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Über das Studium der Griechischen Poesie, 1797
Friedrich Schlegel
Quelle
Friedrich Schlegel: "Ueber das Studium der Griechischen Poesie", in: Walter Jaeschke (Hrsg.): Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795-1805). Mit Texten von Humboldt, Jacobi, Novalis, Schelling, Schlegel u. a. Philosophisch-literarische Streitsachen. Bd. 1. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1999, S. 29-32, 36-38, 45-49, 52, 60-63. ISBN: 3-7873-1390-7.
Erstausgabe
"Ueber das Studium der Griechischen Poesie", in: Die Griechen und Römer. Historische und kritische Versuche über das Klassische Alterthum. Bd. 1. Neustrelitz: Michaelis 1797.
[29] […] Nichts widerspricht dem Charakter und selbst dem Begriffe des Menschen so sehr, als die Idee einer völlig isolirten Kraft, welche durch sich und in sich allein [30] wirken könnte. Niemand wird wohl leugnen, daß derjenige Mensch wenigstens, den wir kennen, nur in einer Welt existiren könne. Schon der unbestimmte Begriff, welchen der gewöhnliche Sprachgebrauch mit den Worten „Kultur, Entwicklung, Bildung“ verbindet, setzt zwey verschiedene Naturen voraus; eine, welche gebildet wird, und eine andre, welche durch Umstände und äußre Lage die Bildung veranlaßt und modifizirt, befördert und hemmt. Der Mensch kann nicht thätig seyn, ohne sich zu bilden. Bildung ist der eigentliche Inhalt jedes menschlichen Lebens, und der wahre Gegenstand der höhern Geschichte, welche in dem Veränderlichen das Nothwendige aufsucht. So wie der Mensch ins Daseyn tritt, wird er mit dem Schicksal gleichsam handgemein, und sein ganzes Leben ist ein steter Kampf auf Leben und Tod mit der furchtbaren Macht, deren Armen er nie entfliehen kann. Innig umschließt sie ihn von allen Seiten und läßt keinen Augenblick von ihm ab. Man könnte die Geschichte der Menschheit, welche die nothwendige Genesis und Progression der menschlichen Bildung charakterisirt, mit militärischen Annalen vergleichen. Sie ist der treue Bericht von dem Kriege der Menschheit und des Schicksals. Der Mensch bedarf aber nicht nur einer Welt außer sich, welche bald Veranlassung, bald Element, bald Organ seiner Thätigkeit werde; sondern sogar im Mittelpunkte seines eignen Wesens hat sein Feind – die ihm entgegengesetzte Natur – noch Wurzel gefaßt. Es ist schon oft bemerkt worden: die Menschheit sey eine zwitterhafte Spielart, eine zweydeutige Mischung der Gottheit und der Thierheit. Man hat es richtig gefühlt, daß es ihr ewiger, nothwendiger Charakter sey, die unauflöslichen Widersprüche, die unbegreiflichen Räthsel in sich zu vereinigen, welche aus der Zusammensetzung des unendlich Entgegengesetzten entspringen. Der Mensch ist eine aus seinem reinen Selbst und einem fremdartigen Wesen gemischte Natur. Er kann mit dem Schicksal nie reine Abrechnung halten, und bestimmt sagen: jenes ist dein, dieß ist mein. Nur das Gemüth, welches von dem Schicksal hinlänglich durchgearbeitet worden ist, erreicht das seltne Glück, selbstständig seyn zu können. Die Grundlage seiner stolzesten Werke ist oft ein bloßes Geschenk der Natur, und auch seine besten Thaten sind nicht selten kaum zur Hälfte sein. Ohne alle Freyheit wäre es keine That: ohne alle fremde Hülfe keine menschliche. Die zu bildende Kraft aber muß nothwendig das Vermögen haben, sich die Gabe der bildenden zuzueignen, das Vermögen, auf die Veranlassung jener sich selbst zu bestimmen. Sie muß frey seyn. Bildung oder Entwicklung der Freyheit ist die nothwendige Folge alles menschlichen Thuns und Leidens, das endliche Resultat jeder Wechselwirkung der Freyheit und der Natur. In dem gegenseitigen Einfluß, der steten Wechselbestimmung, welche zwischen beyden Statt findet, muß nun nothwendiger Weise eine von beyden Kräften die wirkende, die andre die rückwirkende seyn. Entweder die Freyheit oder die Natur muß der menschlichen Bildung den ersten bestimmenden Anstoß geben, und dadurch die Richtung des Weges, das Gesetz der Progression, und das endliche Ziel der ganzen Laufbahn determiniren; es mag nun von der Entwicklung der gesammten Menschheit oder eines einzelnen wesentlichen Bestandteils derselben die Rede seyn. Im ersten Fall kann die Bildung eine natürliche, im letztern eine künstliche heißen. In jener ist der erste ursprüngliche Quell der Thätigkeit ein unbestimmtes Verlangen; in dieser ein bestimmter Zweck. Dort ist der Verstand auch bey der größten Ausbildung höchstens nur der Handlanger und Dolmetscher der Neigung; der gesammte zusammenge[31]setzte Trieb aber der unumschränkte Gesetzgeber und Führer der Bildung. Hier ist die bewegende, ausübende Macht zwar auch der Trieb; die lenkende, gesetzgebende Macht hingegen der Verstand: gleichsam ein oberstes lenkendes Prinzipium, welches die blinde Kraft leitet und führt, ihre Richtung determinirt, die Anordnung der ganzen Masse bestimmt und nach Willkühr die einzelnen Theile trennt und verknüpft.
Die Erfahrung belehrt uns, daß unter allen Zonen, in jedem Zeitalter, bey allen Nazionen, und in jedem Theile der menschlichen Bildung, die Praxis der Theorie voranging, daß ihre Bildung von Natur den Anfang nahm. Und auch schon vor aller Erfahrung kann die Vernunft sicher im voraus bestimmen, daß die Veranlassung dem Veranlaßten, die Wirkung der Rückwirkung, der Anstoß der Natur der Selbstbestimmung des Menschen vorangehn müsse. – Nur auf Natur kann Kunst, nur auf eine natürliche Bildung kann die künstliche folgen. Und zwar auf eine verunglückte natürliche Bildung: denn wenn der Mensch auf dem leichten Wege der Natur ohne Hinderniß immer weiter zum Ziele fortschreiten könnte, so wäre ja die Hülfe der Kunst ganz überflüssig, und es ließe sich in der That gar nicht einsehen, was ihn bewegen sollte, einen neuen Weg einzuschlagen. Die bewegende Kraft wird sich in der einmal genommenen Richtung fortbewegen, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, und ein Umschwung von außen ihr nicht eine neue Direktion ertheilt. Die Natur wird das lenkende Prinzipium der Bildung bleiben, bis sie dieß Recht verlohren hat, und wahrscheinlich wird nur ein unglücklicher Mißbrauch ihrer Macht den Menschen dahin vermögen, sie ihres Amtes zu entsetzen. Daß der Versuch der natürlichen Bildung mißglücken könne, ist aber gar keine unwahrscheinliche Voraussetzung: der Trieb ist zwar ein mächtiger Beweger, aber ein blinder Führer. Ueberdem ist hier in die Gesetzgebung selbst etwas Fremdartiges aufgenommen: denn der gesammte Trieb ist ja nicht rein, sondern aus Menschheit und Thierheit zusammengesetzt. Die künstliche Bildung hingegen kann wenigstens zu einer richtigen Gesetzgebung, dauerhafter Vervollkommnung, und endlichen, vollständigen Befriedigung führen: weil dieselbe Kraft, welche das Ziel des Ganzen bestimmt, hier zugleich auch die Richtung der Laufbahn bestimmt, die einzelnen Theile lenkt und ordnet.
Schon in den frühesten Zeitaltern der Europäischen Bildung finden sich unverkennbare Spuren des künstlichen Ursprungs der modernen Poesie. Die Kraft, der Stoff war zwar durch Natur gegeben: das lenkende Prinzip der aesthetischen Bildung war aber nicht der Trieb, sondern gewisse dirigirende Begriffe 1 . Selbst der individuelle Charakter dieser Begriffe war durch Umstände veranlaßt, und durch die äußre Lage nothwendig bestimmt. Daß aber der Mensch nach diesen Begriffen sich selbst bestimmte, den gegebnen Stoff ordnete, und die Richtung seiner Kraft [32] determinirte; das war ein freyer Aktus des Gemüths. Dieser Aktus ist aber eben der ursprüngliche Quell, der erste bestimmende Anstoß der künstlichen Bildung, welcher also mit vollem Recht der Freyheit zugeschrieben wird. Die Phantasterey der Romantischen Poesie, hat nicht etwa wie Orientalischer Bombast eine abweichende Naturanlage zum Grunde. Es sind vielmehr offenbar abenteuerliche Begriffe, durch welche eine an sich glückliche, dem Schönen nicht ungünstige Phantasie eine verkehrte Richtung genommen hatte. Sie stand also unter der Herrschaft von Begriffen; und so dürftig und dunkel diese auch seyn mochten, so war doch der Verstand das lenkende Prinzip der aesthetischen Bildung.
[…] [36] Nichts kann die Künstlichkeit der modernen aesthetischen Bildung besser erläutern und bestätigen, als das große Uebergewicht des Individuellen, Charakteristischen und Philosophischen in der ganzen Masse der modernen Poesie. Die vielen und treflichen Kunstwerke, deren Zweck ein philosophisches Interesse ist, bilden nicht etwa bloß eine unbedeutende Nebenart der schönen Poesie, sondern eine ganz eigne große Hauptgattung, welche sich wieder in zwey Unterarten spaltet. Es giebt eine selbstthätige Darstellung einzelner und allgemeiner, bedingter und unbedingter Erkenntnisse, welche von schöner Kunst eben so verschieden ist, als von Wissenschaft und Geschichte. Das Häßliche ist ihr oft in ihrer Vollendung unentbehrlich, und auch das Schöne gebraucht sie eigentlich nur als Mittel zu ihrem bestimmten philosophischen Zweck. Ueberhaupt hat man bisher das Gebiet der darstellenden Kunst zu eng beschränkt, das der schönen Kunst hingegen zu weit ausgedehnt. Der spezifische Charakter der schönen Kunst ist freyes Spiel ohne bestimmten Zweck; der der darstellenden Kunst überhaupt die Idealität der Darstellung. Idealisch aber ist eine Darstellung (mag ihr Organ nun Bezeichnung oder Nachahmung seyn) in welcher der dargestellte Stoff nach den Gesetzen des darstellenden Geistes gewählt und geordnet, wo möglich auch gebildet wird. Wenn es vergönnt ist, alle diejenigen Künstler zu nennen, deren Medium idealische Darstellung, deren Ziel aber unbedingt ist: so giebt es drey spezifisch verschiedene Klassen von Künstlern, je nachdem ihr Ziel das Gute, das Schöne, oder das Wahre ist. Es giebt Erkenntnisse, welche durch historische Nachahmung wie durch intellektuelle Bezeichnung durchaus nicht mitgetheilt, welche nur dargestellt werden können; individuelle idealische Anschauungen, als Beyspiele und Belege zu Begriffen und Ideen. Auf der andern Seite giebt es auch Kunstwerke, idealische Darstellungen, welche offenbar keinen andern Zweck haben, als Erkenntniß. Ich nenne die idealische Poesie, deren Ziel das philosophisch Interessante ist, didaktische Poesie. Werke, deren Stoff didaktisch, deren Zweck aber aesthetisch, oder Werke, deren Stoff und Zweck didaktisch, deren äußre Form aber poetisch ist, sollte man durchaus nicht so benennen: denn nie kann die individuelle Beschaffenheit des Stoffs ein hinreichendes Prinzip zu einer gültigen aesthetischen Klassifikation seyn4. Die Tendenz der meisten, [37] treflichsten und berühmtesten modernen Gedichte ist philosophisch. Ja die moderne Poesie scheint hier eine gewisse Vollendung, ein Höchstes in ihrer Art erreicht zu haben. Die didaktische Klasse ist ihr Stolz und ihre Zierde; sie ist ihr originellstes Produkt, weder aus verkehrter Nachahmung noch aus irriger Lehre erkünstelt; sondern aus den verborgnen Tiefen ihrer ursprünglichen Kraft erzeugt.
Der große Umfang des Charakteristischen in der ganzen aesthetischen Bildung der Modernen offenbart sich auch in andern Künsten. Giebt es nicht eine charakteristische Mahlerey, deren Interesse weder aesthetisch, noch historisch, sondern rein physiognomisch, also philosophisch; deren Behandlung aber nicht historisch, sondern idealisch ist? Sie übertrift sogar an Bestimmtheit der Individualität die Poesie so unendlich weit, wie sie ihr an Umfang, Zusammenhang und Vollständigkeit nachsteht. Selbst in der Musik hat die Charakteristik individueller Objekte ganz wider die Natur dieser Kunst überhand genommen. Auch in der Schauspielkunst herrscht das Charakteristische unumschränkt. Ein mimischer Virtuose muß an Organisazion und Geist gleichsam ein physischer und intellektueller Proteus seyn, um sich selbst in jede Manier und jeden Charakter, bis auf die individuellsten Züge metamorphosiren zu können. Darüber wird die Schönheit vernachlässigt, der Anstand oft beleidigt, und der mimische Rhythmus vollends ganz vergessen.
Was war natürlicher, als daß das lenkende Prinzipium auch das gesetzgebende? daß das philosophisch Interessante letzter Zweck der Poesie ward? Der isolirende Verstand fängt damit an, daß er das Ganze der Natur trennt und vereinzelt. Unter seiner Leitung geht daher die durchgängige Richtung der Kunst auf treue Nachahmung des Einzelnen. Bey höherer intellektueller Bildung wurde also natürlich das Ziel der modernen Poesie originelle und interessante Individualität. Die nackte Nachahmung des Einzelnen ist aber eine bloße Kopistengeschicklichkeit, und keine freye Kunst. Nur durch eine idealische Stellung wird die Charakteristik eines Individuums zum philosophischen Kunstwerk. Durch diese Anordnung muß das Gesetz des Ganzen aus der Masse klar hervortreten, und sich dem Auge leicht darbieten; der Sinn, Geist, innre Zusammenhang des dargestellten Wesens muß aus ihm selbst hervorleuchten. Auch die charakteristische Poesie kann und soll daher im Einzel[38]nen das Allgemeine darstellen; nur ist dieses Allgemeine (das Ziel der Ganzen und das Prinzip der Anordnung der Masse) nicht aesthetisch, sondern didaktisch. Aber selbst die reichhaltigste philosophische Charakteristik ist doch nur eine einzelne Merkwürdigkeit für den Verstand, eine bedingte Erkenntniß, das Stück eines Ganzen, welches die strebende Vernunft nicht befriedigt. Der Instinkt der Vernunft strebt stets nach in sich selbst vollendeter Vollständigkeit, und schreitet unaufhörlich vom Bedingten zum Unbedingten fort. Das Bedürfniß des Unbedingten und der Vollständigkeit ist der Ursprung und Grund der zweiten Art der didaktischen Gattung. Dieß ist die eigentliche philosophische Poesie, welche nicht nur den Verstand, sondern auch die Vernunft interessirt. Ihre eigne natürliche Entwicklung und Fortschreitung führt die charakteristische Poesie zur philosophischen Tragödie, dem vollkommnen Gegensatze der aesthetischen Tragödie. Diese ist die Vollendung der schönen Poesie, besteht aus lauter lyrischen Elementen, und ihr endliches Resultat ist die höchste Harmonie. Jene ist das höchste Kunstwerk der didaktischen Poesie, besteht aus lauter charakteristischen Elementen, und ihr endliches Resultat ist die höchste Disharmonie. Ihre Katastrophe ist tragisch; nicht so ihre ganze Masse: denn die durchgängige Reinheit des Tragischen (eine nothwendige Bedingung der aesthetischen Tragödie) würde der Wahrheit der charakteristischen und philosophischen Kunst Abbruch thun.
[…] [45] Dieser grosse Künstler [ Goethe] eröffnet die Aussicht auf eine ganz neue Stufe der aesthetischen Bildung. Seine Werke sind eine unwiderlegliche Beglaubigung, daß [46] das Objektive möglich, und die Hoffnung des Schönen kein leerer Wahn der Vernunft sey. Das Objektive ist hier wirklich schon erreicht, und da die nothwendige Gewalt des Instinkts jede stärkere aesthetische Kraft (die sich nicht selbst aufreibt) aus der Krise des Interessanten dahin führen muß: so wird das Objektive auch bald allgemeiner, es wird öffentlich anerkannt, und durchgängig herrschend werden. Dann hat die aesthetische Bildung den entscheidenden Punkt erreicht, wo sie sich selbst überlassen nicht mehr sinken, sondern nur durch äußre Gewalt in ihren Fortschritten aufgehalten, oder (etwa durch eine physische Revoluzion) völlig zerstört werden kann. Ich meyne die große moralische Revoluzion, durch welche die Freyheit in ihrem Kampfe mit dem Schicksal (in der Bildung) endlich ein entschiedenes Uebergewicht über die Natur bekommt. Dieß geschieht in dem wichtigen Moment, wenn auch im bewegenden Prinzip, in der Kraft der Masse die Selbsttätigkeit herrschend wird: denn das lenkende Prinzip der künstlichen Bildung ist ohnehin selbstthätig. Nach jener Revolution wird nicht nur der Gang der Bildung, die Richtung der aesthetischen Kraft, die Anordnung der ganzen Masse des gemeinschaftlichen Produkts nach dem Zweck und Gesetz der Menschheit sich bestimmen; sondern auch in der vorhandnen Kraft und Masse der Bildung selbst wird das Menschliche das Uebergewicht haben. Wenn die Natur nicht etwa Verstärkung bekommt, wie durch eine physische Revoluzion, die freylich alle Kultur mit einen Streich vernichten könnte: so kann die Menschheit in ihrer Entwicklung ungestört fortschreiten. Die künstliche Bildung kann dann wenigstens nicht wie die natürliche in sich selbst zurücksinken. – Es ist auch kein Wunder, daß die Freyheit in jenem harten Kampf endlich den Sieg davon trägt, wenn gleich die Ueberlegenheit der Natur im Anfange der Bildung noch so groß seyn mag. Denn die Kraft des Menschen wächst mit verdoppelter Progression, indem jeder Fortschritt nicht nur größere Kräfte gewährt, sondern auch neue Mittel zu fernern Fortschritten an die Hand giebt. Der lenkende Verstand mag sich, so lange er unerfahren ist, noch so oft selbst schaden: es muß eine Zeit kommen, wo er alle seine Fehler reichlich ersetzen wird. Die blinde Uebermacht muß endlich dem verständigen Gegner unterliegen. – Nichts ist überhaupt so einleuchtend als die Theorie der Perfektibilität. Der reine Satz der Vernunft von der nothwendigen unendlichen Vervollkommnung der Menschheit ist ohne alle Schwierigkeit. Nur die Anwendung auf die Geschichte kann die schlimmsten Mißverständnisse veranlassen, wenn der Blick fehlt, den eigentlichen Punkt zu treffen, den rechten Moment wahrzunehmen, das Ganze zu übersehn. Es ist immer schwer, oft unmöglich, das verworrne Gewebe der Erfahrung in seine einfachen Fäden aufzulösen, die gegenwärtige Stufe der Bildung richtig zu würdigen, die nächstkommende glücklich zu errathen.
Den Gang und die Richtung der modernen Bildung bestimmen herrschende Begriffe. Ihr Einfluß ist also unendlich wichtig, ja entscheidend. Wie es in der modernen Masse nur wenige Bruchstücke echter sittlicher Bildung giebt, moralische Vorurtheile aber statt großer und guter Gesinnungen allgemein herrschen: so giebt es auch aesthetische Vorurtheile, welche weit tiefer gewurzelt, allgemeiner verbreitet, und ungleich schädlicher sind, als es dem ersten flüchtigen Blick scheinen möchte. Der allmählige und langsame Stufengang der Entwicklung des Verstandes führt nothwendiger Weise einseitige Meynungen mit sich. Diese enthalten zwar einzelne Züge der Wahrheit; aber die Züge sind unvollständig und aus ihrem [47] eigentlichen Zusammenhang gerissen, und dadurch der Gesichtspunkt verrückt, das Ganze zerstört. Solche Vorurtheile sind zuweilen zu ihrer Zeit gewissermaßen nützlich, und haben eine lokale Zweckmäßigkeit. So wurde durch den orthodoxen Glauben, daß es eine Wissenschaft gebe, die allein zureichend sey, schöne Werke zu verfertigen, doch das Streben nach dem Objektiven aufrecht, und standhaft erhalten; und das System der aesthetischen Anarchie diente wenigstens dazu, den Despotismus der einseitigen Theorie zu desorganisiren. Gefährlicher und schlechthin verwerflich sind aber andre aesthetische Vorurtheile, welche die fernere Entwicklung selbst hemmen. Es ist die heiligste Pflicht aller Freunde der Kunst, solche Irrthümer, welche der natürlichen Freiheit schmeicheln, und die Selbstkraft lähmen, indem sie die Hoffnungen der Kunst als unmöglich, die Bestrebungen derselben als fruchtlos darstellen, ohne Schonung zu bekämpfen, ja wo möglich ganz zu vertilgen.
[…] [48] […] So hat man einen einzelnen Bestandteil der schönen Kunst, einen vorübergehenden Zustand derselben in einer frühern Stufe der Bildung mit ihrem Wesen selbst verwechselt. So lange die menschliche Natur existirt, wird der Trieb zur Darstellung sich regen, und die Forderung des Schönen bestehen. Die nothwendige Anlage des Menschen, welche, so bald sie sich frey entwickeln darf, schöne Kunst erzeugen muß, ist ewig. Die Kunst ist eine ganz eigenthümliche Thätigkeit des menschlichen Gemüths, welche durch ewige Gränzen von jeder andern geschieden ist. – Alles menschliche Thun und Leiden ist ein gemeinschaftliches Wechselwirken des Gemüths und der Natur. Nun muß entweder die Natur oder das Gemüth den letzten Grund des Daseyns eines gemeinschaftlichen einzelnen Produkts enthalten, oder den ersten bestimmenden Stoß zu dessen Hervorbringung geben. Im ersten Fall ist das Resultat Erkenntniß. Der Charakter des rohen Stofs bestimmt den Charakter der aufgefaßten Mannichfaltigkeit, und veranlaßt das Gemüth, diese Mannichfaltigkeit zu einer bestimmten Einheit zu verknüpfen, und in einer bestimmten Richtung die Verknüpfung fortzusetzen, und zur Vollständigkeit zu ergänzen. Erkenntniß ist eine Wirkung der Natur im Gemüth. – Im zweyten Fall hingegen muß das freye Vermögen sich selbst eine bestimmte Richtung geben, und der Charakter der gewählten Einheit bestimmt den Charakter der zu wählenden Mannichfaltigkeit, die jenem Zwecke gemäß gewählt, geordnet und wo möglich gebildet wird. Das Produkt ist ein Kunstwerk und eine Wirkung des Gemüths in der Natur. Zur darstellenden Kunst gehört jede Ausführung eines ewigen menschlichen Zwecks im Stoff der äußern mit dem Menschen nur mittelbar verbundnen Natur. Es ist nicht zu besorgen, daß dieser Stoff je ausgehn, oder daß die ewigen Zwecke je aufhören werden, Zwecke des Menschen zu seyn. – Nicht weniger ist die Schönheit durch ewige Gränzen von allen übrigen Theilen der menschlichen Bestimmung geschieden. Die reine Menschheit (ich verstehe darunter hier die vollständige Bestimmung der menschlichen Gattung) ist nur eine und dieselbe, ohne alle Theile. In ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit aber theilt sie sich nach der ewigen Verschiedenheit der ursprünglichen Vermögen und Zustände, und nach den besondern Organen, welche diese erfordern, in mehrere Richtungen. Wenn ich hier voraussetzen darf, daß das Gefühlsvermögen vom Vorstellungsvermögen und Begehrungsvermögen spezifisch verschieden sey; daß ein mittlerer Zustand zwischen dem [49] Zwang des Gesetzes und des Bedürfnisses, ein Zustand des freyen Spiels, und der bestimmungslosen Bestimmbarkeit in der menschlichen Natur eben so nothwendig sey, wie der Zustand gehorsamer Arbeit, und beschränkter Bestimmtheit: so ist auch die Schönheit eine dieser Richtungen und von ihrer Gattung – der ganzen Menschheit, wie von ihren Nebenarten – den übrigen ursprünglichen Bestandteilen der menschlichen Aufgabe, spezifisch verschieden.
Aber nicht bloß die Anlage zur Kunst und das Gebot der Schönheit sind physisch und moralisch nothwendig; auch die Organe der schönen Kunst versprechen Dauer. Es muß doch wohl nicht erst erwiesen werden, daß der Schein ein unzertrennlicher Gefährte des Menschen sey? Den Schein der Schwäche, des Irrthums, des Bedürfnisses mag das Licht der Aufklärung immerhin zerstören: der freye Schein der spielenden Einbildungskraft kann darunter nicht leiden. Nur muß man der generellen Forderung der Darstellung und Erscheinung nicht eine spezielle Art der Bildlichkeit unterschieben; oder die gewaltsamen Ausbrüche der furchtbaren Leidenschaften wilder Naturmenschen mit dem Wesen der Poesie verwechseln. Allerdings ist es sehr natürlich und begreiflich, daß auf einer gewissen mittlern Höhe der künstlichen Bildung Grübeley und Vielwisserey, jene leichten Spiele der Einbildungskraft, lähme und erdrücke, Verfeinerung und Verzärtelung das Gefühl abschleife und schwäche. Durch den Zwang unvollkommner Kunst wird die Kraft des Triebes abgestumpft, seine Regsamkeit gefesselt, seine einfache Bewegung zerstreut und verwirrt. Die Sinnlichkeit und Geistigkeit ist aber im Menschen so innig verwebt, daß ihre Entwicklung zwar wohl in vorübergehenden Stufen, aber auch nur in diesen divergiren kann. In Masse werden sie gleichen Schritt halten, und der vernachläßigte Theil wird über kurz oder lang das versäumte nachhohlen. Es hat in der That den größten Anschein, daß der Mensch mit der wachsenden Höhe wahrer Geistesbildung auch an Stärke und Reizbarkeit des Gefühls, also an echter ästhetischer Lebenskraft (Leidenschaft und Reiz) eher gewinne als verliehre.
[…] [52] […] Schon der Name der „Nachahmung“ ist schimpflich und gebrandmarkt bey allen denen, die sich Originalgenies zu seyn dünken. Man versteht darunter nehmlich die Gewaltthätigkeit, welche die starke und große Natur an dem Ohnmächtigen ausübt. Doch weiß ich kein andres Wort als Nachahmung für die Handlung desjenigen – sey er Künstler oder Kenner – der sich die Gesetzmäßigkeit jenes Urbildes zueignet, ohne sich durch die Eigentümlichkeit, welche die äußre Gestalt, die Hülle des allgemeingültigen Geistes, immer noch mit sich führen mag, beschränken zu lassen. Es versteht sich von selbst, daß diese Nachahmung ohne die höchste Selbstständigkeit durchaus unmöglich ist. Ich rede von jener Mittheilung des Schönen, durch welche der Kenner den Künstler, der Künstler die Gottheit berührt, wie der Magnet das Eisen nicht bloß anzieht, sondern durch seine Berührung ihm auch die magnetische Kraft mittheilt.
Wandelt die Gottheit auch in irdischer Gestalt? Kann das Beschränkte je vollständig, das Endliche vollendet, das Einzelne allgemeingültig seyn? Giebt es unter Menschen eine Kunst, welche die Kunst schlechthin genannt zu werden verdiente? Giebt es sterbliche Werke, in denen das Gesetz der Ewigkeit sichtbar wird?
[…] [60] […] Das Schöne im weitesten Sinne (in welchem es das Erhabne, das Schöne im engern Sinne, und das Reizende umfaßt) ist die angenehme Erscheinung des Guten. – Es scheint zwar für jede einzelne Reizbarkeit eine feste Gränze bestimmt zu seyn, welche weder der Schmerz noch die Freude überschreiten darf, wenn nicht alle Besonnenheit aufhören, und mit dieser selbst der Zweck der Leidenschaft und der Lust verlohren gehn soll. Im allgemeinen aber, und ohne besondre Rücksicht läßt sich über jedes gegebne Maß von Energie ein höheres denken. Unter Energie verstehe ich alles, was den gemischten Trieb sinnlich weckt und erregt, um ihm dann den Genuß des reinen Geistigen zu gewähren; die bewegende Triebfeder mag nun Schmerz oder Freude seyn. Die Energie ist aber nur Mittel und Organ der idealischen Kunst, gleichsam die physische Lebenskraft der reinen Schönheit, welche die sinnliche Erscheinung des Geistigen veranlaßt und trägt, so wie das freye Gemüth nur im Element einer thierischen Organisation empirisch existiren kann. – Auf gleiche Weise giebt es für jede besondre Empfänglichkeit eine bestimmte Sphäre der Sichtbarkeit, wenn ich so sagen darf, in der Mitte zwischen zu großer Nähe und zu weiter Entfernung. An und für sich aber kann die Erscheinung des Geistigen immer lebhafter, bestimmter und klarer werden. So lange sie Erscheinung bleibt, ist sie einer endlosen Vervollkommnung fähig, ohne je ihr Ziel ganz erreichen zu können: denn sonst müßte das Allgemeine, welches im Einzelnen erscheinen soll, sich in das Einzelne selbst verwandeln. Dies ist unmöglich, weil beyde durch eine unendliche Kluft getrennt sind. Auf der andern Seite kann aber auch die Nachahmung des Wirklichen an Vollkommenheit unendlich zunehmen: denn die Fülle jedes Einzelnen ist unerschöpflich, und kein Abbild kann jemals ganz in sein Urbild übergehen. – Daß das Gute oder dasjenige, was schlechthin seyn soll, der reine Gegenstand des freien Triebes, das reine Ich nicht als theoretisches Vermögen, sondern als praktisches Gebot; die Gattung, deren Arten Erkenntniß, Sittlichkeit und Schönheit ist; das Ganze, dessen Bestandtheile Vielheit, Einheit und Allheit sind12; in der Wirklichkeit nur beschränkt vorhanden seyn kann, darf ich als evident voraussetzen: denn der zusammengesetzte Mensch kann im gemischten Leben sich seiner reinen Natur nur ins Unendliche nähern, ohne sie je völlig zu erreichen.
Alle diese Bestandtheile des Schönen – der Reiz, der Schein, das Gute – sind also einer gränzenlosen Vervollkommnung fähig. Für die gegenseitigen Verhältnisse dieser Bestandtheile aber giebt es unwandelbare Gesetze. Das Sinnliche soll nur Mittel des Schönen nicht Zweck der Kunst seyn. Hat aber unverdorbne Sinnlichkeit in einer frühen Stufe der Bildung das Uebergewicht, so wird Fülle der Zweck des Dichters seyn. Es darf der Selbstthätigkeit eigentlich nicht zum Vorwurf gereichen, daß sie sich allmählig entwickeln muß, und nur unter der Vormundschaft der Natur die Stufe selbstständiger Selbstbestimmung erreichen kann. Durch die Sinnlichkeit eines Homerus wird das Gesetz nicht übertreten, sondern [61] das Gesetz ist eigentlich noch gar nicht vorhanden. Ist die Kunst aber schon gesetzmäßig gewesen, und hört auf es ferner zu seyn, so herrscht dann auch wieder die Fülle, aber auf eine ganz andre Weise. Es ist nicht mehr unverdorbne Sinnlichkeit, sondern üppige Ausschweifung, gesetzlose Schwelgerei. – Jene drey Bestandtheile der Schönheit – Mannichfaltigkeit, Einheit und Allheit – sind nichts andres, als eben so viele Arten, wie der reine Mensch in der Welt zum wirklichen Daseyn gelangen kann, verschiedene Berührungspunkte des Gemüths und der Natur. Einzeln betrachtet, haben sie alle drey gleichen Werth; eine wie die andre nehmlich hat unbedingten, unendlichen Werth. Auch die Fülle ist heilig, und darf in der Vereinigung aller Bestandteile dem Gesetz der Ordnung nicht anders als frey gehorchen: denn die Mannichfaltigkeit ist schon die erste Form des Lebens, nicht roher Stoff, mit dem sie oft verwechselt wird. Die Gesetzesgleichheit soll durch die Ordnung nicht aufgehoben werden, aber doch ist das Gesetz des Verhältnisses der vereinigten Bestandteile der Schönheit unwandelbar bestimmt, und nicht die Mannichfaltigkeit, sondern die Allheit soll der erste bestimmende Grund und das letzte Ziel jeder vollkommnen Schönheit seyn. Das Gemüth soll den Stoff und die Leidenschaft, der Geist soll den Reiz überwiegen, und nicht umgekehrt der Geist gebraucht werden, um das Leben zu wecken und den Sinn zu kitzeln. Ein Zweck, den man wohlfeiler erreichen könnte! – Styl bedeutet beharrliche Verhältnisse der ursprünglichen und wesentlichen Bestandteile der Schönheit oder des Geschmacks. Vollkommnen Styl wird man also demjenigen Kunstwerke und demjenigen Zeitalter beylegen können, welches in diesen Verhältnissen das nothwendige Gesetz aus freyer Neigung ganz erfüllt.
Außer diesem absoluten ästhetischen Gesetz für jeden Geschmack, giebt es auch zwey absolute technische Gesetze für alle darstellende Kunst. – Die Bestandtheile der darstellenden Kunst, welche das Mögliche mit dem Wirklichen vermischt, sind Versinnlichung des Allgemeinen und Nachahmung des Einzelnen. Für die Vervollkommnung beyder Bestandteile ist, wie schon oben erinnert wurde, keine Gränze abgemessen: für ihr Verhältniß aber ist ein unwandelbares Gesetz nothwendig bestimmt. Das Ziel der freyen darstellenden Kunst ist das Unbedingte; das Einzelne darf nicht selbst Zweck seyn ( Subjektivität). Widrigenfalls sinkt die freye Kunst zu einer nachahmenden Geschicklichkeit herunter, welche einem physischen Bedürfnisse oder einem individuellen Zweck des Verstandes dient. Doch ist das Mittel durchaus nothwendig, und es muß wenigstens scheinen, frey zu dienen. Objektivität ist der angemessenste Ausdruck für dieß gesetzmäßige Verhältniß des Allgemeinen und des Einzelnen in der freyen Darstellung. – Ueberdem ist jedes einzelne Kunstwerk zwar keineswegs an die Gesetze der Wirklichkeit gefesselt, aber allerdings durch Gesetze innrer Möglichkeit beschränkt. Es darf sich selbst nicht widersprechen, muß durchgängig mit sich übereinstimmen. Diese technische Richtigkeit – so würde ich sie lieber nennen als „Wahrheit,“13 weil dieses Wort zu sehr an die Gesetze der Wirklichkeit erinnert, und so oft von der Kopistentreue sklavischer Künstler gemißbraucht wird, welche nur das Einzelne nach[62]ahmen – darf im Kollisionsfalle selbst die Schönheit zwar nicht beherrschen, aber doch beschränken: denn sie ist die erste Bedingung eines Kunstwerks. Ohne innre Uebereinstimmung würde eine Darstellung sich selbst aufheben, und also auch ihren Zweck (die Schönheit) gar nicht erreichen können. Nur wenn das Ganze der vollständigen Schönheit schon getrennt und aufgelöst ist, und ausschweifende Fülle den Geschmack beherrscht, wird die Regelmäßigkeit der Proportion, und die Symmetrie dieser Fülle aufgeopfert.
Der Schwäche kostet es keine große Entsagung, nicht auszuschweifen, und wo es an Kraft fehlt, da ist Gesetzmäßigkeit kein sonderliches Verdienst. Ein Gedicht in vollkommnen Styl und von tadelloser Richtigkeit, aber ohne Geist und Leben würde nur eine Armseeligkeit ohne allen Werth seyn. Aber wenn ein Gedicht mit jener vollkommnen Gesetzmäßigkeit auch die höchste Kraft vereinigte, welche man nur immer von einem menschlichen Künstler erwarten kann, so darf es doch nicht hoffen, das äußerste Ziel erreicht zu haben, wenn der Umfang desselben nicht vollständig, sondern durch die genau bestimmte Richtung einer gewissen zwar schönen aber doch einseitigen Eigenthümlichkeit beschränkt ist, wie die Dorische Lyrik. Der Dichter darf keine Ansprüche auf Vollendung machen, so lange er wie Aeschylus selbst mehr Erwartungen erregt, als er befriedigt. Nur dasjenige Kunstwerk, welches in der vollkommensten Gattung, und mit höchster Kraft und Weisheit die bestimmten ästhetischen und technischen Gesetze ganz erfüllt, den unbegränzten Forderungen aber gleichmäßig entspricht, kann ein unübertreffliches Beyspiel seyn, in welchem die vollständige Aufgabe der schönen Kunst so sichtbar wird, als sie in einem wirklichen Kunstwerke werden kann.
Nur da ist das höchste Schöne möglich, wo alle Bestandtheile der Kunst und des Geschmacks sich gleichmäßig entwickeln, ausbilden, und vollenden; in der natürlichen Bildung. In der künstlichen Bildung geht diese Gleichmäßigkeit durch die willkührlichen Scheidungen und Mischungen des lenkenden Verstandes unwiderbringlich verlohren. An einzelnen Vollkommenheiten und Schönheiten kann sie vielleicht die freye Entwicklung sehr weit übertreffen: aber jenes höchste Schöne ist ein gewordnes organisch gebildetes Ganzes, welches durch die kleinste Trennung zerrissen, durch das geringste Uebergewicht zerstört wird. Der künstliche Mechanismus des lenkenden Verstandes kann sich die Gesetzmäßigkeit des goldnen Zeitalters der Kunst der bildenden Natur zueignen, aber seine Gleichmäßigkeit kann er nie völlig wiederherstellen; die einmal aufgelöste elementarische Masse organisirt sich nie wieder. Der Gipfel der natürlichen Bildung der schönen Kunst bleibt daher für alle Zeiten das hohe Urbild der künstlichen Fortschreitung. –
Wir sind gewohnt, ich weiß nicht aus welchen Gründen, uns die Schranken der Poesie viel zu eng zu denken. Wenn die Darstellung nicht bezeichnet, wie die Dichtkunst, sondern wirklich nachahmt oder sich natürlich äußert, wie die sinnlichen Künste, so ist ihre Freyheit durch die Schranken des gegebnen Werkzeuges und des bestimmten Stoffs schon enger begränzt. Sollten in einer gewissen Kunstart die Schranken des Stoffs sehr eng, das Werkzeug sehr einfach seyn, so läßt es sich wohl denken, daß ein begünstigtes Volk eine Höhe in derselben erreicht habe, welche nie übertroffen werden könnte. Vielleicht haben die Griechen in der Plastik diese Höhe wirklich erreicht. Die Mahlerey und die Musik haben schon freyeres Feld, das Werkzeug ist zusammengesetzter, mannichfaltiger und umfassender. Es [63] würde sehr gewagt seyn, für sie eine äußerste Gränze der Vervollkommnung festsetzen zu wollen. Wie viel weniger läßt sich eine solche für die Poesie bestimmen, die durch keinen besondren Stoff weder im Umfang noch in der Kraft beschränkt ist? deren Werkzeug, die willkührliche Zeichensprache, Menschenwerk und also unendlich perfektibel und korruptibel ist? – Unbeschränkter Umfang ist der eine große Vorzug der Poesie, dessen sie vielleicht sehr nothwendig bedarf, um die durchgängige Bestimmtheit des Beharrlichen, welche die Plastik, und die durchgängige Lebendigkeit des Wechselnden, welche die Musik vor ihr voraus hat, zu ersetzen. Beyde geben der Sinnlichkeit unmittelbar Anschauungen und Empfindungen; zu dem Gemüthe reden sie nur durch Umwege eine oft dunkle Sprache. Sie können Gedanken und Sitten nur mittelbar darstellen. Die Dichtkunst redet durch die Einbildungskraft unmittelbar zu Geist und Herz in einer oft matten und vieldeutig unbestimmten aber allumfassenden Sprache. Der Vorzug jener sinnlichen Künste, unendliche Bestimmtheit und unendliche Lebendigkeit – Einzelnheit ist nicht sowohl Verdienst der Kunst als entlehntes Eigenthum der Natur. Sie sind Mischungen, welche zwischen reiner Natur und reiner Kunst in der Mitte stehn. Die einzige eigentliche reine Kunst ohne erborgte Kraft, und fremde Hülfe, ist Poesie.
1 Mögen diese herrschenden Begriffe noch so dunkel und verworren seyn, so können und dürfen sie doch mit dem Triebe, als dirigirendem Princip der Bildung, nicht verwechselt werden. Beyde sind nicht durch Grade, sondern der Art nach von einander unterschieden. Zwar veranlassen herrschende Begriffe ähnliche Neigungen, und umgekehrt. Dennoch ist die dirigirende Kraft unverkennbar, weil beyder Richtung ganz entgegengesetzt ist. Die Tendenz des gesammten Triebes geht auf ein unbestimmtes Ziel; die Tendenz des isolirenden Verstandes geht auf einen bestimmten Zweck. Der entscheidende Punkt ist, ob die Anordnung der ganzen Masse, die Richtung aller Kräfte durch das Streben des gesammten noch ungetrennten Bestrebungs- und Gefühlsvermögen oder durch einen einzelnen Begriff und Absicht bestimmt ist.
4 Man redet auch wohl von der angenehmen Kunst als von einer Nebenart der schönen, von der sie doch durch eine unendliche Kluft geschieden ist. Angenehme Redekunst ist mit der schönen Poesie nicht näher verwandt als jede andre sinnliche Geschicklichkeit, welche Plato Kunst zu nennen verbietet und mit der Kochkunst in eine Klasse ordnet. Im allgemeinsten Sinne ist Kunst jede ursprüngliche oder erworbne Geschicklichkeit, irgend einen Zweck des Menschen in der Natur wirklich auszuführen; die Fertigkeit irgend eine Theorie praktisch zu machen. Die Zwecke des Menschen sind theils unendlich und nothwendig, theils beschränkt und zufällig. Die Kunst ist daher entweder eine freye Ideenkunst oder eine mechanische Kunst des Bedürfnisses, deren Arten die nützliche und die angenehme Kunst sind. – Der Stoff, in welchem das Gesetz des Gemüths ausgeprägt wird, ist entweder die Welt im Menschen selbst, oder die Welt außer ihm, die unmittelbar oder die mittelbar mit ihm verknüpfte Natur. Die freye Ideenkunst zerfällt daher in die Lebenskunst (deren Arten die Sittenkunst und die Staatskunst sind) und in die darstellende Kunst, deren Definition schon oben gegeben ist. Die wissenschaftliche Darstellung – ihr Werkzeug mag nun willkührliche Bezeichnung oder bildliche Nachahmung seyn – unterscheidet sich dadurch von der Darstellung der Kunst, daß sie den Stoff, wiewohl sie das Gegebne gleichfalls nach den Gesetzen des darstellenden Geistes ordnet, selten wählt, nie bildet, und erfindet. Sie ist mit einem Worte nicht idealisch. Die darstellende Kunst theilt sich in drey Klassen, je nachdem ihr Ziel das Wahre, das Schöne oder das Gute ist. Von den beyden ersten Klassen wird im Text geredet. Mir scheint aber auch die Existenz und spezifische Verschiedenheit der dritten Klasse unläugbar. Es giebt, dünkt mich, idealische Darstellungen in der Poesie, deren Ziel und Tendenz weder aesthetisch noch philosophisch, sondern moralisch ist. Es wäre nicht unbegreiflich, daß die Mittheilung sittlicher Güte – ehedem ein integranter Theil der Sokratischen Philosophie – von der Scholastik verscheucht, ihre Zuflucht zur Poesie genommen hätte. Das Medium, durch welches bey den Griechen die Tugend verbreitet, und durch innige Wechselberührung erhöht und vervielfältigt ward, – die Freundschaft oder männliche Liebe ist so gut als nicht mehr vorhanden. Der sittliche Künstler findet nur noch die idealische Darstellung vor, um den angebohrnen, jedem großen Meister eignen, Künstlertrieb, seine Gabe mitzutheilen, seinen Geist im Gemüth seiner Schüler fortzupflanzen, befriedigen zu können. – In einzelnen Fällen sind die Gränzen oft sehr schwer zu bestimmen. Der entscheidende Punkt ist die Anordnung des Ganzen. Der bestimmte Gliederbau eines didaktischen Werks läßt sich am wenigsten verkennen. Ist es die gesetzlichfreye Ordnung eines schönen Spiels, so ist das Werk aesthetisch. Der freye Erguß des sittlichen Gefühls, ohne gefällige Rundung und ohne Streben nach gesetzmäßiger Einheit würde in der moralischen Poesie Statt finden, zu welcher ich einige berühmte Deutsche Werke lieber zählen möchte, als zur philosophischen Klasse. Hemsterhuys redet von einer Philosophie, die dem Dithyrambus ähnlich sey. Was versteht er darunter wohl anders, als den freyesten Erguß des sittlichen Gefühls, eine Mittheilung großer und guter Gesinnungen? Den Simon dieses Philosophen möchte ich eine Sokratische Poesie nennen. Mir wenigstens scheint die Anordnung des Ganzen weder didaktisch, noch dramatisch, sondern dithyrambisch zu seyn.
12 Ich muß um die Erlaubniß bitten, diese und einige andre Grundsätze und Begriffe um des Zusammenhanges willen, hier nur problematisch vorausschicken zu dürfen, deren Beweis ich in der Folge nicht schuldig bleiben werde.
13 In einzelnen Kunstarten kann die technische Richtigkeit selbst eine idealische Abweichung von dem was in der Wirklichkeit wahr und wahrscheinlich ist, erfordern, wie in der reinen Tragödie oder der reinen Komödie.
Friedrich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie, 1797