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Die sentimentalischen Dichter, 1795
Friedrich Schiller
Quelle
Friedrich Schiller: "Die sentimentalischen Dichter", in: Theoretische Schriften, hrsg. von Rolf-Peter Janz, unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2008, S. 732-740. ISBN: 978-3-618-68032-1. Diese Ausgabe entspricht Band 8, hrsg. von Rolf-Peter Janz der Edition Friedrich Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992.
Erstausgabe
"Die sentimentalischen Dichter", in: Die Horen 4, 12 (1795), S. 1-55.
Genre
Abhandlung
Medium
Literatur
[732] […] Der Dichter, hieß es in dem vorhergehenden Versuch über das Naive9ist entweder Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter. Mit der Erklärung dieses Satzes wird der gegenwärtige Versuch sich beschäftigen.
Der dichterische Geist ist unsterblich und unverlierbar in [733] der Menschheit; er kann nicht anders als zugleich mit derselben und mit der Anlage zu ihr sich verlieren. Denn entfernt sich gleich der Mensch durch die Freiheit seiner Phantasie und seines Verstandes von der Einfalt, Wahrheit und Notwendigkeit der Natur, so steht ihm doch nicht nur der Pfad zu derselben immer offen, sondern ein mächtiger und unvertilgbarer Trieb, der moralische, treibt ihn auch unaufhörlich zu ihr zurück, und eben mit diesem Triebe steht das Dichtungsvermögen in der engsten Verwandtschaft. Dieses verliert sich also nicht auch zugleich mit der natürlichen Einfalt, sondern wirkt nur nach einer andern Richtung.
Auch jetzt ist die Natur noch die einzige Flamme, an der sich der Dichtergeist nähret, aus ihr allein schöpft er seine ganze Macht, zu ihr allein spricht er auch in dem künstlichen, in der Kultur begriffenen Menschen. Jede andere Art zu wirken, ist dem poetischen Geiste fremd; daher, beiläufig zu sagen, alle sogenannten Werke des Witzes ganz mit Unrecht poetisch heißen, ob wir sie gleich lange Zeit, durch das Ansehen der französischen Literatur verleitet, damit vermenget haben. Die Natur, sage ich, ist es auch noch jetzt, in dem künstlichen Zustande der Kultur, wodurch der Dichtergeist mächtig ist, nur steht er jetzt in einem ganz andern Verhältnis zu derselben.
So lange der Mensch noch reine, es versteht sich, nicht rohe Natur ist, wirkt er als ungeteilte sinnliche Einheit, und als ein harmonierendes Ganze. Sinne und Vernunft, empfangendes und selbsttätiges Vermögen, haben sich in ihrem Geschäfte noch nicht getrennt, vielweniger stehen sie im Widerspruch miteinander. Seine Empfindungen sind nicht das formlose Spiel des Zufalls, seine Gedanken nicht das gehaltlose Spiel der Vorstellungskraft; aus dem Gesetz der Notwendigkeit gehen jene, aus der Wirklichkeit gehen diese hervor. Ist der Mensch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moralische Einheit, d. h. als nach Einheit strebend, [734] sich äußern. Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich statt fand, existiert jetzt bloß idealisch; sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm; als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Tatsache seines Lebens. Wendet man nun den Begriff der Poesie, der kein andrer ist, als der Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben, auf jene beiden Zustände an, so ergibt sich, daß dort in dem Zustande natürlicher Einfalt, wo der Mensch noch, mit allen seinen Kräften zugleich, als harmonische Einheit wirkt, wo mithin das Ganze seiner Natur sich in der Wirklichkeit vollständig ausdrückt, die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen – daß hingegen hier in dem Zustande der Kultur, wo jenes harmonische Zusammenwirken seiner ganzen Natur bloß eine Idee ist, die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder was auf eins hinausläuft, die Darstellung des Ideals den Dichter machen muß. Und dies sind auch die zwei einzig möglichen Arten, wie sich überhaupt der poetische Genius äußern kann. Sie sind, wie man sieht, äußerst von einander verschieden, aber es gibt einen höhern Begriff, der sie beide unter sich faßt, und es darf gar nicht befremden, wenn dieser Begriff mit der Idee der Menschheit in eins zusammentrifft.
Es ist hier der Ort nicht, diesen Gedanken, den nur eine eigene Ausführung in sein volles Licht setzen kann, weiter zu verfolgen. Wer aber nur irgend, dem Geiste nach, und nicht bloß nach zufälligen Formen eine Vergleichung zwischen alten und modernen Dichtern10 anzustellen ver[735]steht, wird sich leicht von der Wahrheit desselben überzeugen können. Jene rühren uns durch Natur, durch sinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegenwart; diese rühren uns durch Ideen.
Dieser Weg, den die neueren Dichter gehen, ist übrigens derselbe, den der Mensch überhaupt sowohl im Einzelnen als im Ganzen einschlagen muß. Die Natur macht ihn mit sich Eins, die Kunst trennt und entzweiet ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück. Weil aber das Ideal ein unendliches ist, das er niemals erreicht, so kann der kultivierte Mensch in seiner Art niemals vollkommen werden, wie doch der natürliche Mensch es in der seinigen zu werden vermag. Er müßte also dem letztern an Vollkommenheit unendlich nachstehen, wenn bloß auf das Verhältnis, in welchem beide zu ihrer Art und zu ihrem Maximum stehen, geachtet wird. Vergleicht man hingegen die Arten selbst mit einander, so zeigt sich, daß das Ziel, zu welchem der Mensch durch Kultur strebt, demjenigen, welches er durch Natur erreicht, unendlich vorzuziehen ist. Der eine erhält also seinen Wert durch absolute Erreichung einer endlichen, der andre erlangt ihn durch Annäherung zu einer unendlichen Größe. Weil aber nur die letztere Grade und einen Fortschritt hat, so ist der relative Wert des Menschen, der in der Kultur begriffen ist, im Ganzen genommen, niemals bestimmbar, obgleich derselbe im einzelnen betrachtet sich in einem notwendigen Nachteil gegen denjenigen befindet, in welchem die Natur in ihrer ganzen Vollkommenheit wirkt. Insofern aber das letzte Ziel der Menschheit nicht anders als durch jene Fortschreitung zu erreichen ist, und der letztere nicht anders fortschreiten kann, als indem er sich kultiviert und folglich in den erstern übergeht, so ist keine Frage, welchem von beiden in Rücksicht auf jenes letzte Ziel der Vorzug gebühre.
Dasselbe, was hier von den zwei verschiedenen Formen [736] der Menschheit gesagt wird, läßt sich auch auf jene beiden, ihnen entsprechenden, Dichterformen anwenden.
Man hätte deswegen alte und moderne – naive und sentimentalische – Dichter entweder gar nicht, oder nur unter einem gemeinschaftlichen höhern Begriff (einen solchen gibt es wirklich) miteinander vergleichen sollen. Denn freilich, wenn man den Gattungsbegriff der Poesie zuvor einseitig aus den alten Poeten abstrahiert hat, so ist nichts leichter, aber auch nichts trivialer, als die modernen gegen sie herabzusetzen. Wenn man nur das Poesie nennt, was zu allen Zeiten auf die einfältige Natur gleichförmig wirkte, so kann es nicht anders sein, als daß man den neuern Poeten gerade in ihrer eigensten und erhabensten Schönheit den Namen der Dichter wird streitig machen müssen, weil sie gerade hier nur zu dem Zögling der Kunst sprechen, und der einfältigen Natur nichts zu sagen haben.11 Wessen Gemüt nicht schon zubereitet ist, über die Wirklichkeit hinaus ins Ideenreich zu gehen, für den wird der reichste Gehalt leerer Schein und der höchste Dichterschwung Überspannung sein. Keinem Vernünftigen kann es einfallen, in demjenigen, worin Homer groß ist, irgend einen [737] Neuern ihm an die Seite stellen zu wollen, und es klingt lächerlich genug, wenn man einen Milton oder Klopstock mit dem Namen eines neuern Homer beehrt sieht. Eben so wenig aber wird irgend ein alter Dichter und am wenigsten Homer in demjenigen, was den modernen Dichter charakteristisch auszeichnet, die Vergleichung mit demselben aushalten können. Jener, möchte ich es ausdrücken, ist mächtig durch die Kunst der Begrenzung, dieser ist es durch die Kunst des Unendlichen.
Und eben daraus, daß die Stärke des alten Künstlers (denn was hier von dem Dichter gesagt worden, kann unter den Einschränkungen, die sich von selbst ergeben, auch auf den schönen Künstler überhaupt ausgedehnt werden) in der Begrenzung bestehet, erklärt sich der hohe Vorzug, den die bildende Kunst des Altertums über die der neueren Zeiten behauptet, und überhaupt das ungleiche Verhältnis des Werts, in welchem moderne Dichtkunst und moderne bildende Kunst zu beiden Kunstgattungen im Altertum stehen. Ein Werk für das Auge findet nur in der Begrenzung seine Vollkommenheit; ein Werk für die Einbildungskraft kann sie auch durch das Unbegrenzte erreichen. In plastischen Werken hilft daher dem Neuern seine Überlegenheit in Ideen wenig; hier ist er genötigt, das Bild seiner Einbildungskraft auf das genaueste im Raum zu bestimmen, und sich folglich mit dem alten Künstler gerade in derjenigen Eigenschaft zu messen, worin dieser seinen unabstreitbaren Vorzug hat. In poetischen Werken ist es anders, und siegen gleich die alten Dichter auch hier in der Einfalt der Formen und in dem was sinnlich darstellbar und körperlich ist, so kann der neuere sie wieder im Reichtum des Stoffes, in dem was undarstellbar und unaussprechlich ist, kurz, in dem was man in Kunstwerken Geist nennt, hinter sich lassen.12
[738] Da der naive Dichter bloß der einfachen Natur und Empfindung folgt, und sich bloß auf Nachahmung der Wirklichkeit beschränkt, so kann er zu seinem Gegenstand auch nur ein einziges Verhältnis haben, und es gibt, in dieser Rücksicht, für ihn keine Wahl der Behandlung. Der verschiedene Eindruck naiver Dichtungen beruht, (voraus[739]gesetzt, daß man alles hinweg denkt, was daran dem Inhalt gehört und jenen Eindruck nur als das reine Werk der poetischen Behandlung betrachtet) beruht sage ich bloß auf dem verschiedenen Grad einer und derselben Empfindungsweise; selbst die Verschiedenheit in den äußern Formen kann in der Qualität jenes ästhetischen Eindrucks keine Veränderung machen. Die Form sei lyrisch oder episch, dramatisch oder beschreibend; wir können wohl schwächer und stärker, aber (sobald von dem Stoff abstrahiert wird) nie verschiedenartig gerührt werden. Unser Gefühl ist durchgängig dasselbe, ganz aus Einem Element, so daß wir nichts darin zu unterscheiden vermögen. Selbst der Unterschied der Sprachen und Zeitalter ändert hier nichts, denn eben diese reine Einheit ihres Ursprungs und ihres Effekts ist ein Charakter der naiven Dichtung.
Ganz anders verhält es sich mit dem sentimentalischen Dichter. Dieser reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird, und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft. Der sentimentalische Dichter hat es daher immer mit zwei streitenden Vorstellungen und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit seiner Idee als dem Unendlichen zu tun, und das gemischte Gefühl, das er erregt, wird immer von dieser doppelten Quelle zeugen.5 Da also hier eine Mehrheit der Prinzipien [740] statt findet, so kommt es darauf an, welches von beiden in der Empfindung des Dichters und in seiner Darstellung überwiegen wird, und es ist folglich eine Verschiedenheit in der Behandlung möglich. Denn nun entsteht die Frage, ob er mehr bei der Wirklichkeit, ob er mehr bei dem Ideale verweilen – ob er jene als einen Gegenstand der Abneigung, ob er dieses als einen Gegenstand der Zuneigung ausführen will. Seine Darstellung wird also entweder satyrisch oder sie wird (in einer weitern Bedeutung dieses Worts, die sich nachher erklären wird) elegisch sein; an eine von diesen beiden Empfindungsarten wird jeder sentimentalische Dichter sich halten. […]
9 Man sehe das eilfte Stück der Horen.
10 Es ist vielleicht nicht überflüssig zu erinnern, daß, wenn hier die neuen Dichter den alten entgegengesetzt werden, nicht sowohl der Unterschied der Zeit, als der Unterschied der Manier zu verstehen ist. Wir haben auch in neuern ja sogar in neuesten Zeiten naive Dichtungen in allen Klassen wenn gleich nicht mehr ganz reiner Art und unter den alten lateinischen ja selbst griechischen Dichtern fehlt es nicht an sentimentalischen. Nicht nur in demselben Dichter, auch in demselben Werke trifft man häufig beide Gattungen vereinigt an; wie zum Beispiel in Werthers Leiden, und dergleichen Produkte werden immer den größern Effekt machen.
11 Moliere [sic] als naiver Dichter durfte es allenfalls auf den Ausspruch seiner Magd ankommen lassen, was in seinen Komödien stehen bleiben und wegfallen sollte; auch wäre zu wünschen gewesen, daß die Meister des französischen Kothurns mit ihren Trauerspielen zuweilen diese Probe gemacht hätten. Aber ich wollte nicht raten, daß mit den Klopstockischen Oden, mit den schönsten Stellen im Messias, im verlorenen Paradies, in Nathan dem Weisen, und vielen andern Stücken eine ähnliche Probe angestellt würde. Doch was sage ich? diese Probe ist wirklich angestellt, und die Molierische Magd raisonniert ja langes und breites in unsern kritischen Bibliotheken, philosophischen und literarischen Annalen und Reisebeschreibungen über Poesie, Kunst und dergleichen, nur, wie billig, auf deutschem Boden ein wenig abgeschmackter als auf französischem, und wie es sich für die Gesindestube der deutschen Literatur geziemt.
12 Individualität mit einem Wort ist der Charakter des Alten, und Idealität die Stärke des Modernen. Es ist also natürlich, daß in allem, was zur unmittelbaren sinnlichen Anschauung gelangen und als Individuum wirken muß, der erste über den zweiten den Sieg davon tragen wird. Eben so natürlich ist es auf der andern Seite, daß da wo es auf geistige Anschauungen ankommt und die Sinnenwelt überschritten werden soll und darf, der erste notwendig durch die Schranken der Materie leiden, und eben weil er sich streng an diese bindet, hinter dem andern, der sich davon freispricht, wird zurückbleiben müssen. Nun entsteht natürlicherweise die Frage (die wichtigste, die überhaupt in einer Philosophie der Kunst kann aufgeworfen werden) ob und in wie fern in demselben Kunstwerke Individualität mit Idealität zu vereinigen sei – ob sich also (welches auf eins hinausläuft) eine Koalition des alten Dichtercharakters mit dem modernen gedenken lasse, welche, wenn sie wirklich statt fände, als der höchste Gipfel aller Kunst zu betrachten sein würde. Sachverständige behaupten, daß dieses, in Rücksicht auf bildende Kunst, von den Antiken gewissermaaßen geleistet sei, indem hier wirklich das Individuum ideal sei und das Ideal in einem Individuum erscheine. Soviel ist indessen gewiß, daß in der Poesie dieser Gipfel noch keineswegs erreicht ist; denn hier fehlt noch sehr viel daran, daß das vollkommenste Werk, der Form nach, es auch dem Inhalte nach sei, daß es nicht bloß ein wahres und schönes Ganze sondern auch das möglichst reichste Ganze sei. Es sei dies aber nun erreichbar und erreicht oder nicht, so ist es wenigstens die Aufgabe auch in der Dichtkunst, das ideale zu individualisieren und das individuelle zu idealisieren. Der moderne Dichter muß sich diese Aufgabe machen, wenn er sich überall nur ein höchstes und letztes Ziel seines Strebens gedenken soll. Denn, da er einerseits durch das Ideenvermögen über die Wirklichkeit hinausgetrieben, andrerseits aber durch den Darstellungstrieb beständig wieder zu derselben zurückgenötiget wird, so gerät er in einen Zwiespalt mit sich selbst, der nicht anders als dadurch, daß er eine Darstellbarkeit des Ideals regulativ annimmt, beizulegen ist.
5 Wer bei sich auf den Eindruck merkt, den naive Dichtungen auf ihn machen, und den Anteil, der dem Inhalt daran gebührt, davon abzusondern im Stand ist, der wird diesen Eindruck, auch selbst bei sehr pathetischen Gegenständen, immer fröhlich, immer rein, immer ruhig finden; bei sentimentalischen wird er immer etwas ernst und anspannend sein. Das macht, weil wir uns bei naiven Darstellungen, sie handeln auch wovon sie wollen, immer über die Wahrheit, über die lebendige Gegenwart des Objekts in unserer Einbildungskraft erfreuen, und auch weiter nichts als diese suchen, bei sentimentalischen hingegen die Vorstellung der Einbildungskraft mit einer Vernunftidee zu vereinigen haben, und also immer zwischen zwei verschiedenen Zuständen in Schwanken geraten.
Friedrich Schiller: Die sentimentalischen Dichter, 1795