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Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden. Bemerkungen zur Politik der Repräsentation, 1978
Allan Sekula
Quelle
Allan Sekula: "Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden. Bemerkungen zur Politik der Repräsentation (1976, 1978)", in: Hubertus von Amelunxen (Hrsg.): Theorie der Fotografie IV. 1980-1995. München: Schirmer/Mosel 2000, S. 120-129. ISBN 3-88814-729-8.
Erstausgabe
"Dismantling Modernism, Reinventing Documentary (Notes on the Politics of Representation)", in: The Massachusetts Review XIX, 4 (1978), S. 859-883. [Dt.] "Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden. Bemerkungen zur Politik der Repräsentation" in: Fotokritik 9 (1984), S. 2-21.
Genre
Essay
Medium
Fotografie
[120] Angenommen, wir betrachten Kunst als eine Form menschlicher Kommunikation, als einen Diskurs, der in konkreten sozialen Beziehungen verankert ist, und nicht als mystifizierte, nebulöse und ahistorische Sphäre von rein affektivem Ausdruck und Erfahrung. Kunst ist – wie Sprache – sowohl symbolischer Austausch als auch materielle Praxis und hat mit dem Schaffen von Bedeutung wie von physischer Präsenz zu tun. Bedeutung entsteht als ein Verständnis dieser Präsenz aus einem Akt der Interpretation. Interpretation ist ideologisch befangen. Unsere Lesarten vergangener Kultur sind von den verborgenen [121] Anforderungen der geschichtlichen Gegenwart abhängig. Mystifizierte Interpretation verallgemeinert den Akt der Lektüre und erhebt ihn über die Geschichte.
Die Bedeutung eines Kunstwerks sollte also als abhängig betrachtet werden, nicht als immanent, allgemein gegeben und festgelegt. Die Kant‘sche Trennung von kognitiven und affektiven Fähigkeiten, die die philosophische Grundlage für den Romantizismus bildete, sollte gleichfalls kritisch überwunden werden. Dieses Argument fordert einen grundsätzlichen Bruch mit der idealistischen Ästhetik, einen Bruch mit dem Begriff Genie, sowohl in seiner ursprünglichen als auch in seiner verkommenen, neo-romantischen Erscheinung im Zentrum der Mythologie der Massenkultur, wo „Genie“ als Dekor eines charismatischen Starkults auftaucht.
Ich schlage nicht vor, die kreativen, affektiven und expressiven Aspekte kultureller Aktivität zu ignorieren oder zu unterschlagen; das zu tun hieße, der andauernden technokratischen Vernichtung von menschlicher Kreativität in die Hände zu spielen. Wir müssen jedoch durchschauen, in welchem Ausmaß Kunst uns mit einer repressiven Gesellschaftsordnung versöhnt, indem sie braven und isolierten Betrachtern eine völlig imaginäre Transzendenz, eine trügerische Harmonie offeriert. Der Kult privater Erfahrung, einer ausschließlich affektiven Beziehung zur Kultur, die eine konsumorientierte Wirtschaft erfordert, dient dazu, das Wissen um die Fragmentierung, Langeweile und Gleichförmigkeit der Arbeit, die Erkenntnis seines Selbst als einer Ware an Wochenenden vorübergehend zu zerstreuen.
In einer kapitalistischen Gesellschaft werden Künstler als Inhaber einer privilegierten Subjektivität dargestellt, mit einer außergewöhnlichen Begabung zur Einheit von Arbeit und Leben. Künstler verfügen über eine Autonomie, die dem ökonomisch verdinglichten Massenpublikum, dem Lohnarbeiter und der ohne Lohn arbeitenden Hausfrau systematisch, aber nicht offen abgesprochen wird. Sogar der Apparat der Massenkultur selbst kann dieser elitären Logik unterworfen werden. „Künstler“ sind die Leute, die anklagend und verführerisch von Litfaßsäulen und aus Anzeigen starren. Ein bezauberndes junges Paar ist zu sehen, wie es in einer Art Fabriketage in Soho herumlungert; sie erzählen uns von den Geheimnissen des weißen Rums, die sie von Liza Minnelli beiläufig auf einer Andy-Warhol-Party aufgeschnappt haben. Richard Avedon wird uns als unglaubliches Ideal vorgestellt: ein Bohemien, der gleichzeitig seine „eigene Guggenheim-Stiftung“ betreibt. Künstler und Mäzen verschmelzen in einem kleinbürgerlichen Traum, der in einer sich selbst aufwertenden Massenkultur Wirklichkeit geworden ist. Darüber hinaus haben die gegenwärtigen Bemühungen, Fotografie unangezweifelt in den Rang der Kunst zu erheben, indem das fotografische Bild als „Print“ in eine privilegierte Ware und der [122] Fotograf, unabhängig vom Kontext, in dem er arbeitet, in einen autonomen Autor mit der Befähigung zum Genie umgewandelt wird, zur Folge, daß eine Massenkommunikationstechnologie wieder – um Walter Benjamins Begriff zu benutzen – mit einer „Aura“ umgeben wird. Gleichzeitig wird der Hobbyfotograf, der Konsument von Freizeittechnologie, zur Kreativität ermuntert, die jedoch ausgegrenzt und deshalb illusorisch und erbärmlich ist, von der Werbung bestärkt in der Phantasie eigener Autorenschaft durch die Macht über die Bildermaschine und damit über deren Beute.
Bei der Krise der zeitgenössischen Kunst handelt es sich um mehr als um den Mangel an „verbindendem“ metakritischem Denken, noch kann sie durch teure „interdisziplinäre“ Organtransplantate bewältigt werden. Die Probleme der Kunst sind Brechungen einer größeren kulturellen und ideologischen Krise, die vom Legitimitätszerfall der liberalen kapitalistischen Weltanschauung ausgehen. Diese Krisen sind, grob gesagt, in den materiell bedingten Ungleichheiten des entwickelten Kapitalismus begründet, und sie werden in der Praxis nur durch den Kampf für einen authentischen Sozialismus bewältigt werden.
Künstler und Schriftsteller, die sich einer offen politischen Kulturpraxis annähern, müssen sich aus ihrem eigenen professionellen Elitedenken und der Beschränktheit ihrer Interessen lösen. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Modernismus und dessen Gefahren könnte dafür nützlich sein. Das Problem des modernistischen Zirkels – eine „immanente Kritik“, die das Paradigma, von dem sie ausgeht, nicht überwinden kann und letztendlich jede Praxis auf einen Formalismus reduziert – ist umfassender als irgendeine einzelne wissenschaftliche Disziplin und infiziert sie doch alle. Die modernistische Praxis ist professionell organisiert und von einer verlogenen Neutralitätsideologie gedeckt. (Selbst akademische Amokläufe wie Dr. Milton Friedmans offenkundig instrumentalisierte Ökonomie des „freien Marktes“ bedienen sich des Neutralitätstricks.) Politisch-ökonomisch ausgedrückt ist der Modernismus ein Abkömmling der grundsätzlichen Trennung von Hand- und Kopfarbeit im entwickelten Kapitalismus. Die erstere ist spezialisierter, mit bestimmten Privilegien versehen und der letzteren, fragmentierten und entwerteten organisatorisch übergeordnet. Eine Ideologie der Klassentrennung und der kleinbürgerlichen Aufstiegsbemühungen bringt die intellektuellen Arbeiter dazu, die „Arbeiterklasse“ mit Überheblichkeit, Zynismus, Verachtung und einer Spur Angst zu betrachten. Künstler machen hier, trotz ihres Romantizismus und ihres Hangs zum Heruntergekommenen, keine Ausnahme.
Die ideologischen Verwirrungen der gegenwärtigen Kunst, die im Kunstbetrieb euphemistisch als „gesunder Pluralismus“ bezeichnet werden, sind Folge des Autoritätszerfalls des modernistischen Paradigmas. Der „reine“ künstle[123]rische Modernismus zerfällt, weil es sich dabei letztlich um ein sich selbst aufhebendes Projekt handelt, eine akademisch erstarrte Einengung künstlerischer Belange, die sich in abwechselnder Berufung auf Geschmack, Wissenschaft und Metaphysik totläuft. In den vergangenen fünf Jahren ist ein ziemlich zynischer und selbstreferentieller, zum Teil aus der Pop Art entwickelter Manierismus aus dieser Sackgasse gekommen. Einige Leute nennen dieses Phänomen Postmodernismus. (Jetzt wird bereits von Künstlern, die an zu starker Isolierung von allgemein-gesellschaftlichen Belangen leiden, eine sogenannte „politische Kunst“ als Knüppel im modernistischen Endspiel eingesetzt – als schicker Avantgardismus. Das wäre schon schlimm genug, doch kommt dazu, daß der Kunstbetrieb alles, womit er in Berührung kommt, in „Mode“ verwandelt und mit einer anständigen Portion liberaler Vernebelung serviert.) Diese Entwicklungen zeigen, daß in einer kommerzialisierten Kultur die unentwegte künstlerische Eigenwerbung die einzige notwendige Konstante ist. Hier wird elitäre Kultur zur parasitären, „manieristischen“ Repräsentation von Massenkultur, zur privaten Nebensache mit ihrem eigenen Fotojournalismus, eigenen Klatschspalten, Promotern, Ruhmeshallen der Berühmtheiten und narzißtischen, an den Stars orientierten Selbstdarstellern. Das Charisma eines Kunststars ist von einer überentwickelten Bürokratie abhängig; Karrieren werden „gemanaged“. Innovation wird reguliert und den Bedürfnissen des Markts angepaßt. Der Modernismus per se wird (wie das schleichende Gespenst der Boheme) zur Farce, zu einer Professionalität, die sich auf Akademiker-Posten, regelmäßige Präsenz in der Öffentlichkeit, Immobilienspekulation in ehemaligen Industriegebieten verfallender Städte, massive staatliche Förderung, Flugreisen und zunehmend auf ostentative Kunstförderung durch Firmen gründet. Die letztgenannte Entwicklung stellt den Versuch des Monopolkapitals dar, sein Image für die Mittelklassen (die stellvertretenden Konsumenten der Hochkultur, das Museumspublikum) angesichts einer fortschreitenden Legitimationskrise zu „humanisieren“. Kunst entwickelt sich zügig zur spezialisierten Kolonie monopolkapitalistischer Medien.
Politische Herrschaft ist, besonders in fortschrittlichen kapitalistischen Ländern und in den etwas entwickelteren Neokolonien, auf einen übertriebenen symbolischen Apparat, auf Pädagogik und Spektakel, auf die autoritären Monologe der Schulen und Massenmedien angewiesen. Das sind die wesentlichen Mittel, um die arbeitende Klasse gehorsam und gefügig zu machen; das sind die Hauptverantwortlichen für die scheinbare Freiheit des Konsumenten, für das „Leben mit Stil“, und in zunehmendem Maße für politische Reaktion, Nihilismus und den Sadomasochismus des alltäglichen Lebens. Jede effektive politische Kunst wird als Arbeit gegen diese Institutionen begründet werden müssen. Wir benötigen eine politische Ökonomie, eine Soziologie und eine [124] nichtformalistische Semiotik der Medien. Wir müssen Werbung als den grundlegenden Diskurs des Kapitalismus begreifen, in dem sich die Verbindung zwischen der Sprache künstlich geschaffener Bedürfnisse und dem Warenfetischismus entblößt. Auf dieser Grundlage könnte sich eine kritische repräsentative Kunst entwickeln, eine Kunst, die sich offen auf unser gesellschaftliches Umfeld und auf Möglichkeiten zu konkreter gesellschaftlicher Veränderung richtet. Aber wir müssen auch auf eine neudefinierte Pragmatik hinarbeiten, auf Formen der Ansprache, die in einer dialogischen Pädagogik begründet sind, und auf eine andere, wesentlich weitere Vorstellung eines Publikums, das sich auf den dauerhaften progressiven Kampf gegen die etablierte Ordnung einläßt. Ohne eine kohärente oppositionelle Politik bleibt eine oppositionelle Kultur jedoch provisorisch und isoliert. Es gibt also offensichtlich eine ganze Menge zu tun.
II
Eine kleine Gruppe zeitgenössischer Künstler arbeitet an einer Kunst, die sich mit der gesellschaftlichen Ordnung menschlichen Lebens befaßt. Die meisten ihrer Arbeiten benutzen Fotografie und Video, die meisten verlassen sich auf gesprochene oder geschriebene Sprache. Ich spreche von einer repräsentierenden Kunst, einer Kunst, die sich auf etwas bezieht, was außerhalb ihrer selbst liegt. Form und Manierismus sind nicht ihr Selbstzweck. Diese Arbeiten können sich mit einer Vielzahl von Dingen befassen, von der materiellen und ideologischen Sphäre des „Selbst“ bis zur vorherrschenden gesellschaftlichen Realität von Spektakel und Macht. Die Ausgangsfragen sind: „Wie gestalten wir im beschränkten Rahmen des Möglichen unser Leben, und wie wird unser Leben von den Herrschenden für uns gestaltet?“ Wie bereits erwähnt, werden die Antworten auf diese Fragen, wenn sie lediglich im institutionellen Rahmen der Elitekultur, in der „Kunstwelt“ gestellt werden, rein akademisch bleiben. Die Kunst, von der ich spreche, zielt – mit ihren beschränkten Mitteln – auf ein breiteres Publikum und auf Überlegungen für konkrete gesellschaftliche Veränderungen.
Wir könnten in Versuchung geraten, diese Arbeiten als eine Form des Dokumentarischen zu betrachten. Das ist in Ordnung, solange wir den Mythos, mit dem dieser Begriff behaftet ist, die Folklore der fotografischen Wahrheit, entlarven. Dieser vorbereitende Umweg scheint nötig. Die rhetorische Stärke des Dokumentarischen scheint im eindeutigen Charakter des fotografischen Beweises, im absoluten Realismus zu liegen. Die Theorie des fotografischen Realismus geht historisch aus dem Positivismus hervor, als dessen Produkt und als dessen Handlanger. Die von der Welt, auf die sie trifft, unbeeinflußte Vision wird einer mechanischen Idealisierung unterworfen. Paradoxerweise dient die [125] Kamera dazu, das Auge des Beobachters ideologisch zu naturalisieren. Fotografie reproduziert – folgt man diesem Glauben – die sichtbare Welt. Die Kamera ist eine Fakten-Maschine, die unabhängig von menschlichen Eingriffen eine duplizierte Welt von fetischisierten Erscheinungen erzeugt. Fotografien, die immer Produkt einer gesellschaftsspezifischen Begegnung zwischen Mensch und Mensch oder Mensch und Natur sind, werden zu Behältnissen für tote Fakten, zu verdinglichten und aus ihren gesellschaftlichen Ursprüngen gerissenen Objekten.
Es sollte eigentlich überflüssig sein, darauf hinzuweisen, daß fotografische Bedeutung relativ unbestimmt ist; dasselbe Bild kann in unterschiedlichen Präsentationszusammenhängen eine Vielfalt von Botschaften übermitteln. Nehmen wir das Beweismaterial, das uns Überwachungskameras in Banken liefern. Diese automatisch aufgenommenen Bilder könnte man als von jeder Sensibilität unbefleckt bezeichnen, als eine extreme Form von Dokumentation. Wenn die Entwicklungsingenieure dieser Kameras eine Ästhetik haben, dann die einer rohen, technologischen Instrumentalität. „Nichts als die Fakten, bitte.“ Doch ein Gerichtssaal ist ein Schlachtfeld der Fiktionen. Was zeigt ein Foto? Eine junge weiße Frau hält eine Maschinenpistole. Sie geht vertraut und aggressiv mit der Waffe um. Sie läßt die Waffe vor Angst fast fallen. Eine Erbin auf der Flucht. Ein Entführungsopfer. Eine Stadtguerillera. Eine freiwillige Teilnehmerin. Ein Fall von Gehirnwäsche. Ein Fall von Rebellion. Ein Fall von Schizophrenie. Das aus der „wahrheitsgetreuen“ Betrachtung des Beweisstücks folgende Resultat ist weniger eine Funktion der „Objektivität“ als des politischen Manövrierens. In den Massenmedien reproduziert, könnte dieses Bild die Allwissenheit des Staates in einem idealisierten und verwirrenden Spektakel von Revolution und Gegenrevolution bezeugen. Doch jedes veröffentlichte Polizeifoto ist sowohl ein Versuch der Identifizierung als auch eine Erinnerung an die Macht der Polizei über „kriminelle Elemente“. Die einzig „objektive“ Wahrheit, die uns Fotografien bieten, ist die Behauptung, daß irgend jemand oder irgend etwas – in diesem Fall eine automatische Kamera – irgendwo war und eine Aufnahme gemacht hat. Alles weitere, alles außer diesem Abdruck einer Spur, ist für alles zu haben.
Walter Benjamin erinnerte daran, daß Eugène Atget die Straßen von Paris abbildete, als ob sie Tatorte von Verbrechen wären. Diese Bemerkung dient dazu, einen ziemlich trockenen, nichtexpressionistischen Stil zu poetisieren, Nostalgie mit der emotionslosen Funktionalität eines Detektivs zu vereinen. Verbrechen wird hier gleichzeitig zur Gefühlssache und zum reinen Faktum. Wenn wir durch Benjamin auf Atget zurückblicken, erkennen wir den Verlust des Vergangenen durch die ständige Zerstörung der Stadt als eine Form von Gewalt gegen die Erinnerung, derer sich der nostalgische Bohemien durch solip[126]sistische, passive Aneignung erwehrt. (Baudelaires „Le Cygne“ artikuliert viel von diesem Gefühl des Verlusts, einem Gefühl des bevorstehenden Verschwindens des Bekannten.) Ich führe dieses Beispiel lediglich an, um die Frage nach dem affektiven Charakter des Dokumentarischen aufzuwerfen. Die Dokumentarfotografie hat Berge von Indizien angehäuft. Und gleichzeitig hat das Genre durch diese bildliche Präsentation von wissenschaftlichen und rechtsgültigen „Tatsachen“ viel zum Spektakel, zu visueller Stimulierung, Voyeurismus, Terror, Neid und Nostalgie beigetragen und nur wenig zum kritischen Verständnis der gesellschaftlichen Realität.
Eine wirklich kritische sozialdokumentarische Fotografie wird sich mit dem Verbrechen befassen, dem Prozeß, dem Justizsystem und dessen offiziellen Mythen. Künstler, die auf dieses Ziel hinarbeiten, haben die Freiheit, theatralische und eindeutig inszenierte Bilder zu machen, sie können Texte schreiben, die sich wie fiktive Darstellungen lesen. Gesellschaftliche Wahrheit ist etwas anderes als eine Frage überzeugenden Stils. Ich brauche hier als Beispiel für einen frühen Versuch, die phänomenologische und ideologische Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens zu durchdringen, nur John Heartfields offensichtlich konstruierte Bilder mit ihrer unverhüllten Form anzuführen. In seinen besten Arbeiten bringt Heartfield die ökonomische Grundlage mit einfachsten Mitteln an die Oberfläche, oft durch Wortspiele mit faschistischen Parolen („Millionen stehen hinter mir“). Hier geht Konstruktion in kritische Dekonstruktion über.
Eine politische Kritik des dokumentarischen Genres ist bitter nötig. Amerikanische Künstler mit gesellschaftlichem Bewußtsein müssen aus den Erfolgen und aus den Fehlern, Kompromissen und der Kollaboration ihrer Vorgänger aus der Zeit der progressiven Ära und des New Deal viel lernen. Wie beurteilen wir die enge Partnerschaft von dokumentarischen Künstlern und Sozialdemokraten in der Geschichte? Wie beurteilen wir die Beziehung von Form und Politik in der Arbeit der eher fortschrittlichen Worker‘s Film and Photo League? Wie vermeiden wir eine ästhetisierende Polit-Nostalgie bei der Betrachtung der Arbeiten aus den dreißiger Jahren? Und wie verhält es sich mit der Vereinnahmung des dokumentarischen Stils durch den Monopolkapitalismus (besonders durch Öl- und Fernsehgesellschaften) Ende der vierziger Jahre? Wie können wir uns von den autoritären und bürokratischen Aspekten des Genres, von seinem impliziten Positivismus lösen? (Das alles stellt jede Sekunde einer Fernsehsendung von Edward R. Murrow oder Walter Cronkite unter Beweis [Murrow und Cronkite, die ihre Sendungen mit der Bemerkung „... and that‘s the way it is“ zu beenden pflegen, gehörten zu den populärsten amerikanischen Nachrichtensprechern/Kommentatoren; A.d.Ü.].) Wie können wir eine Kunst produzieren, die eher einen Dialog als unkritische, pseudopolitische Affirmation auslöst?
[127] Wenn wir auf den Trubel des Kunstbetriebs um „Fotografie als Kunst“ zurückblicken, stoßen wir auf eine fast pathologische Ausklammerung all dieser Fragen. Etwas Seltsames geschieht, wenn Dokumentarfotografie offiziell als Kunst anerkannt wird. Plötzlich torkelt das hermeneutische Pendel von der objektiven zur gegenüberliegenden subjektiven Seite. Der Positivismus weicht subjektiver Metaphysik, Technizität weicht der Autorenschaft. Plötzlich richtet sich die Aufmerksamkeit des Publikums auf Manierismus, Sensibilität und die physischen und emotionalen Risiken, denen sich der Künstler aussetzte. Dokumentarfotografie wird als Kunst betrachtet, wenn sie ihre Referenz zur Welt transzendiert, wenn die Arbeit in erster Linie als Akt künstlerischen Selbstausdrucks verstanden werden kann. Die referentielle Funktion kollabiert, um Roman Jakobsons Kategorien aufzugreifen, in der expressiven. Ein Autorenkult bemächtigt sich des Bildes, löst es aus seinen gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und erhebt es über die Masse der niedrigen weltlichen Gebrauchsformen gewöhnlicher Fotografie. In diesem Zusammenhang ist der kulturjournalistische Diane-Arbus-Mythos von Interesse. Die meisten Interpretationen ihrer Arbeit hangeln sich an einer Achse zwischen den Polen Realismus und Expressionismus entlang. Auf der einen Seite werden ihre Portraits als transparente, metonymische Träger der gesellschaftlichen oder psychologischen Wahrheit der Dargestellten gesehen; Arbus entlockt diesen Bedeutung. Im anderen Extrem steht die metaphorische Projektion. Die Arbeit wird als Ausdruck ihrer tragischen Vision (die durch ihren Selbstmord bestätigt wird) betrachtet; jedes Bild ist in erster Linie Teil eines Selbstportraits der Künstlerin. Diese Interpretationen existieren nebeneinander und bestärken einander trotz ihrer Widersprüchlichkeit. Ich glaube, ein großer Teil der verbreiteten ästhetischen Anziehungskraft von Arbus‘ Arbeiten – und des größten Teils der künstlerischen Fotografie überhaupt – hat mit dieser Unbestimmtheit der Rezeption zu tun, mit diesem Gefühl, zwischen profunder gesellschaftlicher Einsicht und raffiniertem Solipsismus umherzuschwimmen. Im Zentrum dieser fetischistischen Kultivierung und Förderung der Humanität des Künstlers liegt eine gewisse Verachtung der „gewöhnlichen“ Humanität derer, die fotografiert wurden. Sie werden zu den „anderen“, exotischen Geschöpfen, zu Objekten der Kontemplation. Vielleicht wäre das nicht so suspekt, wenn unter professionellen Dokumentaristen nicht die Tendenz vorherrschte, die Kamera nach unten zu richten, auf diejenigen ohne Macht und Ansehen. (Die Kehrseite davon ist der Prominenten-Kult, das organisierte Erzeugen von Neid beim Massenpublikum.) Die intimste menschliche Beziehung, die diese Mystifikation erträgt, ist jenes spezifische gesellschaftliche Engagement, das in einem Bild endet; die Verhandlungen zwischen Fotograf und Objekt beim Herstellen eines Portraits, die Verführung, die Nötigung, die Kollaboration oder das Klauen. Doch wenn [128] wir unseren Blickwinkel erweitern, sehen wir, daß im Märchen vom Fotografen als Künstler auch die umfassende institutionelle Politik der elitären und „populären“ Kultur verschleiert wird.
Der Aufstieg von Arbus (und einer Menge anderer, im Grunde manieristischer Künstler) als „dokumentarische“ Fotografin kann – wie die Verbreitung eines introspektiven, privatistischen und oft narzißtischen Gebrauchs der fotografischen Technologie sowohl im Bereich künstlerischer Fotografie als auch im Bereich des Massenkonsums im allgemeinen – als Symptom zweier sich aufhebender, aber verwandter Tendenzen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden. Auf der einen Seite wird Subjektivität durch die zunehmend verfeinerte administrative Organisation des täglichen Lebens bedroht. Kultur, Sexualität und Familienleben sind in einer Welt, die rationalisiertes Verhalten erfordert, Refugien des privaten, fühlenden Selbst. Gleichzeitig wird die öffentliche Sphäre, um Jürgen Habermas‘ Begriff zu benutzen, „entpolitisiert“; ein passives Publikum von Konsumbürgern wird dazu gebracht, politisches Handeln als Vorrecht von Prominenten zu begreifen. Beachtenswert ist doch die Tatsache, daß die großen Fernsehgesellschaften, allen voran ABC, die geheiligte, in der liberalen Ideologie erforderliche Trennung von „öffentlichen Angelegenheiten“ und „Unterhaltung“ nicht einmal mehr vortäuschen. Nachrichtensendungen werden jetzt offen, nicht mehr versteckt stilisiert. Die Massenmedien zeigen eine durch und durch spektakuläre politische Sphäre und bereiten in zunehmendem Maße den Boden für eine charismatisch inszenierte, expressionistische Politik der Rechten. Fernsehen war nie ein realistisches Medium, noch war es je fähig, eine Geschichte im Sinne einer logischen, kohärenten Darstellung von Ursache und Wirkung zu erzählen. Aber jetzt ist Fernsehen ein offenkundig symbolisches Unternehmen, das sich ausschließlich um die metaphorische Poesie der Ware dreht. Mit dem Triumph des Tauschwerts über den Gebrauchswert werden alle Bedeutungen, alle Lügen möglich. Die Ware existiert als gigantisches Ersatzteillager; aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, bildet sie ein metaphorisches Äquivalent zu allen anderen Waren.
Die Hochkultur der spätkapitalistischen Epoche ist dem nivellierenden semantischen Regiment des Formalismus unterworfen. Der Formalismus neutralisiert und verallgemeinert als ein universalisierendes System. Nur der Formalismus kann alle Fotografien der Welt in einem Raum versammeln, hinter Glas bringen und verkaufen. Als privilegierter Warenfetisch, als Objekt für Kenner erreicht das Foto den Gipfel seiner semantischen Armut. Doch diese Armut hat die Fotografie von Anfang an verfolgt.
Allan Sekula: Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden. Bemerkungen zur Politik der Repräsentation, 1978