Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Die neuen Realisten, 1960

Pierre Restany

Quelle

Pierre Restany: "Die neuen Realisten", in: Jürgen Harten (Hrsg.): ProspectRetrospect. Europa 1946-1976. Katalog anläßlich der Ausstellung ProspectRetrospect, 20. – 31. Oktober 1976, Bd. 2 (Städtische Kunsthalle Düsseldorf). Übersetzungen von Schuldt/B. Buchloh/J. Matheson. Köln: König 1976, S. 55. ISSN 0023-561x.

Erstausgabe

"Les Nouveaux Réalistes" [16. 4. 1960] anläßlich der ersten Ausstellung der Künstlergruppe Nouveau Réalisme (Galerie Apollinaire, Mailand, 16. 4. 1960) als Einleitung des Katalogs. Am 27. Oktober 1960 in Paris von Arman, François Dufrêne, Raymond Hains, Yves Klein, Martial Raysse, Daniel Spoerri und Jean Tinguely unterzeichnet. Le nouveau réalisme [1. Buchausgabe]. Paris: Union Générale d'Éditions 1978. ISBN: 2-264-00921-7.

Genre

Manifest

Medium

Kunst

[55] 1960

5. Oktober. Köln, Ballettabend. Organisatoren: Mary Bauermeister, Haro Lauhus

Cage, Cunningham, Brown, Rauschenberg, Tudor

27. Oktober. Paris. Arman, Dufrêne, Hains, Klein, Raysse, Spoerri, Tinguely und Villeglé unterschreiben das erste Manifest des „Neuen Realismus"

1. „Les Nouveaux Réalistes“ („Die neuen Realisten"), Mailand, den 16. April 1960.

Vergebens mühen sich brave Akademiker und andere wackere Menschen ab, die, verschreckt von der Beschleunigung der Kunstgeschichte, verschreckt von der ungemeinen Verschleißkraft unseres modernen Zeitempfindens, die Sonne anzuhalten oder den Lauf der Zeit abzuschaffen versuchen, indem sie den Weg der Uhrzeiger anders herum gehen wollen.

Wir erleben heute die Entkräftung und Verkalkung eines jeden Wortschatzes, jeder Sprache, aller Stile. Diesem erschöpften Versagen der traditionellen Mittel widersetzen sich Einzelunternehmungen, die jetzt noch in Europa und Amerika verstreut sind, aber samt und sonders, wie eng oder weit auch das Feld ihres Suchens gesteckt sein mag, darauf hinauslaufen, die normativen Grundlagen eines neuen Ausdrucksvermögens zu schaffen. Es geht nicht um ein weiteres Rezept mit Öl oder Ripolin. Die Staffeleimalerei (wie jedes andere klassische Ausdrucksmittel in Malerei und Bildhauerei) hat ihre Zeit hinter sich. Sie durchlebt jetzt die letzten, manchmal noch großartigen Augenblicke eines lang gewahrten Monopols.

Was haben uns die anderen zu bieten? Das erregende Abenteuer einer Wahrnehmung des Wirklichen an sich, also nicht mehr in der Brechung durch eine begriffliche oder imaginative Umsetzung. Woran läßt sich das erkennen? An der Beteiligung eines soziologischen Momentes im entscheidenden Kommunikationsstadium. Bei der Auswahl wie bei der Zerfetzung eines Plakates, bei der Beurteilung des Gesamteindruckes eines Gegenstandes, eines Haushaltsabfalls oder Salonabschaums, bei der Entfesselung der mechanischen Affektivität wie bei der Ausweitung des Empfindungsvermögens über die Grenzen der Wahrnehmung hinaus tritt die Soziologie neben das Bewußtsein und den Zufall.

All diese Abenteuer (und da gibt es welche, und das ist erst der Anfang) heben die übertriebene Distanz auf, die aus der kategorischen Verständigung zwischen der allgemeinen objektiven Zufälligkeit und dem individuellen Ausdrucksdrang entstanden ist. Die ungeteilte soziologische Wirklichkeit, das Gemeingut des Tuns aller Menschen, die große Republik unseres gesellschaftlichen Austausches, unseres Umganges in der Gesellschaft ist hier vorgeladen. An ihrem künstlerischen Potential wäre überhaupt nicht zu zweifeln, wenn es nicht noch so viele Leute gäbe, die an die unwandelbare, ewige Gültigkeit vermeintlich vornehmer Genres und insbesondere der Malerei glauben. In dem – ob seiner Dringlichkeit wesentlicheren – Stadium des vollen affektiven Ausdrucks und des Aus-sich-Heraustretens der schöpferischen Persönlichkeit bewegen wir uns auf einen neuen Realismus der reinen Sensibilität zu, auch wenn manche Experimente natürlich barocke Züge annehmen. Diese Formel bezeichnet zumindest einen der künftigen Wege. In Paris arbeiten Ives Klein und Tinguely, Hains und Arman, Dufrêne und Villeglé von den verschiedensten Prämissen her in diesem Sinne. Dieses Gären, dessen volle Konsequenzen noch nicht abzusehen sind, wird sich als fruchtbar und mit Sicherheit als ikonoklastisch erweisen (woran die Ikonen und die Dummheit ihrer Verehrer die Schuld haben).

Da stecken wir bis zum Hals im vierzig Dadagrade warmen Bad der direkten Expressivität, ohne Aggressivitätskomplex, ohne ausgeprägte polemische Absicht, ohne ein anderes Rechtfertigungsgelüst als unseren Realismus. Und ob das gärt! Gelingt es dem Menschen, sich wieder in das Wirkliche zu integrieren, so identifiziert er es mit seiner eigenen Transzendenz, die Emotion ist, Sentiment, und schließlich noch Poesie.

Pierre Restany

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Pierre Restany: Die neuen Realisten, 1960

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