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Einfälle zum Kino, 1966
Pier Paolo Pasolini
Quelle
Pier Paolo Pasolini: "Einfälle zum Kino", in: Ketzererfahrungen. 'Empirismo eretico'. Schriften zu Sprache, Literatur und Film. Aus dem Italienischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Reimar Klein. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1982. (= Ullstein Materialien. 35140.), S. 217-227, 283. IBSN: 3-548-35140-9.
Erstausgabe
"Osservazioni sul piano-sequenza" [Interview], in: Cinema e Film 1 (1966-67). Empirismo eretico [1. Buchausgabe]. Mailand: Garzanti 1972.
Genre
Essay
Medium
Film
[…] [217] Der Titel eurer Zeitschrift gefällt mir, weil er in meinen Ohren ambivalent und signifikant klingt: Kino und Filme (oder Kino und Film?), ist das ein Widerspruch, ein Dilemma, ein Hendiadyoin? Handelt es sich um ein verbindendes oder ein entgegensetzendes „und“? Liegt in dieser Wortverbindung derselbe Sinn, den wir in analogen Ausdrücken spüren, in „Menschheit und Menschen“ oder „Industrie und Produkte“ oder auch in „Dichtung und Gedichte“?
Ich weiß nicht, ob das euren Intentionen entspricht, aber ich glaube, die einzige Möglichkeit, um dieses verrückte Knäuel von störenden, aber erfreulichen Vieldeutigkeiten oder Ambivalenzen zu entwirren, liegt in einem direkten Rekurs auf das zentrale Motto der gegenwärtigen Linguistik: „Langue und Parole“; hier ist das „und“ weder verbindend noch entgegensetzend, sondern, sagen wir, unterscheidend.
Wir kennen allein die verschiedenen paroles, die langue kennen wir nicht; genauer gesagt, wir kennen die langue durch die reale Erfahrung der verschiedenen paroles, also durch Deduktion. Die langue ist deshalb eine Abstraktion, aber eine konkrete Abstraktion, von dem Augenblick an, da sie die Wirklichkeit eines Kodes und einer Grammatik gewonnen hat; sie ist ein Gegenstand, der studiert werden muß und der sich im Studium erst konstituiert. Das führt jedoch auf etwas Seltsames; denn während wir zum Beispiel aus dem Menschen nur sehr schlecht die „Menschheit“ abstrahieren können oder durch die Gedichte nur sehr schwer zur Kenntnis der Dichtung gelangen, geschieht in der Linguistik das Gegenteil; was die langue ist, wissen wir viel besser, als was die konkreten paroles sind! In diesen bleibt etwas vom Geheimnis ihres Schöpfungsaktes, der übersprachlich und nicht ohne alles Charisma ist; in der langue dagegen ist alles – und sei es auch mit Enthusiasmus – kühl von der ordnenden Vernunft definiert, die dort, wo sie einen Kode analysieren oder beschreiben kann, ihre eigentliche Funktion erfüllt.
Auf dem Gebiet der Filmlinguistik hat die Vernunft diese Arbeit, die ihr gewöhnlich auf so anregende und gefällige Weise von der Hand geht, noch nicht geleistet: sie hat noch nicht das „Kino“ aus den verschiedenen „Filmen“ abstrahiert. Wir kennen die „Filme“ (wie wir die Menschen oder die Gedichte kennen), aber das „Kino“ kennen wir nicht (ebensowenig wie [218] die Menschheit oder die Dichtung). Oder wenn wir doch ein bißchen wissen, was das Kino ist, so daher, daß wir es als Industrie oder als gesellschaftliches Phänomen kennen – geradeso, als würden wir eine langue nur in ihrem faktischen Verwendungszusammenhang kennen, ohne zu wissen, was sie ist.
Das Interesse, herauszufinden, was das Kino ist, ist erst in diesen Jahren entstanden, und es ist richtig, daß eine Zeitschrift wie die eure gleich in ihrem Titel das Problem aufwirft.
FRAGE: An Ihrer Arbeit interessieren uns vor allem die Bemühungen, das Kino als langue zu bestimmen; aber wir haben den Verdacht, daß Ihre Grammatik – die in den realen Gegenständen einer Einstellung, die Sie „Kineme“ nennen, die Einheiten der zweiten Gliederung sieht – einer Stilforderung entspringt...
ANTWORT: Ihr seid ja verrückt. Es ist für einen Autor ungemein ärgerlich, wenn er sich stets als „Stilbestie“ eingeschätzt sieht und wenn alles, was mit ihm zu tun hat, auf ein Element seiner stilistischen Karriere reduziert wird.
Das ist unmenschlich. Natürlich wird man, wenn man einen Autor studiert, in ihm auch eine Einheit suchen müssen! Das darf aber nicht leichthin geschehen, mit dem genüßlichen und augenzwinkernden Gestus, mit dem ein Bankangestellter schlecht oder gut über einen Kollegen redet, das heißt mit dem Gestus desjenigen, der in einer „Sache“ kompetent ist und – beim Geschwätz in seinem Milieu – alles auf diese Sache zurückführt, deren Kenntnis ihm Autorität und folglich das Recht verleiht, dem Milieu anzugehören.
Ja, ich will euch ganz offen sagen: es verletzt mich sehr, daß alles, was ich tue und sage, darauf reduziert wird, meinen Stil zu erklären. Das ist eine Weise, mich zu exorzieren, mich womöglich zu einem Schwachkopf zu stempeln: einem Schwachkopf im Leben, der in seinem Metier ganz tüchtig sein mag. Also ist es auch ein Mittel, mich auszuschließen und zum Schweigen zu bringen. Unbewußt, versteht sich.
Ich möchte deshalb ganz klar feststellen: meine Versuche, aus den verschiedenen Filmen einen linguistischen Begriff von Kino zu gewinnen – analog zu dem, was man seit je mit der langue und den paroles gemacht hat – sind keineswegs eine Fortsetzung meines künstlerischen Tuns, das heißt meiner kinematographischen Poetik. Das sind sie keinesfalls.
Viel eher besteht eine tiefe und komplexe (jedoch reale und deshalb Vereinfachungen zulassende) Beziehung zwischen der Natur meiner grammatikalischen Untersuchung übers Kino auf der einen Seite und meiner Art, die Wirklichkeit zu sehen, auf der anderen meiner Art, die Wirklichkeit zu interpretieren, also meinem Verhältnis zur Wirklichkeit: meiner Philosophie, könnte ich sagen, doch ich bin durchaus kein Philosoph.
In einem Titel habe ich einmal das Kino als „geschriebene Sprache der [219] Wirklichkeit“ definiert. Ich wollte sagen: die Wirklichkeit ist ein Kino in natura (ich stelle mich dir dar, du stellst dich mir dar; ich bin eine Einstellung für Adriano Aprà, wie er mir hier gegenübersitzt, und Aprà ist eine Einstellung für mich: zwei starre Einstellungen, solange wir sitzen, die aber zu einer Einstellungssequenz oder einem Panoramaschwenk werden können, wenn wir uns erheben und den Gang unsrer Handlungen wieder aufnehmen). Dieses Kino in natura, das die Wirklichkeit ist, stellt tatsächlich eine Sprache dar („ Die Semiologie der Wirklichkeit ist es, die man entwickeln muß! “ – diesen Slogan rufe ich mir unentwegt zu, seit Monaten): eine Sprache, die in gewisser Weise der mündlichen Sprache der Menschen ähnelt. So ist das Kino – durch seine Reproduktion der Wirklichkeit – das geschriebene Moment der Wirklichkeit.
Wenn das Kino also nichts anderes ist als die geschriebene Sprache der Wirklichkeit (die sich stets in Handlungen zeigt), dann ist es weder willkürlich noch symbolisch: es stellt die Wirklichkeit durch die Wirklichkeit dar. Konkret gesprochen, durch die Gegenstände der Wirklichkeit, die eine Kamera, Augenblick für Augenblick, reproduziert (daher meine linguistische Definition der „Kineme“). Hier liegt der Punkt, an dem man die Beziehung erkennen kann, die zwischen meinem grammatikalischen Begriff des Kinos und meiner Philosophie, meiner Form zu leben besteht – oder was ich wenigstens dafür halte. Diese Philosophie scheint mir nichts anderes zu sein als eine verblendete, kindliche und pragmatische Liebe zur Wirklichkeit. Sie ist in dem Maße religiös, als sie gewissermaßen, durch Analogie, mit einer Art immensem Sexualfetischismus verschmilzt. Nichts anderes scheint die Welt für mich zu sein als ein Ensemble von Vätern und Müttern, denen gegenüber ich einen Impuls vollständiger Hingabe verspüre; diese besteht aus Respekt und Verehrung sowie aus dem Bedürfnis, diese Verehrung durch Entweihungen – auch durch gewaltsame und skandalöse – zu verletzen. (Na ja, das sind Dinge, die man in einem Interview sagt, in dieser außergewöhnlichen literarischen Gattung.)
Wenn ich mich durch die Sprache des Kinos ausdrücke – die, um es zu wiederholen, nichts anderes ist als das geschriebene Moment der Sprache der Wirklichkeit –, bleibe ich immer im Bereich der Wirklichkeit: ich unterbreche ihre Kontinuität nicht durch die Anwendung jenes symbolischen und willkürlichen Systems, das das System der Sprachzeichen ist – welches, um „die Wirklichkeit durch ihre Evokation zu reproduzieren“, sie notwendig unterbrechen muß.
Aprà wird sich jetzt von hier erheben, zur Tür gehen, hinausgehen, sich durch den Flur entfernen, die Treppen hinabsteigen, das Tor zur Straße öffnen, ins Auto steigen, starten, losfahren, um die Kirche Sankt Peter und Paul herumfahren, in eine Allee einbiegen, die ihn zum Tiber bringt…, kurz, er wird die Handlungen seines Lebens fortsetzen, die so lange andauern werden wie sein Leben. Aber es wird immer – wir wissen es jetzt – [220] ein virtuelles Auge geben, das ihm folgt: eine unsichtbare Kamera, und sie wird nicht eine seiner Handlungen verlieren, auch nicht die geringste, sondern sie ideell reproduzieren, das heißt kinematographisch schreiben. Wie unendlich und kontinuierlich die Wirklichkeit auch sei, immer kann eine ideelle Kamera sie reproduzieren, in ihrer Unendlichkeit und Kontinuität. Das Kino ist also, in einem ersten und archetypischen Begriff, eine kontinuierliche und unendliche Einstellungssequenz.
FRAGE: Aber dann hatten wir doch vielleicht recht. Was Sie bei Ihrer literarisch-kinematographischen Poetik leitet, nämlich Ihre sentimentale, religiöse und pragmatische Liebe zur Wirklichkeit, leitet sie auch bei Ihrer Linguistik und Grammatik des Kinos.
ANTWORT: Ja, an diesem Punkt akzeptiere ich, daß die verschiedenen Stränge meiner Einheit zusammenlaufen. Aber eben nur hier, auf dieser unteren Ebene.
Wirklich, meine Übersetzung dieser Idee des Kinos – die aus dem stammt, was ich bin – in grammatikalische Begriffe deckt und vermischt sich nicht mit meiner Übersetzung derselben Idee in expressive und poetische Begriffe (konkret gesagt, in meine Filme). Die Analogie beider betrifft tiefliegende Ebenen. Ich will versuchen, euch diese Analogie mit einfachen und etwas naiven Worten darzulegen.
Den Grund bildet jene – mehr als einmal schon ohne Scham beschriebene – Liebe, die ich für die Wirklichkeit hege. Wenn ich diese Liebe in linguistische Begriffe übersetze, gelange ich zu der Feststellung, daß das Kino eine Sprache ist, die sich niemals von der Wirklichkeit entfernt (sie ist ihre Reproduktion!) und deshalb eine unendliche Einstellungssequenz bildet (es besteht dabei dasselbe Verhältnis wie zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache). Diese Einstellungssequenz ist eine ununterbrochene Folge von Einstellungen (vom sitzenden Aprà gibt es eine lange, unbewegliche Einstellung, von Aprà, der sich erhebt und zur Tür geht, einen Panoramaschwenk, der jedoch seinerseits eine beschleunigte Folge von starren Einstellungen ist, etc.). Das Monem dieser geschriebenen Sprache der Wirklichkeit ist also die Einstellung (wie es in Termini technici heißt, die dazu bestimmt sind, die filmlinguistischen Termini zu verdoppeln): die Einstellung als Monem bildet die Einheit der ersten Gliederung. In Wirklichkeit ist aber eine Einstellung nichts anderes als eine Komposition von Gegenständen: somit nenne ich diese – in Analogie zu den Phonemen, aus denen sich das sprachliche Monem zusammensetzt – „Kineme“.
Das Bild, das mir vom Kino als Sprache vorschwebt, ist demnach ein „diffuses“ und „kontinuierliches“ Bild: eine Reproduktion der Wirklichkeit, ununterbrochen und fließend wie die Wirklichkeit. Hier also schließt meine Liebe zur Wirklichkeit abstrakt die ganze Wirklichkeit ein, von Anfang bis Ende, von Kopf bis Fuß: eine Liebeserklärung als Glaubensakt, unerschütterlich und prinzipiell.
[212] Kommen wir nun zur Poetik, zum Stil, zum konkreten Filmemachen. In meinen Filmen kommt die Einstellungssequenz praktisch nicht vor! Sie wird fast gänzlich ignoriert oder ist so kurz, daß sie nicht länger dauert als eine einzelne Handlung. Nie umfaßt sie eine Handlungsreihe. Liegt also hier ein Widerspruch zu meinem ersten und archetypischen Begriff des Kinos, nämlich zu jener ununterbrochenen Einstellungssequenz, die ich – als Reproduktion der Wirklichkeit in ihrem Dasein und ihrer Dauer – so sehr gepriesen habe?
Gewiß liegt da ein Widerspruch. Doch die Widersprüche, ihr wißt es, sind alle Schein.
Tatsächlich ist es dieselbe unbesonnene Liebe zur Wirklichkeit, die, übersetzt in linguistische Begriffe, mich das Kino als eine fließende Reproduktion der Wirklichkeit sehen läßt; während sie, übersetzt in expressive Begriffe, mich in Bann schlägt vor den verschiedenen Aspekten der Wirklichkeit (einem Gesicht, einer Landschaft, einer Geste oder einem Gegenstand), als wären sie fest und isoliert im Fließen der Zeit.
Kurz, das Kino als eine unendliche und kontinuierliche Einstellungssequenz zu konzipieren hat nichts Naturalistisches. Im Gegenteil! Konkret dagegen, in den einzelnen Filmen, ist die Einstellungssequenz ein naturalistisches Vorgehen (an sich selbst – natürlich nicht dann, wenn andere, entgegengesetzte Verfahren sie korrigieren). Deshalb also vermeide ich die Einstellungssequenz: sie ist naturalistisch und daher – natürlich. Meine fetischistische Liebe zu den „Dingen“ der Welt hindert mich daran, sie als natürliche zu betrachten. Sie weiht die Dinge entweder, oder sie entweiht sie mit Gewalt, eines nach dem anderen: sie verbindet sie nicht in einem maßvollen Fließen – dieses Fließen akzeptiert sie nicht –, sondern isoliert sie und betet sie an, mehr oder weniger inbrünstig, eines nach dem anderen.
In meinem Kino hat deshalb die Montage vollständig die Einstellungssequenz ersetzt. Die lineare Kontinuität und Unendlichkeit jener ideellen Einstellungssequenz, die das Kino als geschriebene Sprache des Handelns darstellt, wird durch den Eingriff der Montage zu einer „synthetischen“ linearen Kontinuität und Unendlichkeit.
Die Differenz zwischen Kino und Film, allen Filmen, besteht eben darin, daß das Kino die analytische Linearität einer unendlichen und kontinuierlichen Einstellungssequenz besitzt, während die Filme eine potentiell unendliche und kontinuierliche, jedoch synthetische Linerarität [sic] besitzen.
Es gibt Autoren, die aus einer gutmütigen und naturalistischen Liebe zu den Dingen der Welt in ihren Filmen die analytische Linearität zu reproduzieren suchen, weil sie angeblich der Dauer der Wirklichkeit am nächsten kommt. Andere Regisseure sind hingegen für eine Montage, die diese Linearität so weit wie möglich zu einer synthetischen macht. (Ich gehöre zur letztgenannten Kategorie.)
FRAGE: Das Cinéma-verité .. .?
[222] ANTWORT: Nur dem Schein nach nähert sich das Cinéma-verité stärker als die anderen Filmgattungen dem archetypischen Begriff von Kino als reine Reproduktion der Wirklichkeit. Das Cinéma-verité kann Filme liefern, die nicht mehr und nicht weniger synthetisch oder von Montage bestimmt sind als Oktober (jener unerfreuliche Film von Eisenstein). Soviel ich weiß, hat Marco Ferreri in einem Film, den Ponti dann zu einer Episode reduziert und dabei übel manipuliert hat – Einstellungssequenzen versucht, die die Dauer der ihnen entsprechenden wirklichen Handlungen haben sollten. Aber all das hat sich in Expressionismus aufgelöst! In eine fast quälende stilistische Zuspitzung. Offenbar ist der Naturalismus etwas, was einem im Blut liegt und sich mit einer resignierten, gutmütigen oder crepuscolaristischen2 Ideologie des „Akzeptierens“ mischt. Ferreris Blut enthält diese Mischung offensichtlich nicht. Also reproduziert er aus Sadismus die Wirklichkeit in ihrer jeweiligen realen Dauer, das heißt: die reale Dauer einer Handlung zeigt, in der Reproduktion, ihre ganze Zufälligkeit, die Zufälligkeit der Zeit, die vergeht, die irreale Zeit, in der das Organische sich verbraucht und verfällt, die Zeit, an die wir gewöhnt sind: und doch, wenn diese Zeit materiell, aber nicht naturalistisch reproduziert wird, zeigt sie sich in all ihrem elenden und fürchterlichen Schrecken. Auch der Naturalismus ist ein Trick und eine Manipulation. Sein Meister ist De Sica, in seinen schönen wie in seinen mittelmäßigen Filmen…
FRAGE: Ihre Idee der „Semiologie der Wirklichkeit“ geht uns noch immer im Kopf herum; können sie [sic] uns etwas Genaueres darüber sagen?
ANTWORT: Aha, aha (lacht). Nun gut, ja. Das Buch, in dem ich meine Aufsätze übers Kino sammeln werde (sehr widersprüchliche übrigens, denn jeder repräsentiert einen bestimmten Augenblick meines Denkens, der vom nächsten überholt wird), soll vielleicht den Titel haben „Das Kino als Semiologie der Wirklichkeit“. Es ist mir im Grunde ergangen wie jemandem, der das Funktionieren des Spiegels untersuchen will. Er stellt sich vor diesen hin, beobachtet und prüft ihn, macht sich Aufzeichnungen: und was sieht er am Ende? Sich selbst. Das Studium des Spiegels bringt ihn unvermeidlich zum Studium seiner selbst zurück.
Ebenso ergeht es dem, der das Kino studiert; da das Kino die Wirklichkeit reproduziert, führt es am Ende aufs Studium der Wirklichkeit zurück. Aber in einer neuen und besonderen Form: so, als wäre die Wirklichkeit durch ihre Reproduktion erst entdeckt worden und als wären in dieser neuen, „reflektierten“ Situation bestimmte Ausdrucksmechanismen an ihr erst hervorgetreten.
Denn durch die Reproduktion der Wirklichkeit hebt das Kino ihre Expressivität hervor, die uns womöglich entgangen wäre. Also macht es aus ihr eine natürliche Semiologie.
Davon bin ich ausgegangen.
Nehmen wir nun noch einmal Aprà.
[223] Aprà ist eine Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit ist eine Sprache.
Aprà spricht also auch außerhalb seiner geschrieben-gesprochenen Sprache (des Italienisch eines Mannes vom Film).
Ich erhalte von Aprà Informationen, die direkt von der Wirklichkeit Aprà kommen. Da ist zuerst die Sprache seiner physischen Gegenwart oder die Physiognomie.
Von ihr erhalte ich Informationen psychologischen oder psychophysischen Charakters.
Dann gibt es die Sprache seines Verhaltens – wie er dasitzt, wie er sich kleidet etc.
Von ihr erhalte ich Informationen gesellschaftlicher Art.
Schließlich gibt es die Sprache seiner Sprache. Von ihr erhalte ich Informationen kultureller Art.
Ist das Ganze eine nun metonymische oder syntagmatische Sprache?
Und wären die „Phänomene“ dann die großen syntagmatischen Einheiten der Sprache der Wirklichkeit? Aber an diesem Punkt wollen wir‘s gut sein lassen – auf Wiedersehn in Pesaro 1967!
FRAGE: Schön. Sagen Sie uns bitte wenigstens, welche neuen Anregungen Sie in den letzten Aufsätzen von Christian Metz (in Nr. 185 der Cahiers du cinéma) und von Barthes (das in derselben Zeitschrift publizierte Interview*) gefunden haben und wo Sie nach der Lektüre glauben, Ihre Ansichten korrigieren zu müssen.
ANTWORT: Metz kritisiert in seinem Aufsatz einige Aspekte meines Begriffs „Kino der Poesie“ und erklärt, das „Kino der Poesie“ habe es bereits an den Anfängen der Geschichte des Kinos gegeben. Ich habe aber, zuerst einmal, nicht vom „Kino der Poesie“ als der Hauptform des modernen Kinos gesprochen. Mein Begriff war ein abstrakter, einer, der für alle Zeiten gilt (wie die „Sprache der Poesie“ ein Ausdruck ist, der für das alte Griechenland, das 18. Jahrhundert und für uns gilt). Zweitens habe ich selbst gesagt, daß das Kino in seinen Anfängen ein Kino der Poesie gewesen ist. Dies war es aus zwei Gründen: 1. weil eine industrielle Organisation des Kinos, die eine konventionelle „Erzählform“ verlangt hätte, noch nicht entstanden war oder noch in den Kinderschuhen steckte; 2. wegen der technischen Beschränktheit des Stummfilms. Die dann eintretende Industrialisierung des Kinos und der Tonfilm haben aus dem Kino wesentlich eine „Sprache der erzählenden Prosa“ gemacht (ich enthalte mich hier aller Wertungen). Heute entsteht das „Kino der Poesie“ neu: ein Zeichen dafür, daß die Industrie einen „zweiten Verteilungskanal“ für ein besonderes [224] Publikum finden kann; und dafür, daß eine erzwungene sprachliche Einheit zerbrochen ist und die kinematographische Sprache sich zu artikulieren beginnt. Es entstehen daher neue prosodische „Einschränkungen“ und neue metrische Freiheiten, um die verschiedenen Typen von Kino zu differenzieren.
FRAGE: Und zu Barthes?
ANTWORT: Sein Interview scheint mir außerordentlich wichtig. Ich würde mich gern länger und auch außerhalb der strikt kinematographischen Probleme mit ihm befassen (das habe ich in einem Artikel getan, Das Ende der Avantgarde, der demnächst in Nr. 3-4 der Nuovi Argomenti erscheinen wird*).
Hier will ich mich auf folgende Feststellung beschränken: es ist nichts dagegen einzuwenden, von Jakobson zwei prosodische oder rhetorische Begriffe zu linguistischen Zwecken zu übernehmen: Metapher und Metonymie. (Im übrigen bin ich, obwohl Metz mich dafür tadelt, in der gleichen Weise verfahren, als ich von Stilemen gesprochen habe, die zu Syntagmen werden; denn die verschiedenen kinematographischen „paroles“ sind alle unter dem Zeichen der Prosodie und Rhetorik entstanden, und es gibt keine kinematographischen „paroles“ außerhalb der erzählenden Filme – die dokumentarischen ausgenommen, die jedoch stets prosodischen Regeln gehorchen.)
Ohne Zweifel ist das Kino – nach Barthes‘ richtiger, ja schlagender Einsicht eine metonymische Kunst. Und dies mit Grund: die Natur seiner Sprache ist nicht zeichenhaft, sondern bildlich; die Stilisierung, die zur Schrift als Alphabet führt, ist keine Stilisierung von Zeichen, sondern von Syntagmen, das heißt Montage.
Aber damit definiert Barthes das Kino, insoweit es „Kunst“, „Kunstwerk“ und, im vorliegenden Fall, „erzählende Kunst“ ist (im Kino, sagt er, „geschieht immer etwas, gibt es immer eine Geschichte“). Ich weiß nicht, ob man diese Definition auf das ganze Kino – auf das Kino als Sprache und nicht bloß als Sprache der Kunst – ausdehnen kann.
Wenn ich diese geniale Einsicht von Barthes in meine (so grob hier nur angedeutete) Theorie einbringen wollte, würde ich sagen: Nicht das Kino ist eine metonymische Kunst, sondern die Wirklichkeit ist metonymisch.
Es sind die „Phänomene“ der Welt, die die natürlichen „Syntagmen“ der Sprache der Wirklichkeit bilden. Indem das Kino „diese Phänomene reproduziert“ das heißt, indem es als geschriebene Sprache der lebendigen Sprache der Wirklichkeit auftritt – ist es seinerseits metonymisch. Sein metonymischer Charakter besteht am Ende nur in der „Linearität“, mit der die Wirklichkeit zu uns spricht. Kurz, die Einstellungen eines Films sind [225] nicht austauschbar wie die Blätter eines Almanachs; denn die Gegenstände der Wirklichkeit sind nicht austauschbar: die Folge der Einstellungen gibt sie in der Folge wieder, in der sie sich uns auf natürliche Weise darstellen.
Ich kann einzelne Einstellungen nicht austauschen oder wegnehmen; Syntagmen jedoch (Sequenzen) kann ich austauschen oder wegnehmen: denn die konventionelle Form und daher auch die Freiheit des Kinos liegen in der Montage, nicht in den einzelnen Einstellungen. Die Montage ist der Ort der Stilisierung.
Die Einstellungssequenz des ideellen Kinos, die die Wirklichkeit in ihrer ununterbrochenen und unendlichen Materialität virtuell „schreibt“, ist, wie gesagt, linear; die Montage bewahrt nun zwar diese Linearität, reduziert sie aber auf Segmente: synthetisiert sie.
Zusammenfassend gesagt: heute gibt es viele Autoren, die alles daran setzen, daß auch im Kino „nichts geschieht“; sie schließen sich dem „Nouveau Roman“ und gewissen Avantgarden an, die vom „Antiroman“ oder „Roman ohne Roman“ etc. sprechen. (Daran glaube ich nicht; denn jede Form von Kunst oder von Sprache der Kunst tut nichts anderes, als die Wirklichkeit zu beschwören, und in der Wirklichkeit geschieht immer etwas, weil die Zeit vergeht oder wenigstens zu vergehen scheint: darin liegt die Illusion unseres Lebens.) Gut, nehmen wir als Hypothese einmal an, es gäbe einen Film, in dem „nichts geschieht“ oder der zumindest so wenig wie möglich erzählend ist (was noch am ehesten denkbar wäre) – einen Film, der, mit einem Wort, in der Sprache der Poesie geschrieben, der im höchsten Grade „Kino der Poesie“ ist. Würde gegenüber diesem Produkt aus der Retorte Barthes‘ Definition des Kinos als metonymischer Kunst immer noch gelten? Ein Film der Poesie könnte es sehr wohl darauf absehen, die Einstellungen auszutauschen (eine Reihe von Einstellungen, die in einer lyrischen und nicht erzählenden Folge nebeneinandergesetzt sind; oder eine Reihe von symbolischen Einstellungen, deren jede in sich abgeschlossen ist, etc.).
Die Definition von Barthes ist glänzend; sie dient aber dazu, ein „Kino der erzählenden Prosa“ zu definieren – als wäre dieses das ganze Kino und als gäbe es keine „kinematographische Sprache“, als gäbe es vielmehr nur jene einzige Sprache der Kunst, die in einem Ensemble von einzelnen Filmen besteht.
FRAGE: Könnten Sie die Erläuterungen zur [sic] Ihren Essays „Das Kino der Poesie“ und „Die geschriebene Sprache der Handlung“ mit ein paar abschließenden Überlegungen zusammenfassen?
ANTWORT: Ein etwas mechanischer Schluß, ein Erkennungszeichen. Als geschriebene Sprache der Wirklichkeit hat das Kino wahrscheinlich – das wird sich in den kommenden Jahren noch deutlicher zeigen – die gleiche revolutionäre Bedeutung, die die Erfindung der Schrift gehabt hat. Diese hat dem Menschen vor allem „enthüllt“, was seine mündliche Sprache ist. [226] Sicher ist das der erste Sprung nach vorn gewesen, den das menschliche Bewußtsein in der neuen, aus der Erfindung des Alphabets hervorgegangenen kulturellen Dimension vollzogen hat: Gewinn des Bewußtseins der mündlichen Sprache oder überhaupt des Bewußtseins der Sprache.
Der zweite revolutionäre Augenblick war jener, den Benvenuto Terracini – gegen Saussure polemisierend – in seinem Buch „Konflikte der Sprache und der Kultur“ beschreibt: ein Reifen des Denkens, das sich in der mündlichen Sprache als „natürlich“ dargestellt hatte, in der schriftlichen jedoch sich nicht anders als „bewußt“ darstellen kann. Und schließlich hat die geschriebene Sprache die „Linearität“ der Sprache (die im bloß Gesprochenen durch die Intonation und die Mimik gemildert wird) enthüllt und hervorgehoben.
So revolutionär, wie die geschriebene Sprache mit der gesprochenen verfahren ist, wird das Kino mit der Wirklichkeit verfahren.
Solange die Sprache der Wirklichkeit eine natürliche war, lag sie außerhalb unseres Bewußtseins; nun, da wir sie durchs Kino als „geschriebene“ vor Augen haben, fordert sie notwendig ein Bewußtsein. Die geschriebene Sprache der Wirklichkeit bewirkt vor allem, daß wir erkennen, was die Sprache der Wirklichkeit ist; und schließlich, daß wir unser Denken über die Wirklichkeit verändern, denn sie macht aus unseren physischen Beziehungen zur Wirklichkeit – von anderen zu schweigen – kulturelle Beziehungen.
Für Barthes, der den Begriff des „Schreibens“ so sehr erweitert hat, müßte meine Idee des Kinos als „Schrift“ ungemein verlockend sein; ich weiß es nicht. Barthes stellt beispielsweise der „verzehrenden Bewegung“ der mündlichen Sprache die „Linearität“ der Schrift gegenüber; kann man im gleichen Sinn nun der Wirklichkeit die Schrift der Wirklichkeit gegenüberstellen? So daß das Kino in einer linearen Konzentration zu uns spräche, die Wirklichkeit aber in einer „verzehrenden Bewegung“, etc.? Und weiter: in der Wirklichkeit gibt es nicht den Baum; es gibt den Birnbaum, den Apfelbaum, den Holunder, den Kaktus, aber den Baum gibt es nicht. So wird das Kino keinen Baum „reproduzieren“ (schreiben) können; es wird einen Birnbaum, einen Apfelbaum, einen Holunderstrauch und einen Kaktus reproduzieren, aber keinen Baum. Genau wie in den primitiven Sprachen mit Keilschrift. Hat also die Sprache des Kinos dieses Produkt einer Technik, die zur Bestimmung einer Menschheitsepoche geworden ist – gerade als Technik vielleicht einige Berührungspunkte mit dem Konkretismus des primitiven Bewußtseins?
Verliert also die Schrift mit dem Kino wieder ihre „zeichenhafte Natur“ und gewinnt die archaische „bildliche Natur“ zurück? Wie verhält sich der auf physischen Notwendigkeiten beruhende Konkretismus des Höhlenmenschen zu dem auf technisch-produktiven Notwendigkeiten beruhenden Konkretismus des heutigen Menschen? Gewinnt das Zeichen durchs Kino – [227] als Bildzeichen, also durch die physische Gewalt seiner Reproduktion der Wirklichkeit – seine archaische Kraft der eidetischen Suggestion zurück? …
Um wieder von mir zu sprechen: bezeugt der Übergang vom literarischen Schreiben zum Kino äußerste Modernität oder Regression? Ich habe gesagt, daß ich Kino mache, um in Einklang mit meiner Philosophie zu leben: um der Lust zu folgen, physisch stets auf einer Ebene mit der Wirklichkeit zu leben, ohne die magisch-symbolische Unterbrechung des Systems der sprachlichen Zeichen. Aber welche entsetzlichen Sünden zieht eine solche Philosophie nach sich? Ich habe diese Philosophie unter den Namen von „Handlung“, „Irrationalismus“, „Pragmatismus“ und „Religion“ vorgestellt: alles Begriffe, die, wie ich weiß, die negativsten und gefährlichsten Züge meiner Kultur benennen. In denen sogar gelegentlich so etwas wie Faschismus zu erkennen ist!! Werde ich mich im Tal Josaphat3 dafür verantworten müssen, daß mein Gewissen zu schwach war, um den Verlockungen der Technik und des Mythos, die auf dasselbe hinauslaufen, zu widerstehen?
2 [283] Vgl. zu diesem Ausdruck Anm. 1 zu S. 199 [282] : Mit dem Ausdruck crepuscolarismo hat 1910 der Kritiker A. Borgese der italienischen Dichtung vorausgesagt, daß sie „in einer milden und sehr langen Dämmerung (crepuscolo), auf die vielleicht keine Nacht folgen wird, erlischt“. Zur Gruppe der crepuscolari fanden sich am Anfang des Jahrhunderts Dichter zusammen, die, in einer Absage an die „großen“ Formen und Ideale der Poetik D'Annunzios, sich auf die bescheidene Würde und moralische Integrität des Privaten zurückwandten. An die Stelle der erhabenen Gegenstände, der emphatischen Sprache und des vag überhöhenden Tons setzten sie bedeutungslose, alltägliche Inhalte, eine prosaische und ironische Sprache und die Unruhe einer sehnsüchtigen Trauer.
* [223] Vgl. oben S. 172.
* [224] In diesem Band S. 153 ff.
3 [283] Auf den Propheten Joel (4, 2) zurückgehender symbolischer Name des Ortes des Weltgerichts.
Pier Paolo Pasolini: Einfälle zum Kino, 1966