinos durch
einen ludischen Zug geprägt, der insbesondere durch Experimente mit offenbar
kühl kalkulierten Gattungs- und Stilkombinationen zum Ausdruck kommt. Unter
allen Autoren des europäischen Barock ist Marino wohl am pronociertesten ein
experimenteller Dichter. Idealtypisch wird das durch das Großexperiment des Adone belegt, also durch den Versuch, ein Epos ohne kriegerische Handlung und mit vorwiegend idyllisch-erotischen
Beschreibungen zu verfassen (was der Marino-Bewunderer Chapelain wohlwollend ein
„poëme de paix“, im Unterschied zum „poëme de guerre“, nennt, der
Marino-Kritiker Tommaso Stigliani übelwollend ein „poema di madrigali“, das
generische Paradoxon eines aus galanten Madrigalen zusammengesetzten Epos).
4) Wenn durch die Neigung zum spielerischen Experiment bei Marino
offenbar eher Anschlußmöglichkeiten zur Postmoderne als zur Moderne bestehen
(man denke in diesem Zusammenhang an die Marino-Pastiches in Umberto Ecos
drittem Roman L'isola del giorno prima), dann bestätigt
sich diese typologische Affinität durch die fast programmatisch intertextuelle
Konstitution von Marinos Dichtung. Tatsächlich kommt es bei Marino wie nie zuvor
zu einer Praxis kontinuierlicher Intertextualität in einem sehr spezifischen
Sinn. Gemeint ist damit, daß Marinos Dichtung nicht nur ‚systemreferentiell‘ auf
vorgegebene Gattungstraditionen bezogen ist, sondern daß sie sich als Selektion,
Transformation und Variation bestimmter Einzeltexte entwickelt. Mit solcher
intertextuellen Verfaßtheit ist zugleich ein starkes Pathos von Innovation
verbunden. Beides gehört gleichsam systematisch zusammen, da das Programm
literarischer Innovation verlangt, ständig den Abstand zum intertextuell
Vorgegebenen auszumessen.
Die Merkmale, die ich bislang resümiert habe, lassen sich nun
exemplarisch an zwei Texten der ‚Idilli pastorali‘ aus der Sampogna beobachten, der Bruna Pastorella (der
‚farbigen Schäferin‘) und der Ninfa avara (der
‚habgierigen Nymphe‘). Beide Stücke gehören dem zweiten Teil der Sampogna an, also den ‚Idilli pastorali‘ im Gegensatz zu
den ‚Idilli mitologici‘ des ersten Teils. Bei den ‚Idilli mitologici‘ handelt es
sich um Epyllien ovidianischen Charakters, die ihren antiken und modernen
Vorlagen relativ enger folgen; die ‚Idilli pastorali‘ stellen demgegenüber in
strikterem Sinn Theokritische Idyllen dar, die zumeist einen
szenisch-dialogischen Charakter besitzen.
Indessen sind sowohl die Bruna pastorella wie
die Ninfa avara dadurch gekennzeichnet, daß sie gegenüber
der Gattungstradition, in die sie sich einschreiben, eklatante Abweichungen bzw.
Innovationen aufweisen, zum einen gegenüber der Tradition der idyllischen
Schäferdichtung, zum anderen erst recht gegenüber der umfassenden
Diskurstradition der petrarkistischen Liebesdichtung. Besonders deutlich wird das im Fall der Bruna Pastorella. Wie
schon der Titel anzeigt, ist die Schäferin hier eine farbige Sklavin, so daß
sich gegenüber der petrarkistischen Konstellation eine pointierte Umkehrung
ergibt. Der Liebende, Lidio, befindet sich jetzt in der Position sozialer wie
erotischer Überlegenheit, während die Geliebte, Lilla, in der Rolle ergebener
Knechtschaft auftritt. Die Umkehrung der petrarkistischen Ausgangssituation hat
zur Folge, daß es von Seiten des überlegenen männlichen Partners kaum noch der
Werbung und der Überredung zur Liebe bedarf. Vielmehr ist der Ausgangspunkt der
idyllischen Szene jener eines Epithalamions verwandt, bei dem ja nicht mehr
petrarkistisch um das Ob, sondern allein noch ovidianisch um das Wie der Liebe
geht. In der Tat entwickelt die Szene auch keine wirklich nennenswerten
Spannungen. Statt des pathetischen Kampfes zwischen männlichem Begehren und
weiblicher Verweigerung, wie er die petrarkistische Tradition bestimmt,
präsentiert die Idylle von der Bruna pastorella die
sowohl spezielleren wie leichteren Probleme einer Ars
amatoria oder vielmehr ‚ars osculandi‘, denen Marino bereits seine berühmt
gewordene, Ioannes Secundus amplifizierende Canzone
de’baci gewidmet hatte. Im Mittelpunkt solcher Probleme steht etwa die
Frage, ob der Liebende, der jetzt eben ein Liebhaber ist, mit seinen Küssen eher
den Mund der Geliebten, der sie erwidern kann, bedenken soll, oder eher die
Augen, die nicht replizieren können. Lilla, die Geliebte, plädiert für den Mund,
um angemessen zu antworten („la bocca sol de’ baci/ vicendevoli e dolci è vera
sede./ Ogni altra parte asciutto il bacio prende,/ il riceve e nol rende“
[1]
); Lidio zieht dagegen die Augen vor, in denen er – konzeptistisch – die
ihm von der Geliebten geraubte eigene Seele vermutet. Ganz glücklich wird der
Liebhaber mit dieser Entscheidung für die Augen im übrigen nicht, da er beim Kuß
in ihnen sein eigenes Bild gleich zweifach gespiegelt sieht und deshalb
fürchtet, sich durch die Dopplung einen imaginären Rivalen verschafft zu haben.
So folgt dann die Wendung von den Augen zum Herz: „ch’io per me più non curo/ in
sì lucidi fonti esser Narciso,/ per non vedere in duo diversi oggetti/ il
proprio amor diviso“
[2]
.
Mit dem Narzißmus der Liebessituation ist freilich auch ein Narzißmus
der literarischen Situation verbunden, die eine intertextuelle Beziehung zu
Marinos eigenem Werk impliziert. Die Szene beginnt nämlich damit, daß Lidio sich
beim Rendezvous mit Lilla für eine Verspätung entschuldigen muß. Begründet wird
die Verspätung durch die Verabschiedung des besonders kunstreichen Schäfers
Fileno, der – wie es heißt – vom ‚großen Schäfer der Seine‘ nach
Frankreich berufen wurde. Dieser Schäfer Fileno ist nun die pastorale Maske,
unter der Marino sich in dem Text selber in Szene setzt. Unter dem Namen Fileno
läßt er sich von Lidio loben, und zwar bezeichnenderweise als der große
Erneuerer des Gesangs, „Filen, da cui la turba/ de’moderni pastori/ apprese in
questi boschi/ la novità del non più udito canto“
[3]
. Anläßlich seines Abschieds hat Fileno seinem Freund einen Band seiner
Gedichte geschenkt, also ein Exemplar der Lira, und eben
diesen Band bringt Lidio jetzt mit zum Rendezvous, um einige Gedichte gemeinsam
mit der Geliebten zu lesen. Dabei übergehen die Liebenden die sogenannten „carmi
gravi“ und wenden sich statt dessen Gedichten mit den Titeln „Amoroso duello“
oder „Notturni amori“ zu. Indem sie sich durch die Lektüre auf die Freuden
vorbereiten, welche das Genus Epithalamion für sie arrangiert hat, benutzen sie
Marinos Gedichtbuch – wohl erstmals in der europäischen Literaturgeschichte mit
vollem auktorialen Einverständnis – als ein Aphrodisiakum. Zu intensiver
Aufmerksamkeit gelangt das Lesen dann, wie sie auf das Sonett von der „Bella
schiava“ („questo grazioso epi-gramma“) stoßen, eines von Marinos berühmtesten
Sonetten, das im Rahmen der Idylle auch mit seinen beiden ersten Versen zitiert
wird („Odi come comincia:/ – Negra, sì, ma sei bella, o di Natura,/ tra le belle
d’Amor, leggiadro mostro –“
[4]
). Im Rahmen der Idylle wird fingiert, daß Fileno-Marino dies Sonett im
Auftrag Lidios für die farbige Schäferin geschrieben habe. Und daß mit dem
Selbstzitat auch eine Selbstbestätigung des Autors verbunden ist, mag sich an
der Wirkung des Gedichts in der fiktionalen Situation erweisen; denn bei der
Lektüre eben dieses Sonetts, geht bei dem schäferlichen Paar der Akt des Lesens
in den der Liebe über.
Die Abweichung, welche die andere Idylle, La Ninfa
avara vom Gattungsüblichen vollzieht, wirkt nicht weniger eklatant. Die
Szene, die sich hier zwischen Filaura, der habgierigen Nymphe, und dem liebenden
Schäfer Fileno alias Marino abspielt, ist insofern dramatischer, als Filaura
ihrem Verehrer keineswegs wie Lilla ergeben ist. Wenn sie sich gegen die Liebe
sträubt, tut sie das jedoch nicht aus den petrarkistisch sanktionierten Gründen,
weil sie keusch bleiben möchte. Sie möchte ihrer Liebesbereitschaft vielmehr
einen bestimmten Tauschwert verleihen, der höher sein soll als die Leistungen,
welche Fileno ihr in Aussicht stellt. Fileno bietet der Geliebten nämlich an,
was Schäfer in einer Idylle üblicherweise zu bieten pflegen: sein Herz, seine
Liebe und vor allem den Gesang seiner Dichtung. Dagegen verlangt die
Nymphe konkrete „Gaben“ („doni“), denen sie auf keinen Fall Filenos „canzonette
leggiadre“ zählt; denn die seien ‚Schatten, Nebel und Rauch‘: ‚Die Luft schluckt
sie und der Wind zerstreut sie‘, und daher: „A chi favole spende, io ciance
vendo,/ e, se nulla mi dai, nulla ti rendo“ (Wer Redensarten ausgibt, dem
verkaufe ich Geschwätz, und wenn du mir nichts zahlst, dann gebe ich dir auch
nichts zurück). Erneut wird von Marino also ein Sujet in den thematischen Raum
der Idylle integriert, das nach der traditionellen literarischen
Repräsentationsordnung entschieden komisch kodiert war. In der Bruna pastorella waren das die „amori ancillari“, die bequemen Amouren
mit der Dienerschaft, gewesen; in der Ninfa avara ist es
jetzt der Sachverhalt von Prostitution.
Dabei ist wichtig zu unterstreichen, daß die traditionell komisch
intonierten Materien in Marinos Idyllen eben nicht mehr in die Sprache der
Burleske gefaßt werden. Zwar reduziert Filaura alle Schönheit auf deren
Tauschwert und stimmt eine Art Hymne auf das Gold als Zahlungsmittel oder –
genereller formuliert – als Medium an. Das tut sie jedoch nicht in einem
gehörigen, satirischen Ton, wie er etwa in Quevedos berühmter Letrilla Poderoso caballero es don Dinero an der generischen
Ordnung war. Vielmehr setzt für diesen Hymnus ein forciert sublimes Register ein
(„Oro, di stirpe illustre/ generosa progenie e nobil figlio“
[5]
). Dadurch kann die Exaltation von Geldwert und prinzipieller Käuflichkeit
der Liebe, auf der gleichen erhöhten Stilebene genau jene Verhältnisse ins
Positive umkehren, die in Torquato Tassos Schäferspiel Aminta den Gegenstand einer berühmt gewordenen Invektive gebildet hatten.
Im Aminta war der Protos Heuretes der käuflichen Liebe
nämlich im Gedenken an einen Passus von Tibull (I 4, 59f.: „At tua, qui venerem
docuisti vendere primus,/ quisquis es, infelix urgeat ossa lapis“) verflucht
worden, bevor Tassos Sprecher, in diesem Fall der unzivilisierte, ‚altfeudale‘
Satiro, in schärfstem Gegensatz zu seiner späteren Widerrednerin Filaura
erklärte:
| ||
| ||
| ||
|
Das ist indessen nicht die einzige intertextuelle Reminiszenz, die
Marinos Ninfa avara mit Tassos Aminta verbindet. Bedeutsamer sind noch die Abschnitte einer Rede, mit der
Fileno die reservierte Schäferin von der unausweichlichen
Universalität des Liebesbegehrens überzeugen möchte, wie es sich in aller Natur,
auch unter Tieren und Pflanzen manifestiert. Die Argumente dieser Rede
entstammen zwei inhaltlich analogen Passagen des Aminta,
wo die spröde Silvia zur Liebe ermuntert werden sollte, und des Pastor fido von Guarini, wo der spröde Silvio ungefähr
die gleichen Dinge zu hören bekam. Filaura, die eine gewitzte Person ist, nimmt
die Hypotexte, welche Filenos Argumentation variiert, auch sofort wahr und
bemerkt mit einer geradezu literaturkritischen Wendung: „Quando Dafne essortava/
Silvia ad amar Aminta,/ con questa invenzion le predicava./ Poi, quando a Silvio
Linco/ pur altro amor persuader volea,/ il medesmo dicea“ (Als Dafne Silvia
mahnte, Aminta zu lieben, benutzte sie diese Argumente. Und als Linco dann
Silvio zu einer anderen Liebe überreden wollte, sagte er das Gleiche). Darauf
bringt Filaura aufs neue jenes Innovationskriterium zur Geltung, das schon in
der Bruna Pastorella die „novità del non più udito canto“
gefeiert hatte, und befindet, Filenos Rede sei zwar schön und gut, aber zugleich
derart alt und abgedroschen, daß die Schönheit, weil sie allzu vertraut geworden
sei, nichts mehr zu besagen habe: „Fileno, il tuo discorso/ è vago e dotto
invero; ma sì trito e commune,/ e già sì antico omai, che sa di vieto“. Ins
Positive gewendet, bedeutet diese Kritik der so klugen wie gierigen Nymphe dann:
| ||
| ||
| ||
| ||
|
Damit ist der emphatische Modernismus, der die barock-manieristische
Poetik gerade Marinos prägt, in seltener Konturenschärfe formuliert. Filaura
vertritt hier eine Art formalistischer Ästhetik des écart, das heißt: der bewußten formalen Abweichung und Verfremdung, welche
selbstverständlich nicht ohne beständige intertextuelle Selbstkontrollen und
Rückversicherungen anhand des Repertoriums schon geschriebener Texte auskommt.
Gleichzeitig hat es seine Bedeutung, wenn eine solche Poetik der Innovation just
von der handelstüchtigen, ja merkantil prostitutionsbereiten Filaura vertreten
wird. Die Affinität von Sprecherin und Argument macht bewußt, dass später auch
bei Gracián eine Doktrin der ästhetischen Innovation pointiert auf die
ökonomischen Gesetze des Marktes verweist. So begründet Gracián die
„Excelencia de primero“ (Die Exzellenz, die darin besteht, der erste in
zeitlicher Folge zu sein) im Héroe folgendermaßen: „Es la
pluralidad descrédito de sì misma, aun en preciosos quilates; y, al contrario la
raridad encarece la moderada perfección“ (Die Fülle mindert ihren eigenen Wert,
selbst bei kostbaren Karaten; und umgekehrt steigert die Seltenheit auch eine
mäßige Qualität) (Mit vielen Varianten
[8]
) . Derart zeichnet sich auch in Marinos dissonanter Idylle – ähnlich wie
später in Graciáns desillusionierten Aphorismen – ein erstes Bewußtsein der
systemischen Nähe von Innovationsästhetik und Marktgesetzen ab, und vielleicht
besteht die innerste Eigenart der Marinoschen Variante barocker Dichtung gerade
darin, daß Marino in der europäischen Literaturgeschichte des frühen 17.
Jahrhunderts nicht nur den Idealtyp des experimentell innovativen Autors
dargestellt hat, sondern auch das wohl erste Beispiel eines dezidiert (und
erfolgreich) marktorientierten Literaten.
1 |
Anm. d. Hg.: Im Folgenden werden die handschriftlichen
Ergänzungen von Ulrich Schulz-Buschhaus in den Fußnoten (kursiv)
angegeben. Übersetzung USB: allein der Mund ist
der wahre Ort für wechselseitige süße Küsse. Jeder andere
Körperteil nimmt den Kuß trocken an, empfängt ihn und gibt ihn
nicht zurück.
|
2 |
Üs. USB: denn ich möchte in so klaren
Quellen nicht mehr Narziß sein, um meine Liebe nicht in zwei
verschiedene Gestalten geteilt zu sehen.
|
3 |
Üs. USB: Filen, von dem die Schar der
modernen Schäfer/ in diesen Wäldern/ die Neuheit des noch nie
gehörten Gesangs gelernt hat.
|
4 |
Üs. USB: Hör, wie es beginnt: Schwarze
bist du, aber schön, oh unter den Geschöpfen Amors anmutiges
Monstrum der Natur
|
5 |
Üs. USB: O Gold, edler Sohn und vornehmer
Abkömmling aus illustrem Geschlecht
|
6 |
Üs. USB: Käufliche Liebe,/ Liebe, dem
Gold unterworfen,/ ist das größte Monstrum/ und das
schlimmste und das gemeinste,/ das Erde oder Meer
erzeugen.
|
7 |
Üs. USB: Ein exquisiter Geist, der
nicht vulgär sein will, muß vom gezeichneten Weg etwas
abweichen, und auf neuen Wegen neue Gedanken
verfolgen.
|
8 |
Ergänzung USB: Discreto,
Handorakel
|