Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Brief an den Bruder Daniel (9. 3. 1802), Brief an Ludwig Tieck (1. 12. 1802), 1802

Philipp Otto Runge

Quelle

Philipp Otto Runge: "Brief an den Bruder Daniel in Hamburg vom 9. 3. 1802", "Brief an Ludwig Tieck in Ziebingen vom 1. 12. 1802", in: Die Begier nach der Möglichkeit neuer Bilder. Briefwechsel und Schriften zur bildenden Kunst, hrsg., mit Anleitung und Anmerkungen von Hannelore Gärtner. Leipzig: Reclam 19822, S. 90-98, 118-123.

Erstausgabe

Hinterlassene Schriften von Philipp Otto Runge, Mahler. Hrsg. von dessen ältestem Bruder. Zweyter Theil. Mit einem Titelbilde (s. Th. I, S. 359) und einer Musikbeylage. (2. Bd. von 2 Bde.). Hamburg: Verlag von Friedrich Perthes 1841, S. 7-16.

Genre

Brief

Medium

Literatur, Kunst

[90] […] Ph. O. Runge an den Bruder Daniel in Hamburg

Den 9. März 1802

Es hat mich immer ziemlich in Verlegenheit gesetzt, wenn Hartmann, oder sonst jemand, bei mir voraussetzten – oder wenigstens von andern sagten: Der und der weiß eigentlich auch nicht recht, was die Kunst ist. Weil ich mir nämlich selbst gestehen mußte, daß ich es eben auch nicht sagen konnte. Das hat mir entsetzlich im Kopfe gelegen und hat mich gewurmt. Ich suchte dann in so allgemeinen Sentenzen Licht zu erhalten wie z. B.: Ein Kunstwerk ist ewig oder: Ein Kunstwerk erfordert den ganzen Menschen und die Kunst die ganze Menschheit oder: Man soll sein Leben wie ein Kunstwerk betrachten und solche Sachen mehr, die mir alle auf einen Punkt zu deuten schienen, der doch noch erst ergründet werden müßte, ehe ich diese von außen vernommenen Redensarten ganz verstehen könnte. Nun ist es mir denn seit einiger Zeit ordentlich wie ein Licht in der Seele aufgegangen, und ich will sehen, ob ich Dir meine weitläufigen Empfindungen kurz und deutlich genug mitteilen kann.

Ich dachte einmal so an einen Krieg, der die ganze Welt umkehren könnte, oder wie so einer eigentlich entstehen müßte, und sähe eben gar kein anderes Mittel – da der Krieg nun durch die ganze Welt hin zu einer Wissenschaft geworden, und also gar kein rechter mehr existiert, oder da auch kein Volk mehr vorhanden ist, welches ganz Europa und die gesamte kultivierte Welt einmal massakrierte, wie die Deutschen es mit [91] den Römern gemacht, als der Geist von diesem Volke gewichen war – ich sähe, sage ich, kein andres Mittel als den Jüngsten Tag, wo die Erde sich auftun und uns alle verschlingen könnte, das ganze menschliche Geschlecht, so daß auch gar keine Spur von allen den Vortrefflichkeiten heutigen Tages nachbliebe.

Diese Gedanken entstanden bei mir aus einigen betrübten Äußerungen von Tieck, da er neulich krank war, über die Verbreitung der Kultur, die auch auf den Jüngsten Tag hinausliefen, und es fiel mir bei, was denn nun wohl diese höchste Kultur, wo wir kein ander Mittel, um sie zur Besinnung zu bringen, als so ein derbes sähen, für ein Verhältnis zu dem habe, wie die Menschheit früher beschaffen war, so weit unsre Traditionen gehen; auch wie die Erde selbst einst aussah, wie sich nach und nach die rohen Massen, einander entgegengesetzt, Granit und Wasser, immer mehr vereinigt hätten. Ich fand diese beiden Gestaltungen überall, im Menschen, in unserm Leben, in der Natur und in jeder Kunst-Epoche; ich dachte an die verschiedenen Religionen, wie sie entstanden und zugrunde gegangen wären, und es fiel mir wieder eine Bemerkung von Tieck auf, daß grade dann, wann ein Zeitalter zugrunde gegangen gewesen, immer die Meisterwerke aller Künste entstanden seien; z. B. der Homer, der Sophokles, der Dante, die großen griechischen Kunstwerke und die neuern römischen, so auch in der Baukunst, und daß diese Kunstwerke jedesmal grade den höchsten Geist der zugrunde gegangenen Religion in sich getragen; es war mir in die Augen springend, aus dem, was gewesen war, daß nach dem höchsten Punkt in jeder Kunstepoche (z. B. nach der Bildung des Olympischen Jupiters und nach der Hervorbringung des „Jüngsten Gerichts“)27 jedesmal die Kunst gesunken, sich aufgelöset und einen ganz andern höchsten, fast noch schönern Punkt wieder erreicht habe; ich fragte mich: sind wir jetzt wohl wieder daran, ein Zeitalter zu Grabe zu tragen?

Ich verlor mich in Staunen, ich konnte nicht weiter denken; ich saß vor meinem Bilde*, und das, was ich zuerst darüber gedacht, wie es in mir entstanden, die Empfindungen, die in mir jedesmal beim Monde oder beim Untergange der Sonne aufsteigen, dieses Ahnen der Geister, die Zerstörung der Welt, das deutliche Bewußtsein alles dessen, was ich von jeher [92] darüber empfunden hatte, gingen meiner Seele vorüber; mir wurde dieses feste Bewußtsein zur Ewigkeit: Gott kannst du hinter diesen goldnen Bergen nur ahnen, aber deiner selbst bist du gewiß, und was du in deiner ewigen Seele empfunden, das ist auch ewig, – was du aus ihr geschöpft, das ist unvergänglich; hier muß die Kunst entspringen, wenn sie ewig sein soll. – Wie es nun weiter in mir ergangen, inwiefern ich aus diesen verworrnen Gefühlen mich herausgearbeitet und sie zu regulieren gesucht, das höre nun; was dann noch weiter gekommen und was sonst noch zur Erklärung gehört, davon hernach.

Wenn der Himmel über mir von unzähligen Sternen wimmelt, der Wind saust durch den weiten Raum, die Woge bricht sich brausend in der weiten Nacht, über dem Walde rötet sich der Äther, und die Sonne erleuchtet die Welt; das Tal dampft, und ich werfe mich im Grase unter funkelnden Tautropfen hin, jedes Blatt und jeder Grashalm wimmelt von Leben, die Erde lebt und regt sich unter mir, alles tönet in einen Akkord zusammen, da jauchzet die Seele laut auf und fliegt umher in dem unermeßlichen Raum um mich, es ist kein Unten und kein Oben mehr, keine Zeit, kein Anfang und kein Ende, ich höre und fühle den lebendigen Odem Gottes, der die Welt hält und trägt, in dem alles lebt und wirkt: hier ist das Höchste, was wir ahnen – Gott!

Dieses tiefste Ahnen unsrer Seele, daß Gott über uns ist, daß wir sehen, wie alles entstanden, gewesen und vergangen ist, wie alles entsteht, gegenwärtig ist und vergeht um uns, und wie alles entstehen wird, sein wird und wieder vergehen wird, wie keine Ruhe und kein Stillstand in uns ist; diese lebendige Seele in uns, die von ihm ausgegangen ist und zu ihm kehren wird, die bestehen wird, wenn Himmel und Erde vergehen, das ist das gewisseste deutlichste Bewußtsein unsrer selbst und unsrer eignen Ewigkeit.

Wir empfinden, daß ein unerbittlich Strenges und fürchterlich Ewiges und eine süße ewige und grenzenlose Liebe sich hart und im heftigsten Kampfe einander entgegenstehen, wie Hartes und Weiches, wie Felsen und Wasser; wir sehen diese beiden überall, im Kleinsten wie im Größesten, im Ganzen wie im Einzelnen: diese beiden sind die Grundwesen der Welt und in der Welt gegründet und kommen von Gott, und über diesen ist allein Gott. Sie stellen sich beim Anfang eines jeden Dinges, das von Gott kommt, das im Menschen und in der Natur [93] gegründet ist, fest und im heftigsten Kampf einander entgegen. Je roher sie sich einander entgegenstellen, je weiter ist ein jedes Ding von seiner Vollendung, und je mehr sie sich vereinigen, desto mehr nähert jedes Ding sich seiner Vollendung. Nach dem höchsten Punkte dieser Vollendung kehrt der Geist zu Gott zurück, die leblosen Grundstoffe aber zerstören sich ineinander im innersten Kern ihres Daseins; dann vergehen Himmel und Erde, und aus der Asche entwickelt sich von neuem die Welt, und jene beiden Kräfte erneuern sich wieder rein und vereinigen und zerstören sich aufs neue. Diesen ewigen Wechsel der Dinge empfinden wir in uns, in der ganzen Welt, in jedem leblosen Dinge und in der Kunst. – Der Mensch wird hilflos, ohne Bewußtsein geboren, in die Welt gesetzt, daß das Schicksal an ihm übe, was es kann und mag. Mit diesem Furchtbaren tritt das Schönste, die mütterliche Liebe, in Kampf und vereinigt die wilden Leidenschaften mit der süßesten Liebe und Unschuld. In dem Punkte der Vollendung sieht der Mann seinen Zusammenhang mit der ganzen Welt. Ihn treibt die ernste Lust von hinnen, ohne Rast fliegt die Seele durch alles hin und findet keine Ruhe, aber dann bindet die Liebe ihn an das süße Leben; und er wirkt in dem lebendigen Kreise um sich und einigt und vollendet sich aufs neue in jenen entgegenstehenden Kräften; dann kehret der Geist zu Gott zurück. – Wenn unser Gefühl uns hinreißt, daß alle unsre Sinne im Grunde erzittern, dann suchen wir nach den harten, bedeutenden, von andern gefundenen Zeichen außer uns und vereinigen sie mit unserm Gefühl; im schönsten Moment können wir es dann andern mitteilen; wollen wir dann aber diesen Moment weiter ausdehnen, so entsteht eine Überspannung, d. i., der Geist entflieht aus den gefundenen Zeichen, und wir können den Zusammenhang in uns nicht wieder erlangen, bis wir zu der ersten Innigkeit des Gefühls zurückgekehrt oder bis wir wieder zu Kindern geworden sind. Diesen Kreis, wo man immer einmal tot wird, erlebt jeder, und je öfter man ihn erlebt, je tiefer und inniger wird gewiß das Gefühl. Und so entstehet die Kunst und gehet zugrunde, und es bleibt nichts nach als die leblosen Zeichen, wenn der Geist zu Gott zurückgekehret ist.

Diese Empfindung des Zusammenhanges des ganzen Universums mit uns; dies jauchzende Entzücken des innigsten lebendigsten Geistes unsrer Seele; dieser einige Akkord, der im [94] Schwunge jede Saite unsers Herzens trifft; die Liebe, die uns hält und trägt durch das Leben, dieses süße Wesen neben uns, das in uns lebt und in dessen Liebe unsre Seele erglüht: dies treibt und preßt uns in der Brust, uns mitzuteilen, wir halten die höchsten Punkte dieser Empfindungen fest, und so entstehen bestimmte Gedanken in uns.

Wir drücken diese Gedanken aus in Worten, Tönen oder Bildern und erregen so in der Brust des Menschen neben uns dieselbe Empfindung. Die Wahrheit der Empfindung ergreift alle, alle fühlen sich mit in diesem Zusammenhang, alle loben den einigen Gott, die ihn empfinden; und so entsteht die Religion. – Wir setzen diese Worte, Töne oder Bilder in Zusammenhang mit unserm innigsten Gefühl, unsrer Ahnung von Gott und der Gewißheit unsrer eignen Ewigkeit durch die Empfindung des Zusammenhanges des Ganzen, das ist: wir reihen diese Empfindungen an die bedeutendsten und lebendigsten Wesen um uns und stellen, indem wir die charakteristischen, das heißt: die mit den Empfindungen übereinstimmenden Züge dieser Wesen festhalten, Symbole unsrer Gedanken über große Kräfte der Welt dar, das sind die Bilder von Gott oder von den Göttern. Je mehr die Menschen sich und ihr Gefühl rein erhalten und es erheben, desto bestimmter werden diese Symbole von Gottes Kräften, desto höher empfinden sie die große allmächtige Kraft. Sie drängen alle die unendlich verschiednen Naturkräfte in ein Wesen zusammen; sie suchen in einem Bilde alles zugleich zu konzentrieren und so ein Bild des Unendlichen darzustellen. (Wenn der menschliche Geist diese höchste Ahnung erreicht hat, so entstehet eine Überspannung, und die Zeichen stürzen in sich zusammen, sobald der Geist entflohen ist, und er muß von dem ersten kindischen Gefühl wieder anfangen.)

Diese Symbole wenden wir an, wenn wir große Begebenheiten, schöne Gedanken über die Natur und die lieblichen oder fürchterlichen Empfindungen unsrer Seele, über Begebenheiten oder den innern Zusammenhang unseres Gefühls andern klar verständlich machen wollen. Wir suchen nach einer Begebenheit, die charakteristisch zu unsrer Empfindung, die wir ausdrücken wollen, stimmt, und wenn wir sie gefunden, haben wir den Gegenstand der Kunst gewählt.

Indem wir diesen Gegenstand nun an unsre Empfindung reihen, stellen wir jene Symbole der Naturkräfte, oder der [95] Empfindungen in uns, so gegeneinander, daß sie charakteristisch für sich, den Gegenstand und unsre Empfindung wirken: das ist die Komposition. – (Hier sucht der Mensch wieder, wie in der Darstellung des einzigen höchsten Symbols von Gott, ein Bild von Gott auszudrücken durch die höchste symbolische Komposition – er vereinigt sein höchstes Gefühl mit der größten Begebenheit der Welt, läßt alle Symbole der Empfindungen und der Natur darin wirken, bis er den Gedanken über die tiefste Empfindung seiner Seele, über die Allmacht Gottes ausgedrückt hat in der größten und letzten Begebenheit der Welt. So wird der Geist aufs neue erschöpft, die leblosen Stoffe sinken in sich zusammen, und das ist der Grenzstein der historischen Komposition.)

So wie wir die Formen der Wesen, aus denen unsre Symbole genommen, deutlicher und zusammenhangender empfinden, leiten wir auch die Umrisse und Darstellung derselben charakteristischer aus ihrer Grundexistenz, aus unsrer Empfindung und aus der Konsistenz des Natursubjekts her. Wir beobachten dieses in allen Stellungen, Richtungen und Ausdrücken, stellen jeden Gegenstand des Ganzen genau nach der Natur und übereinstimmend mit der Komposition, der Wirkung, der einzelnen Handlung für sich und der Handlung des ganzen Werks auf, lassen sie nach der Perspektiv kleiner oder größer werden und beobachten alle Nebensachen und die so zum Grund gehören, in dem alles wirkt, ebenso nach der Natur und dem Gegenstand, und das ist die Zeichnung.

Wie wir die Farben des Himmels und der Erde betrachten, die Veränderungen der Farben bei Affekten und Empfindungen an den Menschen, in der Wirkung, wie sie bei großen Naturerscheinungen vorkommen, und in der Harmonie, selbst insoferne gewisse Farben symbolisch geworden sind, so geben wir jedem Gegenstande der Komposition, harmonisch mit der ersten tiefsten Empfindung und den Symbolen und Gegenständen für sich, jedem seine Farbe, und das ist die Farbengebung.

Diese verringern oder erhöhen wir in Hinsicht ihrer Reinheit, je nachdem ein jeder Gegenstand näher oder ferner erscheinen soll oder nachdem der Luftraum zwischen dem Gegenstande und dem Auge größer oder kleiner ist: das ist die Haltung.

Wir beobachten sowohl die Konsistenz eines jeden Gegenstandes in seiner Farbe von innen als auch die Wirkung des [96] hellern oder schwächeren Lichts auf denselben, so wie den Schatten, auch die Wirkung der beleuchteten nebenstehenden Gegenstände auf ihn: das ist das Kolorit.

Wir suchen durch die Reflexe und die Wirkungen von einem Gegenstande auf den andern, und die Farben desselben, Übergänge zu finden, beobachten alle Farben gleichstimmig mit der Wirkung der Luft und der Tageszeit, die stattfindet, suchen diesen Ton, den letzten Anklang der Empfindung, von Grund aus zu beobachten, und das ist der Ton – und das Ende.

So ist denn die Kunst das schönste Bestreben, wenn sie von dem ausgeht, was allen angehört, und eins ist mit dem. Ich will hier also die Erfordernisse eines Kunstwerks, wie sie, nicht allein in Hinsicht der Wichtigkeit, sondern auch in Hinsicht, wie sie ausgebildet werden sollen, aufeinander folgen, noch einmal hersetzen:

1. unsre Ahnung von Gott

2. die Empfindung unsrer selbst im Zusammenhange mit dem Ganzen, und aus diesen beiden:

3. die Religion und die Kunst; das ist, unsre höchsten Empfindungen durch Worte, Töne oder Bilder auszudrücken; und da sucht denn die bildende Kunst zuerst:

4. den Gegenstand; dann

5. die Komposition,

6. die Zeichnung,

7. die Farbengebung,

8. die Haltung,

9. das Kolorit,

10. den Ton.

Nach meiner Meinung kann schlechterdings kein Kunstwerk entstehen, wenn der Künstler nicht von diesen ersten Momenten ausgegangen ist, auch ist kein Kunstwerk anders ewig: denn die Ewigkeit eines Kunstwerks ist doch nur der Zusammenhang mit der Seele des Künstlers, und durch den ist es ein Bild des ewigen Ursprungs seiner Seele. Ein Kunstwerk, was aus diesen ersten Momenten entspringt und in seiner Vollendung auch nur die Komposition erreicht, ist mehr wert als jede Künstelei, die bloß von der Komposition, ohne das Vor[97]hergehende, angefangen, und wenn sie auch bis zum Ton völlig durchgeführt ist, und es ist klar, daß ohne das erste die übrigen Teile bis zum Ton gewiß nicht in den Zusammenhang und die Reinheit können gebracht werden. In dieser Folge kann also die Kunst nur wieder erstehen; hier aus dem innern Kern des Menschen muß sie entspringen, sonst bleibt sie Spielerei; hier entstand sie bei Raffael, Michelangelo Buonarotti und Guido und mehreren. Nachher, sagt man, ist die Kunst gefallen; was ist das anders, als daß der Geist entwichen war? – Annibal Caracci usw. fingen nur noch bei der Komposition an und Mengs bei der Zeichnung; unsre jetzt lärmmachenden Leute sind nur noch beim Ton.

Wenn ich jene Stufenfolge so ansehe und sie anwende aufs Leben und sehe so einen geputzten Herrn, der auch weiter nichts kann, als Fransch parlieren, und der sich doch im Schwung zu erhalten weiß, so fällt mir unwillkürlich ein: der ist beim Ton. Die ganze Stufenfolge ist ja auch im menschlichen Leben so, und „selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“.

Und was soll nun herauskommen bei all dem Schnickschnack in Weimar, wo sie unklug durch die bloßen Zeichen etwas wieder hervorrufen wollen, was schon dagewesen? Ist denn das jemals wieder entstanden? Ich glaube schwerlich, daß so etwas Schönes, wie der höchste Punkt der historischen Kunst war, wieder entstehen wird, bis alle verderblichen neueren Kunstwerke einmal zugrunde gegangen sind, es müßte denn auf einem ganz neuen Wege geschehen, und dieser liegt auch schon ziemlich klar da, und vielleicht käme bald die Zeit, wo eine recht schöne Kunst wieder erstehen könnte, das ist in der Landschaft. Wir können wohl sagen, daß es eigentlich noch keine rechten Künstler darin gegeben hat, nur so hin und wieder einige, und grade in den neuern Zeiten, die den Geist der Kunst auch hierin geahnet haben.

Ist es nicht sonderbar, daß wir klar und deutlich unser ganzes Leben empfinden, wenn wir dicke schwere Wolken bald dem Monde vorübereilen, bald ihre Ränder von dem Monde vergoldet, bald die Wolken den Mond völlig verschlingen sehen? es kömmt uns verständlich vor, als könnten wir bloß in solchen Bildern unsre ganze Lebensgeschichte schreiben; und ist es denn nicht wahr, daß es seit Raffael und Buonarotti keine eigentlichen Historienmaler mehr gegeben hat? Selbst Raffaels [98] Bild hier auf der Galerie neigt sich gradezu zur Landschaft – freilich müssen wir hier unter Landschaft etwas ganz anderes verstehen.

Siehe, so wie ein Kunstwerk von der ersten Grundempfindung entwickelt, wo die zwei rohen Kräfte sich entgegenstehen, so hat sich das ganze Menschengeschlecht entwickelt, jede Kunst-Epoche hat uns gezeigt, wie sich in den reinsten Menschen dieser Zeitalter jene beiden Kräfte auch immer mehr vereinigt hatten. In der ägyptischen bildenden Kunst sowohl wie in der Baukunst und in allen damaligen Symbolen war noch etwas weit Härteres und Widerstrebenderes wie in der Griechen ihren; so verehrten auch noch die ersten Menschen jede einzelne Quelle, jeden Baum, Felsen, Feuer usw. Die christliche Religion, ich meine die katholische, brauchte noch vier Personen in der Gottheit, da war durch die Mutter Gottes noch das schöne Leben im Himmel, alle Heiligen kamen dahin, so konnte die historische Komposition gedeihen, bis diese Religion in Abnahme kam. – Die Reformation beschränkte sich auf die drei Personen in der Gottheit, diese scheint nun zugrunde gegangen; der Geist dieser Religion ist abstrakter, aber um nichts weniger innig gewesen, es muß auch aus dieser eine abstraktere Kunst entspringen. Nun wollen sich die Leute nur an einen Gott halten; geht aber der ihnen verloren, dann ist doch wohl kein ander Mittel, als daß nur der Jüngste Tag kommt.

So wie ein Kunstwerk, das nicht in unsrer eignen ewigen Existenz gegründet ist, nicht bestehet, so ist es gewiß auch mit dem Menschen, der nicht in Gott gegründet ist. Die Blüten, die wir treiben aus dem Bewußtsein dieses unsers ersten Ursprungs, wo der Saft aus diesem Stamm der Welt gezogen wird, denen gedeihen die Früchte; ein jeder Mensch ist ein Zweig an diesem großen Baum, und nur durch den Stamm können wir den Saft erhalten zu ewigen unsterblichen Früchten. Wer einen Zusammenhang mit dem Stamm nicht mehr in sich fühlt, der ist schon verdorret.

[118] […] Ph. O. Runge an Ludwig Tieck in Ziebingen

Den 1. Dezember 1802

Lieber T., es scheint mir doch, als würde ich bald sehen können, wie ich ein ganz ordentlicher Mensch würde, und alles arbeitet auch jetzt daran, so daß ich doch ein bißchen was Festes in mir finde, woran ich mich halten kann.

Es sind mir so verschiedene Gedanken gekommen, die mir [119] doch viel Grund zu haben scheinen, und ich kann sie noch gar nicht zum Wanken bringen, so daß ich fast meine, sie stehen fest. Ich glaube, daß ich Sie nun ein wenig verstehe, was Sie eigentlich unter Landschaft meinen. In der ganzen alten Geschichte haben, wie es mir scheint, alle Künstler immer dahin gestrebt, in den Menschen das Regen und Bewegen der Elemente und Naturkräfte zu sehen und auszudrücken; wie im Homer und in der eigentlichen Geschichte immer nicht sowohl die Menschen individuell, sondern so genommen sind, wie die gewaltige Zeit sich in ihnen geregt hat; auch im Shakespeare; und vorzüglich in allen den antiken Bildern, und dies wäre so nach meinen Gedanken wohl das Abzeichen und der bestimmteste Unterschied der historischen Kunst von der Landschaft; auf solche Weise wäre auch nach dem „Jüngsten Gericht“ von Michelangelo nicht gar viel mehr möglich gewesen. – Die Landschaft bestände nun natürlich in dem umgekehrten Satze, daß die Menschen in allen Blumen und Gewächsen, und in allen Naturerscheinungen, sich und ihre Eigenschaften und Leidenschaften sähen; es wird mir bei allen Blumen und Bäumen vorzüglich deutlich und immer gewisser, wie in jedem ein gewisser menschlicher Geist und Begriff oder Empfindung steckt, und wird es mir so klar, daß das noch vom Paradiese her sein muß; es ist grade so das Reinste, was noch in der Welt ist und worin wir Gott oder sein Abbild – nämlich das, was Gott zu der Zeit, da er die Menschen schuf, Mensch geheißen hat – erkennen können. Denn weiter soll sich doch wohl der Mensch kein Bild von Gott machen, er kann es auch nicht. Es steht auch in der Bibel: „Als Gott der Herr gemacht hatte von der Erden allerlei Tier auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte er sie zu dem Menschen, daß er sehe, wie er sie nennete, denn wie der Mensch allerlei lebendige Tier nennen würde, so sollten sie heißen.“ – Ich meine, daß man das so nehmen könnte: welchen Geist der Mensch in sie legte, den sollten sie haben. Das wäre denn so erst die rechte Blume, denn ich nehme auch an, daß die Blumen dabeigewesen sind, und nun, dächte ich, müßten wir es einmal erst erforschen, was denn wohl noch für ein Name darin sitzt.

Wie der Teufel zuerst die Erde verbrannt hat und die arme Seele so tief und finster eingesperrt, da hat Gott das Licht ausgehen lassen, und nun sehnt sie sich zum Licht, und das [120] lebendige Wasser quillt aus dem harten Fels, und es gehen auf allerlei Blumen und Kraut und viel lebendige Tiere, und viel hunderttausend Menschenstimmen sprechen für sie und sehnen sich zum Licht, und doch hält die arme Mutter tief in der Erde den Menschen fest, und er kann sie nicht verlassen; und der Teufel kommt des Nachts und streut das giftige Unkraut und schlechtes Zeug dazwischen, daß lauter Unheil entsteht und man den lieben Blumen nicht mehr traut; und nur durch die Offenbarung Gottes können wir sie alle wiedererkennen, und dann bleiben sie und vergehen nicht, solange die Welt steht. Ich meine, es ist dasselbe mit den Menschen, denn ganz wunderbar ist es, wie schöne und herrliche Gedanken manche Leute von sich geben und wie fest die gesunde Natur alles ohne Bewußtsein zusammenhangend in ihnen macht, aber wenn die Blüte, die paar Jahre, vergangen sind, so fallen sie ab, und es bleibt die elendeste Praktik der Gedanken sowohl wie jeder andern Qualität in ihnen nach. Und wie die Blumen sich befruchten im Sonnenschein und dann Frucht bringen, so ist es mit dem Menschen, der zu der kräftigen vollen Zeit seines Lebens Gottes Liebe erkennt und sich mit dem himmlischen Licht verbindet, in dem bleibt die Jugend ewiglich, und die Kunst und jede Wissenschaft wird je länger, je fester in ihm.

„Lamech sprach zu seinen Weibern Ada und Zilla: Ihr Weiber Lamechs, höret meine Rede und merket, was ich sage: Ich habe einen Mann erschlagen, mir zur Wunden, und einen Jüngling, mir zur Beulen. Kain soll siebenmal gerochen werden, aber Lamech siebenundsiebenzigmal.“ Das war der Lamech, von dem die Künste kommen, und dies war gewiß das Beste und einzige, was sie hatten, als der Teufel das Unkraut gesäet hatte.

„Und Heva gebar einen Sohn, den hieß sie Seth. Denn Gott hat mir, sprach sie, einen Samen gesetzt für Habel, den Kain erwürget hat. Und Seth zeugete auch einen Sohn und hieß ihn Enos. Zu derselbigen Zeit fing man an zu predigen von des Herrn Namen“, und das ist der gute Stamm und der Zweig, auf welchem die rechte Frucht doch nur wachsen kann, und auf diesen festen Grund ist noch keine Kunst gebaut. Mich dünkt immer, wenn es das nicht ist, was ich meine, wenn ich an eine schöne neue Kunst denke, so ists nicht viel, und so muß es doch wieder ganz den Gang der Schöpfung gehen, und wir müssen von dem Kraut auf dem Felde anfangen, das zu verstehen. – Und „Du sollst dir kein Bild von Gott ma[121]chen“, das ist nur die große Schönheit, die wir alle ahnen – und es ist doch auch wieder da zu sehen: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr“, und dann: „Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen, sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht; ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als derselben eine.“ Es ist so himmlisch schön, dieser allergrößten Schönheit nachzuspüren, daß ich den festen Glauben habe, ich werde hier etwas einsehen und verstehen lernen; und wenn wir nun dieses Land entdecken, was ist nun besser: wir setzen uns nur eben hinein und sprechen von da heraus allerlei Herrlichkeiten in die Welt hinaus, die gar wenige nur ahnen können, verstehen fast niemand? oder: wir suchen den Weg dahin ordentlich fahrbar zu machen?

Es muß in der Welt eine große Konfusion machen und sehr viel Gutes zurückgehen und rein platt getreten werden, wenn einer das Höchste gleich ausspricht; der Same findet keinen Grund und geht nicht auf. Wie würde es wohl geworden sein, als der Teufel Christum auf die Zinne des Tempels führte und sagte: Bist du Gottes Sohn, so laß dich herab; und er nun der Versuchung nicht widerstanden hätte?

Ich meine, lieber Tieck, daß, wenn wir das Land wirklich entdeckten, wir unser Leben daransetzen müßten, die Brücken zu bauen, und so Schritt vor Schritt immer ein bißchen davon sehen ließen.

Es ist mir so klar, daß doch die Blumen wenigstens mir sehr verständliche Geschöpfe sind, und ich sollte denken, daß ich es durch mein Leben ordentlich dahin bringen könnte, daß sie schon recht viel verstanden würden, wenn man es nur auf eine gescheute Art anfinge; und ich will Ihnen sagen, wie ich meine, daß ich mir und dem werten Publikum, wenn dem darum zu tun ist, ordentlich ein Thema aufgeben und es hernach immer wiederholen und völlig durchführen könnte.

Sie wissen von der Idee mit der Quelle; ich habe Öfters mit Ihnen davon gesprochen, und von daher sind mir alle diese Gedanken gekommen. Ich wollte nämlich auf diesem Bilde alle bekannten Blumen machen, die ich kenne und die Bedeutung haben, und die haben sie alle, wenn wir sie nur recht darauf ansehen. Nun würde ich durch die Komposition der Blumen jene ganze Idee von der ersten Entstehung an auszudrücken suchen, so daß die Lilie im höchsten Licht steht, wo sich die roten, [122] gelben und blauen Blumen herumdrängen und wo der Eichenbaum wie ein Held die Zweige über sie streckt. So sollen nun durch die muntern Töne aus der Quelle, die sich in die Blumen verlieren, die Blumen erst die Bedeutung erhalten, und in denselben muß eigentlich dieselbe Komposition sein, so daß dies ein Übergang ist. Wie der Geist in den Blumen ist, so auch in den Bäumen. Es ist freilich nötig, daß man mit den Figuren nun auch den rechten Punkt in der Blume trifft, das, denk ich, soll sich aber schon finden; es kömmt da alles nur auf Courage und die Übung an: kann doch ein Schlächter sich mit dem großen Schlächterbeil zwischen die Zehen hacken, ohne sich zu schaden. Nun meine ich, auf solche Weise, daß immer bei allen Blumenkompositionen grade die menschliche Empfindung dabei gemalt würde, die dabei gehörte, müßten sich die Leute nach und nach daran gewöhnen, diese auch immer dabei zu denken. Das ließe sich nun freilich so geschwinde nicht erlangen, aber deswegen meine ich auch, daß ich für meine Lebenszeit nie eine Blumenkomposition ohne Figuren machen wollte. — Das Rechte kann ich nur nicht so sagen und viel weniger schreiben, wie ichs meine. Ich wollte nämlich das, wie ich zu den Begriffen von den Blumen und der ganzen Natur gelangt bin, wiedergeben in Bildern; nicht, was ich mir denke und was ich empfinden muß und was wahr und zusammenhangend darin zu sehen ist: sondern wie ich dazu gekommen bin und noch dazu komme, das zu sehen, zu denken und zu empfinden, so den Weg, den ich gegangen bin, und da müßte es doch kurios sein, daß andere Menschen das so gar nicht begreifen sollten. Es ist nur das, was ich zuvörderst wollte, viel schwieriger, und man muß sich selbst gewaltig attrappieren können; aber jenes andere kann mir nicht viel helfen. An den meisten Tagen ist es zwar nicht möglich, sich so darzustellen, ohne närrisch zu werden, allein die sind auch nicht dazu da, und es gibt sich alles durch Gewohnheit. Die Sache würde für jetzt fast weit mehr zur Arabeske und Hieroglyphe führen, allein aus diesen müßte doch die Landschaft hervorgehen, wie die historische Komposition doch auch daraus gekommen ist. So ist es auch nicht anders möglich, als daß diese Kunst aus der tiefsten Mystik der Religion verstanden werden müßte, dann daher muß sie kommen, und das muß der feste Grund davon sein, sonst fällt sie zusammen, wie das Haus auf dem Sande. Ich bin auch beinahe gewiß, daß es völlig ruinierend [123] für das Ganze sein würde, gegen jemand, der es nicht versteht oder begreifen kann, davon zu sprechen, oder noch viel mehr, es öffentlich zu tun: das kann zu nichts führen, sie müssen durch einen Weg, der ihnen praktisch vor die Augen gelegt wird, dahin gebracht werden, jeder, der es nicht begreift und nicht verstehen kann, wenn mans auch tausendmal sagte; so ists doch besser.

27 Die Kolossalstatue des Zeus des giechischen [sic] Bildhauers Phidias, die er für den Olympischen Zeus-Tempel ausführte, galt als das Ideal klassischer Bildnisdarstellung in der Plastik – Michelangelos Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle. Runge nennt beide Werke als höchste Form und Erfüllung eines ikonographischen Programms.

* „Triumph des Amors“.

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