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Bedeutung und Verstehen, 1918
Ludwig Wittgenstein
Quelle
Ludwig Wittgenstein: "Bedeutung und Verstehen", in: Ein Reader, hrsg. von Anthony Kenny. Stuttgart: Reclam 1994, S. 74-77. ISBN: 3-15-009470-4. Aus: Das blaue Buch, S. 15-21, in: Werkausgabe in 8 Bde., hrsg. von Rush Rhees. Bd. 5. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 74-77. ISBN: 3-518-28105-4.
Erstausgabe
"Das blaue Buch" [1918] (fehlerhaft zum ersten Mal erschienen) in: Annalen der Naturphilosophie 14, (1921). Wieder abgedruckt in: Schriften. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 7-82. Ein Jahr später wurde eine zweisprachige Ausgabe unter dem heute bekannten Titel der engl. Übersetzung veröffentlicht: Tractatus Logico-Philosophicus. London: Kegan Paul/Trench/Trubner & Co. Ltd. 1922. [Engl.] The Blue and Brown Books. Oxford: Basil Blackwell 1958.
Genre
Traktat
Medium
Sprache, Zeichen
[74] […] Es scheint, daß es gewisse definitive geistige Vorgänge gibt, die mit dem Arbeiten der Sprache verbunden sind, Vorgänge, durch die allein die Sprache funktionieren kann. Ich meine die Vorgänge des Verstehens und Meinens. Die Zeichen unserer Sprache erscheinen tot ohne diese geistigen Vorgänge; und es könnte der Eindruck entstehen, daß es die einzige Funktion der Zeichen ist, solche Vorgänge hervorzurufen, und daß diese Vorgänge eigentlich das sind, wofür wir uns interessieren sollten. Wenn du gefragt wirst, was die Beziehung zwischen einem Namen und dem Ding, das er benennt, ist, wirst du demnach geneigt sein zu antworten, daß die Beziehung eine psychologische ist, und vielleicht denkst du besonders an den Assoziationsmechanismus, [75] wenn du das sagst. – Wir sind versucht zu denken, daß die Aktion der Sprache aus zwei Teilen besteht; einem inorganischen Teil, dem Handhaben von Zeichen, und einem organischen Teil, den wir als Verstehen, Meinen, Deuten und Denken dieser Zeichen bezeichnen können. Diese letzteren Tätigkeiten scheinen in einer seltsamen Art von Medium stattzufinden, dem Geist; und der Mechanismus des Geistes, dessen Beschaffenheit wir, wie es scheint, nicht ganz verstehen, kann Wirkungen erzielen, die kein körperlicher Mechanismus erzielen kann. So kann z. B. ein Gedanke (der solch ein geistiger Vorgang ist) mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht mit ihr übereinstimmen; ich bin fähig, an einen Menschen zu denken, der nicht anwesend ist; ich bin fähig, ihn mir vorzustellen, ihn mit einer Bemerkung, die ich über ihn mache, zu „meinen“, auch wenn er Tausende von Meilen entfernt oder gar tot ist. „Was für ein seltsamer Mechanismus der Mechanismus des Wünschens sein muß, wenn ich etwas wünschen kann, das niemals geschehen wird“, könnte man sagen.
Es gibt einen Weg, auf dem man zumindest teilweise den geheimnisvollen Nimbus der Denkvorgänge vermeiden kann, indem man nämlich in diesen Vorgängen jede Vorstellungstätigkeit durch Schauen auf reale Gegenstände ersetzt. So mag es zumindest in gewissen Fällen wesentlich erscheinen, daß ich ein rotes Bild vor meinem geistigen Auge habe, wenn ich das Wort „rot“ verstehend höre. Aber warum sollte ich nicht ein rotes Stück Papier ansehen, anstatt mir einen roten Fleck vorzustellen? Das visuelle Bild wird lediglich lebendiger sein. Stell dir Einen vor, der ständig ein Stück Papier in seiner Tasche trägt, auf dem Namen von Farben mit farbigen Flecken koordiniert sind. Du magst sagen, daß es Unfug ist, eine solche Mustertabelle mit sich zu tragen, und daß wir statt dessen immer den Assoziationsmechanismus gebrauchen. Aber das ist irrelevant; und in vielen Fällen ist es nicht einmal wahr. Wenn du zum Beispiel den Befehl erhieltest, eine bestimmte Schattierung von [76] Blau, „Preußisch Blau“ genannt, zu malen, dann könnte es sein, daß du eine Tabelle gebrauchen müßtest, die dich von dem Wort „Preußisch Blau“ zu einem Muster der Farbe führt, die dir als Vorwurf dienen würde.
Für unsere Zwecke könnten wir sehr wohl jeden Vorstellungsvorgang durch den Vorgang, einen Gegenstand anzuschauen, oder durch Malen, Zeichnen oder Modellieren ersetzen; und den Vorgang, mit sich selbst zu sprechen, könnte man durch den Vorgang, laut zu sprechen oder zu schreiben, ersetzen.
Frege spottete über die formalistische Konzeption der Mathematik, indem er sagte, daß die Formalisten das Unwichtige, nämlich das Zeichen, mit dem Wichtigen, der Bedeutung, verwechseln. Gewiß, möchte man sagen, handelt Mathematik nicht von Strichen auf einem Stück Papier. Freges Idee kann folgendermaßen ausgedrückt werden: wenn die Sätze der Mathematik nur Kombinationen von Strichen wären, wären sie tot und äußerst uninteressant, während sie doch offensichtlich eine Art Leben haben. Und dasselbe kann natürlich von jedem Satz gesagt werden: Ohne Sinn oder ohne den Gedanken wäre ein Satz ein ganz und gar lebloses und triviales Ding. Und weiter scheint es klar zu sein, daß das Hinzufügen von inorganischen Zeichen den Satz keineswegs lebendig machen kann. Und der Schluß, den man daraus zieht, ist folgender: was zu den toten Zeichen hinzugefügt werden muß, um einen lebendigen Satz aus ihnen zu machen, ist etwas Unkörperliches, das sich in seinen Eigenschaften von allen bloßen Zeichen unterscheidet.
Wenn wir jedoch irgendetwas, das das Leben des Zeichens ausmacht, benennen sollten, so würden wir sagen müssen, daß es sein Gebrauch ist.
Wenn die Bedeutung eines Zeichens (beiläufig gesprochen, das, was in bezug auf das Zeichen wichtig ist) ein Bild ist, das in unserm Geist entsteht, wenn wir das Zeichen sehen oder hören, dann wollen wir zuerst die eben beschrie[77]bene Methode anwenden, nach der wir dieses geistige Bild durch irgendeinen äußeren Gegenstand ersetzen, den wir sehen, z. B. ein gemaltes oder modelliertes Bild. Warum sollte dann das geschriebene Zeichen mit dem gemalten Bild lebendig sein, wenn das geschriebene Zeichen allein tot war? – Sobald du daran denkst, das geistige Bild durch, sagen wir, ein gemaltes zu ersetzen und sobald das Bild dadurch seinen geheimnisvollen Charakter verliert, erscheint es in der Tat nicht mehr so, als ob es dem Satz irgendwelches Leben verleihen könnte. (Es war ja gerade der geheimnisvolle Charakter des geistigen Vorganges, den du für deine Zwecke nötig hattest.)
Der Fehler, zu dem wir neigen, könnte folgendermaßen ausgedrückt werden: Wir suchen nach dem Gebrauch eines Zeichens, aber wir suchen nach ihm, als ob er ein Gegenstand wäre, der mit dem Zeichen in Koexistenz ist. (Einer der Gründe für diesen Fehler ist wiederum, daß wir nach einem „Ding“ suchen, „das dem Substantiv entspricht“.)
Das Zeichen (der Satz) erhält seine Bedeutung von dem System der Zeichen, von der Sprache, zu dem es gehört. Kurz: Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.
Als ein Teil des Sprachsystems, so kann man sagen, hat der Satz Leben. Jedoch ist man versucht, sich das, was dem Satz Leben gibt, als etwas in einer geheimnisvollen Sphäre vorzustellen, das den Satz begleitet. Aber was es auch sei, das ihn begleitet, es wäre für uns nur ein anderes Zeichen. […]
Ludwig Wittgenstein: Bedeutung und Verstehen, 1918