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Der Beginn, 1967
Andrej Tarkowskij
Quelle
Andrej Tarkowskij: "Der Beginn", in: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Übersetzt aus dem Russischen von Hans-Joachim Schlegel. Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1996. (= Ullstein Buch. 35640.), S. 22-40. ISBN: 3-548-35640-0.
Erstausgabe
Запечатленное время [Sapetschatljonnoje Wremja]. Искусство кино [Iskusstvo kino] 4, С 70 (1967). [Dt.] Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Berlin/Frankfurt am Main/Wien: Ullstein 1984. ISBN 3-550-06393-8.
Genre
Essay
Medium
Film
[22] […] Doch kehren wir zum Kern unserer Gedanken zurück.
Im Film reizen mich ganz außergewöhnlich poetische Verknüpfungen, die Logik des Poetischen. Dies entspricht meiner Meinung nach am besten den Möglichkeiten des Films als der wahrhaftigsten und poetischsten aller Künste.
Auf jeden Fall ist mir dies näher als eine traditionelle Dramaturgie, die die Bilder durch eine geradlinige, logisch-folgerichtige Sujetentwicklung miteinander verknüpft. Eine derart penibel „genaue“ Ereignisverkettung entsteht gewöhnlich unter starkem Einfluß kühler Berechnung und spekulativer Überlegungen. Doch selbst, wenn dem nicht so ist und das Sujet von seinen Akteuren bestimmt wird, stellt sich doch immer wieder heraus, daß die Logik der Bilderabfolge auf einer Banalisierung der komplexen Lebensrealität beruht.
Doch es gibt auch eine andere Möglichkeit zur Synthese filmischer Materialien, bei der das Wichtigste die Darstellung der Logik menschlichen Denkens ist. Und in diesem Fall wird dann sie die Abfolge der Ereignisse und ihre Montage, die alles zu einem Ganzen zusammenfügt, bestimmen.
Die Entstehung und Entwicklung von Gedanken gehorchen besonderen Gesetzmäßigkeiten. Und um diese zum Ausdruck bringen zu können, bedarf es zuweilen Formen, die sich von logisch-spekulativen Strukturen deutlich unterscheiden. Meiner Meinung nach steht die poetische Logik den Gesetzmäßigkeiten der Gedankenentwicklung wie dem Leben überhaupt erheblich näher als die Logik der klassischen Dramaturgie. Doch jahrelang betrachtet man nun schon das klassische Drama als das einzige Vorbild, um dramatische Konflikte zum Ausdruck zu bringen.
Die poetische Verknüpfung bewirkt eine große Emotionalität und aktiviert den Zuschauer. Gerade sie beteiligt ihn am Erkennen des Lebens, weil sie sich weder auf vorgefertigte Schlußfolgerungen aus dem Sujet, noch auf starre Anweisungen des Autors stützt. Zur freien Verfügung steht lediglich das, was den tieferen Sinn der dargestellten Erscheinungen aufspüren hilft. Ein komplizierter Gedanke und eine poetische Weltsicht sollten keinesfalls um jeden Preis in den Rahmen einer gar zu deutli[23]chen Offenkundigkeit hineingepreßt werden. Die Logik direkter, allgemein üblicher Folgerichtigkeit erinnert nämlich verdächtig an die Beweisführungen für geometrische Theoreme. Für die Kunst dagegen bieten jene assoziierbaren Verknüpfungen, in denen sich rationale und emotionale Wertungen des Lebens miteinander verbinden, zweifellos viel reichere Möglichkeiten. Und es ist durchaus schade, daß der Film diese Möglichkeiten so selten nutzt. Denn dieser Weg ist weit vielversprechender. In ihm liegt eine innere Kraft, die das Material, aus dem ein Bild gemacht ist, „aufzusprengen“ vermag.
Wenn über einen Gegenstand nicht gleich alles gesagt wird, dann besteht die Möglichkeit, selbst noch etwas hinzuzudenken. Denn sonst wird die Schlußfolgerung dem Zuschauer ohne jede Denkarbeit präsentiert. Da er sie so mühelos serviert bekommt, kann er mit dieser Folgerung gar nichts anfangen. Vermag denn der Autor dem Zuschauer irgend etwas zu sagen, wenn er mit ihm nicht die Mühe und die Freude der Erschaffung eines Bildes teilt?
Diese schöpferische Verfahrensweise besitzt noch einen Vorteil. Der einzige Weg, auf dem ein Künstler den Zuschauer im Rezeptionsprozeß auf eine gleichberechtigte Ebene hebt, besteht darin, ihn die Einheit eines Films aus dessen Teilen selbst konstituieren zu lassen und dabei Eigenes hinzuzudenken. Ja, auch aus Gründen der gegenseitigen Achtung von Künstler und Rezipient ist eine solche Beziehung die einzige angemessene künstlerische Kommunikation.
Wenn ich hier von Poesie spreche, dann habe ich dabei kein bestimmtes Genre im Sinn. Poesie – das ist für mich eine Weltsicht, eine besondere Form des Verhältnisses zur Wirklichkeit.
So gesehen wird Poesie also zu einer Philosophie, die den Menschen sein ganzes Leben lang begleitet. Erinnern wir uns an das Schicksal und den Charakter solcher Künstler wie Aleksandr Grin9, der, bevor er hungers zu sterben drohte, mit einem selbstgemachten Bogen in die Berge zog, um dort irgendein Wildbret zu erjagen. Wenn man sich die Zeit vergegenwärtigt, in der dieser Mensch lebte, dann enthüllt sich hier die tragische Figur eines Träumers.
Man denke an das Schicksal van Goghs.
An das von Michail Prischwin10, dessen Figur Züge jener [24] russischen Natur annahm, die er mit so unendlicher Liebe beschrieben hat.
Oder man denke an Mandelstam, an Pasternak, Chaplin, Dowshenko oder Mizoguchi11. Dann wird man die ungeheuere emotionale Kraft dieser Bilder begreifen, die sich so stark über den Erdboden erheben, oder genauer: über diesem Erdboden schweben. Jener Bilder, in denen sich ein Künstler nicht etwa nur als ein Erforscher des Lebens erweist, sondern zugleich auch als ein Schöpfer hoher geistiger Werte und eben jener besonderen Schönheit, die nur der Poesie eigen ist.
Ein solcher Künstler vermag die Besonderheiten der poetischen Struktur des Seins zu erkennen. Er ist in der Lage, über die Grenzen der linearen Logik hinauszugehen und das besondere Wesen der subtilen Bezüge und geheimsten Phänomene des Lebens, dessen Komplexität und Wahrheit wiederzugeben.
Geschieht dies nicht, so nimmt sich das Leben sogar dann konventionell und einförmig aus, wenn es ein Autor mit dem Anspruch auf höchste Lebensnähe gestaltet. Denn auch die Illusion äußerer Lebendigkeit ist noch lange kein Beweis dafür, daß dieser Autor hier das Leben tatsächlich mit scharfem Blick erforscht und beobachtet hat.
Ich bin auch der Meinung, daß jenseits einer organischen Verbindung von subjektiven Autoreneindrücken und objektiver Wirklichkeitsdarstellung keinerlei Glaubwürdigkeit und innere Wahrheit, ja nicht einmal äußere Ähnlichkeit zu erreichen sind.
Man kann eine Szene dokumentarisch gestalten, ihre Personen mit naturalistischer Präzision kleiden und eine offenkundige Ähnlichkeit mit dem wirklichen Leben erzielen. Und trotzdem kommt dann dabei ein Film heraus, der von der Realität weit entfernt ist, der ausgesprochen konventionell wirkt, also in Wirklichkeit gar nicht ähnlich ist, obwohl der Autor dies doch so sehr wollte.
Seltsamerweise ist gerade das in der Kunst konventionell-gekünstelt, was zweifelsohne zu unserer ganz gewöhnlichen, alltäglichen Wahrnehmung gehört. Das erklärt sich daraus, daß das Leben eben erheblich poetischer organisiert ist, als sich das die Anhänger eines absoluten Naturalismus zuweilen vorstellen. So prägt sich vieles beispielsweise unseren Herzen und Gehirnen lediglich als bloßer Impuls ein. Und da in den besagten gutgemeinten, lebensnahen Filmen nicht nur ein Zu[25]gang hierzu fehlt, sondern dieser auch noch von deutlich vorgegaukelten Darstellungen verstellt wird, kommt eben statt Authentizität lediglich – milde gesagt – Gekünsteltes heraus. Und ich bin nun einmal dafür, daß das Kino so nahe wie möglich an jenem Leben bleibt, das wir sonst gar nicht in seiner tatsächlichen Schönheit wahrnehmen können.
Ich habe bereits meiner Freude über die sich abzeichnende Trennlinie zwischen Film und Literatur Ausdruck gegeben. Über die Trennlinie zwischen jenen beiden Künsten, die sich bislang scheinbar so fruchtbar ergänzt haben.
In seiner Weiterentwicklung wird sich der Film meiner Meinung nach nicht nur von der Literatur, sondern auch von den anderen Künsten entfernen und auf diese Weise immer selbständiger werden. Das geht keineswegs mit der gewünschten Schnelligkeit vor sich. Hier vollzieht sich ein langwieriger Prozeß mit unterschiedlichen Etappen. Und dies erklärt auch die Tatsache, daß es im Film zu einer gewissen Stabilisierung jener spezifischen Prinzipien gekommen ist, die eigentlich anderen Kunstarten eigen sind, auf die sich aber dennoch immer wieder auch Filmregisseure stützen. Doch allmählich beginnen diese Prinzipien die Entwicklung der Eigenart des Films zu bremsen und zu einem Hindernis für sie zu werden. Und dies hat unter anderem zur Folge, daß der Film teilweise die Fähigkeit verloren hat, der Wirklichkeit mit seinen ureigenen Mitteln unmittelbare Gestalt zu geben, also ohne den Umweg über Literatur, Malerei oder Theater.
Ebenso merklich ist der Einfluß der bildenden Kunst auf den Film dort, wo man um eine unmittelbare Übertragung dieses oder jenes Gemäldes auf die Kinoleinwand bemüht ist. Besonders häufig werden einzelne kompositorische oder – wenn es sich um einen Farbfilm handelt – malerische Prinzipien transponiert. Doch in jedem dieser Fälle fehlt dem künstlerischen Ergebnis eine kreative Selbständigkeit: Es wird zu reiner Imitation.
Die Übertragung der Besonderheiten anderer Kunstarten auf die Leinwand beraubt den Film seiner kinematographischen Eigenart und macht es schwierig, Lösungen zu finden, die sich auf die mächtigen Ressourcen des Kinos als einer eigenständigen Kunst stützen. Doch das Schlimmste dabei ist, daß in solchen Fällen eine Kluft zwischen Filmautor und Leben entsteht. Zwischen beide schieben sich ständig Vermittler, Verfah[26]rensweisen älterer Kunstformen. Und dies hindert dann vor allem daran, im Film das Leben in seiner Ursprünglichkeit wiederzugeben, so wie der Mensch es tatsächlich sieht und empfindet.
Wir erlebten einen Tag. Sagen wir, daß an diesem Tag etwas Wichtiges, Bedeutsames geschah. Etwas, das zum Ausgangspunkt eines Filmes werden könnte, etwas, das in sich den Keim zur Darstellung eines Ideenkonfliktes trägt. Doch wie hat sich dieser Tag nun unserem Gedächtnis eingeprägt?
Als etwas Amorphes, Fließendes, das noch kein Skelett, kein Schema hat. Lediglich das zentrale Ereignis dieses Tages ist zu protokollarischer Konkretheit geronnen, zu einem klaren Gedanken und zu einer bestimmten Form. Vor dem Hintergrund dieses ganzen Tages nimmt sich dieses Ereignis wie ein Baum im Nebel aus. Der Vergleich ist sicher ungenau, da alles, was ich als Nebel oder Wolke bezeichne, natürlich keinesfalls dasselbe ist. Einzelne Tageseindrücke weckten in uns innere Impulse, Assoziationen. Im Gedächtnis blieben die Gegenstände und Umstände als etwas zurück, das keine scharf umrissenen Konturen hat, das unvollendet, fließend, zufällig ist. Kann ein solches Empfinden mit filmischen Mitteln wiedergegeben werden? Ohne den geringsten Zweifel! Mehr noch: Dazu ist vor allem sie, diese realistischste aller Künste, imstande.
Ein solches Kopieren der Lebensempfindungen kann sicherlich kein Selbstzweck sein. Doch die Möglichkeit einer solchen Wiedergabe kann ästhetisch reflektiert und genutzt werden zur Darstellung großer ideeller Verallgemeinerungen.
Wahrscheinlichkeit und innere Wahrheit liegen für mich nicht nur in Faktentreue, sondern auch in einer getreuen Wiedergabe von Empfindungen.
Man geht über die Straße und begegnet dort mit seinen Augen dem Blick eines vorübergehenden Menschen. Und dieser Blick trifft einen. Er ruft irgendein beunruhigendes Gefühl hervor. Er beeinflußt einen seelisch, erzeugt in einem eine bestimmte Stimmung.
Wenn man nun sämtliche Umstände dieser Begegnung mechanisch genau rekonstruiert, den Schauspieler dokumentarisch getreu kleidet und ebenso präzise den Aufnahmeort bestimmt, dann erzielt man ganz gewiß nicht mit dieser Aufnahme jenes Gefühl, das man bei der Begegnung selbst empfand. [27] Denn bei einem solchen Dreh läßt man die psychologische Voraussetzung außer acht, die den eigenen seelischen Zustand erklärt, aus dem heraus man dem Blick des Unbekannten ein besonderes emotionales Gewicht beimaß. Und wenn nun der Blick dieses Unbekannten den Zuschauer genauso treffen soll wie seinerzeit einen selbst, dann muß neben allem übrigen im Zuschauer auch eine Stimmung erzeugt werden, die der eigenen realen Begegnung analog ist.
Das aber ist schon eine zusätzliche Regiearbeit, ein ergänzendes Drehbuchmaterial.
Auf der Basis jahrhundertelanger Theaterdramaturgie entwickelte sich eine Vielzahl von Schablonen, Schemata und Allgemeinplätzen, die leider auch in den Film Eingang fanden. Zu meinen Ansichten über Dramaturgie und Logik der Filmerzählung habe ich mich bereits an früherer Stelle geäußert. Um hier noch konkreter, beziehungsweise verständlicher zu sein, muß ich jetzt noch den Begriff der Inszenierung näher erläutern. Gerade an der Behandlung der Mise-en-scène wird nämlich die trockene, formale Art, die Problematik des Ausdrucks und der Ausdruckshaftigkeit zu lösen, besonders deutlich. Übrigens macht ein Vergleich der filmischen Mise-en-scène mit jener Mise-en-scène, wie sie einem Schriftsteller vorschwebt, häufig sehr schnell verständlich, worin dieser Formalismus der filmischen Inszenierung eigentlich besteht.
Man ist gewöhnlich um eine ausdrucksvollere Mise-en-scène bemüht, weil man mit ihr die Idee, den Sinn der Szene und ihren Subtext unmittelbar zum Ausdruck bringen will. Seinerzeit bestand auch Eisenstein darauf. Es wird überdies angenommen, daß auf diese Weise die Szene die nötige Tiefe, eine vom Sinn diktierte Expressivität erhält.
Das ist eine primitive Auffassung, auf deren Grundlage viele überflüssige Konventionen entstehen, die das lebendige Gewebe des künstlerischen Bildes zersetzen. Bekanntlich wird als Mise-en-scène jene Skizze bezeichnet, die die Wechselbeziehung von Schauspieler und äußerem Milieu festlegt. Häufig überrascht uns eine Episode aus dem Leben durch eine extrem ausdrucksvolle Mise-en-scène. Sie reißt uns zu begeisterten Ausrufen hin wie: „So etwas kann man sich gar nicht ausdenken!“ Was ist es aber, das uns hier so besonders begeistert? Doch wohl die Tatsache, daß hier der Sinn dieses Vorgangs [28] nicht mit der Mise-en-scène übereinstimmt. In gewissem Sinne überrascht und begeistert uns die Ungereimtheit der betreffenden Mise-en-scène. Doch es handelt sich dabei nur um eine vermeintliche Ungereimtheit, hinter der letztlich ein großer Sinn steckt. Und genau dieser gibt der Mise-en-scène ihre absolute Überzeugungskraft, die uns an die Wahrheit dieses Ereignisses glauben läßt.
Mit einem Wort: Man darf dem Komplizierten nicht aus dem Wege gehen und alles einfach banalisieren. Dafür aber ist es nötig, daß die Mise-en-scène nicht etwa bloß einen abgeleiteten Sinn illustriert, sondern dem Leben folgt – den Charakteren ihrer Personen und deren psychischen Zuständen. Und genau aus diesem Grunde kann es auch nicht die Aufgabe einer Mise-en-scène sein, lediglich bewußtes Nachdenken über den Dialog oder ein bestimmtes Handeln zu bewirken.
Im Film ist die Mise-en-scène dazu berufen, uns durch die Wahrscheinlichkeit der vorgeführten Aktionen, durch die Schönheit und die Tiefe ihrer Bilder, nicht aber durch ein aufdringliches Illustrieren des ihnen zugrunde liegenden Sinnes zu erschüttern, zu berühren. In diesen wie in anderen Fällen beschränkt eine akzentuierte Erläuterung des Sinnes nur die Phantasie des Zuschauers. Sie stellt ihm ein Ideengebäude hin, außerhalb dessen sich nur Leere ausbreitet. Sie schützt also nicht etwa die Grenzen eines Gedankens, sondern beschneidet die Möglichkeiten, in dessen Tiefe vorzudringen.
Beispiele hierfür sind nicht schwer zu finden. Man braucht nur an die endlosen Zäune, Gräben und Gitter zu denken, die Verliebte trennen. Eine andere Variante bedeutungsschwerer Mise-en-scènes sind gewaltige, lauttönende Panoramafahrten über Großbaustellen, die den aus der Reihe tanzenden Egoisten zur Vernunft bringen und ihm Liebe zur Arbeit und zur Arbeiterklasse einflößen sollen. Eine Mise-en-scène hat aber schon deswegen kein Recht auf Wiederholungen, weil es auch keine Protagonisten gibt, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen. Wird die Mise-en-scène jedoch zu einem bloßen Zeichen, zu einer Schablone oder zu einem Begriff (und sei dieser noch so originell!), dann wird alles – die Charaktere, die Situationen und die Seelenzustände der Personen – zu einem verlogenen Schema.
Erinnern wir uns an den Schluß von Dostojewskijs Roman [29] „Der Idiot“. Was für eine erschütternde Wahrheit der Charaktere und Umstände:
Rogoshin und Myschkin, die hier auf Stühlen in einem riesengroßen Zimmer sitzen und einander mit den Knien berühren, machen uns gerade durch die äußerliche Ungereimtheit und Sinnlosigkeit dieser Mise-en-scène und die zugleich absolute Wahrheit ihres inneren Zustands betroffen.
Gerade der Verzicht auf Tiefsinn macht die Mise-en-scène hier so überzeugend wie das Leben selbst.
Oft ist das Scheitern eines Regisseurs vor allem der hemmungslosen und geschmacklosen Sucht nach Bedeutungsschwere zuzuschreiben, dem Bemühen, dem menschlichen Handeln nicht den ihm zukommenden, sondern einen erzwungenen, dem Regisseur nötig erscheinenden Sinn zu geben. Wenn man sich von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen will, dann sollte man ganz einfach irgendwelche Freunde bitten, sagen wir zum Beispiel: vom Tod eines Menschen zu berichten, den sie miterlebt haben. Und ich bin davon überzeugt, daß man dann von den Umständen und Verhaltensweisen, von der Ungereimtheit und Expressivität solchen Sterbens überrascht und betroffen sein wird – verzeihen Sie bitte den unpassenden Ausdruck! Und deshalb sollte man auch Beobachtungen aus dem Leben sammeln und nicht etwa Schablonen und seelenlose Konstruktionen eines falschen, zum Zwecke filmischer Expressivität vorgetäuschten Lebens.
Meine innere polemische Auseinandersetzung mit der Pseudo-Ausdruckskraft gewisser Mises-en-scènes zwang mich, an zwei Episoden zu denken, von denen ich einst gehört hatte. Ausdenken kann man sich so etwas nicht; diese Vorfälle sind die reine Wahrheit und unterscheiden sich damit positiv von den Beispielen eines sogenannten „bildhaften Denkens“:
Eine Gruppe von Menschen soll wegen Verrats von einem Exekutionskommando erschossen werden. Sie warten vor der Mauer eines Krankenhauses, inmitten von Pfützen. Es ist Herbst. Man befiehlt den zum Tode Verurteilten, Mäntel und Schuhe auszuziehen. Einer von ihnen löst sich aus der Gruppe und durchwatet in seinen durchlöcherten Socken lange die Pfützen, um einen trockenen Platz für seinen Mantel und seine Stiefel zu finden, die er eine Minute später schon gar nicht mehr brauchen wird.
[30] Und noch eine Episode: Ein Mensch gerät unter eine Straßenbahn, die ihm ein Bein abfährt. Man lehnt ihn mit dem Rücken an eine Hauswand, wo er unter den schamlosen Blicken von Neugierigen auf den Rettungswagen wartet. Schließlich hält er diese Situation nicht mehr aus, zieht aus seiner Hose ein Taschentuch hervor und bedeckt damit seinen Beinstumpf.
Ist das expressiv? Und wie! Ich bitte Sie nochmals um Vergebung. Natürlich kann es nicht um das willkürliche Zusammentragen verschiedener solcher Fälle gehen. Es geht vielmehr darum, der Wahrheit der Charaktere und Umstände statt einer oberflächlichen Schönheit „bildlicher“ Lösungen zu folgen. Leider bildet sehr häufig eine Unzahl von terminologischen Aufklebern noch eine zusätzliche Schwierigkeit bei der theoretischen Beurteilung dieser Phänomene. Diese vernebeln nämlich nur den Sinn des Gesagten und verfestigen die Unordnung, die in der theoretischen Diskussion herrscht.
Ein Kunstwerk – das bedeutet in jedem Fall die organische Verknüpfung von Idee und Form.
An „Iwans Kindheit“ ging ich noch nicht mit solchen Überlegungen heran. Die kamen bei mir erst als Resultat der Arbeit an diesem Film auf. Wie überhaupt vieles von dem, was mir jetzt klar ist, vor „Iwans Kindheit“ keineswegs geklärt war.
Selbstverständlich ist mein Standpunkt subjektiv. Doch so ist das nun einmal in der Kunst: Im Werk eines Künstlers bricht sich das Leben im Prisma seiner persönlichen Wahrnehmung, zeigen sich in unwiederholbaren Einstellungen die verschiedenen Seiten der Wirklichkeit. Doch obwohl ich den subjektiven Vorstellungen eines Künstlers und seiner persönlichen Weltsicht große Bedeutung beimesse, bin ich gegen Willkür und Anarchie. Das Entscheidende sind die Weltsicht und die ethische, ideelle Zielsetzung.
Meisterwerke entstehen aus dem Bemühen, ethische Ideale zum Ausdruck zu bringen. Sie bestimmen die Imagination und das Empfinden eines Künstlers. Wenn er das Leben liebt, dann verspürt er auch die unbedingte Notwendigkeit, dieses Leben zu erkennen, es zu verändern, dazu beizutragen, daß es besser wird. Mit einem Wort: Wenn es dem Künstler darum geht, das Leben lebenswerter zu gestalten, dann kann es auch keine Gefahr sein, wenn die Wirklichkeit bei ihrer Darstellung den Filter seiner subjektiven Vorstellungen und seiner seelischen [31] Zustände durchläuft. Sein Werk ist dann immer das Resultat einer geistigen Bemühung im Namen der menschlichen Vervollkommnung, Ausdruck einer Weltsicht, die uns durch die Harmonie von Empfinden und Denken, durch ihre Würde und ihre Einfachheit gefangennimmt.
Meine Überlegungen laufen im allgemeinen auf folgendes hinaus: Wenn man auf einer festen ethischen Grundlage steht, dann braucht man sich auch nicht vor einer größeren Freiheit in der Wahl seiner Mittel zu fürchten. Ja, mehr noch: Diese Freiheit braucht noch nicht einmal immer von einem klaren und eindeutigen Konzept beschränkt zu werden, das einen zur Entscheidung zwischen dieser oder jener Lösung drängt. Unabdingbar ist allein, daß man spontan sich ergebenden Lösungen auch tatsächlich vertraut. Wichtig ist natürlich auch, daß sie den Zuschauer nicht durch überflüssige Kompliziertheit abstoßen. Doch das erreicht man eben keinesfalls mit Überlegungen, die dieses oder jenes filmische Verfahren von vornherein ausschließen. Dazu muß man vielmehr die eigenen Erfahrungen in den vorangegangenen Arbeiten auf jene tauben Stellen hin abklopfen, die im natürlichen und spontanen Schaffensprozeß zu überwinden sind.
Ehrlich gesagt, sollte mir die Erfahrung dieses ersten Films auch die Frage klären helfen, ob ich überhaupt die Fähigkeiten zu einem Filmregisseur hatte. Aus diesem Grunde lockerte ich sozusagen die Zügel. Ich versuchte, mir keinerlei Zwänge aufzuerlegen, und brachte mich ganz in diesen Film ein. Damals dachte ich: „Wenn dieser Film etwas wird, dann habe ich mir das Recht erworben, Filme zu machen.“ Gerade deshalb hatte „Iwans Kindheit“ eine besondere Bedeutung für mich. Ich betrachtete diesen Film als ein Examen, das mein Recht auf schöpferische Arbeit erweisen sollte.
Natürlich verliefen die Filmarbeiten keinesfalls anarchisch. Ich bemühte mich nur, mir keinerlei Beschränkungen aufzuerlegen. Ich hatte mich auf meinen eigenen Geschmack zu verlassen, der Kompetenz meiner ureigenen ästhetischen Affinitäten zu vertrauen. Das Ergebnis dieser Filmarbeit sollte mir zeigen, worauf ich mich in meinem weiteren Schaffen stützen konnte, beziehungsweise das, was dieser Prüfung nicht standhielt.
Später stellte sich dann heraus, daß nur wenig von dem damals Erarbeiteten tatsächlich lebensfähig blieb. Sehr lehr[32]reich für das gesamte Filmteam war die Konzipierung der Faktur des Handlungsortes und der Landschaft, also die Umsetzung der nichtdialogischen Teile des Drehbuchs in ein konkretes Szenen- und Episodenmilieu. In der Erzählung hatte Bogomolow die Handlungsorte mit der beneidenswerten Gründlichkeit eines unmittelbaren Augenzeugen der seiner Novelle zugrunde liegenden Ereignisse geschildert. Das einzige Prinzip, von dem sich der Autor dabei leiten ließ, war die dokumentarische Rekonstruktion des seinerzeit mit eigenen Augen an der Front Gesehenen.
Von der Faktur her waren diese Handlungsorte für mich nichtssagende Bruchstücke: Gestrüpp am feindlichen Ufer, die dunkle Verschalung in Galzews Erdhütte, die dieser aufs Haar gleichende Sanitätsstation, der trostlose Beobachtungsstand am Flußufer, die Schützengräben. All das wurde genau beschrieben, weckte aber in mir keinerlei ästhetische Emotionen, ja war mir eher sogar irgendwie zuwider. In meinen Vorstellungen verband sich dieses Milieu mit nichts, was irgendwelche Gefühle hätte auslösen können, die der Geschichte dieses Iwan entsprochen hätten. Die ganze Zeit über erschien mir der Erfolg dieses Films auch von einer fesselnden Faktur der Handlungsorte und der Landschaft abzuhängen, die in mir bestimmte Erinnerungen und poetische Assoziationen wecken mußte. Jetzt, zwanzig Jahre später, bin ich von folgendem, nicht zu analysierendem Phänomen überzeugt: Wenn ein Filmer selbst von seinem ausgewählten Drehort berührt wird, wenn der sich ihm ins Gedächtnis einschreibt und Assoziationen vielleicht sogar höchst subjektiver Natur weckt, dann springt so etwas auch auf den Zuschauer über. In verschiedenen Episoden, die von subjektiven Stimmungen ihres Autors geprägt sind, kommen ein „Birkenwäldchen“ vor, der aus Birkenstämmen gezimmerte Sanitätsunterstand, der Landschafts-Hintergrund des „letzten Traums“, der tote, von Wasser überflutete Wald.
Sämtliche Träume (es gibt deren vier) basieren ebenfalls auf ziemlich konkreten Assoziationen. Der erste Traum, zum Beispiel, stellt von Anfang bis Ende mit dem Ausruf: „Mama, dort ist ein Kuckuck!“ eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen vor. Das war die Zeit meiner ersten Bekanntschaft mit der Welt. Ich war damals vier Jahre alt.
Gewöhnlich sind einem Menschen seine Erinnerungen teuer. [33] Und so ist es sicher auch kein Zufall, daß er sie stets in poetischen Farben ausschmückt. Die schönsten Erinnerungen sind aber die Kindheitserinnerungen. Sicher muß dem Gedächtnis ein wenig nachgeholfen werden, bevor es die Grundlage einer künstlerischen Rekonstruktion bilden kann. Wichtig ist, daß dabei nicht jene spezifische emotionale Atmosphäre verlorengeht, ohne die eine solche Rekonstruktion mit all ihren naturalistischen Details in uns nur das bittere Gefühl der Enttäuschung hervorruft. Denn es ist schließlich ein großer Unterschied zwischen der eigenen Vorstellung von seinem Geburtshaus, das man viele Jahre lang nicht gesehen hat, und der unmittelbaren Wahrnehmung dieses Hauses nach einem längeren zeitlichen Zwischenraum. Gewöhnlich zerstört die Konfrontation mit der konkreten Quelle der Erinnerungen deren poetischen Charakter. Ich bin davon überzeugt, daß man hieraus ein überaus originelles Prinzip für einen in höchstem Maße interessanten Film ableiten kann: Die Logik der Ereignisse, der Verhaltens- und Handlungsweisen des Helden wird äußerlich gestört; daraus wird dann eine Erzählung über seine Gedanken, seine Erinnerungen und Träume. Und sogar in dem Fall, wo der Held gar nicht, beziehungsweise nicht so, wie das in der traditionellen Dramaturgie üblich ist, auftritt, kann man damit einen gewaltigen Sinn ausdrücken, einen sehr spezifischen Charakter gestalten, die innere Welt dieses Helden sichtbar werden lassen. Irgendwie deckt sich diese Verfahrensweise mit der literarischen, ja sogar der poetischen Darstellungsform des lyrischen Helden: Er selbst tritt gar nicht auf. Doch das, wie und worüber er nachdenkt, liefert eine klare und festumrissene Vorstellung von ihm. In der Folge wurde auch der „Spiegel“ so konstruiert.
Auf dem Wege zu dieser Art poetischer Logik trifft man auf zahlreiche Hindernisse. Bei jedem Schritt lauern einem Gegner auf, obwohl doch das Prinzip der poetischen Logik ebenso gesetzmäßig ist wie das der Literatur und der theatralischen Dramaturgie, obgleich sich doch hier lediglich das Strukturprinzip von einem Bereich in den anderen verschiebt. Man denke dabei an die traurigen Worte Hermann Hesses: Dichter sein, ist etwas, das einem zu sein, aber nicht zu werden erlaubt ist. Und so ist es wahrhaftig!
Während der Arbeiten an „Iwans Kindheit“ stießen wir [34] jedesmal, wenn wir Sujetverknüpfungen durch poetische Verknüpfungen zu ersetzen versuchten, auf unweigerliche Proteste der Filmbehörden. Dabei gingen wir damals noch mit äußerster Vorsicht an diese Methode heran und ertasteten uns lediglich einen Weg. Ich war zu jener Zeit noch weit entfernt von einer konsequenten Erneuerung meiner inszenatorischen Prinzipien. Doch sobald auch nur kleinste innovatorische Ansätze in der dramaturgischen Struktur auftauchten, ein freierer Umgang mit der Logik des Milieus auszumachen war, führte dies unweigerlich zu Protesten. Dabei berief man sich besonders gern immer wieder auf den Zuschauer: Der brauche doch schließlich unbedingt eine sich bruchlos entwickelnde Fabel und könne doch gar nicht einem sujetschwachen Film folgen. Sämtliche abrupten Übergänge von Träumen zur Wirklichkeit, beziehungsweise umgekehrt, etwa die letzte Szene unseres Filmes, wo aus dem Keller der Kirche unmittelbar zum Siegestag in Berlin übergeleitet wird, erschienen vielen völlig unangemessen. Doch zu meiner Freude konnte ich mich später davon überzeugen, daß die Zuschauer keineswegs dieser Meinung waren.
Schließlich gibt es Aspekte des menschlichen Lebens, die sich nur mit poetischen Mitteln adäquat darstellen lassen. Dennoch versuchen Filmregisseure häufig genug die poetische Logik durch eine grobe Konventionalität technischer Verfahren zu ersetzen. Träume verwandeln sich im Film häufig aus einem konkreten Lebensphänomen in ein Sammelsurium altmodischer filmischer Kunstkniffe.
Als wir in unserem Film Träume zu drehen hatten, mußten wir die Frage entscheiden, wie und mit welchen Mitteln diese poetische Konkretheit einzufangen war. Hierbei durfte es sich nicht um spekulative Entscheidungen handeln. Um einen adäquaten Ausweg zu finden, unternahmen wir einige praktische Versuche mit Assoziationen und vagen Ahnungen. So kamen wir etwa beim dritten Traum auf die Idee mit den Negativbildern. In unserer Vorstellung blitzten Lichtstrahlen einer dunklen Sonne durch die schneebedeckten Bäume, und es strömte ein heller Regen herab. Das Aufleuchten von Blitzen bot sich als technische Möglichkeit für einen Montageübergang aus Positiv- in Negativmaterial an. Doch all dies schuf lediglich eine Atmosphäre des Irrealen. Und der Inhalt? Die Traumlogik? Die [35] entsprang hier schon den Erinnerungen. Irgendwo wurde nasses Gras sichtbar, ein Lastwagen voller Äpfel, regentriefende, in der Sonne dampfende Pferde. All das kam unmittelbar aus dem Leben ins Bild, also keinesfalls als ein aus der benachbarten bildenden Kunst übernommenes Material. Unsere Suche nach einfachen Lösungen zur Wiedergabe träumerischer Irrealität führte uns schließlich zu einem Panorama über die Negativ-Bilder der Bäume und dem vor deren Hintergrund dreimal auftauchenden Mädchengesicht, das dabei jedesmal seinen Ausdruck verändert. Mit dieser Einstellung wollten wir das Vorgefühl dieses Mädchens von der unausweichlichen Tragödie einfangen. Die letzte Einstellung dieses Traums sollte am Wasser, an einem Ufer gedreht werden, um sie auf solche Weise mit Iwans letztem Traum in Verbindung bringen zu können.
Doch zurück zum Problem der Drehortwahl: Es ist nicht zu übersehen, daß uns der Film an jenen Stellen mißlang, wo wir die von unseren lebendigen Empfindungen der konkreten Drehorte ausgelösten Assoziationen mit abstrakten Überlegungen oder Treue zum Drehbuch verdrängten. So war das etwa in der Szene mit dem niedergebrannten Gehöft und dem wahnsinnig gewordenen Alten. Ich denke dabei an den Inhalt dieser Szene, an die mißlungene plastische Expressivität dieses Milieus. Zunächst war diese Szene anders geplant worden.
Wir hatten uns ein verwildertes, regengepeitschtes Feld vorgestellt, das von einem schlammigen, zerfurchten Weg durchschnitten wird.
Diesen Weg sollten kurzgestutzte, herbstliche Weidenbäume säumen.
Ein niedergebranntes Gehöft kam hier gar nicht vor.
Nur am fernen Horizont ragte einsam ein Schornstein empor.
Das Gefühl der Einsamkeit sollte hier alles beherrschen. Vor den Leiterwagen, auf dem der wahnsinnige Alte und Iwan fuhren, war eine abgemagerte Kuh gespannt (man erinnere sich an die Frontaufzeichnungen von Effendi Kapijev).12 Auf dem Boden des Wagens kauerte ein Huhn, und dann lag da irgend etwas ziemlich Großes, das in schmutziges Sackleinen eingewickelt war. Als das Auto des Obersten sichtbar wurde, rannte Iwan weit in das Feld hinein – bis zum Horizont. Cholin brauchte lange, bis er ihn einfing und konnte dabei seine schweren Stiefel nur mühsam aus dem Schlamm ziehen. Dann [36] fuhr der „Dodge“ wieder weg, und der Alte blieb allein zurück. Der Wind lüftete das Sackleinen, unter dem ein verrosteter Pflug sichtbar wurde.
Diese Szene sollte in langen, langsamen Einstellungen gedreht werden, also einen völlig anderen Rhythmus haben.
Nun sollte man aber nicht meinen, daß ich aus reinen Produktionszwängen bei der anderen Variante blieb. Nein, es gab hier einfach zwei Versionen dieser Szene, und ich habe nicht gleich gespürt, daß die schließlich gewählte die schlechtere war.
In diesem Film gibt es auch Stellen, die deshalb danebengingen, weil dort das bereits im Zusammenhang mit der Poetik der Erinnerung erwähnte Moment des Erkennens für die Schauspieler und daher auch für den Zuschauer ausblieb. Das ist so in der Einstellung, wo Iwan durch Soldatenkolonnen und Militärlastwagen zu den Partisanen flüchtet. Weder bei mir selbst, noch beim Zuschauer löste das irgendwelche Gefühle aus.
In diesem Sinne mißlungen ist auch die Szene, wo Iwan in der Aufklärungsabteilung mit Oberst Grjasnow redet. Obwohl die Erregung des Jungen hier auch eine äußerlich sichtbare Dynamik schafft, blieb das Interieur gleichgültig und neutral. Und nur im Hintergrund bringt ein hinter dem Fenster arbeitender Soldat ein gewisses lebendiges Element ein, das Anlaß zum Nachdenken und Assoziieren gibt.
Derlei Szenen, denen der innere Sinn, ein spezifischer Autorenstandpunkt fehlt, nimmt man sofort als etwas Fremdartiges wahr, weil sie aus der allgemeinen plastischen Anlage des Films herausfallen.
All dies zeigt noch einmal, daß der Film Autorenkunst ist, wie jede andere Kunst auch. Die Mitarbeiter des Filmteams können ihrem Regisseur unendlich viel geben. Doch einzig und allein dessen Imagination verleiht dem Film die endgültige Einheit. Nur das, was den Filter seiner alleinigen, subjektiven Vision passiert, bildet das künstlerische Material, aus dem dann jene unverwechselbare und komplexe Welt errichtet wird, die ein Reflex des Wirklichkeitsbildes ist. Natürlich hebt diese letzte Verantwortlichkeit des Regisseurs nicht die Bedeutung des kreativen Beitrages der übrigen Mitarbeiter auf. Aber eine wirkliche Bereicherung ergibt sich nur dann, wenn die entsprechenden Vorschläge vom Regisseur gewertet und entsprechend [37] verarbeitet werden. Andernfalls wird die Geschlossenheit des Werkes zerstört.
Einen großen Anteil am Erfolg unseres Films hatten ganz zweifelsohne die Schauspieler. Vor allem Kolja Burljajew, Walja Maljawina, Shenja Sharikow, Valentin Subkow. Mehrere von ihnen standen das erste Mal vor der Kamera, waren aber ausnahmslos mit großem Ernst bei der Sache.
Kolja Burljajew13, der künftige Iwan-Darsteller, war mir bereits aufgefallen, als ich noch am VGK studierte. Ohne Übertreibung kann ich sagen, daß meine Bekanntschaft mit ihm letztlich den Ausschlag für die Verfilmung von „Iwans Kindheit“ gab. Die gesetzten Fristen waren so unerbittlich eng, daß eine ernsthafte Hauptdarsteller-Suche gar nicht möglich gewesen wäre, und auch das Budget war aufgrund des verunglückten ursprünglichen „Iwan“-Projekts, an dem ein anderes künstlerisches Kollektiv gearbeitet hatte, derart schmal bemessen, daß das Projekt nur unter bestimmten Garantien ganz anderer Art akzeptabel war. Und diese Garantien waren… Kolja Burljajew, der Kameramann Vadim Jusow, Wjatscheslaw Owtschinnikow und der Filmarchitekt Jewgenij Tschernjajew.
Die Schauspielerin Walja Maljawina widersprach mit ihrem Äußeren sämtlichen Vorstellungen, die Bogomolow von dieser Krankenschwester hatte. Nach der Erzählung ist dies eine füllige Blondine mit großem Busen und blauen Augen.
Und da war auf einmal Walja Maljawina. Das glatte Gegenteil der Bogomolowschen Krankenschwester: eine Brünette mit kastanienbraunen Augen und einem knabenhaften Torso. Doch zusammen mit all dem brachte sie auch jenes Besondere, Individuelle und Unerwartete mit, das in der Erzählung selbst nicht angelegt war. Und das war erheblich wichtiger und komplexer, erklärte vieles in der Figur dieser Mascha und versprach vieles. Und so erhielten wir noch eine weitere moralische Garantie.
Die Maljawina war für diese Rolle äußerst geeignet. Sie wirkte derart naiv, unberührt und vertrauensvoll, daß von Anfang an klar wurde: Mascha/Maljawina war dem Krieg völlig hilflos ausgeliefert und hatte mit ihm nichts gemein. Das Pathos ihrer Natur und ihres Alters war die Hilflosigkeit. Das Aktive in ihr, das, was ihre Einstellung zum Leben bestimmen [38] sollte, befand sich bei ihr noch in embryonalem Zustand. Dies bot die Möglichkeit, eine authentische Beziehung zu Hauptmann Cholin aufzubauen, den gerade ihre Hilflosigkeit entwaffnete. Auf diese Weise geriet Subkow, der Darsteller des Cholin, in völlige Abhängigkeit von seiner Partnerin und verhielt sich da genau richtig, wo er mit einer anderen Partnerin falsch und moralisierend gewirkt hätte.
All diese Ausführungen sollte man keinesfalls als Plattform, als Basis für die Entstehungsgeschichte von „Iwans Kindheit“ betrachten. Es ist nur ein Versuch, mir selbst klarzumachen, welche Überlegungen im Prozeß dieser Filmarbeiten aufkamen und in welchem gedanklichen Kontext diese Überlegungen stehen. Die bei diesem Film gesammelten Erfahrungen bestärkten mich in meinen Überzeugungen. Und diese wiederum wurden bestätigt durch die Arbeit an dem Drehbuch „Leidenschaften um Andrej“ und die Inszenierung des Films über das Leben Andrej Rubljows, den ich 1961 beendete.
Nach Fertigstellung des Drehbuchs hatte ich starke Zweifel daran gehegt, ob es mir tatsächlich bestimmt sein würde, meine Idee zu verwirklichen. Aber eines stand für mich fest: Falls mir diese Möglichkeit gegeben wurde, durfte der künftige Film keinesfalls im Stile eines historischen oder biographischen Genrefilms realisiert werden. Mich interessierte etwas ganz anderes – das Wesen des poetischen Talents dieses großen russischen Malers. Am Beispiel von Rubljow wollte ich die Psychologie des schöpferischen Tuns verfolgen und zugleich die seelische Verfassung und die gesellschaftlichen Emotionen eines Künstlers erforschen, der ethische Werte von so ungeheurer Bedeutung schuf.
Dieser Film sollte davon erzählen, wie in einer Epoche des Brudermordes und des Tatarenjochs eine nationale Sehnsucht nach Brüderlichkeit aufkam, die die geniale „Dreifaltigkeit“ Andrej Rubljows, das heißt das Ideal der Brüderlichkeit, der Liebe und des versöhnenden Glaubens hervorbrachte. Genau dies bildete die Basis der ideo-ästhetischen Konzeption des Drehbuchs.
Dieses Drehbuch bestand aus einzelnen episodischen Novellen, in denen Rubljow selbst gar nicht immer auftaucht. Doch in solchen Fällen sollte dann die Lebendigkeit seines Geistes, der Atem jener Atmosphäre spürbar werden, die sein Verhältnis [39] zur Welt bestimmte. Verbunden werden diese Novellen nicht etwa durch eine lineare Chronologie, sondern vielmehr durch die poetische Logik, die Rubljow zwang, seine berühmte „Dreifaltigkeit“ zu schaffen. Genau diese Logik bedingt die Einheit der einzelnen Episoden, von denen jeder ein besonderes Thema und eine spezifische Idee zugeordnet ist. Diese Episoden setzen einander fort und geraten untereinander in Konfliktbezüge.
Doch in der vom Drehbuch vorgesehenen Abfolge sollten diese Episoden nach den Gesetzen der poetischen Logik aufeinanderstoßen. Gleichsam als eine bildliche Verkörperung der Widersprüche und Verschränkungen von Leben und kreativem Schaffen…
In historischer Hinsicht sollte der Film so angelegt sein, als würden wir über einen Zeitgenossen berichten. Deshalb durften die historischen Fakten, Persönlichkeiten und die Elemente der konkreten materiellen Kultur nicht etwa wie das Material künftiger Denkmäler ausfallen, sondern mußten ausgesprochen lebendig, voller Atem, ja sogar ganz alltäglich sein.
Details, Kostüme und Gerätschaften durften also nicht mit den Augen von Historikern, Archäologen oder Ethnographen gesehen werden, die Exponate fürs Museum sammeln. Ein Sessel sollte sich nicht wie eine museale Rarität ausnehmen, sondern wie ein konkreter Gegenstand, auf dem man sitzt.
Die Schauspieler mußten ihnen verständliche Menschen spielen, mit im Grunde genommen denselben Gefühlen, die auch dem modernen Menschen vertraut sind. Entschieden abzulehnen war die Tradition der Kothurne, auf die man gewöhnlich die Darsteller historischer Rollen stellt und die sich dann unmerklich gegen Filmende hin immer mehr in bloße Stelzen verwandeln. Wenn all das gelingt, dachte ich, dann kann es Hoffnung auf ein mehr oder minder optimales Resultat geben. Entschieden setzte ich darauf, diesen Film mit den Kräften eines freundschaftlich-kollegialen Teams zu verwirklichen. Mit einem „kampfbereiten“ Team, zu dem der Kameramann Vadim Jusow, der Filmarchitekt Tschernjajew und der Komponist W. Owtschinnikow gehörten.
Ich verrate endlich die geheime Absicht, die ich mit diesem Buch verfolge: Es ist mein großer Wunsch, daß jene Leser, die ich mit diesem Aufsatz wenigstens teilweise überzeugen konnte, nun auch meine geistigen Parteigänger werden. Und sei es nur [40] aus Dankbarkeit dafür, daß ich keinerlei Geheimnisse vor ihnen habe.
Dieser Aufsatz ist die erste größere Publikation Andrej Tarkowskijs und erschien 1964 in dem vom Moskauer Verlag „Iskusstwo“ herausgebrachten Sammelband „Wenn der Film fertig ist“.
9 Aleksandr Grin (1880-1832), russischer Prosaschriftsteller, Dichter und Publizist. Zog vor der Revolution als Fischer, Matrose, Goldgräber und Eisenbahnarbeiter durch ganz Rußland, wurde von der zaristischen Geheimpolizei verfolgt, lebte auch in der Zeit des Bürgerkriegs in bitterster Armut, bis sich Maxim Gorkij für ihn einsetzte.
10 Michail Prischwin (1873-1954), russischer Prosaschriftsteller, Dichter und Publizist, der sich vor allem Naturbeschreibungen widmete.
11 Osip Mandelstam (1891-1938), russischer Dichter, Hauptvertreter des Akmeismus. Alexander Dowshenko (1894-1956), ukrainisch-sowjetischer Filmregisseur, dessen frühe naturlyrisch-avantgardistischen Filme Tarkowskij überaus schätzt. Kenji Mizoguchi (1898-1956), japanischer Filmregisseur, Maler, Schauspieler und Journalist, der mit meditativ langen Einstellungen und zahlreichen Überblendungen besonders die aufopfernde Liebesfähigkeit der Frau behandelt.
12 Effendi Kapijev (1909-1944), dagestanisch-sowjetischer Prosaschriftsteller und Übersetzer, dessen Tagebücher 1956 posthum erschienen.
13 Nikolaj Burljajew (*1946), sowjetischer Filmschauspieler und -regisseur, spielte die Titelrolle in „Iwans Kindheit“ und den Glockengießerjungen Boriska in „Andrej Rubljow“.
Andrej Tarkowskij: Der Beginn, 1967