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Quelle: Iberoromania 31 (1990), 175–177.

Nachruf auf Georg Rudolf Lind

Am 9. Januar 1990 ist Georg Rudolf Lind, emeritierter Ordentlicher Universitätsprofessor für Romanistik an der Karl-Franzens-Universität Graz, in Portugal – seiner zweiten Heimat – im Alter von 63 Jahren verstorben. Eine in Vorbereitung befindliche Festschrift, mit der Kollegen, Schüler und Freunde seinen 65. Geburtstag unter einem euphorischen Titel („Canticum Ibericum“) zu feiern planten, muß nun als Gedenkschrift erscheinen: nicht – wie es die Kontribuenten gewünscht hätten – als Homenaje an ein vitales work in progress, sondern als Erinnerung an ein allzu früh abgebrochenes und in seinem bedeutendsten Projekt (der Pessoa-Übertragung) leider nicht ganz vollendetes Lebenswerk.
Dabei gilt die Erinnerung einem romanistischen Literaturwissenschaftler, der entschieden mehr war als ein (exzellenter) Vertreter seiner Fachdisziplin. Er beherrschte – neben dem Üblichen – souverän eine schwierige Spezialität, die Lusitanistik, und er verband zumal als Übersetzer die Qualitäten des Gelehrten mit jenen des Homme de lettres, ja des Literaten sui generis. Daß Lind nicht nur von Schriftstellern handelte, sondern sich auch selbst als ein solcher fühlte und erwies, geht schon aus der Klarheit seiner weithin terminologiefreien und doch präzisen wissenschaftlichen Prosa hervor. Hinter ihr steht die reiche Erfahrung einer so intensiven wie kontinuierlichen Teilnahme am literarischen Leben verschiedener Kulturkreise. Sie mag ihren Ursprung in der ersten Nachkriegszeit haben, als Lind zwischen Kriegsgefangenschaft und Universitätsstudium ein einjähriges Volontariat bei einer Dortmunder Tageszeitung absolvierte, und sie prägte seine publizistischen Aktivitäten noch während der Grazer Professur: jedenfalls inspirierte ihn (der von Berlin über die Ruhr 1975 an die Mur gekommen war) die damals neue Umgebung dazu, wie ein steirischer Fontane mit regelmäßig veröffentlichten, geistreichen „Streifzügen“ den Einheimischen die vielfältigen Schönheiten ihrer märkischen Heimat nahezubringen. In diesem Zusammenhang braucht kaum noch erwähnt zu werden, daß Lind von einem brennenden (und bei Literarhistorikern ja keineswegs selbstverständlichen) Interesse für die jeweils rezenteste Gegenwartsliteratur beseelt war: so etwa für die Verfahrensweisen, mit denen zwei brasilianische Samba- und Theaterautoren (Chico Buarque de Holanda und Paulo Pontes) den Stoff der antiken Medea-Tragödien 1975 sozialkritisch in das Vorstadtmilieu von Rio de Janeiro versetzten (vgl. Iberoamérica – Homenaje a G. Siebenmann, München 1983, Bd. 1, S. 491–514). Dies Interesse ging auch durchaus über die (ohnehin weit gesteckten) Grenzen des angestammten Faches hinaus. Als ich Lind Anfang Oktober 1989 zum letzten Mal beim Mittagessen traf, erkundigte er sich, jugendlich diskussionsbegierig, nach meinem kritischen Urteil über Salman Rushdies The Satanic Verses und Christoph Ransmayrs Die letzte Welt und war dann ein wenig enttäuscht zu erfahren, daß ich – weniger neugierig und lesetüchtig als er – in beiden Romanen nur flüchtig geblättert hatte.
Als Romanist entstammte Lind, der vor allem in Bonn und Köln studiert hatte, der überaus anregenden Schule Fritz Schalks. Ihr verdankte er nicht nur die Breite seiner romanistischen Kenntnisse, sondern wohl auch die Disposition einer besonderen methodischen Offenheit, die jede Einseitigkeit für suspekt hielt. Zwar hat Lind sich, was die Gegenstände seiner Forschung betrifft, im wesentlichen auf Autoren der klassischen Moderne sowie der Gegenwartsliteratur beschränkt (zu nennen wären hier unter anderen Borges, Cortázar, Vargas Llosa, Octavio Paz, Cabral de Melo Neto, Jorge de Lima oder Guimarães Rosa); doch wußte er bei deren Interpretation die verschiedenartigsten Ansätze und Interessen stets produktiv miteinander zu kombinieren. So ist charakteristisch, daß Linds Oeuvre „werkimmanent“ orientierte Motivstudien (z. B. die Dissertation über Jorge Guillén „Cántico“, Frankfurt a. M. 1955) ebenso umfaßt wie klassische Monographien (z. B. die Habilitationsschrift Teoría poética de Fernando Pessoa, Porto 1970), komparatistische Untersuchungen (z. B. „Eça de Queiroz und die französische Zwei-Deutschland-Theorie“, in: Portugiesische Forschungen der Görres-Gesellschaft, 8 (1969), S. 132–150) oder Essays, die sich auf sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen einlassen. Schlechterdings exemplarisch scheint mir unter diesem Gesichtspunkt der Aufsatz „Fernando Pessoas Livro do Desassossego – ein Brevier der Décadence-Literatur“ zu sein (vgl. Aufstieg und Krise der Vernunft – Festschrift für H. Hinterhäuser, Wien-Köln-Graz 1984, S. 319–335). In einer breit angelegten Werkbeschreibung, die mit großer Umsicht literarhistorische, poetologische, thematologische und soziologische Aspekte zu berücksichtigen versteht, situiert er Pessoas Hilfsbuchhalter Bernardo Soares gleichsam zwischen Huysmans’ Des Esseintes und Sartres Roquentin, um am Ende zu dem prägnant formulierten Fazit zu gelangen: „in Soares begegnen einander die Müdigkeit des Fin-de-siècle und der Weltekel der Existentialisten“.
Wahrscheinlich war es diese Offenheit, die Lind in vorzüglichem Maße zum Übersetzer disponierte. Genaugenommen impliziert eine gelungene Übersetzung ja immer eine umfassende, zumindest multiperspektivische Interpretation des übersetzten Textes. In diesem Sinne hat Lind vor allem das Werk Fernando Pessoas interpretiert, und es ist ohne Zweifel sein Verdienst, wenn Pessoas Schriften nun auch im deutschsprachigen Raum (und. nicht nur im englisch- oder französischsprachigen) zu den bedeutendsten Zeugnissen der klassischen Moderne gerechnet werden. Wie sich in diesen Lindschen Übersetzungstexten die philologische Arbeit mit der literarischen Schöpfung verbindet und vermittelt, ist für den problembewußten Leser stets aufs neue eindrucksvoll zu beobachten, um so mehr als dem Menschen Lind aus der Welt etwa des Bernardo Soares ja allenfalls das sprachsensualistische Bekenntnis „Gósto de dizer [...] gósto de palavrar. As palavras são para mim corpos tocaveis“ vertraut klingen mochte. Mit den Erfahrungen der „Müdigkeit des Fin-de-siècle“, des „Weltekels der Existentialisten“ oder eines „metaphysischen Vakuums“ hatte der unternehmungslustige Reisende und gläubige Orgelspieler dagegen wenig gemein, und es bedurfte sicherlich der hermeneutischen Grundtugend der Bereitschaft zum Einfühlen ins Unvertraute und Fremde, damit zwischen Lind und Bernardo Soares alias Fernando Pessoa jene Verschmelzung der Sprachen, der Empfindungen und der Mentalitäten stattfinden konnte, welche das äußerst seltene Phänomen der gelungenen Übersetzung ausmacht. Ihr Vorbild hat eine solche Verbindung von literaturwissenschaftlicher Reflexion und literarischer Kreativität offensichtlich in den großen, gleichermaßen poetischen wie gelehrten Übersetzungen der deutschen Romantik, und es steht außer Frage, daß Lind an diese Tradition nicht nur anknüpfen wollte, sondern daß er sie – darin gelehrten Übersetzern wie Karl Voßler oder Walter Benjamin ähnlich – auch objektiv fortgesetzt hat.
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