Zu den prominentesten Figuren gegenwärtiger Argumentation über Kunst
und Literatur gehört die Kritik an der Avantgarde. Sie wirkt besonders
aufschlußreich und erregt selbstverständlich auch ein besonderes Interesse, wenn
sie aus dem Bereich der Avantgarde selbst stammt, wenn also Autoren, die an
‚historischen‘ oder rezenten Avantgardebewegungen teilgenommen haben, gleichsam
ihren Abschied von der Tradition des ästhetisch-politischen Fortschritts nehmen.
Ein solcher Wandel betrifft in erster Linie die künstlerischen Verfahrensweisen,
welche avantgardistisch unter dem Gebot ständiger Innovation entwickelt wurden
und nun unbefangen wieder auf eine Vielzahl gerade noch als überholt geltender
Techniken oder Genera zurückgreifen dürfen.
Indem sich der Zwang zur systematischen Erneuerung der Verfahrensweisen
löst, verliert indes auch das Idealkonzept der rastlos ins Unbekannte
eindringenden Vorhut einen Großteil seines herkömmlichen Prestiges.
Vgl. zu dieser „post-avantgardistischen“ Wendung zu einer
neuen Freiheit im Umgang mit alten Gattungen meine Bemerkungen
„Livelli di stile e sistema dei generi letterari nella società di
massa“ in Giuseppe Petronio/Ulrich Schulz-Buschhaus, eds.: Livelli e linguaggi letterari
nella società delle masse. Trieste: LINT,
1985 pp. 41–48 und „Kriminalroman und Post-Avantgarde“, in Merkur 458 (1987f) pp. 287–296, hier
289f.
Seine größte Emphase hatte dies Konzept, das aus dem
„Orrore di ciò che è vecchio e conosciuto“ den „VALORE ASSOLUTO DI
NOVITÀ“ folgerte, bekanntlich in den Programmschriften des Futurismo
erreicht (vgl. etwa F.T.Marinetti: Teoria e
invenzione futurista. Milano: Mondadori, 1968 pp. 58 und
103). Zu den ideologischen Inkonsistenzen von Marinettis Manifesten
vgl. U.Schulz-Buschhaus: „Der Futurismus als ‚grande e forte
letteratura scientifica‘. Betrachtungen über die Widersprüche einer
Avantgarde“, in Literatur und Wissenschaft.
Festschrift für Rudolf Baehr. Tübingen: Stauffenburg, 1987
pp. 371–382.
Vgl. zu ihr die unter ganz verschiedenen und teils
gegensätzlichen Perspektiven durchgeführten Studien von Klaus
W.Hempfer: Poststrukturale Texttheorie
und narrative Praxis. Tel Quel und die
Konstitution eines Nouveau
Nouveau Roman. München: Wilhelm Fink, 1976
pp. 66f., und Karl Hölz: Destruktion und
Konstruktion. Studien
zum Sinnverstehen in der modernen französischen
Literatur. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1980
pp. 159–203.
Betrachtet man die Entwicklung dieser Selbstkritik der Avantgarde
historisch, stellt sich heraus, daß sie eine längere Geschichte oder
Vorgeschichte besitzt, als man ihr auf den ersten Blick zuzugestehen pflegt.
Dazu möchte ich hier ein Kapitel präsentieren, das zweifellos unter die
prägnantesten Momente des angesprochenen Themenkomplexes gerechnet werden kann.
Gemeint ist das essayistische Werk von Octavio Paz, das zumal mit der
Vortragsfolge Los hijos del limo aus dem Jahr 1972
eine bemerkenswerte poetologisch-geschichtsphilosophische Theorie und
zugleich Kritik der Modernität erarbeitet. Bei ihrer Präsentation geht es mir
darum, die eigentümlichen Züge dieser Kritik zu umreißen, welche sie etwa von
vergleichbaren europäischen Stellungnahmen unterscheiden. Meine zentrale
Hypothese lautet nämlich, daß die Auseinandersetzung bei Octavio Paz nicht
zuletzt aus spezifischen ideologischen Prämissen der ‚Mexikanität’ entspringt
und deshalb Denkweisen angreift, die – zumindest in einer ideologischen
Tiefenschicht – als ebenso spezifisch europäisch beziehungsweise
nordamerikanisch wahrgenommen werden.
Veröffentlicht wurde die im Rahmen der Charles Eliot Norton
Lectures an der Harvard University gehaltene Vortragsfolge 1974. Für
meine Darstellung benutze ich die „Tercera edición, corregida y
ampliada“ von 1981, auf die ich im folgenden durch die Angabe der
Seitenzahlen nach den Zitaten verweise: Octavio Paz: Los hijos del limo. Del romanticismo a la
vanguardia. Barcelona-Caracas-México: Seix Barral,
1981.
Einen ähnlichen Zusammenhang zwischen dem Bewußtsein der
Modernität und der „Amerikanität“ bei Paz entwickelt auch Karl Hölz:
„Lateinamerika und die Suche nach dem ‚verlorenen Paradies‘. Zur
Theorie und Poetik eines Erlösungsmythos bei Octavio Paz“, in Romanistisches Jahrbuch 33(1982) pp. 336–354, bes. pp. 338ff. Allerdings betont Hölz im
Rahmen dieses Zusammenhangs stärker als ich den Aspekt der
Modernitätstheorie und weniger jenen der
Modernitätskritik, so daß sich für ihn
eine geradezu „bruchlos(e)“ „Analogie von Modernität und
Amerikanität“ abzeichnen kann.
Bevor ich die Einwände, die Paz gegen Theorie und Praxis der Avantgarde
erhebt, nachzuzeichnen versuche, ist einleitend noch einmal kurz an die
intellektuelle Herkunft des Kritikers zu erinnern. In der Tat gewinnen die
Argumente der Kritik eben deshalb ihr Gewicht, weil sie immer wieder einen
Ausgangspunkt zu erkennen geben, der mit dem Kritisierten wo nicht identisch, so
doch verwandt war. Wie man am besten in Klaus Meyer-Minnemanns schönem
monographischen Essay nachlesen kann,
hat Paz die Erfahrung der Avantgarde sowohl in ihren politischen als auch
in ihren ästhetisch-literarischen Aspekten wenigstens zeitweise geteilt:
einerseits durch Sympathien mit der trotzkistischen Variante des Kommunismus,
andererseits durch Mitarbeit bei der surrealistischen Bewegung. Beide Phasen
bleiben auch im Moment der entschiedensten Distanzierung, dem Kapitel „E1 ocaso
de la vanguardia“ in
Vgl. Klaus Meyer-Minnemann: „Octavio Paz“, in: Wolfgang
Eitel, ed.: Lateinamerikanische Literatur der
Gegenwart in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Alfred Kröner,
1978 pp. 384–405, bes. p. 384f.
An einer zumindest episodischen Bildung durch die Bewegungen der historischen Avantgarde kann bei Octavio Paz also kein Zweifel sein, und es erscheint daher doppelt interessant zu skizzieren, mit welchen Argumenten er sich von ihnen trennt. Die wichtigsten Argumente möchte ich im folgenden derart ordnen, daß zunächst diejenigen präsentiert werden, die Paz mit vielen Zeitgenossen verbinden; ausführlicher sollen dann andere Gesichtspunkte zur Geltung kommen, die Paz in höherem Maß spezifisch sind und – wie ich annehme – auf speziell mexikanische oder (allgemeiner) lateinamerikanische Perspektiven verweisen.
Dabei betrifft der erste Punkt meiner Skizze ein Phänomen, das unter
dem Titel „Erschöpfung“ oder, besser noch: „Automatisierung“ der Avantgarde
behandelt werden kann. In ihm treffen sich verschiedene Kritiker, als deren
erfolgreichster hier nur der Umberto Eco der Postille al Nome
della Rosa zu erwähnen ist. Für Eco bestand die raison d’être der historischen Avantgarde – gleichsam nach der Devise
des futuristischen Mottos „Abbasso il chiaro di luna“ – in einer systematischen
und progressiv radikalisierten Zerstörung der Vergangenheit:
L’avanguardia distrugge il passato, lo sfigura [...] poi
l’avanguardia va oltre, distrutta la figura, l’annulla, arriva all’astratto,
all’informale, alla tela bianca, alla tela lacerata, alla tela bruciata, in
architettura sarà la condizione minima del curtain wall, l’edificio come stele,
parallelepipedo puro, in letteratura la distruzione del flusso del discorso,
sino al collage alla Bourroughs (sic), sino al silenzio o alla pagina bianca, in
musica sarà il passaggio dall’atonalità al rumore, al silenzio assoluto.
Umberto Eco: Postille a „Il Nome della
Rosa“. Milano: Bompiani 1984p.38.
(Ursprünglich in Alfabeta 49,1983).
Wie Eco meint, wird damit indessen absehbar, daß das „andare oltre“ als
die konstitutive Geste der avantgardistischen Aktivität notwendigermaßen an eine
Grenze gelangt: „[...] arriva il momento che l’avanguardia (il moderno) non può
piú andare oltre, perché ha ormai prodotto un metalinguaggio che parla dei suoi
impossibili testi”.
Ibid.
Ganz ähnlich hat indes auch schon Paz die Grenze oder, genauer: das
Dilemma der Avantgarde gesehen, das für ihn ebenfalls in der Ausbildung einer
paradoxalen Tradition von Revolten und Brüchen besteht. Wenn sich die Negationen
der Avantgarde durch kontinuierliche und immer kurzfristigere Wiederholungen
gewissermaßen institutionalisieren, verlieren sie am Ende ihre Negationspotenz.
Das heißt: Was
In diesem Sinn konstatiert Octavio Paz einen epochalen Wandel, dessen
Zeugen wir ‚heute‘ – 1972 – seien („Hoy somos testigos de otra mutación“): „El
arte moderno comienza a perder sus poderes de negación“ (211). Des näheren
bedeutet das: „Desde hace años sus negaciones son repeticiones rituales: la
rebeldia convertida en procedimiento, la crítica en retórica, la transgresión en
ceremonia“. Daraus folge zwar nicht das ‚Ende der Kunst‘ im Hegelachen Sinn,
wohl aber das Ende des Konzepts von moderner Kunst: „No digo que vivimos el fin
del arte: vivimos el fin de la idea de arte moderno“ (ibid.).
Hier berühren sich die Beobachtungen von Paz offenkundig
mit den Befunden eines (seinen spezifischen Interessen ansonsten
sicherlich fernen und fremden) Autors wie Niklas Luhmann,der als
Hauptproblem des „soziale(n) System(s) Kunst“ das „Problem des
ständigen Neuheitsschwundes“ identifiziert. Vgl. Niklas Luhmann:
„Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in
H.U.Gumbrecht/ K.Ludwig Pfeiffer: Stil.
Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen
Diskurselements. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986
pp. 620–672, hier p. 629; vgl. auch pp. 651f.
Verdeutlicht wird diese Beobachtung am Ende des Kapitels, wenn das, was in der Überschrift zunächst „El ocaso de la vanguardia“ heißt, sich zu einem umfassenden „ocaso del futuro“ ausweitet. Einst – so meint Paz hier – habe die Idee des Wechsels und der Veränderung die Grundlage der modernen Dichtung ausgemacht. Nun sei es aber eben die zunehmende Schnelligkeit und die immer weiter ausgedehnte Proliferation der Wechsel und Veränderungen, welche ihre Wahrnehmbarkeit mehr und mehr sabotiere: „El futuro se convierte instantáneamente en pasado; los cambios son tan rápidos que producen la sensación de inmovilidad“ (221). Und wie eine ‚falsche Schnelligkeit’ zum Eindruck des wirbelnden Stillstandes führe, so erzeuge auch eine scheinhafte Diversität Fragmentarisierungen, die nur noch als Uniformität wahrgenommen werden könnten:
A la falsa celeridad hay que añadir la proliferación: no sólo las
vanguardias mueren apenas nacen, sino que se extienden como fungosidades. La
diversidad se resuelve en uniformidad. Fragmentación de la vanguardia en cientos
de movimientos idénticos: en el hormiguero se anulan las diferencias.
(222)
Damit ähnelt das Verdikt, das Paz über die ‚Proliferation‘
der Avantgarden fällt, auf verblüffende Weise dem Urteil, das die
Dialektik der Aufklärung von
Horkheimer-Adorno einst über die Kulturindustrie und ihre „Freiheit
zum Immergleichen“ gesprochen hat: „Alle Massenkultur unterm Monopol
ist identisch“. Vgl. Max Horkheimer/Theodeor W.Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.:
Fischer Taschenbuchverlag, 1971 (1.Ausgb.New York 1944)
pp. 108–150.
Als das bewegende Prinzip, das hinter diesem bis zum Stillstand
beziehungsweise zur Indifferenz beschleunigten Wandel avantgardistischer Brüche
wirkt, gilt für Paz das Prinzip der ‚Kritik‘, der seit
Von diesen Thesen lasse ich nun den im engeren Sinn poetologischen
Aspekt beiseite
und verfolge nicht, wie die ‚Ironie‘ als spezifische Kraft der Kritik, des
Wandels und der linearen Zeit in einen immanenten Konflikt mit der ‚Analogie‘
gerät, die nach Paz als Kraft der Poesie, des Mythos und der zyklischen Zeit der
Ironie entgegengesetzt ist. Was im thematischen Zusammenhang einer
Auseinandersetzung mit der Avantgarde stärker interessiert, ist der Hinweis auf
das irrationale Element von Leidenschaftlichkeit, welches im Engagement der
Moderne für Kritik und Zukunft wirksam wird. Tatsächlich spricht Paz von der
‚Modernität‘ ja als einer ‚schwindelerregenden Passion‘, die unweigerlich auf
die Zerstörung ihrer selbst hinaus will. Mit dem üblichen Bild von Aufklärung
hat eine solche Passion offenkundig wenig zu tun, und eher scheint sie auf die
Seite der Metaphysik oder jedenfalls einer krypto-religiösen Haltung zu gehören.
Vgl. zu ihm insbesondere den vierten Abschnitt „Analogía e Ironia“ (91–114).
Wie vor allem der Schlußabschnitt des Buches zeigt, ist die Wortwahl,
die aus der Aufklärung eine Leidenschaft und eine Passion macht, hier und an
anderen Stellen auch keineswegs zweitrangig oder gar zufällig. Die heterodoxe
Sicht der Kritik als „pasión vertiginosa“ steht nämlich im Kontext einer
Geschichtsphilosophie, welche bei Paz aller Poetik zugrunde liegt und in einer
Art ‚zyklischer‘ Argumentationsfigur häufig (und unter verschiedenen
Gesichtspunkten) in Erinnerung gebracht wird. Ihr Hauptgedanke besteht in der
Überzeugung, daß in der Moderne die Zeitkategorie ‚Zukunft‘ genau jene Funktion
übernommen hat, die für das christliche Weltbild einst die Zeitkategorie
‚Ewigkeit’ besaß.
Daß der Protest gegen das „Futurum“ Paz in eine „Distanz
von der ‚älteren‘ Modernität“ bringt, konstatiert schon in bezug auf
E1 arco y la lira Ludwig Schrader: „Der
Bogen und die Leier oder die ewige Gegenwart. Modernität als Theorie
bei Octavio Paz“, in Sprachen der Lyrik.
Festschrift für Hugo Friedrich. Frankfurt a.M.: Vittorio
Klostermann, 1975 pp. 782–814, hier pp. 793 und 804. Dabei ist zu
berücksichtigen, daß während der Abfassung dieser vorzüglichen
Einführung in Paz’ Dichtungstheorie Los hijos del
limo und folglich die neuerliche Radikalisierung der Kritik
am Futurum dem Vf. noch nicht bekannt sein konnten.
Konversion zu verstehen:
El tiempo humano cesa de girar en torno al sol inmóvil de la eternidad y postula una perfección no fuera, sino dentro de la historia; la especie no el individuo, es el sujeto de la nueva perfección, y la via que se le ofrece para realizarla no es la fusión con Dios, sino la participación en la acción terrestre, histórica. (53)
Erfüllt sich das Geschick des Menschen derart nicht mehr in der Vereinigung mit Gott, sondern mit der Geschichte, tritt an die Stelle der Buße die Arbeit, der Gnade der Fortschritt und der Religion die Politik (vgl. ibid.).
All diese Werte aber – Arbeit, Fortschritt und Politik – weisen auf die gleiche Weise in die Zukunft, wie die christlichen Werte in die Ewigkeit wiesen: „El hombre moderno se ve lanzado hacia el futuro con la misma violencia con que el cristiano se veía lanzado hacia el cielo o al infierno“ (55). Nur kann die Zukunft anders als die Ewigkeit, wie sie die Religion vorstellt, nie zur Lösung der Widersprüche werden. Sie ersetzt das Paradies ja bloß als Gegenstand des Begehrens; insofern sie jedoch per definitionem unerreichbar bleibt, bewahrt sie nach Paz stets auch etwas Höllisches. Deshalb postuliert Paz eine Ausweitung und Radikalisierung der Kritik an der Ewigkeit, die zu einer Kritik an der para-religiösen Ewigkeitsfunktion des Futurs werden müsse:
La crítica que la modernidad ha hecho de la eternidad cristiana y la que hizo el cristianismo del tiempo circular de la antigüedad son aplicables a nuestro propio arquetipo temporal. (ibid.)
Denn auch die Überbewertung der Zukunft, die aus der Überbewertung des Wechsels hervorgehe, münde in einer Illusion des Nichtigen: „La sobrevaloración del cambio entraña la sobrevaloración del futuro: un tiempo que no es“(ibid.).
Damit wird die Geltung der Avantgarde nicht mehr allein wegen ihrer
Institutionalisierung und Automatisierung in Zweifel gezogen; vielmehr richtet
sich die Kritik unmittelbar gegen die avantgardistischen Grundprinzipien: den
Wechsel, den Fortschritt und die Zukunft. In dem Maße, in dem diese Prinzipien
als Verschiebungen einer religi
Al iniciarse la edad moderna, la eternidad cristiana perdió tanto su realidad ontológica como su coherencia lógica: se convirtió en una proposición insensata, un nombre vacío. Hoy el futuro no nos parece menos irreal que la eternidad. La crítica de la religión por la filosofía, de Hume a Marx, es perfectamente aplicable al futuro. (220)
Wie die Ewigkeitsvorstellung ist nämlich, unter der Perspektive
Feuerbachs gesehen, auch die Zukunft eine bloße Projektion unserer Wünsche,
welche uns indes – wie Paz einwendet – Realität und Leben entziehen: „es la
proyección de nuestros deseos y su negación; no existe y, sin embargo, nos roba
realidad, nos roba vida“ (ibid.). Folglich geht es bei der neuen Kritik um die
Wiedergewinnung präsentischer Vitalität, eine Aufgabe, die nicht mehr durch die
Philosophie zu bewerkstelligen ist, sondern (nun doch in der wenigstens partiell
akzeptierten Tradition des Surrealismus)
durch den Körper und durch die Imagination: „Pero la crítica del futuro no
ha sido hecha por la filosofía, sino por el cuerpo y por la imaginación“ (ibid.)
Über die Ambivalenzen in Paz’ Verhältnis zum Surrealismus
vgl. schon El arco y la lira. México: Fondo
de cultura económica, Tercera edición, 61986 pp. 244–250. Sie lassen
sich resümieren etwa in den Sätzen: „La decadencia innegable del
estilo poético surrealista, transformado en receta, es la de una
forma de arte determinada y no afecta esencialmentea sus poderes últimos. El surrealismo puede crear nuevos
estilos, fertilizar los viejos o, incluso, prescindir de toda forma
y convertirse en un método de búsqueda interior“ (ibid. p. 249).
Dagegen ist die Ablehnung des Futurismus wenigstens in Los hijos del limo (vgl. p. 170ff.)
unerbittlich. Zum Thema der ‚modernen Stadt‘, das Paz in diesem
Zusammenhang anspricht („El modelo de la poesía futurista fueron los
ruidos de la ciudad moderna“), vgl. auch die Interpretationen von
Georg Rudolf Lind: „La gran ciudad en la poesía de Octavio Paz“, in
Romanische Forschungen 95 (1983)pp. 81–99.
Demnach erweist sich die neue Kritik der Kritik essentiell als eine
Aufgabe der Dichtung, welche eben den Körper und die Imagination in ihr
(verlorenes) Recht setzt. Ihre Domäne ist dann das Jetzt, das es vor der
Entleerung durch die Zukunft zu bewahren gilt. Für diesen Schutz des Jetzt
findet Paz Wendungen, die bezeichnenderweise ein auffälliges Pathos verraten. So
erinnert er daran, wie gegen die ‚Überschätzung der Vergangenheit’ im Altertum
eine „ética y [...] estética de excepción fundada en el instante“ entwickelt
wurde (vgl. ibid.). In ähnlichem Sinn entwirft er für die Gegenwart eine
„Poética del ahora“, die sich gegen die ‚Überschätzung der Zukunft‘ richtet und
gleichfalls eine Ethik und eine Politik des Präsens nach sich ziehen soll:
De ahí que debamos edificar una Ética y una Politica sobre la Poética del ahora. La Política cesa de ser la constlucción del futuro: su misión es hacer habitable el presente. (221)
Dies Pathos erklärt, weshalb ich bei der Skizzierung von Paz’
Modernitätskritik bisher mit Absicht den – an sich naheliegenden – Begriff der
Postmoderne vermieden habe. Das Pathos des „instante“, des Präsens und des
Augenblicks kommt in seinem existentiellen, ja existentialistischen Ernst
nämlich kaum mit dem Element des Spielerischen und des freudig Arbiträren
überein, das sonst eines der typischen Merkmale postmoderner (oder
post-avantgardistischer) Literatur ausmacht. Vielmehr erhebt es einen
moralisch-poetologischen Anspruch, mit dem es auf verwirrende Art komplizierter
bestellt ist. Einerseits verfolgt Paz nämlich das Interesse radikaler
Demystifikation und Entmythologisierung. Das heißt: am Mythos von Fortschritt
und Zukunft zeigt Paz das religiöse Erbe, das eine gewissermaßen potenzierte
Kritik ebenso auflösen soll, wie die Kritik ersten Grades zu Beginn der Moderne
die Idee der Ewigkeit aufgelöst hat. Dafür wird aber andererseits die Instanz
dieser Kritik, die „Poética del ahora“, energisch mit geradezu sakralen
Konnotationen versehen. Die Dichtung als Hüterin des Jetzt und Hier erhält
demnach eben jene religiöse Dignität zugesprochen, welche den ‚irrealen‘
Konstruktionen der (christlichen) Ewigkeit und der (liberalen oder
marxistischen) Zukunft zuvor entzogen wurde. Solcherart mit ethischer und
politischer Prägnanz erfüllt, erscheint die Dichtung bei Paz immer wieder
ausdrücklich als rivalisierende Gegenkraft zur Religion wie zur Politik.
Bald tritt sie zu den Visionen dieser Rivalen in ein Verhältnis der
Konkurrenz: „La imagen poética configura una realidad rival de la visión del
revolucionario y de la del religioso“ (86). Bald scheint sie alle Offenbarungen
und Revolutionen aber auch ersetzen zu wollen, wenn Paz mit Anklängen an Herder
beispielsweise postuliert:
Die Konkurrenz zwischen Dichtung und Religion bildet
bereits in E1 arco y la lira ein Hauptthema
der Abschnitte „La otra orilla“ und „La revelación poética“. Vgl. zu
diesem Thema Harald Wentzlaff-Eggebert: „‚Libertad bajo palabra‘.
Poetologisches Programm und poetische Praxis bei Octavio Paz“, in
Iberoamérica. Historia sociedad – literatura.
Homenaje a Gustav Siebenmann. München: Wilhelm Fink, 1983
pp. 1051–10741 bes. pp. 1052–1058.
La poesía es el lenguaje original de la sociedad pasión y sensibilidad – y por eso mismo es el verdadero lenguaje de todas las revelaciones y revoluciones. (62)
In Paz’ Poetik des Jetzt und Hier sind deshalb zwei gegensätzliche
Bewegungen, eine Entmythologisierung und eine Sakralisierung, aufs sonderbarste
ineinander verschränkt.
Die Entmythologisierung betrifft in durchaus aufklärerischer Tradition
Religion und Politik mit den ihnen spezifischen Zeitkategorien von Ewigkeit und
Zukunft; dagegen ergreift ein romantischer Gestus der Sakralisierung die
Dichtung und ihre „Poética del ahora“. Wie konsequent Octavio Paz den „acto
poético“ sakralisiert, zeigt am besten vielleicht der Abschnitt „La consagración
del instante“ in
So als würden – wie Karlheinrich Biermann in einem Gespräch scharfsinnig treffend bemerkt hat – durch Paz’ Poetik gewissermaßen die Stimmen Voltaires und Baudelaires zusammengeführt.
El arco y la lira, op. cit., p. 194. Zur Kategorie der
„otredad“, die hier im Begriff der „otra voz“ anklingt, vgl. Karl
Hölz, „Lateinamerika“, op. cit., pp. 348–353.
Aus diesem Anspruch der Dichtung, die Gesellschaft nicht nur auszudrücken, sondern sie zu begründen, ihr „verdadero fundamento“ (81) zu bilden, resultiert natürlich eine nicht zu behebende Heterodoxie im Verhältnis zu jedem Staat und zu jeder Kirche, die sich nicht ‚poetisch‘ fundieren lassen möchten. Dabei wäre es – wie Paz richtig sieht – allzu einfach, allein die Staaten und Kirchen als Herrschaftsmächte für solche Distanz verantwortlich zu machen. Vielmehr ist es die Natur des dichterischen Wortes selbst, die ein (nicht unbegreifliches) Mißtrauen erregt:
La desconfianza de los Estados y las Iglesias ante la poesia nace
no sólo del natural imperialismo de estos poderes: la índole misma del decir
poético provoca el recelo. No es tanto aquello que dice el poeta, sino lo que va
implícito en su decir, su dualidad última e irreductible, lo que otorga a sus
palabras un gusto de liberación.
El arco y la lira, op.cit., p. 190.
Und vor allem liegt der Ursprung des Konflikts im Beharren der Dichter auf dem Primat ihres Wortes gegenüber den Diskursen von Religion und Politik, auf der „anterioridad histórica y espiritual de la poesia“:
Para ellos la palabra poética es la palabra de fundación. En esta afirmación temeraria está la raíz de la heterodoxia de la poesía moderna tanto frente a las religiones como ante las ideologías. (83)
Bei den Dichtern, die das letztgenannte Zitat feiert, handelt es sich
speziell um die „poetas románticos“, welche nach Paz die ersten waren, die
sowohl vor der ‚offiziellen Religion‘ als auch vor der Philosophie den
historischen und spirituellen Vorrang der Dichtung behaupteten. Erwähnt werden
im angesprochenen Zusammenhang insbesondere Coleridge und Novalis, und wenig
später ist – wie oft bei Paz – lange von William Blake die Rede.
Diese Bezugnahme auf die Romantik, in der wohl nur noch Spuren von Béguins
Die zentrale Rolle, die Blake in den Essays zukommt, geht
offensichtlich auf den Umstand zurück, daß ihm eine (Paz gleichsam
präfigurierende) doppelte Opposition nachgesagt wird; zum einen
gegen den „cristianismo oficial“ (vgl. El arco y
la lira,op. cit., p. 236).
Freilich scheint mir, daß der (sicherlich komplexe) Impuls von Paz’ anti-avantgardistischer Dichtungstheorie durch die Affinität zur romantischen Poetik noch nicht hinlänglich beschrieben ist. Immerhin wäre ja zu fragen, weshalb Paz ständig gerade auf Blake, Coleridge, Novalis, Hölderlin oder Nerval zurückgeht und in ihren Werken Bewußtseinslagen und Verfahrensweisen findet, welche den eigenen Bedürfnissen offensichtlich besser entsprechen als die Poetik irgendeiner anderen Generation oder Schule. Am überzeugendsten läßt sich diese Frage vielleicht beantworten, wenn wir uns an Paz’ lateinamerikanische und speziell mexikanische Perspektive erinnern, durch die der Blick auf die europäische Literatur und Geschichte unverkennbar bestimmt wird.
Da ist zunächst charakteristisch, daß der Mexikaner Paz ähnlich dem
Argentinier Borges von den Gnostikern bis zu den Romantikern ebendie Autoren
bevorzugt, welche nicht den Kanon der in Europa und Nordamerika hegemonialen
Kulturentwicklung ausmachen.
Das heißt: Seine Teilnahme gilt heterodox den Verlierern, nicht den
Siegern beim europäisch-nordamerikanischen Projekt der Moderne. Diese Sympathie
mit den Unterlegenen bedeutet – anders gewendet – Einspruch gegen den Triumph
der einen, fortschrittlichen Geschichte, deren europäisch-nordamerikanischer
Sinn jeden partikularen Eigensinn zu unterwerfen droht. So gewinnt man oft den
Eindruck, daß der Protest gegen die ‚Überbewertung der Zukunft‘ im Grunde vor
allem den Protest gegen die Normativität eines einzigen Geschichtsverlaufs
ausdrücken soll. „No, la historia no es una: es plural“, heißt es am Ende von
Vql. dazu U. Schulz-Buschhaus, „Notizen über Borges und die
Gnosis“, in Iberoamérica,op. cit., pp. 849–868. Über untergründige Wirkungen der
Gnosis bei Nerval, Pessoa und in der modernen Dichtung überhaupt
äußert sich Paz beispielsweise in Los hijos del
limo (vgl. 78f. und 102f.) oder El arco y
la lira (op. cit. p. 242).
Ein Umstand, der zumal in der bundesrepublikanischen
Paz-Rezeption aus naheliegenden politischen Gründen oft verkannt
wird. Vgl. dazu die deutliche Richtigstellung von Klaus
Meyer-Minnemann: „Octavio Paz in deutscher Sprache. Übersetzungen
und Aufnahme“, in Iberoamérica,op. cit., pp. 597–609.
Distintos modos de deshumanización: el capitalismo trató a los hombres como máquinas; la sociedad postindustrial los trata como signos. (216)
Wie intrikat Poetologie und Politik bei Paz’ Ablehnung des einsinnigen
geschichtlichen Fortschritts zusammenwirken, belegt am deutlichsten vielleicht
die vehemente Zurückweisung des Begriffs ‚unterentwickelter Gesellschaften‘
(vgl. 41ff.).
Wie der ihm vorausgegangene Begriff von „civilizaciones atrasadas“ sei er
das Produkt einer hegemonialen europäisch-nordamerikanischen Perspektive auf die
Pluralität der Kulturen:
Vgl. dazu auch den Abschnitt „Politische Utopie“ in Karl
Hölz, „Lateinamerika“, op. cit., pp. 353f. sowie den dort aus Los signos en rotación zitierten Passus über
die vernichtende Gewalt, welche die Identitäts- und
Homogenitätspostulate des okzidentalen Fortschrittskonzepts gegen
alles richten, was sich ihrer Vereinheitlichung widersetzt.
Cada vez que los europeos y sus descendientes de la América del
Norte han tropezado con otras culturas y civilizaciones, las han llamado
invariablemente atrasadas. (41f.)
Seit dem 18. Jahrhundert würden damit als fremd und ‚barbarisch‘ wahrgenommene Kulturen nicht mehr so sehr wegen ihrer Alterität, sondern essentiell wegen ihres Defizits an Modernität deklassiert:
Occidente se ha identificado con el tiempo y no hay otra modernidad que la de Occidente. Apenas si quedan bárbaros, infieles, gentiles, inmundos; mejor dicho, los nuevos paganos y perros se encuentran por millones, pero se llaman (nos llamamos) subdesarrollados [...]. (42)
Bezeichnend ist hier, daß Paz sich in einer Parenthese – „nos llamamos
subdesarrollados“ – selbst jenen Kulturen zurechnet, welche durch die Konzeption
eines linearen, meßbaren Fortschritts zur Moderne entwertet werden. Eben deshalb
spielt er gegen den Octroi der Geschichte als zivilisatorischen
Modernisierungsprozeß die evidente Unmöglichkeit aus, Kunst und Literatur im
gleichen Sinn als ästhetischen Fortschritt zu begreifen; denn „Shakespeare no es
más ‚desarrollado‘ que Dante ni Cervantes es un ‚subdesarrollado‘ frente a
Hemingway“ (43). So plädiert Paz’ Poetik des Jetzt, welche seit El arco y la lira die „consagración del instante“
betreibt, für alles, was sich der Universalität des
europäisch-nordamerikanischen Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesses
entzieht. Der Poetologe macht sich zum Anwalt einer ‚pluralen‘ Geschichte; er
vertritt die nationalen, sozialen, erotischen Partikularitäten gegen das
angeblich Allgemeine (vgl. 218) und er träumt von einer „resurrección del
cuerpo“, wobei die sakralisierende Wendung der ‚Auferstehung des Körpers‘ erneut
ihre tiefere Bedeutung hat, da sie aufheben soll, was als Desakralisierung des
Körpers im Okzident vorausgegangen ist:
El capitalismo desacralizó al cuerpo: dejó de ser el campo de batalla entre los ángeles y los diablos y se transformó en un instrumento de trabajo. El cuerpo fue una fuerza de producción. (219)
Natürlich gehören alle diese Interessen zu einem Vorstellungskomplex,
dessen Ursprünge zwischen dem Surrealismus und der Kritischen Theorie, Bataille
und Adorno ebenso in Europa liegen wie das Modernisierungs- und
Rationalisierungsprojekt, gegen das der Einspruch gerichtet ist.
Was Paz von den europäischen Ursprüngen und – wenn man so will – von
seinen ‚Quellen‘ unterscheidet, ist vor allem der konzentriertere Wille zur
Selbstbehauptung, der im Namen eines kulturellen Raumes und nicht nur eines
Autors oder einer Autorengruppe spricht. Aus ihm resultiert wohl auch die
Radikalisierung des Widerspruchs, welcher mit den Konzepten von Fortschritt und
‚Modernität‘ zugleich die Kategorie der Zukunft einziehen möchte. Jedenfalls ist
auffällig, daß wesentliche Punkte dieses Programms recht genau mit den
Charakteristika einer mexikanischen Mentalität übereinstimmen, wie sie Paz’
berühmtester Essay
Besonders frappant wirkt hier eine Affinität sowohl zur
Aufklärungskritik wie zur ästhetischen Theorie Adornos. Wo es bei
Adorno heißt: „Kunst ist die gesellschaftliche Antithesis zur
Gesellschaft“ (Ästhetische Theorie. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, 1970 p. 19), da formuliert Paz: „La literatura
moderna es una apasionada negación de la era moderna“ (155).
Freilich erscheint eine direkte Kenntnis von Adornos Schriften bei
Paz kaum gegeben, und wahrscheinlicher ist wohl, daß die
Verwandtschaft der Perspektiven aus der Lektüre Heideggers (dem die
Dialektik der Aufklärung ja näher steht,
als Adorno selbst wahrhaben wollte) oder von Herbert Marcuses One-Dimensional Man,also gewissermaßen des Heideggerschen Flügels der Kritischen
Theorie, hergeleitet werden kann. Zur Rolle, die Heidegger und
(später) Claude Lévi-Strauss für E1 arco y la lira
gespielt haben, vgl. Enrico Mario Santi: „Textos y Contextos:
Heidegger, Paz y la poética“, in Iberoromania
15 (1982) pp. 87–96.
El laberinto de la soledad. México –
Madrid – Buenos Aires: Fondo de cultura económica (Colección
Popular), 81980 p. 42.
Dazu Sebastian Neumeister, „Die Aufhebung der Geschichte im
Fest. Fortschritt und Gegenwart im Denken des mexikanischen Dichters
Octavio Paz“, in Entwicklungen der siebziger
Jahre. Studien aus der Gesamthochschule Siegen. 1978
pp. 301–310.
Frente al tiempo sucesivo e infinito de la historia, lanzada hacia un futuro inalcanzable, la poesía moderna, desde Blake hasta nuestros días, no ha cesado de afirmar el tiempo del origen, el instante del comienzo. El tiempo del origen no es el tiempo de antes: es el de ahora. Reconciliación del principio y del fin: cada ahora es un comienzo, cada ahora es un fin. (220)
Dann zur mexikanischen Fiesta del Grito:
[...] el tiempo suspende su carrera, hace un alto y en lugar de
empujarnos hacia un mañana siempre inalcanzable y mentiroso, nos ofrece un
presente redondo y perfecto, de danza y juerga, de comunión y comilona con lo
más antiguo y secreto de México. El tiempo deja de ser sucesión vuelve a ser lo
que fue, y es, originariamente: un presente en donde pasado y futuro al fin se
reconcilian.
El laberinto
de la soledad,op. cit., p. 42.
Ähnliche Parallelen zwischen der Poetik von Los hijos
del limo und der Mentalitätsbeschreibung von El
laberinto de la soledad ließen sich mühelos multiplizieren. An dieser
Stelle soll nur noch eine weitere, freilich sehr bedeutsame erwähnt werden. Zu
den Versöhnungen, auf welche die Poetik des „Ahora“ aus ist, gehört als letzte
und höchste eine Art Verschmelzung von Leben und Tod; denn „vivir en el ahora es
vivir cara a la muerte“:
El ahora nos reconcilia con nuestra realidad: somos mortales. Sólo ante la muerte nuestra vida es realmente vida. En el ahora nuestra muerte no está separada de nuestra vida: son la misma realidad, el mismo fruto. (221)
Auch diese Integration des Todes in das Leben sieht Paz in EI laberinto als einen Grundzug mexikanischer Mentalität
an, beispielsweise in dem Befund: „Nuestro culto a la muerte es culto a la vida,
del mismo modo que el amor, que es hambre de vida, es anhelo de muerte“.
Oder erneut bei der Exaltation des Festes:
Ibid., p. 21.
En el alarido de la noche de fiesta nuestra voz estalla en luces
y vida y muerte se confunden; su vitalidad se petrifica en una sonrisa: niega la
vejez y la muerte, pero inmoviliza la vida.
Ibid., p. 22.
Dabei wirkt charakteristisch, daß eine solche Übereinkunft von Leben und Tod in der Ekstase des Jetzt distinktiv gegen die Werte der Nordamerikaner gesetzt ist, die laut Paz in der Welt stets etwas sehen, was – in der Zukunft – verbessert werden kann:
Creen en la higiene, en la salud, en el trabajo, en la felicidad,
pero tal vez no conocen la verdadera alegría, que es una embriaguez y un
torbellino.
Ibid.
Ob dieses Selbstkonzept wirklich der oder einer mexikanischen Realität gerecht wird, muß hier offen bleiben. Worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist lediglich der Umstand, daß Paz nach ihm seine mexikanische Identität entwirft und daß ein Bewußtsein dieser Identität offenkundig teilhat an der kritischen Distanzierung von europäischer Moderne und europäischer Avantgarde. So erweist sich auch im Fall von Paz (wie von Borges, Cortázar oder Carpentier), daß lateinamerikanische Autoren vielleicht gerade dann am nachdrücklichsten ihre Eigenart offenbaren, wenn sie ihren Blick am intensivsten auf europäisch-nordamerikanische Gegenstände (und Widerstände) gerichtet halten.