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Die Kunst als Sehnsucht nach dem Idealen, 1967
Andrej Tarkowskij
Quelle
Andrej Tarkowskij: "Die Kunst als Sehnsucht nach dem Idealen", in: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Übersetzt aus dem Russischen von Hans-Joachim Schlegel. Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1996. (= Ullstein Buch. 35640.), S. 42-50. ISBN: 3-548-35640-0.
Erstausgabe
Запечатленное время [Sapetschatljonnoje Wremja]. Искусство кино [Iskusstvo kino] 4, С 70 (1967). [Dt.] Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Berlin/Frankfurt am Main/Wien: Ullstein 1984. ISBN 3-550-06393-8.
Genre
Essay
Medium
Film
[42] Bevor ich auf besondere filmspezifische Probleme eingehe, scheint es mir wichtig, meine Auffassung von Kunst darzulegen. Wozu existiert die Kunst? Wer braucht sie? Wird sie überhaupt von irgend jemandem gebraucht? Alles das sind Fragen, die sich nicht nur der Künstler, sondern jeder Mensch stellt, der Kunst rezipiert beziehungsweise „konsumiert“, wie man jetzt häufig mit einem Wort sagt, das leider das Wesen der Kunst-Publikum-Beziehung im 20. Jahrhundert geradezu entlarvend bezeichnet.
Jedermann beschäftigt also diese Frage, und jeder mit Kunst befaßte Mensch versucht auch eine Antwort hierauf zu finden. Alexander Blok sprach davon, daß „der Dichter Harmonie aus dem Chaos“ schaffe… Puschkin stattete den Dichter mit prophetischen Gaben aus… Jeder Künstler wird von seinen ureigenen Gesetzen bestimmt, die für eine anderen Künstler völlig unverbindlich sind.
In jedem Fall steht für mich ganz außer Zweifel, daß es das Ziel jedweder Kunst ist, die nicht bloß wie eine Ware „konsumiert“ werden will, sich selbst und der Umwelt den Sinn des Lebens und der menschlichen Existenz zu erklären. Also den Menschen klarzumachen, was der Grund und das Ziel ihres Seins auf unserem Planeten ist. Oder es ihnen vielleicht gar nicht erklären, sondern sie nur vor diese Frage zu stellen.
Um mit dem Allgemeinsten zu beginnen: Die unbestreitbare Funktion der Kunst liegt für mich in der Idee des Erkennens, jener Form der Wirkung, die sich als Erschütterung, als Katharsis, äußert. Von jenem Augenblick an, als Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, war die Menschheit zu ewiger Wahrheitssuche verurteilt.
Bekanntlich erkannten Adam und Eva zuerst und vor allem, daß sie nackt waren, und sie schämten sich dessen. Sie schämten sich, weil sie begriffen, und sie machten sich auf den Weg gegenseitigen, lustvollen Erkennens. Das war der Anfang eines Wegs ohne Ende. Durchaus verständlich die Tragödie jener, die aus dem Zustand seliger Unwissenheit in die feindlichen und unerklärlichen Gefilde des Irdischen geschleudert wurden.
„Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen…“
Und so erschien der Mensch, die „Krone der Schöpfung“, auf der Erde und eignete sie sich an. Den Weg, den er seither ging, [43] bezeichnet man gewöhnlich als Evolution – ein Weg, der zugleich der qualvolle Prozeß menschlicher Selbsterkenntnis ist.
In gewissem Sinne erkennt der Mensch das Wesen des Lebens und sich selbst, seine Möglichkeiten und Ziele jeweils neu. Sicher nutzt er dabei auch die Summe des bereits vorhandenen menschlichen Wissens. Dennoch ist und bleibt die ethisch-sittliche Selbsterkenntnis die entscheidende Erfahrung jedes einzelnen, die er jedesmal erneut für sich machen muß. Immer wieder setzt sich der Mensch in Beziehung zur Welt, getrieben vom quälenden Verlangen, sich diese anzueignen, sie in Einklang zu bringen mit seinem intuitiv erspürten Ideal. Die Unerfüllbarkeit dieses Verlangens ist eine ewige Quelle der menschlichen Unzufriedenheit und des Leidens an der Unzulänglichkeit des eigenen Ich.
Kunst und Wissenschaft sind also Formen der Weltaneignung, Erkenntnisformen auf dem Wege des Menschen zur sogenannten „absoluten Wahrheit“.
Doch damit endet auch schon die Gemeinsamkeit dieser beiden Äußerungsformen des schöpferischen menschlichen Geistes, wobei – ich wage es, darauf zu bestehen – Schöpfertum nichts mit Entdecken, sondern mit Erschaffen zu tun hat. Hier, an dieser Stelle, kommt es vor allem auf den prinzipiellen Unterschied zwischen der wissenschaftlichen und der ästhetischen Form des Erkennens an.
In der Kunst eignet sich der Mensch die Wirklichkeit durch subjektives Erleben an. In der Wissenschaft folgt das menschliche Wissen den Stufen einer endlosen Treppe, wobei immer wieder neue Erkenntnisse über die Welt an die Stelle der alten treten. Dies ist also ein stufenförmiger Weg mit einander aufgrund objektiver Detailerkenntnisse folgerichtig aufhebenden Einsichten. Die künstlerische Einsicht und Entdeckung entsteht dagegen jedesmal als ein neues und einzigartiges Bild der Welt, als eine Hieroglyphe der absoluten Wahrheit. Sie präsentiert sich als eine Offenbarung, als ein jäh aufblitzender leidenschaftlicher Wunsch des Künstlers nach intuitivem Erfassen sämtlicher Gesetzmäßigkeiten der Welt – ihrer Schönheit und ihrer Häßlichkeit, ihrer Menschlichkeit und Grausamkeit, ihrer Unendlichkeit und ihrer Begrenztheit. Alles dies gibt der Künstler in der Schaffung eines Bildes wieder, das auf eigenständige Weise das Absolute einfängt. Mit Hilfe dieses Bildes wird die Empfin[44]dung des Unendlichen festgehalten, wo es durch Begrenzungen zum Ausdruck gebracht wird: das Geistige durch das Materielle und das Unendliche durch Endliches. Man könnte sagen, daß die Kunst ein Symbol dieser Welt ist, die mit jener absoluten geistigen Wahrheit verbunden ist, die eine positivistisch-pragmatische Praxis vor uns verborgen hält.
Wenn sich ein Mensch diesem oder jenem wissenschaftlichen System anschließen möchte, dann muß er sein logisches Denken aktivieren, er muß ein bestimmtes Bildungssystem beherrschen und verstehen können. Die Kunst wendet sich an alle in der Hoffnung, daß sie einen Eindruck hervorruft, daß sie vor allem gefühlt wird, daß sie eine emotionale Erschütterung auslöst und angenommen wird. Daß sie den Menschen nicht irgendwelchen unerbittlichen Verstandesargumenten unterwirft, sondern vielmehr jener geistigen Energie, die der Künstler ihnen vermittelt. Und statt einer Bildungsbasis auch in jenem positivistischen Sinne erfordert sie eine geistige Erfahrung.
Kunst entsteht und entwickelt sich dort, wo jene ewige, rastlose Sehnsucht nach Geistigkeit, nach einem Ideal herrscht, die die Menschen sich um die Kunst scharen läßt. Es ist ein falscher Weg, den die moderne Kunst eingeschlagen hat, die der Suche nach dem Sinn des Lebens im Namen bloßer Selbstbestätigung abgeschworen hat. So wird das sogenannte schöpferische Tun zu einer seltsamen Beschäftigung exzentrischer Personen, die nur die Rechtfertigung des einmaligen Wertes ihres ichbezogenen Handelns suchen. Doch in der Kunst bestätigt sich die Individualität nicht, sondern dient einer anderen, allgemeineren und höheren Idee. Der Künstler ist ein Diener, der sozusagen seinen Zoll für die Gabe entrichten muß, die ihm wie durch ein Wunder verliehen wurde. Der moderne Mensch aber will sich nicht opfern, obwohl wahre Individualität doch nur durch Opfer erreicht werden kann. Aber wir vergessen das allmählich und verlieren daher auch das Gefühl für unsere menschliche Bestimmung.
Wenn hier vom Streben nach dem Schönen die Rede ist, davon, daß das Ziel der aus Sehnsucht nach dem Idealen geborenen Kunst ebendieses Ideale ist, so will ich damit keinesfalls sagen, die Kunst soll dem „Schmutz“ des Irdischen aus dem Weg gehen… Im Gegenteil, das künstlerische Bild ist stets ein Sinnbild, das das eine durch das andere, das Größere durch [45] das Kleinere ersetzt. Um über Lebendiges zu berichten, präsentiert der Künstler Totes, um vom Unendlichen reden zu können, stellt er Endliches vor. Ein Ersatz! Das Unendliche kann man nicht materialisieren, man kann nur dessen Illusion, dessen Bild schaffen.
Das Schreckliche liegt ebenso im Schönen beschlossen wie das Schöne im Schrecklichen. Das Leben ist in diesen bis zum Absurden großartigen Widerspruch verwickelt, der in der Kunst als zugleich harmonische und dramatische Einheit auftaucht. Das Bild ermöglicht es, jene Einheit wahrzunehmen, wo alles einander benachbart ist, alles ineinander überfließt. Man kann von der Idee eines Bildes sprechen, sein Wesen mit Worten ausdrücken. Denn der Gedanke läßt sich verbal ausdrücken, formulieren. Doch diese Beschreibung wird ihm niemals gerecht werden. Ein Bild kann man erschaffen und fühlen, es akzeptieren oder ablehnen, aber nicht im rationalen Sinn dieser Handlung begreifen. Die Idee des Unendlichen kann man nicht mit Worten ausdrücken, nicht einmal beschreiben. Die Kunst jedoch verleiht diese Möglichkeit, sie macht das Unendliche erfahrbar. Das Absolute ist nur durch Glauben und schöpferisches Tun erreichbar. Unerläßliche Bedingungen für den Kampf des Künstlers um eine eigene Kunst sind der Glaube an sich selbst, die Bereitschaft zu dienen und die Kompromißlosigkeit.
Das künstlerische Schaffen fordert vom Künstler eine wahre „Selbstaufgabe“ im tragischsten Sinne des Wortes. Wenn so die Kunst mit den Hieroglyphen der absoluten Wahrheit arbeitet, ist jede dieser Hieroglyphen ein Bild der ein und für allemal in das Kunstwerk eingebrachten Welt. Und ist das wissenschaftliche und kalte Erkennen der Wirklichkeit gleichsam ein Vorwärtsschreiten über die Stufen einer nie endenden Treppe, so erinnert das künstlerische Erkennen an ein unendliches System innerlich vollendeter, in sich geschlossener Sphären. Diese Sphären können einander ergänzen oder widersprechen, sich aber unter keinerlei Umständen gegenseitig ersetzen. Im Gegenteil, sie bereichern einander und bilden in ihrer Gesamtheit eine besondere übergreifende Sphäre, die ins Unendliche wächst. Diese poetischen Offenbarungen von in sich begründeter ewiger Gültigkeit legen Zeugnis davon ab, daß der Mensch zu erkennen und auszudrücken vermag, wessen Ebenbild er ist.
[46] Überdies besitzt die Kunst eine zutiefst kommunikative Funktion, da die zwischenmenschliche Verständigung einen der wichtigsten Aspekte des kreativen Endziels bildet. Anders als die Wissenschaft verfolgt ein Kunstwerk auch keinerlei praktischen Zweck von materieller Bedeutung. Die Kunst ist eine Meta-Sprache, mit deren Hilfe die Menschen zueinander vorzustoßen versuchen, in der sie Mitteilungen über sich selbst machen und sich fremde Erfahrungen aneignen. Aber auch dies geschieht wieder keinesfalls eines praktischen Vorteils wegen, sondern um der Idee der Liebe willen, deren Sinn in einer dem Pragmatismus völlig entgegengesetzten Opferbereitschaft liegt. Ich kann einfach nicht glauben, daß ein Künstler imstande ist, nur aus Gründen seiner „Selbstverwirklichung“ zu schaffen. Selbstverwirklichung ohne gegenseitiges Verstehen ist sinnlos. Selbstverwirklichung im Namen einer geistigen Verbindung mit den anderen ist etwas Quälendes, das keinen Nutzen bringt und letzten Endes große Opfer von einem fordert. Aber ist es denn schließlich nicht der Mühe wert, dem eigenen Echo zu lauschen?
Aber vielleicht bringt die Intuition Kunst und Wissenschaft, diese auf den ersten Blick hin so widersprüchlichen Formen der Realitätsaneignung, einander näher. Zweifelsohne spielt die Intuition in beiden Fällen eine große Rolle, obwohl sie im poetischen Schaffen natürlich etwas ganz anderes als in der Wissenschaft ist.
Ebenso bezeichnet der Begriff des Verstehens in beiden Sphären etwas völlig anderes. Verstehen im wissenschaftlichen Sinne bedeutet Einverständnis auf einer Ebene der Logik, der Vernunft; es ist ein intellektueller Akt, der der Beweisführung eines Theorems verwandt ist. Das Verstehen eines künstlerischen Bildes bedeutet dagegen die Rezeption des Kunstschönen auf emotionaler, zuweilen sogar auf einer „über“-emotionalen Basis.
Die Intuition des Wissenschaftlers ist dagegen sogar dann lediglich ein Synonym logischer Entwicklung, wenn sie sich wie eine Erleuchtung, eine Eingebung ausnimmt. Und zwar deshalb, weil die logischen Varianten auf der Grundlage gegebener Informationen nicht noch einmal von Anfang an durchlaufen, sondern vielmehr als eine Selbstverständlichkeit, nicht etwa als eine neue Etappe wahrgenommen werden. Das heißt, der bewußte Sprung im logischen Denken basiert auf der Kenntnis [47] der Gesetze eines jeweiligen wissenschaftlichen Gebietes. Mag es auch scheinen, als sei die wissenschaftliche Entdeckung eine Folge der Eingebung, so hat doch die Eingebung des Gelehrten nichts gemein mit der Eingebung des Dichters. Denn die Entstehung eines künstlerischen Bildes – eines einzigartigen, in sich geschlossenen Bildes, das auf einer anderen, nicht-intellektuellen Ebene geschaffen wurde und existiert – kann nicht durch einen empirischen Erkenntnisprozeß mit Hilfe des Intellekts erklärt werden. Man muß sich einfach über den Terminus einigen.
Wenn ein Künstler sein Bild schafft, dann bezwingt er immer auch sein eigenes Denken, das ein Nichts ist gegenüber einem emotional wahrgenommenen Bild von der Welt, das für ihn eine Offenbarung ist. Denn der Gedanke ist kurzlebig, das Bild aber ist absolut. Daher kann auch von einer Parallele zwischen dem Eindruck, den ein spirituell empfänglicher Mensch von einem Kunstwerk erhält, und einer rein religiösen Erfahrung gesprochen werden. Die Kunst wirkt vor allem auf die Seele des Menschen und formt seine geistige Struktur.
Der Dichter ist ein Mensch mit der Vorstellungskraft und der Psychologie eines Kindes. Sein Eindruck von der Welt bleibt unvermittelt, von welch großen Weltideen er sich auch immer leiten läßt. Das heißt, er „beschreibt“ die Welt nicht – die Welt ist sein.
Unabdingbare Voraussetzung für die Rezeption eines Kunstwerks ist die Bereitschaft und die Möglichkeit, einem Künstler zu vertrauen, ihm zu glauben. Aber manchmal ist es schwierig, jenen Grad an Unverständnis zu überwinden, der uns von einem rein gefühlsmäßig zu erfassenden poetischen Bild trennt. Ebenso wie beim wahren Glauben an Gott setzt auch dieser Glaube eine besondere seelische Haltung, ein spezielles, rein geistiges Potential voraus.
Hier kommt einem manchmal das Gespräch zwischen Stawrogin und Schatow in Dostojewskijs „Dämonen“ in den Sinn:
„‚Ich möchte nur erfahren, ob Sie selbst an Gott glauben oder nicht.‘ Nikolaj Wsewolodowitsch blickte ihn streng an.
‚Ich glaube an Rußland und seine Rechtgläubigkeit… Ich glaube an Christi Leib… Ich glaube, daß seine Wiederkunft in Rußland stattfinden wird… Ich glaube‘, stammelte Schatow ganz außer sich.
[48] ‚Und an Gott? An Gott?‘
‚Ich … ich werde an Gott glauben‘.“
Was ist dem noch hinzuzufügen? Auf geradezu geniale Weise wurde hier jener verwirrte Seelenzustand eingefangen, jene geistige Verarmung und Unzulänglichkeit, die immer mehr zum unverbrüchlichen Merkmal des modernen Menschen wird, den man als geistig impotent bezeichnen kann.
Das Schöne bleibt dem Auge jener verborgen, die die Wahrheit nicht suchen. Gerade die Geistlosigkeit dessen, der Kunst aufnimmt und beurteilt, ohne bereit zu sein, über Sinn und Zweck ihrer Existenz nachzudenken, verführt häufig genug zur vulgär vereinfachten Formel „Das gefällt nicht!“, „Das ist uninteressant!“ Das ist ein starkes Argument, aber es ist das Argument eines Blindgeborenen, der versucht, einen Regenbogen zu beschreiben. Er bleibt einfach jenem Leiden gegenüber taub, das ein Künstler durchmacht, um anderen die dadurch gewonnene Wahrheit mitzuteilen.
Doch was ist Wahrheit?
Eines der traurigsten Kennzeichen unserer Zeit ist meiner Meinung nach die Tatsache, daß der Durchschnittsmensch heute endgültig von all dem abgeschnitten wird, was mit einer Reflexion des Schönen und Ewigen zusammenhängt. Die auf den „Konsumenten“ zugeschnittene moderne Massenkultur – eine Zivilisation der Prothesen – verkrüppelt die Seelen, verstellt dem Menschen immer häufiger den Weg zu den Grundfragen seiner Existenz, zu einer Bewußtwerdung seiner selbst als eines geistigen Wesens. Doch der Künstler kann und darf nicht taub bleiben gegenüber dem Ruf der Wahrheit, die einzig und allein seinen schöpferischen Willen zu bestimmen und zu disziplinieren vermag. Nur so gewinnt er die Fähigkeit, seinen Glauben auch anderen weiterzugeben. Ein Künstler ohne diesen Glauben ist wie ein Maler, der blind geboren wurde.
Es wäre falsch zu sagen, ein Künstler „suche“ sein Thema. Das Thema reift in ihm wie eine Frucht heran und drängt auf Gestaltung. Das ist wie mit einer Geburt. Der Dichter dagegen hat nichts, worauf er stolz sein könnte. Er ist nicht Herr der Lage, sondern deren Diener. Kreativität ist für ihn die einzige mögliche Existenzform, und jedes seiner Werke bedeutet einen Akt, den er freiwillig nicht verweigern kann. Das Gespür für die Notwendigkeit bestimmter folgerichtiger Schritte und deren [49] Gesetzmäßigkeit stellt sich nur dann ein, wenn der Glaube an ein Ideal vorhanden ist – nur der Glaube stützt das System der Bilder (lies: das System des Lebens).
Der Sinn religiöser Wahrheit liegt in der Hoffnung. Die Philosophie sucht die Wahrheit, indem sie die Grenzen der menschlichen Vernunft, den Sinn menschlichen Handelns und der menschlichen Existenz bestimmt. (Dies gilt sogar, wenn ein Philosoph zu der Auffassung gelangt, das menschliche Sein und Handeln sei völlig sinnlos).
Anders als häufig angenommen liegt die funktionale Bestimmung der Kunst nun aber eben nicht darin, Gedanken anzuregen, Ideen zu vermitteln oder als Beispiel zu dienen. Nein, das Ziel der Kunst besteht vielmehr darin, den Menschen auf seinen Tod vorzubereiten, ihn in seinem tiefsten Inneren betroffen zu machen.
Begegnet der Mensch einem Meisterwerk, so beginnt er in sich jene Stimme zu vernehmen, die auch den Künstler inspirierte. Im Kontakt mit einem solchen Kunstwerk erfährt der Betrachter eine tiefe und reinigende Erschütterung. In jenem besonderen Spannungsfeld, das zwischen einem künstlerischen Meisterwerk und denjenigen, die es aufnehmen, entsteht, werden sich die Menschen der besten Seiten ihres Wesens bewußt, die nunmehr auf Freisetzung drängen. Wir erkennen und entdecken uns selbst in diesem Augenblick, in der Unerschöpflichkeit unserer Möglichkeiten, in der Tiefe unserer eigenen Gefühle.
Ein Meisterwerk – das ist ein in seiner absoluten Gültigkeit vollkommenes und vollendetes Urteil über die Realität, dessen Wert sich daran bemißt, wie umfassend es die menschliche Individualität im Zusammenspiel mit dem Geistigen auszudrücken vermag.
Wie schwierig ist es, über ein großes Werk zu sprechen! Zweifellos existieren außer einem sehr allgemeinen Empfinden von Harmonie auch einige eindeutige Kriterien, die es uns ermöglichen, ein Meisterwerk in der Masse anderer Arbeiten auszumachen. Zudem ist der Wert eines Kunstwerkes in bezug auf seinen jeweiligen Rezipienten relativ. Gewöhnlich meint man, die Bedeutung eines Kunstwerkes an der Reaktion der Menschen auf dieses Werk messen zu können, an der Beziehung, die sich zwischen ihm und der Gesellschaft ergibt. Ganz [50] allgemein gesehen ist das sicher richtig. Paradox ist nur, daß das Kunstwerk in diesem Falle dann völlig von seinem Rezipienten abhängt. Davon, ob dieser Mensch nun fähig oder unfähig ist, das herauszuspüren, was das Werk mit der Welt als Ganzem wie auch mit einer gegebenen menschlichen Individualität verbindet, die ein Resultat ihrer eigenen Beziehungen zur Wirklichkeit ist. Goethe hat unendlich recht, wenn er davon spricht, es sei ebenso schwer, ein gutes Buch zu lesen, wie es zu schreiben. Es kann einfach keinen Anspruch auf eine Objektivität des eigenen Urteils, der eigenen Einschätzung geben. Jede auch nur relativ objektive Möglichkeit eines Urteils ist bedingt von einer Vielfalt von Interpretationen. Und wenn ein Kunstwerk in den Augen der Massen, der Mehrheit, hierarchische Wertigkeit hat, so ist das zumeist ein Ergebnis zufälliger Umstände, kommt beispielsweise daher, daß dieses Werk gerade Glück mit seinen Interpreten hatte. Andererseits sagen die ästhetischen Affinitäten eines Menschen bisweilen sehr viel mehr über ihn selbst als über das Kunstwerk an sich aus. […]
Andrej Tarkowskij: Die Kunst als Sehnsucht nach dem Idealen, 1967