Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Das Auge und der Geist, 1964

Maurice Merleau-Ponty

Quelle

Maurice Merleau-Ponty: "Das Auge und der Geist", in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hrsg. und übers. von Hans Werner Arndt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967, S. 13-43. ISBN 3-7873-0592-0.

Erstausgabe

L'Œil et L'Ésprit. Paris: Gallimard 1964 [1960].

Genre

Essay

Medium

Malerei

[13] „Was ich ihnen wiederzugeben versuche, ist unbegreiflicher; es ist mit den Wurzeln des Seins selbst verflochten, an der ungreifbaren Quelle der Empfindungen.“

J. Gasquet, Cézanne

Die Wissenschaft geht mit den Dingen um, ohne sich auf sie einzulassen. Sie macht sich eigene Modelle von ihnen, nimmt nach diesen Indizes oder Variablen die durch ihre Definition ermöglichten Umformungen vor und dringt dabei nur hin und wieder zur wirklichen Welt durch. Sie ist und war stets ein erstaunlich aktives, einfallsreiches und unbefangenes Denken, eine Entschlossenheit, jedes Seiende „als Objekt schlechthin“ zu behandeln, das heißt, gleichzeitig so, als wenn es für uns nichts bedeutete und dennoch für unsere Manipulationen prädestiniert wäre.

Aber die klassische Wissenschaft hatte noch ein Gefühl für die Undurchdringlichkeit der Welt, der sie durch ihre Konstruktionen gerecht zu werden suchte. Deshalb glaubte sie, eine transzendente oder transzendentale Grundlegung für ihre Operationen finden zu müssen. Heute dagegen haben wir es – nicht in der Wissenschaft, aber in einer ziemlich verbreiteten Wissenschaftstheorie – mit der ganz neuen Erscheinung zu tun, daß die konstruktive Praktik sich als autonom ansieht und daß das Denken sich bewußt auf die Gesamtheit der Aneignungstechniken, die es erfindet, reduziert. Denken heißt jetzt, Versuche machen, Operieren und Transformieren unter dem alleinigen Vorbehalt einer experimentellen Kontrolle, bei der nur stark „bearbeitete“ Phänomene auftreten, die von unseren Apparaten mehr hervorgebracht als bloß registriert werden. Daher werden alle möglichen Versuche kurzerhand von einem Forschungsgebiet auf ein anderes übertragen. Niemals ist die Wissenschaft so empfänglich für die geistigen Moden gewesen wie heute. Hat ein Modell in einem bestimmten Problembereich Erfolg gehabt, so wendet man es überall an. Die Embryologie, die Biologie arbeiten heute mit Gradienten, bei denen man nicht recht weiß, wie sie sich von dem unterscheiden, was die klassischen Wissenschaften Ordnung oder Totalität nannten.

Aber diese Frage wird nicht gestellt und darf nicht gestellt werden. Ein solcher Gradient ist ein Netz, das man ins Meer wirft, ohne recht zu wissen, was es einbringen wird. Man könnte auch sagen, er ist ein dürrer Zweig, auf dem sich unvorhersehbare Kristallisationen bilden. Diese Handlungsfreiheit vermag sicher manches nutzlose Dilemma zu überwinden, vorausgesetzt, daß man sich von Zeit zu Zeit Rechenschaft ablegt, daß man sich fragt, warum ein Werkzeug hier funktioniert und dort versagt, kurz, daß diese hin und her flatternde Wissenschaft sich [14] selbst versteht, daß sie sich sieht als eine Konstruktion auf einer unbearbeiteten oder bloß seienden Welt und daß sie für blinde Operationen nicht den konstituierenden Wert beansprucht, der in der idealistischen Philosophie den „Naturbegriffen“ zukam. Sagt man auf Grund einer Nominaldefinition: Die Welt ist der Gegenstand X unserer Operationen, so setzt man die Erkenntnissituation des Wissenschaftlers absolut, als wäre alles, was war und ist, nur für das Labor bestimmt. Das „operative“ Denken wird zu einer Art absoluter Konstruktionssucht, wie man es in der kybernetischen Ideologie sieht, wo die menschlichen Schöpfungen aus einem natürlichen Informationsprozeß abgeleitet werden, der jedoch selbst nach dem Modell menschlicher Maschinen konzipiert wird. Wenn eine solche Denkweise sich mit dem Menschen und der Geschichte befaßt und wenn sie, hinwegsehend über das, was wir durch direkten Kontakt und unsere eigene Lage davon wissen, sich anschickt, sie auf Grund einiger abstrakter Indizes zu konstruieren, wie es in den Vereinigten Staaten eine dekadente Psychoanalyse und Kulturanthropologie unternommen haben, gerät man, weil der Mensch dann tatsächlich zu dem manipulandum wird, das er zu sein glaubt, in ein Kultursystem, wo es kein Richtig und Falsch mehr für den Menschen und die Geschichte gibt, in einen Schlaf oder Albtraum, aus dem nichts ihn zu wecken vermag.

Das wissenschaftliche Denken – ein Überblicksdenken, ein Denken des Gegenstandes in seiner Allgemeinheit – muß sich in ein vorausgehendes „Es gibt“ zurückversetzen, in die Landschaft, auf den Boden der sinnfälligen Welt und der bearbeiteten Welt, wie sie in unserem Leben, für unseren Körper vorhanden sind, nicht für jenen möglichen Körper, den man, wenn man will, als eine Informationsmaschine betrachten kann, sondern für diesen tatsächlichen Körper, den ich den meinen nenne, diesen Wachtposten, der schweigend hinter meinen Worten und meinen Handlungen steht. Mit meinem eigenen Körper müssen die assoziierten Körper, die „anderen“ erwachen, nicht als meine Gattungsgenossen, wie die Zoologie sagt, sondern als diejenigen, die mir im Umgang vertraut sind, mit denen zusammen ich im vertrauten Umgang zu einem einzigen, gegenwärtigen Sein stehe, wie niemals ein Tier zu denjenigen seiner Art, seines Lebensraumes oder seiner Umwelt gestanden hat. In dieser ursprünglichen Geschichtlichkeit wird das unbeschwerte und improvisierende Denken der Wissenschaft lernen, sich den Dingen als solchen und sich selbst zuzuwenden, es wird wieder Philosophie werden…

Die Kunst und namentlich die Malerei schöpfen aus jener Schicht unverarbeiteter Sinneserfahrung, von der das aktivistische Denken nichts wissen will. Sie sind sogar die einzigen, die dies in aller Unschuld tun. Den Schriftsteller, den Philosophen befragt man um seinen Rat oder seine Meinung, man läßt nicht zu, daß sie die Welt in der Schwebe halten, man will, daß sie Stellung nehmen, sie können sich der Verantwor[15]tung sprechender Menschen nicht entziehen. Die Musik dagegen ist zu sehr diesseits der Welt und des Bezeichenbaren, um etwas anderes darzustellen als Aufrisse des Seins, sein Aufwallen und Verebben, sein Wachsen, seine Ausbrüche, seine Strudel. Nur der Maler hat das Recht, seinen Blick auf alle Dinge zu werfen, ohne zu ihrer Beurteilung verpflichtet zu sein. Vor ihm, könnte man sagen, verlieren die Ordnungsbegriffe der Erkenntnis und der Aktion ihre Tugend. Die Regime, die sich gegen eine „entartete“ Malerei ereifern, zerstören die Bilder selten, sie verstecken sie, und darin liegt ein „man kann nie wissen“, das fast eine Anerkennung ist. Selten macht man dem Maler den Vorwurf der Flucht. Man ist Cézanne nicht böse, daß er während des siebziger Krieges in Estaque untergetaucht ist, jeder zitiert respektvoll sein „Das Leben ist entsetzlich“, während der kleinste Student seit Nietzsche der Philosophie rundheraus abschwören würde, wenn es hieße, wir könnten mit ihrer Hilfe nicht lernen, das Leben zu meistern. Als wenn in der Betätigung des Malers eine Dringlichkeit läge, die jede andere Dringlichkeit überböte. Da ist er, lebenstüchtig oder nicht, aber unbestreitbar souverän in seiner immer neuen Wiedergabe der Welt, ohne eine andere „Technik“ als die, welche seine Augen und Hände durch vieles Sehen, durch vieles Malen erworben haben, leidenschaftlich darum bemüht, dieser Welt, in der Skandal und Ruhm der Geschichte widerhallen, Gemälde abzugewinnen, die den Ärgernissen und den Hoffnungen der Menschen kaum etwas hinzufügen werden – und niemand regt sich darüber auf. Was ist also dieses Geheimwissen, über das er verfügt oder das er sucht? Diese Dimension, nach der van Gogh „weitergehen“ will? Jener Grundbestandteil der Malerei und vielleicht der Kultur überhaupt?

II

Der Maler „bringt seinen Körper ein“, sagt Valéry. Und in der Tat kann man sich nicht vorstellen, wie ein reiner Geist malen könnte. Indem der Maler der Welt seinen Körper leiht, verwandelt er die Welt in Malerei. Um jene Verwandlungen zu verstehen, muß man den wirkenden und gegenwärtigen Körper wiederfinden, ihn, der nicht ein Stück Raum, ein Bündel von Funktionen ist, sondern eine Wahrnehmung und Bewegung Verbindendes. Ich brauche nur etwas zu sehen, um zu wissen, wie ich es erreichen kann, selbst wenn ich nicht weiß, wie das im Nervensystem vor sich geht. Mein beweglicher Körper hat seine Stelle in der sichtbaren Welt, ist ein Teil von ihr, und deshalb kann ich ihn auf das Sichtbare hin richten. Umgekehrt jedoch hängt auch das Sehen von der Bewegung ab. Man sieht nur, was man betrachtet. Was wäre das Sehen ohne jede Bewegung der Augen? Und deren Bewegung könnte [16] die Dinge nicht anders als verworren wiedergeben, wenn sie selbst reflektorisch oder blind wäre, über keine Fühler verfügte, keine Scharfsichtigkeit besäße und das Sehen nicht in ihr sich selbst vorausginge. Alle meine Ortsveränderungen sind im Prinzip auf eine Stelle meiner räumlichen Umgebung beziehbar, sind auf der Karte des Sichtbaren aufgetragen. Alles, was ich sehe, ist prinzipiell in meiner Reichweite, zumindest in Reichweite meines Blickes, vermerkt auf der Karte des „ich kann“. Jede der beiden Karten ist vollständig. Die sichtbare Welt und die meiner motorischen Absichten sind erschöpfende Teile desselben Seins.

Dieses erstaunliche Ineinandergreifen von Sehen und Bewegung, an das man nicht genug denkt, verbietet es, das Sehen als Denkoperation aufzufassen, die vor dem Geist ein Bild oder eine Darstellung der Welt aufbauen würde, einer Welt der Immanenz und der Ideen. Durch seinen Körper, der selbst sichtbar ist, in das Sichtbare eingetaucht, eignet sich der Sehende das, was er sieht, nicht an: Er nähert sich ihm lediglich durch den Blick, er öffnet sich auf die Welt hin. Und auf der anderen Seite ist diese Welt, von der er ein Teil ist, nicht an sich oder Materie. Meine Bewegung ist kein geistiger Entschluß, kein absolutes Tun, das aus der subjektiven Zurückgezogenheit heraus irgendeine Ortsveränderung dekretierte, die sich auf wunderliche Weise in der Ausdehnung vollzöge. Sie ist die natürliche Folge und das Zur-Reife-gelangen eines Sehens. Von einem Ding sage ich, daß es bewegt wird, aber mein Körper bewegt sich, meine Bewegung entfaltet sich. Sie ist über sich nicht im Ungewissen, ist sich gegenüber nicht blind, sie strahlt aus einem „Sich“ heraus...

Das Rätsel liegt darin, daß mein Körper zugleich sehend und sichtbar ist. Er, der alle Dinge betrachtet, kann sich zugleich auch selber betrachten und in dem, was er gerade sieht, „die andere Seite“ seines Sehvermögens erkennen. Er sieht sich sehend, er betastet sich tastend, er ist für sich selbst sichtbar und spürbar. Es ist ein „Sich“, nicht durch Transparenz wie das Denken, das, was es auch immer denkt, sich selbst assimiliert, indem es es als Denken konstituiert, in Denken verwandelt, sondern ein „Sich“ durch ein Einswerden, durch eine narzißtische Verbundenheit dessen, der sieht, mit dem, was er sieht, dessen, der berührt, mit dem, was er berührt, des Empfindenden mit dem Empfundenen – ein „Sich“ also, das den Dingen verhaftet ist, das eine Vorder- und eine Rückseite, eine Vergangenheit und eine Zukunft hat…

Aus diesem ersten Paradox ergeben sich immerfort neue. Sichtbar und beweglich zählt mein Körper zu den Dingen, ist eines von ihnen, er ist dem Gewebe der Welt verhaftet, und sein Zusammenhalt ist der eines Dinges. Da er aber sieht und sich bewegt, hält er die Dinge in seinem Umkreis, sie bilden einen Anhang oder eine Verlängerung seiner selbst, sind seine Kruste und bilden einen Teil seiner vollen Definition, wie auch die Welt aus eben dem Stoff des Körpers gemacht ist. Diese Ver[17]kehrungen und Antinomien sind verschiedene Arten, zu sagen, daß das Sehen mitten aus den Dingen heraus geschieht, da, wo ein Sichtbares sich anschickt zu sehen, zum Sichtbaren für sich selbst durch das Sehen aller Dinge wird und die ursprüngliche Einheit des Empfindenden mit dem Empfundenen besteht wie die des Wassers im Eiskristall.

Jenes „Innensein“ wird durch die physische Beschaffenheit des menschlichen Körpers nicht vorausgesetzt, folgt aber ebensowenig aus ihr. Wenn unsere Augen so beschaffen wären, daß unser Blick keinen Teil unseres Körpers träfe, oder wenn irgendeine bösartige Vorrichtung uns zwar erlaubte, unsere Hände über die Dinge gleiten zu lassen, uns aber daran hinderte, unseren Körper zu berühren – oder wenn wir einfach wie bestimmte Tiere seitlich gerichtete Augen hätten, so daß sich die beiden Sehfelder nicht überschnitten –, dann wäre dieser Körper, der sich nicht reflektierte, sich nicht fühlte, dieser fast diamantene Körper, der ganz und gar nicht Leib wäre, auch kein Menschenkörper und es gäbe kein Menschsein. Aber das Menschsein kommt nicht zustande wie eine Wirkung durch unsere Gelenke, durch die Stellung unserer Augen (und noch weniger durch das Vorhandensein von Spiegeln, die immerhin allein uns unseren gesamten Körper sichtbar machen). Diese und ähnliche zufällige Umstände, ohne die es keinen Menschen gäbe, bewirken durch bloße Summierung nicht, daß es auch nur einen einzigen Menschen gibt. Das Belebtsein des Körpers ist nicht das Aneinandergefügtsein seiner Teile – und übrigens ebensowenig das Herabsteigen eines von woanders herkommenden Geistes in einen Automaten, was immer noch implizieren würde, daß der Körper ohne ein Innen und ohne ein „Sich“ wäre. Ein menschlicher Körper ist vorhanden, wenn es zwischen Sehendem und Sichtbarem, zwischen Berührendem und Berührtem, zwischen einem Auge und dem anderen, zwischen einer Hand und der anderen zu einer Art Begegnung kommt, wenn der Funke des Empfindend-Empfundenen sich entzündet, wenn jenes Feuer um sich greift, das unaufhörlich brennen wird, bis irgendein Zwischenfall dem Körper zustößt und zunichte macht, was kein Zwischenfall hätte zustande bringen können…

Zugleich mit diesem sonderbaren System wechselseitiger Bezüge sind nun schon auch alle Probleme der Malerei angesprochen. Sie illustrieren das Rätsel des Körpers, und dieses Rätsel rechtfertigt sie. Denn weil die Dinge und mein Körper aus dem gleichen Stoff gemacht sind, muß sich sein Sehen auf irgendeine Art in ihnen vollziehen, muß sich ihr offenkundiges Sichtbarwerden in ihm mit einer geheimen Sichtbarkeit koppeln: „Die Natur ist innen“, sagt Cézanne. Qualität, Licht, Farbe, Tiefe, die sich dort vor uns befinden, sind dort nur, weil sie in unserem Körper ein Echo anklingen lassen, weil er sie empfängt. Jenes innere Äquivalent, jene leibliche Form ihrer Gegenwart, die die Dinge in mir erwecken, warum sollten sie nicht eine wiederum sichtbare Skizze hervorrufen, in der jeder andere Blick die Motive wiederfinden würde, die seiner [18] Sicht der Welt unterliegen? Dann erscheint ein Sichtbares in der zweiten Potenz, leibliches Wesen oder Abbild des ersten. Es ist dies kein schwächeres Double, kein Trugbild, kein anderes Ding. Die auf die Felswand von Lascaux gemalten Tiere sind nicht in der Weise dort wie die Risse und Wölbungen des Kalksteins, sie sind aber ebensowenig anderswo. Ein wenig davor oder dahinter, von seiner Masse getragen, derer sie sich geschickt bedienen, strahlen sie von ihr aus, ohne jemals ihr ungreifbares Anhaften zu verlieren. Es würde mir wahrlich Mühe machen, zu sagen, wo sich das Bild befindet, das ich betrachte. Denn ich betrachte es nicht, wie man ein Ding betrachtet, ich fixiere es nicht an seinem Ort, mein Blick ergeht sich in ihm wie im Heiligenscheine des Seins, ich sehe eher dem Bilde gemäß oder mit ihm, als daß ich es sehe.

Das Wort „Bild“ hat einen schlechten Ruf, weil man gedankenlos geglaubt hat, daß eine Zeichnung ein Abdruck, eine Kopie, ein zweites Ding sei, und das geistige Bild eine Zeichnung dieser Art in unserer privaten geistigen Rumpelkammer. Wenn nun aber das Bild nichts dergleichen ist, so gehören Zeichnung und Gemälde ebensowenig wie das Bild dem Ansich an. Sie sind das Innen des Außen und das Außen des Innen, das die Doppelnatur des Empfindens möglich macht, ohne die man niemals die Quasi-Gegenwart und die imminente Sichtbarkeit verstehen könnte, die das ganze Problem des Imaginären ausmachen. Das Gemälde, die Mimik des Komödianten sind keine Hilfsmittel, die ich der wirklichen Welt entlehnte, um mittels ihrer prosaische Dinge in ihrer Abwesenheit ins Auge zu fassen. Das Imaginäre ist viel näher am Aktuellen und gleichzeitig viel weiter von ihm entfernt. Viel näher, weil es das Diagramm seines Lebens in meinem Körper ist, sein Mark oder seine innere Kehrseite, die erstmalig den Blicken ausgesetzt wird, und weil in diesem Sinne gilt, was Giacometti1 nachdrücklich zum Ausdruck bringt: „Was mich an jeder Malerei interessiert, ist die Ähnlichkeit, das heißt das, was für mich die Ähnlichkeit ist, was mich ein wenig die äußere Welt entdecken läßt.“ Viel weiter, weil das Gemälde nur nach Maßgabe des Körpers ein Analogon ist, weil es dem Geist keine Gelegenheit bietet, die konstitutiven Beziehungen der Dinge nachzuvollziehen, sondern dem Blick die Konturen einer Innenschau darbietet, damit er sich mit ihnen vermähle und dem Sehen zu erkennen gibt, womit es innen ausgestattet ist, das imaginäre Gewebe des Wirklichen.

Können wir also sagen, daß es einen inneren Blick gibt, ein drittes Auge, das die Gemälde und sogar die geistigen Bilder sieht, wie man von einem dritten Ohr gesprochen hat, das die von außen her kommenden Botschaften in dem Geräusch erfaßt, das sie in uns ertönen lassen? Wozu jedoch, wenn es nur darum geht, zu verstehen, daß unsere physischen Augen schon mehr sind als nur Empfänger für Lichter, Farben und Konturen: nämlich „Computers“ der Welt, die die Gabe des Sicht[19]baren haben, wie man von einem inspirierten Menschen sagt, er habe die Gabe der Sprache. Sicher wird diese Gabe erst durch Übung erlangt, und ein Maler erwirbt seine Sehweise nicht in wenigen Monaten und auch nicht in der Abgeschiedenheit. Doch das steht nicht zur Debatte: früh oder spät auftretend, spontan oder im Museum ausgebildet, lernt sein Sehen jedenfalls nur, indem es sieht, lernt nur von sich selbst. Das Auge sieht die Welt und was ihr fehlt, um Gemälde zu sein, und was dem Gemälde fehlt, um es selber zu sein, es sieht auf der Palette die Farbe, nach der das Gemälde verlangt, und es sieht nach seiner Fertigstellung das Gemälde, das allen diesen Mängeln nachkommt, und es sieht die Gemälde der anderen, die anderen Antworten auf die anderen Mängel. Ebensowenig wie man ein begrenztes Inventar des Sichtbaren aufstellen kann, kann man ein Inventar der Gebrauchsmöglichkeiten einer Sprache oder auch nur ihres Wortschatzes und ihrer Wendungen aufstellen. Als ein selbstbewegtes Instrument und als ein Mittel, das sich seine Zwecke selbst erfindet, ist das Auge eben dasjenige, was einen bestimmten Eindruck der Welt, den es empfing, durch die Züge der Hand in das Sichtbare zurückversetzt. In welcher Zivilisation eine Malerei immer entsteht, von welchem Glauben, welchen Motiven, welchen Denkweisen und welchen Zeremonien sie auch immer umgeben ist, selbst wenn sie für etwas anderes bestimmt scheint, sei sie reine Malerei oder nicht, figürliche oder gegenstandslose Malerei – seit Lascaux bis zum heutigen Tage zelebriert sie kein anderes Rätsel als das der Sichtbarkeit.

Was wir da sagen, läuft auf eine triviale Feststellung hinaus: Die Welt des Malers ist eine sichtbare Welt, die anders nicht als sichtbar ist, eine fast irre Welt, da sie ja vollständig und doch nur partiell ist. Die Malerei erweckt einen Rausch und läßt ihn bis zu seiner äußersten Stärke anwachsen, und dieser Rausch ist eben das Sehen, da ja Sehen nichts anderes ist als ein Habhaftwerden auf Entfernung und da die Malerei diese wunderliche Form der Besitzergreifung auf alle Aspekte des Seins ausdehnt, die in irgendeiner Weise sichtbar werden müssen, um in sie einzugehen. Als der junge Berenson anläßlich der italienischen Malerei von einem Bewußtmachen taktiler Werte sprach, konnte er sich kaum stärker täuschen: die Malerei bringt nichts zum Bewußtsein und insbesondere nicht das Tastbare. Sie tut eher das Umgekehrte: Sie verleiht sichtbare Existenz dem, was das alltägliche Sehen für unsichtbar hält, sie bewirkt, daß wir keinen „Muskelsinn“ brauchen, um den Umfangreichtum der Welt zu erfassen. Dieses verschlingende Sehen öffnet sich, über die „visuellen Gegebenheiten“ hinaus, auf ein Gefüge des Seins, dessen vereinzelte Sinnesbotschaften nur die Zeichensetzlingen oder Zäsuren sind und das das Auge bewohnt, wie der Mensch sein Haus.

Bleiben wir beim Sichtbaren im engeren und prosaischen Sinne: Wer auch immer der Maler sei, während er malt, praktiziert er eine magische Theorie des Sehens. Er muß schon zugeben, daß die Dinge in ihn über[20]gehen oder daß, entsprechend dem sarkastischen Dilemma von Malebranche, der Geist ihm aus den Augen tritt, um sich unter den Dingen zu ergehen, da er ja unaufhörlich sein zweites Gesicht nach ihnen ausrichtet. (Daran ändert sich nichts, wenn der Maler nicht nach dem Motiv malt: er malt auf jeden Fall, weil er gesehen hat, weil ihm die Welt, zumindest einmal, die Chiffren des Sichtbaren eingeprägt hat.) Er muß schon zugeben, daß das Sehen, wie ein Philosoph sagt, eine Spiegelung oder Konzentration des Universums ist oder daß, wie ein anderer sagt, der ἴδιος κόσμος sich durch das Sehen auf einen κοῖνος κόσμος hin öffnet, daß schließlich dasselbe Ding dort im Innern der Welt und hier im Innern seines Sehens ist; dasselbe oder, wenn man will, ein ähnliches Ding, jedoch durch eine wirksame Ähnlichkeit, die Verwandtschaft, Entstehung und Metamorphose des Seins in seinem Sehen ist. Es ist das Gebirge selbst, das sich von dort hinten vom Maler erschauen läßt und das er mit seinem Blick befragt.

Was verlangt er eigentlich von ihm? Die Mittel zu enthüllen, die nicht anders als sichtbar sind, durch die es unter unseren Blicken zum Gebirge wird. Licht, Beleuchtung, Schatten, Reflexe und Farbe, alle diese Gegenstände seines Forschens sind nicht im vollen Sinne wirkliche Wesen: sie haben, gleich Phantomen, nur eine visuelle Existenz. Ja, sie befinden sich sogar lediglich auf der Schwelle des alltäglichen Sehens und werden im allgemeinen nicht gesehen. Der Blick des Malers befragt sie, wie sie bewirken, daß plötzlich etwas da ist, und dieses etwas dazu dient, um jene zauberkräftige Welt zu bilden, um uns das Sichtbare sehen zu lassen. Die Hand, die in der ‚Nachtwache‘ auf uns weist, ist tatsächlich da, wenn ihr Schatten auf dem Körper des Hauptmanns sie uns gleichzeitig im Profil zeigt. Im Schnittpunkt dieser beiden Ansichten, die sich nicht zusammenfügen und dennoch gleichzeitig da sind, tritt die Räumlichkeit des Hauptmanns in Erscheinung. Alle Menschen, die Augen haben, waren irgendwann einmal Zeugen von solchen oder ähnlichen Schattenspielen. Eben sie sind es, die uns Dinge und einen Raum sehen lassen. Aber sie wirken in ihnen ohne sie, sie verbergen sich, um das Ding zu zeigen. Um das Ding zu sehen, braucht man die Schattenspiele nicht zu bemerken. Das im alltäglichen Sinne Sichtbare vergißt seine Voraussetzungen, es beruht auf einer umfassenden Sichtbarkeit, die nachgeschaffen werden muß, und die die in ihr gefangenen Phantome freisetzt. Die Modernen haben, wie man weiß, noch ganz andere befreit und haben der offiziellen Skala unserer Sehmöglichkeiten viele dumpfe Töne hinzugefügt. Aber das Fragen der Malerei zielt in jedem Fall auf dieses verborgene und fieberhafte Entstehen der Gegenstände in unserem Körper.

Es handelt sich also nicht um die Frage dessen, der weiß, an den, der nicht weiß, die Frage des Schulmeisters. Vielmehr ist es die Frage dessen, der nicht weiß, an ein Sehen, das alles weiß, das wir nicht bewirken, sondern das in uns wirkt. Max Ernst (und der Surrealismus) sagt zu [21] Recht: „Ebenso wie die Rolle des Dichters seit Rimbauds berühmten ‚Brief des Sehers‘ darin besteht, unter dem Diktat dessen zu schreiben, was sich in ihm denkt und artikuliert, so ist es die Rolle des Malers, zu umreißen und zu projizieren, was sich in ihm sieht.“1 Der Maler lebt in der Faszination. Seine eigensten Handlungen – jene Gesten und Linienzüge, derer er allein fähig ist und die für die anderen Offenbarung sein werden, weil sie nicht die gleichen Mängel haben wie er – scheinen für ihn aus den Dingen selbst hervorzugehen, wie die Umrisse der Sternbilder. Zwischen ihm und dem Sichtbaren kehren sich die Rollen unweigerlich um. Eben deshalb haben so viele Maler gesagt, daß die Dinge sie betrachten, wie André Marchand nach Klee sagt: „In einem Wald habe ich zu wiederholten Malen empfunden, daß nicht ich den Wald betrachtete. An manchen Tagen habe ich gefühlt, daß es die Bäume waren, die mich betrachteten, die zu mir sprachen... Ich war da und lauschte nur... Ich glaube, daß der Maler vom Universum durchdrungen werden und es nicht selbst durchdringen wollen muß... Ich warte darauf, innerlich überflutet und überschüttet zu werden. Vielleicht male ich, um wieder emporzutauchen.“2 Das, was man Inspiration nennt, sollte wörtlich genommen werden: Es gibt tatsächlich eine Inspiration und Expiration des Seins, ein Atmen im Sein, eine Aktion und Passion, die so wenig voneinander zu unterscheiden sind, daß man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, wer malt und wer gemalt wird. Man sagt, ein Mensch werde in dem Augenblick geboren, wo das, was im Mutterleib zunächst nur ein virtuell Sichtbares war, zugleich für uns und für sich selbst sichtbar wird. Das Sehen des Malers ist eine fortwährende Geburt.

Man könnte in den Gemälden selbst eine in ihnen verbildlichte, gleichsam ikonographische Philosophie des Sehens suchen. Es ist zum Beispiel kein Zufall, wenn oft in der holländischen Malerei (und vielen anderen) ein verlassenes Interieur vom „runden Auge des Spiegels verschluckt“3 wird. Dieser vormenschliche Blick ist das Emblem desjenigen des Malers. Vollständiger als die Lichter, die Schatten, die Reflexe deutet das Spiegelbild in den Dingen die Arbeit des Sehens an. Wie alle anderen Gegenstände menschlicher Machart, wie die Werkzeuge, wie die Zeichen ist der Spiegel im offenen Umkreis des sehenden Körpers zum sichtbaren Körper geworden. Jede Technik ist „Technik des Körpers“. Sie verkörpert und erweitert die metaphysische Struktur unseres Leibes. Der Spiegel tritt in Erscheinung, weil ich ein Sehend-Sichtbarer bin: weil es eine Reflexivität des Sinnlichen gibt, die er wiedergibt und verdoppelt. Durch ihn vervollständigt sich mein Äußeres; was ich an Verschwiegenstem [22] habe, geht in dieses Gesicht ein, in dieses flache und geschlossene Wesen, das schon mein Spiegelbild im Wasser mich beargwöhnen ließ. Schilder1 bemerkt, daß ich, vor dem Spiegel Pfeife rauchend, die glatte und heiße Oberfläche des Holzes nicht nur dort fühle, wo meine Finger ruhen, sondern auch in jenen verklärten, nur sichtbaren Fingern, die sich in der Tiefe des Spiegels befinden. Das Phantom des Spiegels zieht meinen Leib nach außen, und gleichzeitig kann das ganze Unsichtbare meines Körpers für die anderen Körper, die ich sehe, aufkommen. So kann mein Körper nunmehr Teilstücke desjenigen anderer umfassen, wie meine eigene Substanz in sie eingeht; der Mensch ist für den Menschen Spiegel. Was den Spiegel angeht, so ist er das Instrument einer universellen Magie, die die Dinge in Schauspiele, die Schauspiele in Dinge, mich in andere und andere in mich verwandelt. Die Maler haben oft über Spiegel nachgesonnen, weil sie in diesem „mechanischen Trick“ wie in dem der Perspektive2 die Metamorphose des Sehenden und des Sichtbaren erkannten, die unseren Leib und ihre Berufung definiert. Eben deshalb haben sie sich auch oft gern beim Malen selbst dargestellt (daß sie es auch jetzt noch gern tun, sieht man an den Zeichnungen von Matisse), indem sie dem, was sie dabei sahen, hinzufügten, was die Dinge von ihnen sahen, wie um zu beweisen, daß es ein allumfassendes oder absolutes Sehen gibt, außerhalb dessen nichts besteht, und das nichts als sie umschließt. Wie soll man jene okkulten Verfahren benennen, wo soll man sie in der Verstandeswelt ansiedeln, und die Liebestränke und Götzenbilder, die sie hervorbringen? Das Lächeln eines seit vielen Jahren verstorbenen Monarchen, von dem in ‚Der Ekel‘ die Rede war, das sich auch weiterhin beständig auf der Oberfläche einer Leinwand zeigt – es wäre zu wenig, wollte man sagen, daß es dort als Abbild oder Wesen auftritt: es ist dort ganz es selbst, als das, was an ihm am lebendigsten war, sobald ich das Gemälde betrachte. Der Weltmoment , den Cézanne malen wollte und der seit langem vergangen ist, schlägt uns auch weiterhin von seinen Gemälden entgegen, und seine Berglandschaft ‚Sainte Victoire‘ erwächst immer wieder neu von einem Ende der Welt zum anderen, anders, aber nicht weniger intensiv als in dem harten Fels oberhalb von Aix. Essenz und Existenz, Imaginäres und Wirkliches, Sichtbares und Unsichtbares – die Malerei bringt alle unsere Kategorien durcheinander, indem sie ihre Traumwelt körperlicher Wesenheiten, wirksamer Ähnlichkeiten und stummer Bedeutungen entfaltet.

[23] III

Wie klar wäre doch alles in unserer Philosophie, wenn man jene Gespenster austreiben, sie zu Sinnestäuschungen oder gegenstandslosen Wahrnehmungen am Rande einer unzweideutigen Welt machen könnte! Descartes‘ ‚Dioptrique‘ ist ein solcher Versuch. Sie ist das Brevier eines Denkens, das sich dem Spuk des Sichtbaren entziehen will und entschlossen daran geht, es nach dem Modell zu rekonstruieren, das es sich davon macht. Es ist der Mühe wert, sich zu erinnern, worin dieser Versuch bestand und woran er scheiterte.

Nicht daß hier eine Besorgnis vorläge, am Sehen kleben zu bleiben. Es geht darum, zu wissen, „wie das geschieht“, aber nur insoweit es erforderlich ist, um notfalls einige „künstliche Organe“1 zu erfinden, die es berichtigen. Man wird also nicht so sehr über das Licht, das wir sehen, nachdenken, als über das, was von außen her in unsere Augen dringt und unser Sehen bestimmt. Darüber hinaus beschränkt man sich auf „zwei oder drei Vergleiche, die uns helfen, es zu begreifen“, und zwar so, daß seine bekannten Eigenschaften erklärt und andere daraus hergeleitet werden können.2 Geht man so vor, dann stellt man sich am besten das Licht als eine Einwirkung durch Kontakt vor, wie diejenige der Dinge auf den Stock des Blinden. Die Blinden „sehen mit den Händen“, sagt Descartes.3 Das kartesische Modell des Sehens ist der Tastsinn.

Das entledigt uns sogleich jener Einwirkung aus der Entfernung und jener Allgegenwart, die die ganze Schwierigkeit (aber auch die ganze Stärke) des Sehens ausmachen. Warum soll man dann noch über die Reflexe und Spiegel nachsinnen? Jene unwirklichen Doubles sind eine Abart von Dingen, sind reale Wirkungen wie das Zurückprallen einer Kugel. Der Reflex ähnelt dem Ding nur deshalb, weil er ungefähr wie ein Ding auf die Augen einwirkt. Er täuscht das Auge, ruft eine gegenstandslose Wahrnehmung hervor, die jedoch unsere Vorstellung von der Welt nicht beeinträchtigt. In der Welt gibt es das Ding selbst, und außerdem gibt es jenes andere Ding, den reflektierten Lichtstrahl, der mit dem ersten in einem bestimmten Verhältnis steht, zwei Einzeldinge also, die durch die Kausalität von außen her miteinander verbunden sind. Daß das Ding und sein Spiegelbild einander ähnlich sind, ist für beide nur eine äußerliche Bezeichnung, die dem Denken angehört. Das unklare Ähnlichkeitsverhältnis ist auf Seiten der Dinge ein klares Projektionsverhältnis. Ein Kartesianer sieht nicht sich im Spiegel: er sieht eine Gliederpuppe, ein „Außen“, von dem er mit gutem Grunde annimmt, daß die anderen es in gleicher Weise sehen, das jedoch für ihn selbst [24] ebensowenig ein Leib ist wie für die anderen. Sein „Abbild“ im Spiegel ist eine Wirkung der Mechanik der Dinge; erkennt er sich in ihm wieder, findet er es „ähnlich“, so stellt sein Denken diese Verbindung her. Das Spiegelbild dagegen ist nichts von ihm.

Alle ikonische Macht entfällt. So lebhaft auch ein Kupferstich die Wälder, Städte, Menschen, Schlachten und Stürme „uns vergegenwärtigt“, so ähnelt er ihnen doch nicht: er ist nur etwas Farbstoff, der hier und da aufs Papier gebracht wurde. Kaum hält er von den Dingen ihre Gestalt fest, eine Gestalt, die auf eine einzige Ebene verflacht und verformt wurde und die verformt werden muß – das Viereck zum Rhombus, der Kreis zum Oval –, um den Gegenstand darzustellen. Er ist nur dann sein „Abbild“, wenn er ihm „nicht ähnelt“1. Wie kann er aber wirken, wenn nicht durch Ähnlichkeit? Er „regt unser Denken an“ zu „verstehen“, wie es die Zeichen und Worte tun, „die in keiner Weise den Dingen, die sie bedeuten, ähnlich sind“2. Der Kupferstich gibt uns genügend Hinweise, unzweideutige „Mittel“, damit wir uns eine Vorstellung von dem Ding bilden können, die nicht dem Abbild entstammt, sondern in uns auf seine „Veranlassung“ hin entsteht. Die Magie der intentionalen Arten, die alte Idee von der wirksamen Ähnlichkeit, die durch Spiegel und Gemälde nahegelegt wurde, verliert ihr letztes Argument, wenn die ganze Macht des Bildes nichts anderes als die Macht eines Textes ist, der uns zur Lektüre vorgelegt wird, ohne jegliche Promiskuität zwischen dem Sehenden und dem Sichtbaren. Wir brauchen nicht mehr zu begreifen, wie das im Leib sich vollziehende Malen der Dinge sie der Seele zur Empfindung bringen könne. Es wäre dies eine unmögliche Aufgabe, weil die Ähnlichkeit dieser Malerei mit den Dingen ihrerseits wieder gesehen werden müßte, weil wir „andere Augen in unserem Gehirn brauchten, mit denen wir sie wahrnehmen könnten“3, und weil das Problem des Sehens dadurch nicht gelöst wird, daß man Trugbilder schafft, die zwischen den Dingen und uns umherirren. Ebensowenig wie die Kupferstiche, ähnelt der sichtbaren Welt, was das Licht in unseren Augen und von dort in unserem Gehirn aufzeichnet. Von den Dingen zu den Augen und von den Augen zum Sehen gelangt nicht mehr als von den Dingen zu den Händen des Blinden und von seinen Händen zu seinem Denken. Das Sehen ist nicht die Metamorphose der Dinge in ihr Gesehenwerden, die doppelte Zugehörigkeit der Dinge zur Welt im Großen und zu einer kleinen, persönlichen Welt. Es ist vielmehr ein Denken, das streng die im Körper gegebenen Zeichen entziffert. Die Ähnlichkeit ist das Ergebnis der Wahrnehmung, nicht deren Wirkmittel. Um so mehr ist das innere Bild, das uns Abwesendes gegenwärtig macht, nicht wie ein Eindringen ins Innerste des Seins: Es ist wiederum ein Gedanke, der sich auf – dies[25]mal unzureichende – körperliche Hinweise stützt, aus denen er mehr herausliest als sie bedeuten. Nichts bleibt von der Traumwelt der Analogie übrig…

Diese berühmten Analysen machen deutlich – und eben deshalb interessieren sie uns –, daß jede Theorie der Malerei Metaphysik ist. Descartes hat nicht viel von der Malerei gesprochen, und man könnte meinen, es sei ungerechtfertigt, zu erwähnen, was er auf zwei Seiten über Kupferstiche sagt. Aber schon, daß er nur beiläufig davon spricht, ist bedeutsam, denn das Malen ist für ihn keine zentrale Tätigkeit, die dazu beiträgt, unseren Zugang zum Sein zu bestimmen. Sie ist ein Modus oder eine Variante des Denkens, das kanonisch definiert wird als intellektuelle Besitzergreifung und als Evidenz. In dem wenigen, was Descartes darüber sagt, kommt eben diese Stellungnahme zum Ausdruck, doch bei einem aufmerksameren Studium der Malerei würde sich eine andere Philosophie abzeichnen. Kennzeichnend ist auch, daß für ihn die Zeichnung das Typische der „Bilder“ ist. Zwar ist in jedem ihrer Ausdrucksmittel, wie wir sehen werden, die ganze Malerei gegenwärtig: es gibt eine Zeichnung und einen Linienzug, die alle ihre Kühnheiten in sich fassen. Was jedoch Descartes an den Kupferstichen gefällt, ist, daß sie die Form der Gegenstände bewahren oder uns zumindest ausreichende Zeichen von ihnen darbieten. Sie führen einen Gegenstand durch sein Äußeres oder seine Hülle vor. Hätte er jenes andere und tiefere Sich-Öffnen zu den Dingen untersucht, das uns die sekundären Qualitäten, namentlich die Farbe, ermöglichen, so hätte er, da kein regelhaftes oder projektives Verhältnis zwischen ihnen und den wahren Eigenschaften der Dinge besteht und da ihre Botschaft von uns dennoch verstanden wird, vor dem Problem einer Universalität und eines Sich-Öffnens zu den Dingen gestanden, die seiner Begrifflichkeit nicht unterwerfbar sind, und wäre gezwungen gewesen, herauszufinden, wie das unbestimmte Raunen der Farben uns Dinge, Wälder, Stürme, schließlich die Welt vergegenwärtigen kann, und hätte vielleicht die Perspektive als einen Einzelfall in ein viel umfassenderes ontologisches Vermögen integrieren müssen. Aber für ihn ist es selbstverständlich, daß die Farbe Schmuck und Kolorit ist, daß alles Vermögen der Malerei auf dem der Zeichnung beruht, wie das der Zeichnung auf dem regelhaften Verhältnis zwischen ihr und dem Raum an sich, wie es die perspektivische Projektion lehrt. Pascals berühmtes Wort über die Frivolität der Malerei, die uns für Bilder einnimmt, deren Gegenstand uns nicht rühren würde, ist ein kartesianisches Wort. Für Descartes ist evident, daß man nur existierende Dinge malen kann, daß deren Existenz darin besteht, ausgedehnt zu sein, und daß die Zeichnung die Malerei möglich macht, indem sie die Darstellung der Ausdehnung ermöglicht. Die Malerei ist also nur ein Trick, der unseren Augen eine ähnliche Projektion darbietet wie die, welche die Dinge in der gewöhnlichen Wahrnehmung in sie einzeichnen würden und einzeichnen. Sie läßt uns in Abwesenheit des wirklichen Gegenstandes [26] sehen, wie man den wirklichen Gegenstand im Leben sieht, und vor allem läßt sie uns Raum sehen, wo keiner ist.1 Das Gemälde ist ein flacher Gegenstand, der uns durch einen Trick darbietet, was wir in Gegenwart „unterschiedlich hervorgehobener“ Dinge sehen würden, weil er uns nach Höhe und Breite ausreichende diakritische Zeichen der Dimension liefert, die ihm fehlt. Die Tiefe ist eine von den beiden anderen abgeleitete, dritte Dimension.

Es lohnt sich, bei ihr zu verweilen. Sie hat zunächst etwas Paradoxes: ich sehe Gegenstände, die sich einander verdecken, die ich also nicht sehe, weil sie hintereinander sind. Ich sehe sie und sie ist doch nicht sichtbar, da sie sich durch die Entfernung zwischen unserem Körper und den Dingen ermessen läßt, wir aber ihm verhaftet sind … Dieses Geheimnis ist keines, denn ich sehe sie nicht wirklich, oder wenn ich sie sehe, handelt es sich um eine andere Breite. Auf der Geraden, die meine Augen mit dem Horizont verbindet, verdeckt der Vordergrund stets alle anderen Teile, und wenn ich von der Seite her die gestaffelten Gegenstände zu sehen glaube, liegt dies nur daran, daß sie sich nicht ganz und gar verdecken. Ich sehe sie also, den einen außerhalb des anderen, nach einer anders gemessenen Breite. Man ist immer diesseits oder jenseits der Tiefe. Niemals sind die Dinge eines hinter dem anderen. Das Sich-Überdecken und die Verborgenheit der Dinge gehören ihrer Definition nicht an, sie bringen nur meine unbegreifliche Solidarität mit einem unter ihnen, meinem Körper, zum Ausdruck. Nach allem, was sie an Positivem haben, sind sie nur Gedanken, die ich forme, nicht aber Attribute der Dinge: Ich weiß, daß im selben Augenblick ein anderer Mensch, von einem anderen Ort her – besser noch: Gott, der überall ist –, in ihr Versteck dringen könnte und sie voll entfaltet sehen würde. Was ich Tiefe nenne, ist nichts, oder ist meine Teilhabe an einem Sein ohne Einschränkung und zunächst am Sein des Raumes jenseits jeden Gesichtspunktes. Die Dinge überlagern sich gegenseitig, weil sie außer einander sind. Der Beweis dafür ist, daß ich Tiefe sehen kann, wenn ich ein Gemälde betrachte, das, wie jedermann bestätigen wird, keine hat, und das für mich die Illusion einer Illusion hervorruft … Jenes zweidimensionale Wesen, das mich eine dritte Dimension sehen läßt, ist ein durchlöchertes Wesen oder, wie die Menschen der Renaissance sagten, ein Fenster … Aber das Fenster geht letztlich nur auf die partes extra partes, auf die Höhe und Breite, die lediglich aus einem anderen Winkel gesehen sind, auf die absolute Positivität des Seins.

Eben jener Raum ohne Versteck, der in jedem seiner Punkte nicht [27] mehr und nicht weniger als das ist, was er ist, jene Identität des Seins ist es, auf die sich die Analyse der Kupferstiche stützt. Der Raum ist in sich, oder vielmehr, er ist das Insich par excellence, seine Bestimmung ist, in sich zu sein. Jeder Punkt des Raumes ist und wird dort gedacht, wo er ist, der eine hier, der andere dort, der Raum ist die Evidenz des Wo. Orientierung, Polarität, Umhüllung sind in ihm abgeleitete Phänomene, die in meine Gegenwart gebunden sind. Er dagegen ruht ganz und gar in sich, ist überall sich selbst gleich, homogen, und seine Dimensionen zum Beispiel sind per definitionem ersetzbar.

Wie alle klassischen Ontologien, erhebt auch diese bestimmte Eigenschaften des Seienden zu Strukturen des Seins. Und darin ist sie wahr und falsch, man könnte sagen, ein Wort von Leibniz umkehrend: wahr in dem, was sie verneint, und falsch in dem, was sie bejaht. Der Raum von Descartes ist wahr gegen ein dem Empirischen unterworfenes Denken, das nicht zu konstruieren wagt. Zunächst galt es, den Raum ideal zu denken, jenes in seiner Art vollkommene, klare, zu handhabende und homogene Wesen zu konzipieren, welches das Denken überfliegt, ohne in einem Blickwinkel befangen zu sein, und das es als Ganzes auf drei rechtwinklige Achsen bezieht. Nur so konnte man eines Tages die Grenzen dieser Konstruktion finden, verstehen, daß der Raum nicht dreidimensional ist, nicht mehr und nicht weniger, als ein Lebewesen zwei oder vierfüßig ist, daß die Dimensionen durch die verschiedenen Maßsysteme einer Dimensionalität, einem polymorphen Sein entnommen sind, das sie alle rechtfertigt, ohne durch eine von ihnen vollständig ausgedrückt zu werden. Descartes hatte recht, als er den Raum befreite. Sein Fehler war, ihn zu einem ganz und gar positiv Seienden zu machen, jenseits jedes Gesichtswinkels, jeder Verborgenheit und Tiefe, ohne jede wirkliche Dichte.

Er hatte auch darin Recht, daß er sich an der Perspektivtechnik der Renaissance inspirierte: sie hat die Malerei ermutigt, in freier Weise Tiefenexperimente und ganz allgemein Darstellungen des Seins hervorzubringen. Sie täuschte sich nur dort, wo sie vorgab, Forschung und Geschichte der Malerei zum Ende gebracht und eine exakte und unfehlbare Maltechnik begründet zu haben. Wie Panofsky es im Hinblick auf die Menschen der Renaissance gezeigt hat1, war dieser Enthusiasmus nicht ganz redlich. Die Theoretiker versuchten, das sphärische Gesichtsfeld der Antike und ihre Winkelperspektive zu vergessen, die die scheinbare Größe nicht von der Entfernung, sondern von dem Blickwinkel abhängig macht, unter dem wir den Gegenstand sehen. Das nannten sie verächtlich die perspectiva naturalis oder communis, im Gegensatz zu einer perspectiva artificialis, die prinzipiell geeignet sei, die Grundlage für eine exakte Konstruktion zu liefern. Um diesen Mythos glaubhaft zu [28] machen, gingen sie so weit, den Euklid zu reinigen, indem sie in ihren Übersetzungen den achten Lehrsatz ausließen, weil er sie störte. Die Maler ihrerseits wußten aus Erfahrung, daß keine Technik der Perspektive eine exakte Lösung bietet, daß es keine Projektion der existierenden Welt gibt, die sie in jeder Hinsicht respektiert und das Grundgesetz der Malerei zu werden verdient; sie wußten, daß die lineare Perspektive um so weniger einen Endpunkt darstellt, als sie vielmehr der Malerei mehrere Wege öffnet: mit den Italienern den der Darstellung des Gegenstands, mit den Malern des Nordens den des Hochraums, des Nahraums und des Schrägraums… So regt die Flächenprojektion nicht immer unser Denken an, die wahre Form der Dinge wiederzufinden, wie es Descartes annahm: sobald ein bestimmter Grad der Entstellung überschritten ist, verweist sie uns vielmehr auf unseren Blickpunkt zurück; was die Dinge betrifft, so fliehen sie in eine Entferntheit, die kein Denken durchmißt. Irgend etwas im Raum entzieht sich unseren Versuchen des Überfliegens. Wahr ist, daß kein verbürgtes Ausdrucksmittel die Probleme der Malerei löst, sie zur Technik macht, weil keine symbolische Form jemals als Stimulus fungiert. Dort, wo sie zu Ausdruck und Wirkung gelangt, geschieht es in Verbindung mit dem Kontext des Werkes und keineswegs durch die Mittel der Sinnestäuschung. Das Stilmoment befreit nie vom Wertmoment.1 Die Sprache der Malerei dagegen ist nicht „von der Natur festgelegt“: sie muß geschaffen und wiedergeschaffen werden. Die Perspektive der Renaissance ist kein unfehlbarer „Trick“: sie ist nur ein Einzelfall, ein Datum, ein Moment in einer poetischen Ausformung der Welt, die nach ihr fortwirkt.

Descartes indessen wäre nicht Descartes, wenn er gemeint hätte, das Rätsel des Sehens zu eliminieren. Zwar gibt es kein Sehen ohne Denken. Aber es genügt nicht, zu denken, um zu sehen: das Sehen ist ein bedingtes Denken, das erzeugt wird „auf Veranlassung“ dessen, was im Körper geschieht, er ist es, der zum Denken „anregt“. Es entscheidet sich weder, zu sein oder nicht zu sein, noch dieses oder jenes zu denken. Es muß jene Schwere, jene Abhängigkeit in sich tragen, die ihm nicht durch einen Einschub von außen zukommen können. Diese oder jene Ereignisse im Körper sind „von der Natur festgelegt“, um uns dieses oder jenes sehen zu lassen. Das Denken des Sehens vollzieht sich nach einem Programm und einem Gesetz, das es sich nicht selbst gegeben hat, es ist nicht im Besitz seiner eigenen Prämissen, es ist kein ganz gegenwärtiges, ganz aktuelles Denken, es trägt das Geheimnis einer Passivität in sich. Die Situation ist demnach folgende: Alles, was man über das Sehen sagt und denkt, macht aus ihm ein Denken. Wenn wir zum Beispiel verstehen wollen, wie wir die örtliche Lage der Gegenstände sehen, so muß man annehmen, daß die Seele, weil sie weiß, wo sich die Teile ihres Körpers befinden, auch fähig ist, „von dort ihre Aufmerksamkeit“ auf alle Punk[29]te des Raumes „zu übertragen“, die in der Verlängerung der Glieder liegen.1 Aber auch das ist nur ein „Modell“ des Ereignisses. Denn wie kennt sie diesen Raum ihres Körpers, den sie auf die Dinge ausdehnt, wie kennt sie dieses erste hier, von dem jegliches dort abstammt? Er ist nicht wie jene ein beliebiger Modus, ein einzelnes Stück Ausdehnung, sondern vielmehr der Ort des Körpers, den sie den „ihren“ nennt, ein Ort, den sie bewohnt. Der Körper, den sie belebt, ist für sie kein Gegenstand unter anderen, sie gewinnt aus ihm nicht den übrigen Raum als implizierte Prämisse. Ihr Denken orientiert sich an ihm, nicht an sich selbst, und in dem natürlichen Pakt, der sie mit ihm vereinigt, sind auch der Raum, die äußere Entfernung festgelegt. Wenn die Seele unter einem bestimmten Anpassungs- und Übereinstimmungsgrad des Auges eine beliebige Entfernung wahrnimmt, ist das Denken, das das zweite Verhältnis aus dem ersten gewinnt, eine Art unvordenkliches Denken, das in unsere innere Fabrik eingeprägt ist: „Und das geschieht uns gewöhnlich, ohne daß wir darauf achten, ebenso wie wir, wenn wir irgend etwas in unserer Hand drücken, diese der Größe und Gestalt jenes Körpers anpassen und ihn eben dadurch spüren, ohne daß wir deshalb an ihre Bewegungen dächten.“2 Der Körper ist für die Seele ihr Ursprungsraum und die Matrix jedes anderen vorhandenen Raumes. So verdoppelt sich das Sehen: Auf der einen Seite gibt es das Sehen, über das ich nachdenke und das ich nicht anders denken kann, denn als Denken, als eine Inspektion des Geistes, ein Beurteilen, ein Ablesen von Zeichen. Auf der anderen Seite gibt es das Sehen, was stattfindet, ein festgelegtes Denken, das in einen ihm gehörenden Körper eingezwängt ist, ein Sehen, von dem man nur eine Vorstellung haben kann, indem man es ausübt, und das zwischen den Raum und das Denken die selbständige Ordnung eines aus Körper und Seele Zusammengesetzten einführt. Das Rätsel des Sehens ist nicht eliminiert: Es wird lediglich von dem Sehen als einem Denken auf das aktive Sehen verwiesen.

Dieses tatsächliche Sehen und das „es gibt“, das es enthält, bringen jedoch die Philosophie von Descartes nicht zum Einsturz. Denn als ein mit einem Körper vereintes Denken, kann es definitionsgemäß nicht wahrhaft Denken sein. Man kann es praktizieren, ausüben und sozusagen zur Existenz bringen, aber man kann daraus nichts gewinnen, was als wahr bezeichnet werden kann. Wenn man, wie die Königin Elisabeth, um jeden Preis darüber etwas denken will, braucht man nur auf Aristoteles und die Scholastik zurückzugreifen und das Denken als körperlich vorzustellen, was zwar undenkbar, aber die einzige Art und Weise ist, vor dem Verstand die Vereinigung von Seele und Körper zu behaupten. Freilich ist es absurd, dem reinen Verstande die Vermischung des Verstandes mit dem Körper zu unterbreiten. Jene vorgeblichen Ge[30]danken sind Embleme der „Lebenserfahrung“, sprechende Wappen der Vereinigung und nur insofern legitim, als man sie nicht für Gedanken hält. Sie sind Kennzeichen einer Ordnung der Existenz – des existierenden Menschen, der existierenden Welt –, die zu denken wir nicht befugt sind. Auf unserer Karte des Seins gibt diese Ordnung keine terra incognita an, sie schränkt die Reichweite unseres Denkens nicht ein, weil sie ebenso wie dieses von einer Wahrheit getragen wird, die ihre Dunkelheit wie unsere Erleuchtungen begründet. Bis hierhin muß man vordringen, um bei Descartes so etwas wie eine Metaphysik der räumlichen Tiefe zu finden: Denn der Entstehung dieser Wahrheit wohnen wir nicht bei, Gottes Wesen ist für uns Abgrund… Aber dieses Erschauern ist rasch überwunden: für Descartes ist es ebenso müßig, jenen Abgrund auszuloten, wie die Ausdehnung der Seele oder die räumliche Tiefe des Sichtbaren zu denken. Aussagen über diese Themen läßt unsere Stellung nicht zu. Das ist das Geheimnis des kartesischen Gleichgewichtes: eine Metaphysik, die uns entscheidende Gründe an die Hand gibt, keine Metaphysik mehr zu betreiben, die unseren Einsichten Geltung verschafft, indem sie sie begrenzt, die unser Denken öffnet, ohne es auseinanderzureißen.

Ein für immer verlorenes Geheimnis, wie es scheint: wenn wir ein Gleichgewicht zwischen der Wissenschaft und der Philosophie, zwischen unseren Modellen und der Dunkelheit des „es gibt“, wiederfinden, muß es ein neues Gleichgewicht sein. Unsere Wissenschaft hat sowohl die Rechtfertigungen als auch die Begrenzung ihres Bereichs verworfen, die ihr Descartes auferlegte. Sie gibt nicht mehr vor, die Modelle, die sie erfindet, aus den Attributen Gottes herzuleiten. Die räumliche Tiefe der existierenden Welt und die des unergründlichen Gottes begleiten nicht mehr die Flachheit des „technisierten“ Denkens. Auf dem Umweg über die Metaphysik, den Descartes wenigstens einmal in seinem Leben gemacht hatte, verzichtet die Wissenschaft: sie beginnt dort, wo jener angelangt war. Unter dem Namen „Psychologie“ beansprucht das operative Denken den Bereich des Kontakts mit sich selbst und der existierenden Welt, den Descartes einer blinden, aber unreduzierbaren Erfahrung vorbehielt. Es ist einer Philosophie grundsätzlich abhold, die sich als denkerische Erfahrung dieses Kontakts gibt. Entdeckt es aber deren Sinn, so geschieht es gerade durch das Übermaß ihrer Unbefangenheit, wenn sie nach Einführung aller möglichen Begriffe, die für Descartes zum verworrenen Denken gehören würden – Qualität, skalare Struktur, wechselseitige Abhängigkeit von Beobachter und Beobachtetem –, plötzlich gewahr wird, daß man von allen diesen Entitäten nicht summarisch als von constructa sprechen kann. Unterdessen behauptet sich die Philosophie gegen dieses Denken, indem sie in jene Dimension des aus Seele und Körper Zusammengefügten, der existierenden Welt, des abgründigen Seins vordringt, das Descartes geöffnet und sogleich wieder verschlossen hatte. Unsere Wissenschaft und unsere Philosophie sind zwei [31] treue und untreue Gefolgschaften der kartesischen Lehre, zwei Mißgeburten, die ihrer Zerstückelung entsprossen sind.

Unserer Philosophie bleibt nur noch übrig, die wirkliche Welt zu prospektieren. Wir sind ein aus Körper und Seele Zusammengesetztes, deshalb muß es ein Denken davon geben: Diesem Positions- oder Situationswissen verdankt Descartes, was er darüber sagt, oder was er bisweilen von der Gegenwart des Körpers „wider die Seele“ oder derjenigen der Außenwelt „am Ende“ unserer Hände sagt. Hier ist der Körper nicht mehr Mittel des Sehens und Tastens, er verwahrt sie. Weit gefehlt, daß unsere Organe Instrumente wären, unsere Instrumente sind viel mehr ins Verhältnis gesetzte Organe. Der Raum ist nicht mehr der, von dem die ‚Dioptrique‘ spricht, ein Netz von Beziehungen zwischen Gegenständen, so wie sie als Dritter ein Zeuge meines Sehens erblicken würde, oder ein Geometer, der ihn rekonstruiert und überblickt. Es ist vielmehr ein Raum, der von mir aus als Nullpunkt der Räumlichkeit erfaßt wird. Ich sehe ihn nicht nach seiner äußeren Hülle, ich erlebe ihn von innen, bin in ihm eingefangen. Schließlich ist die Welt um mich herum, nicht vor mir. Das Licht wird wieder entdeckt als eine Einwirkung aus der Entfernung und nicht mehr auf eine Kontaktwirkung reduziert, mit anderen Worten, es wird begriffen, wie es von denen begriffen werden kann, die nicht sehen. Das Sehen gewinnt sein fundamentales Vermögen zurück, mehr als es selbst zu manifestieren und zu zeigen. Und wie uns denn gesagt wird, daß ein wenig Farbe genüge, um Wälder und Stürme sehen zu lassen, muß es notwendig sein Imaginäres haben. Seine Transzendenz wird nicht mehr an einen lesenden Geist delegiert, der die Eindrücke des Dinges Licht im Gehirn entziffert und der es ebensogut täte, wenn er niemals einen Körper bewohnt hätte. Es geht nicht mehr darum, vom Raum oder vom Licht zu sprechen, sondern den Raum und das Licht, die da sind, sprechen zu lassen. Eine unablässige Frage, weil das Sehen, an das sie sich richtet, selbst Frage ist. Alle Forschungen, die man für abgeschlossen hielt, werden aufs neue in Frage gestellt. Was ist die räumliche Tiefe, was ist das Licht, τί το ὄν – was sind sie, nicht für den Geist, der sich vom Körper loslöst, sondern für den, von dem Descartes gesagt hat, daß er im Körper ausgebreitet sei – und schließlich nicht nur für den Geist, sondern für sie selbst, da sie uns durchqueren, uns umfassen?

Diese Philosophie, die noch zu schaffen ist, sie beseelt den Maler, zwar nicht, wenn er Ansichten über die Welt äußert, sondern im Augenblick, da sein Sehen zur Geste wird, wenn er, wie Cézanne sagt, „im Malen denkt“1.

[32] IV

Die ganz moderne Geschichte der Malerei, ihr Bemühen, sich vom Illusionismus zu lösen und ihre eigenen Dimensionen zu gewinnen, haben eine metaphysische Bedeutung. Das soll hier nicht dargelegt werden. Nicht aus Gründen der begrenzten Objektivität in der Geschichte und der unvermeidlichen Pluralität der Interpretationen, die es verbieten würden, eine Philosophie mit einem Ereignis zu verknüpfen: die Metaphysik, an die wir denken, ist nicht ein Gebilde zusammenhangloser Ideen, für die man induktive Rechtfertigungen in der Empirie zu suchen hätte – die Natur des Zufälligen weist eine Struktur des Ereignisses auf, eine eigene Kraft der Inszenierung, die die Pluralität der Interpretationen nicht unmöglich machen, ja sogar deren eigentlicher Grund sind, die es zu einer andauernden Thematik des geschichtlichen Lebens werden lassen und Anrecht auf einen philosophischen Status haben. In gewisser Hinsicht ist alles, was man über die Französische Revolution hat sagen können und noch sagen wird, von Anbeginn her in ihr gewesen, in jener Woge, die sich auf dem Grunde einzelner Tatsachen abgezeichnet hat, mit ihrem Schaum an Vergangenem und ihrer Krone an Zukünftigem, und nur, indem man immer genauer hinsieht, wie sie sich abgespielt hat, kann man und wird man neue Darstellungen von ihr geben. Was die Geschichte der Kunstwerke angeht, so ist der Sinn, den man ihnen nachträglich gibt, in jedem Fall, wenn sie groß sind, aus ihnen selbst hervorgegangen. Das Werk selbst hat das Feld eröffnet, von dem aus es später erscheint, es verwandelt sich und wird zu seiner Nachwirkung, und die unablässigen Neuinterpretationen, die es legitimerweise zuläßt, verwandeln es nur in sich selbst. Und wenn der Historiker hinter dem offenkundigen Gehalt den Überschuß und die Dichte des Sinnes wiederfindet, das Gewebe, das dem Werk eine lange Zukunft bereitet, so legen diese aktive Seinsweise, diese Möglichkeit, die er im Kunstwerk enthüllt, dieses Monogramm, das er darin findet, den Grund zu einer philosophischen Meditation. Aber diese Arbeit erfordert eine lange Vertrautheit mit der Geschichte. Alles fehlt uns, um sie auszuführen, sowohl die Kompetenz als auch der Platz. Doch da die Potenz oder die Zeugungskraft der Werke jedes positive Kausalitäts- und Verkettungsverhältnis übersteigt, ist es nicht illegitim, daß ein Laie, indem er seine Erinnerung an einige Gemälde und einige Bücher sprechen läßt, sagt, wie die Malerei in seine Überlegungen eingreift und das Gefühl einer tiefen Unstimmigkeit, einer Veränderung in den Verhältnissen des Menschen zum Sein angibt, das er hat, wenn er ein Universum althergebrachten Denkens massiv mit den Forschungen der modernen Malerei konfrontiert.

Eine Art Geschichte durch Kontakt, die vielleicht nicht die Grenzen einer Person überschreitet, und doch alles dem Verkehr mit anderen verdankt…

[33] „Ich glaube, daß Cézanne sein ganzes Leben lang die räumliche Tiefe gesucht hat“, sagt Giacometti1, und Robert Delaunay: „Die räumliche Tiefe ist die neue Inspiration.“2 Vier Jahrhunderte nach den „Lösungen“ der Renaissance und drei Jahrhunderte nach Descartes, ist die räumliche Tiefe noch immer neu und verlangt, daß man sie sucht, und zwar nicht nur „einmal in seinem Leben“, sondern sein ganzes Leben lang. Es kann sich nicht um den problemlosen Abstand handeln, den ich vom Flugzeug aus zwischen näher liegenden und entfernteren Bäumen gewahre, ebensowenig wie um das gegenseitige Verdecken der Dinge, das mir eine perspektivische Zeichnung lebhaft darstellt, diese beiden Ansichten sind ganz explizite und werfen keinerlei Frage auf. Was rätselhaft ist, ist ihre Verbindung, was zwischen ihnen ist – daß ich die Dinge jeweils an ihrem Platz sehe, eben weil sie sich gegenseitig verdecken –, daß sie vor meinem Blick Rivalen sind, eben weil sie jeweils an ihrem Ort sind. Ihre bekannte Äußerlichkeit ist in ihrer Umhüllung und ihre gegenseitige Abhängigkeit in ihrer Autonomie. Von einer so verstandenen räumlichen Tiefe läßt sich nicht mehr sagen, sie sei „eine dritte Dimension“. Wenn sie eine Dimension wäre, so eher die erste: es gibt nur Formen und bestimmte Ebenen, wenn man festlegt, in welcher Entfernung zu mir sich ihre verschiedenen Teile befinden. Aber eine erste Dimension, die die anderen enthält, ist keine Dimension, zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne eines bestimmten Verhältnisses, nach dem man mißt. Die so verstandene Tiefe ist vielmehr die Erfahrung der Umkehrbarkeit der Dimension, einer allgemeinen „Örtlichkeit“, wo alles zugleich ist, deren Höhe, Breite und Entfernung abstrakt sind, einer Umfänglichkeit, die man mit einem Wort ausdrückt, indem man sagt: ein Ding ist da. Wenn Cézanne die räumliche Tiefe sucht, so ist es jenes Aufblitzen des Seins, das er sucht, und sie ist in allen Modi des Raumes und ebenso in der Form. Cézanne weiß bereits, was der Kubismus wieder sagen wird: Daß die äußere Form, die Hülle, sekundär, abgeleitet ist, daß nicht sie es ist, die bewirkt, daß ein Ding Form annimmt, daß man diese Raumschale aufbrechen, die Obstschüssel zerschlagen muß – um statt dessen, was zu malen? Kuben, Kugeln, Kegel, wie er einmal gesagt hat? Reine Formen, die die Solidität dessen haben, was durch ein inneres Konstruktionsgesetz definiert werden kann, und die alle zusammen, als Umrisse oder Querschnitte des Dinges, es zwischen ihnen erscheinen lassen wie ein Gesicht zwischen Schilfrohren? Das hieße, die Solidität des Seins auf die eine und seine Mannigfaltigkeit auf die andere Seite stellen. Cézanne hat in seiner mittleren Periode schon eine Erfahrung dieser Art gemacht. Er ist direkt auf das Solide, auf den Raum ausgewesen – und hat festgestellt, daß die Dinge Farbe gegen Farbe zu rücken und in der Unstabilität zu modulieren beginnen, weil dieser Raum als Büchse oder Behälter [34] zu weit für sie ist.1 Raum und Inhalt müssen also gemeinsam gesucht werden. Das Problem verallgemeinert sich, es ist nicht mehr nur das der Entfernung, der Linie und der Form, sondern auch das der Farbe.

Sie ist der „Ort, wo sich unser Gehirn und das Weltall begegnen“, sagt Klee in jener wunderbaren Sprache eines Handwerkers des Seins, die er gern benutzte.2 Zu ihren Gunsten muß man die Form als Schauspiel sprengen. Es geht also nicht um Farben als ein „Scheinbild der Naturfarben“3, sondern um die Farbendimension, jene, die von sich zu sich selbst, Identitäten, Unterschiede, ein Gewebe, eine Materialität, ein Etwas schaffen … Es gibt jedoch ganz entschieden kein Rezept des Sichtbaren, weder die Farbe noch der Raum allein ist eines. Die Rückkehr zur Farbe hat das Verdienst, ein wenig näher ans „Herz der Dinge“4 heranzuführen: Aber dieses ist sowohl jenseits der Farbe als Hülle wie des Raumes als Hülle. Das Porträt von Vallier durchsetzt die Farben mit weißen Tönen, deren Funktion es forthin ist, ein allgemeineres Sein herauszubilden und sich abheben zu lassen, als das Gelb- oder Grün- oder Blausein – wie auf den Aquarellen der letzten Jahre der Raum, den man für die Evidenz selbst hielt und von dem man meinte, daß wenigstens für ihn die Frage nach dem Wo sich nicht stellt, von Flächen ausstrahlt, die keinem Ort sich zuordnen lassen, eine „Überlagerung durchsichtiger Oberflächen“, eine „schwebende Bewegung von Farbflächen, die sich überdecken, vorrücken und zurückweichen“5.

Wie man sieht, handelt es sich nicht mehr darum, den beiden Dimensionen der Leinwand eine dritte hinzuzufügen, eine Sinnestäuschung oder gegenstandslose Wahrnehmung zuwege zu bringen, deren Vollkommenheit darin läge, soviel als möglich dem empirischen Sehen zu ähneln. Die Tiefe des Bildes (und ebenso die gemalte Höhe und Breite) tragen sich von irgendwoher auf, keimen auf dem, was sie trägt. Das Sehen des Malers ist nicht mehr ein Blick auf ein Äußeres, eine bloß „physikalisch-optische“6 Beziehung zur Welt. Die Welt liegt nicht mehr durch Vorstellung vor ihm. Vielmehr ist es der Maler, der in den Dingen geboren wird wie durch eine Konzentration und ein Zu-sich-Kommen des Sichtbaren, und das Gemälde bezieht sich schließlich nur dann auf irgend etwas unter den empirischen Dingen, wenn es zunächst „autofigurativ“ ist; es ist nur insofern Schauspiel von irgend etwas, als es „Schauspiel von nichts“7 ist, indem es die „Haut der Dinge“8 sprengt, [35] um zu zeigen, wie Dinge zu Dingen und die Welt zur Welt wird. Apollinaire sagte, es gäbe in einem Gedicht Sätze, die nicht gebildet worden, sondern sich geformt zu haben scheinen. Und Henri Michaux meinte, daß zuweilen die Farben von Klee langsam auf der Leinwand entstanden, aus einer ursprünglichen Tiefe hervorgegangen, „an der rechten Stelle ausgeströmt“1 zu sein scheinen wie Patina oder Schimmel. Die Kunst ist nicht Konstruktion, Kunstgriff, geschicktes Verhältnis zu einem umgebenden Raum und einer Außenwelt. Sie ist wirklich der „unartikulierte Schrei, der die Stimme des Lichts zu sein schien“, von dem Hermes Trismegistos spricht. Ist er einmal da, so erweckt er im gewöhnlichen Sehen schlummernde Fähigkeiten, das Geheimnis einer Präexistenz. Wenn ich auf dem Grunde des Schwimmbeckens durch das Wasser hindurch die Fliesen sehe, sehe ich sie nicht trotz des Wassers und der Reflexe, ich sehe sie eben durch diese hindurch, vermittels ihrer. Wenn es nicht jene Verzerrungen, jene durch die Sonne verursachten Streifen gäbe, wenn ich die Geometrie der Fliesen ohne diesen Leib sähe, dann würde ich aufhören sie zu sehen, wie sie sind, wo sie sind, nämlich: weiter weg als jeder sich selbst gleiche Ort. Vom Wasser selbst, vom Vermögen des Wäßrigen, vom flüssigen und spiegelnden Element kann ich nicht sagen, daß es im Raume sei: Es ist nicht anderswo, aber es ist nicht im Schwimmbecken. Es bewohnt es, materialisiert sich in ihm, ist nicht in ihm enthalten, und wenn ich den Blick zur Wand der Zypressen lenke, wo das Netz der Reflexe spielt, so kann ich nicht leugnen, daß das Wasser sie ebenfalls aufsucht oder ihnen zumindest sein aktives und lebendiges Wesen zusendet. Diese innere Belebtheit ist es, dieses Ausstrahlen des Sichtbaren, die der Maler unter den Namen „Tiefe“, „Raum“, „Farbe“ sucht.

Denkt man daran, so ist es erstaunlich, daß ein guter Maler oft auch eine gute Zeichnung oder eine gute Skulptur zustande bringt. Da weder die Ausdrucksmittel noch die Gesten vergleichbar sind, liegt darin der Beweis, daß es ein System von Äquivalenzen gibt, ein Logos der Linien, Lichter, Farben, Reliefs, Massen, eine begriffslose Darbietung des universellen Seins. Das Bemühen der modernen Malerei hat nicht so sehr darin bestanden, zwischen Linie und Farbe zu wählen, oder gar zwischen der Darstellung der Dinge und der Schaffung von Zeichen, als vielmehr darin, die Äquivalenzsysteme zu vermehren, ihrem Haften an der Hülle der Dinge ein Ende zu bereiten, was neue Materialien und neue Ausdrucksmittel erfordern kann, bisweilen aber auch in der Überprüfung und Neuverwendung der schon bestehenden sich verwirklicht. Es hat zum Beispiel eine prosaische Auffassung der Linie als positives Attribut und als Eigenschaft des Gegenstandes an sich gegeben. So werden der Umriß des Apfels oder die Abgrenzung des Ackers und der Wiese für in der Welt gegenwärtig gehalten, für eine Punktierung, die der Bleistift [36] oder der Pinsel nur noch nachzuziehen braucht. Jene Linie wird von der ganzen modernen Malerei in Frage gestellt, wahrscheinlich sogar von jeder Malerei, da Leonardo da Vinci in seiner ‚Abhandlung über die Malerei‘ davon sprach, „in jedem Gegenstand… die besondere Weise… zu entdecken, nach der sich über seine ganze Ausdehnung hin… eine gewisse flexible Linie zieht, die gleichsam seine erzeugende Achse ist“1. Ravaisson und Bergson haben hier etwas Wichtiges gespürt, ohne daß sie es wagten, das Orakel restlos auszudeuten. Bergson sucht die „individuelle Schlängellinie“ kaum anderswo als bei lebendigen Wesen und gibt nur andeutungsweise zu verstehen, daß die Wellenlinie „keine der sichtbaren Linien der Figur zu sein braucht“, daß sie „ebensowenig hier wie dort ist“ und daß sie dennoch „den Schlüssel zu allem bildet“.2 Er steht auf der Schwelle jener ergreifenden Entdeckung, die den Malern schon vertraut ist, daß es keine an sich sichtbaren Linien gibt, daß weder der Umriß des Apfels noch die Begrenzung des Ackers oder der Wiese hier oder dort sind, daß sie sich immer diesseits oder jenseits des betrachteten Punktes befinden, immer zwischen oder hinter dem, was man fixiert, und von den Dingen angezeigt, impliziert, ja sogar sehr gebieterisch verlangt werden, aber selbst keine Dinge sind. Sie wurden für Begrenzungen des Apfels und der Wiese gehalten, aber der Apfel und die Wiese „formen sich“ von selbst und steigen in das Sichtbare herab, als kämen sie aus einer vorräumlichen Hinterwelt… Nun schließt die Anfechtung der prosaischen Linie keineswegs jede Linie in der Malerei aus, wie es die Impressionisten vielleicht geglaubt haben. Es handelt sich nur darum, sie freizulegen, ihre konstituierende Kraft wieder aufleben zu lassen, wie man sie ja auch ohne jeden Widerspruch bei Malern wie Klee oder Matisse wiederauftauchen und triumphieren sieht, die mehr als irgend jemand an die Farbe geglaubt haben. Denn fortan, wie Klee sagt, ahmt sie nicht mehr das Sichtbare nach, sie „macht sichtbar“, sie ist der Aufriß einer Genese der Dinge. Niemals vielleicht vor Klee hatte man „eine Linie träumen lassen“3. Der Anfang des Linienzuges legt eine bestimmte Ebene oder einen Modus des Linearen fest, eine bestimmte Seins- und Entstehungsweise der Linie, „als Linie zu laufen“4. Ihr gegenüber hat jede Krümmung, die folgt, einen diakritischen Wert, wird eine Beziehung der Linie zu sich selbst sein, ein Geschick, eine Geschichte, einen Sinn der Linie bilden, je nachdem sie mehr oder weniger, schneller oder langsamer, merklich oder weniger merklich abweichen wird. Während sie durch den Raum zieht, nagt sie indessen am prosaischen Raum und den partes extra partes, entwickelt sie eine Weise, sich [37] aktiv im Raum auszudehnen, in der sowohl die Räumlichkeit eines Dinges als auch die eines Apfelbaumes und eines Menschen mit inbegriffen sind. Nur brauchte der Maler, um die erzeugende Achse eines Menschen anzugeben, wie Klee sagt, „ein so verwirrendes Liniendurcheinander, daß von einer reinen elementaren Darstellung nicht die Rede sein könnte“1. Möge er also, wie Klee, beschließen, sich streng an das Prinzip der Entstehung des Sichtbaren, der fundamentalen, indirekten oder, wie Klee sagte, absoluten Malerei zu halten – indem er dem Titel die Sorge anvertraut, durch seinen prosaischen Namen das so geschaffene Sein zu bezeichnen, um die Malerei reiner noch als Malerei fungieren zu lassen – oder möge er im Gegenteil, wie Matisse in seinen Zeichnungen, meinen, in eine einzige Linie sowohl die prosaische Kennzeichnung des Wesen als auch den blinden Vorgang zu legen, der in ihr Weichheit oder Trägheit und Kraft miteinander verbindet, um es als Akt, als Gesicht oder als Blume zu schaffen: der Unterschied zwischen beiden ist nicht so groß. Es gibt zwei Stechpalmenblätter, die Klee in der gegenständlichsten Weise gemalt hat, und die zunächst ganz und gar nicht zu entziffern sind, die bis zuletzt ungeheuerlich, unwahrscheinlich und geisterhaft bleiben vor lauter „Genauigkeit“. Auch die Frauen von Matisse (man erinnere sich an die sarkastischen Bemerkungen der Zeitgenossen) waren nicht unmittelbar Frauen, sie sind es geworden: Matisse ist es, der uns gelehrt hat, seine Umrisse zu sehen, nicht auf „physikalisch-optische“ Art, sondern als Nervenstränge und Achsen eines Systems fleischlicher Aktivität und Passivität. Gegenständlich oder nicht, die Linie ist jedenfalls nicht mehr Nachahmung der Dinge oder selbst Ding. Sie ist eine bestimmte Verrückung des Gleichgewichtes auf der Indifferenz des weißen Papiers, eine bestimmte Bohrung im Ansich, eine bestimmte konstitutive Leere, von der die Statuen von Moore unwiderlegbar zeigen, daß sie die vorgebliche Positivität der Dinge trägt. Die Linie ist nicht mehr, wie in der klassischen Geometrie, die Erscheinung eines Seins auf der Leere des Hintergrunds; sie ist, wie in den modernen Geometrien, Einschränkung, Absonderung, Modulation einer vorherigen Räumlichkeit.

So wie die Malerei die latente Linie geschaffen hat, hat sich die Malerei auch eine Bewegung ohne Ortsveränderung durch Vibration oder Ausstrahlung geschaffen. Da ja die Malerei, wie man sagt, eine Kunst des Raumes ist, muß sie notwendig auf der Leinwand oder dem Papier entstehen und hat nicht die Möglichkeit, Bewegliches zu erzeugen. Aber die unbewegliche Leinwand könnte eine Ortsveränderung suggerieren, wie der Zug einer Sternschnuppe mir auf meiner Netzhaut ein Entlanggleiten, ein Bewegen suggeriert, das er nicht in sich schließt. Das Gemälde würde meinen Augen ungefähr das darbieten, was ihnen die wirklichen Bewegungen darbieten: aneinandergereihte momentane An[38]sichten, in geeigneter Weise vermischt, die zwischen einem Vor und einem Nach schwankende Haltungen aufweisen, wenn es sich um Lebewesen handelt, kurz, die äußerlichen Kennzeichen eines Ortswechsels, die der Betrachter aus dem Linienzug des Bildes herauslesen würde. Eben hier erhält die berühmte Bemerkung von Rodin ihr ganzes Gewicht: die momentanen Ansichten, die schwankenden Haltungen versteinern die Bewegung – wie es soviel Fotografien lehren, auf denen der Athlet für immer erstarrt ist. Man würde ihn nicht auftauen, indem man die Ansichten vermehrte. Die Fotografien von Marey, die kubistischen Analysen, die ‚Braut‘ von Duchamp bewegen sich nicht: sie inspirieren einen zenonischen Traum von der Bewegung. Man sieht einen Körper starr, wie eine Rüstung, die ihre Gliedmaßen spielen läßt, er ist auf magische Weise hier und dort, aber er geht nicht von hier nach dort. Der Film vermittelt die Bewegung, aber wie? Etwa, wie man meint, in dem er den Ortswechsel aus größerer Nähe kopiert? Man darf annehmen, daß dem nicht so ist, da ja die Zeitlupe einen Körper darbietet, der wie eine Alge zwischen den Gegenständen schwankt und der sich nicht bewegt. Was die Bewegung vermittelt, sagt Rodin1, ist ein Bild, wo die Arme, die Beine, der Rumpf und der Kopf je zu einem anderen Zeitpunkt erfaßt sind, das also den Körper in einer Haltung darstellt, die er zu keinem Zeitpunkt eingenommen hat, und seinen Teilen fiktive Verbindungen aufzwingt, als wenn allein dieses Zusammentreffen von Unzusammengehörigem in der Bronze und auf der Leinwand den Übergang und die Dauer hervorbringen könnte. Die einzigen gelungenen Momentaufnahmen einer Bewegung sind diejenigen, die jener paradoxen Anordnung nahekommen, wenn zum Beispiel der gehende Mensch in dem Augenblick erfaßt worden ist, wo seine beiden Füße den Boden berührten: denn dann hat man fast die zeitliche Allgegenwart des Körpers, die bewirkt, daß der Mensch im Raume ausschreitet. Durch seine innere Unstimmigkeit macht das Bild die Bewegung sichtbar; die Stellung eines jeden Gliedes ist eben deshalb, weil sie nach der Logik des Körpers mit der der anderen unvereinbar ist, anders datiert, und da alle Glieder sichtbar in der Einheit eines Körpers verbleiben, ist er es, der die Dauer zu durchschreiten beginnt. Seine Bewegung ist etwas, das in irgendeinem virtuellen Brennpunkt zwischen Beinen, Rumpf, Armen und Kopf vorausgedacht wird und sich erst dann in einer Ortsveränderung Bahn bricht. Warum macht das fotografierte Pferd in dem Augenblick, wo es nicht den Boden berührt, in voller Bewegung also mit unter ihm fast zurückgekrümmten Beinen, den Eindruck, als würde es auf der Stelle springen? Und warum galoppieren die Pferde von Gericault auf der Leinwand, jedoch in einer Stellung, die kein galoppierendes Pferd jemals eingenommen hat? Deshalb, weil die Pferde des Derby von Epsom mich den Übergriff des Körpers auf den Boden sehen lassen und weil [39] nach einer Logik des Körpers und der Welt, die ich gut kenne, diese Übergriffe auf den Raum auch Übergriffe auf die Dauer sind. Rodin hat hierfür ein bedeutsames Wort: „Es ist der Künstler, der die Wahrheit spricht und das Foto, welches lügt, denn in der Wirklichkeit steht die Zeit nicht still.“1 Die Fotografie hält die Augenblicke offen, die das Vorwärtstreiben der Zeit sofort wieder schließt, sie zerstört das Überschreiten, das Ineinandergreifen, die „Metamorphose“ der Zeit, die die Malerei dagegen sichtbar macht, weil die Pferde die Bewegung „von hier weg nach dorthin“2 in sich haben, weil sie einen Fuß in jeden Augenblick setzen. Die Malerei sieht nicht das Äußere der Bewegung, sondern ihre verborgenen Chiffren. Es gibt deren noch subtilere als jene, von denen Rodin spricht: Alles Körperliche, auch das der Welt, strahlt nach außen aus. Ob man sich nun aber, je nach der Epoche und den Schulen, mehr der sinnfälligen Bewegung oder dem Monumentalen verschreibt, die Malerei ist niemals ganz und gar außerhalb der Zeit, weil sie immer im Körperlichen ist.

Man spürt jetzt vielleicht besser, was alles jenes kleine Wort „sehen“ in sich trägt. Das Sehen ist kein bestimmter Modus des Denkens oder eine Selbstgegenwart; es ist mein Mittel, von mir selbst abwesend zu sein, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner selbst innewerde.

Die Maler haben das immer gewußt. Leonardo da Vinci3 regt eine „Malwissenschaft“ an, die nicht durch Worte spricht (und noch viel weniger durch Zahlen), sondern durch Werke, die im Sichtbaren nach Art der natürlichen Dinge existieren und die sich dennoch durch jene „allen Generationen der Welt“ mitteilt. Jene verschwiegene Wissenschaft, die, wie Rilke im Hinblick auf Rodin sagt, in das Werk die „nicht entsiegelten“ Formen der Dinge eingehen läßt4, entstammt dem Auge und richtet sich an das Auge. Man muß das Auge als das „Fenster der Seele“ verstehen. „Das Auge … durch das die Schönheit der Welt unserer Betrachtung geöffnet wird, hat einen so großen Wert, daß, wer auch immer sich in seinen Verlust fügte, sich darum brächte, alle Werke der Natur kennenzulernen, deren Anblick die Seele zufrieden im Gefängnis des Körpers verharren läßt, dank der Augen, die ihr die unendliche Vielfalt der Schöpfung gegenwärtig machen: wer sie verliert, überantwortet jene Seele einem dunklen Gefängnis, wo alle Hoffnung schwindet, die Sonne, das Licht der Welt, wieder zu sehen.“

Das Auge vollbringt das Wunder, der Seele das zu öffnen, was nicht Seele ist, die glückselige Welt der Dinge und ihren Gott, die Sonne. Ein [40] Kartesianer mag glauben, daß die existierende Welt nicht sichtbar sei, daß es nur ein geistiges Licht gebe, daß alles Sehen in Gott geschehe. Ein Maler kann nicht zugeben, daß unsere Öffnung zur Welt illusorisch oder indirekt sei, daß das, was wir sehen, nicht die Welt selber sei, daß der Geist nur mit seinen eigenen Gedanken oder einem anderen Geiste zu tun habe. Er akzeptiert den Mythos von den Fenstern der Seele mit allen seinen Schwierigkeiten: Was ohne Ort ist, muß einem Körper unterworfen werden, mehr noch: muß durch ihn mit allen anderen und der Welt vertraut gemacht werden. Was das Sehen uns lehrt, muß wörtlich genommen werden: daß es uns die Sonne, die Sterne berühren läßt, daß wir zur gleichen Zeit überall sind, ebenso nahe an den entfernten wie an den nahen Dingen, und daß sogar unsere Fähigkeit, uns selbst anderswo vorzustellen – „Ich liege in meinem Bett in Petersburg, in Paris, meine Augen erblicken die Sonne“1 –, die Fähigkeit, frei auf wirkliche Wesen, wo immer sie seien, unser Augenmerk zu richten, immer noch dem Sehen entlehnt ist und Mittel, die wir von ihm haben, wieder verwendet. Es allein lehrt uns, daß andersartige, einander „äußerliche“ und fremde Wesen dennoch durchaus beieinander sind, es lehrt uns die „Gleichzeitigkeit“ – ein Geheimnis, mit dem die Psychologen umgehen wie ein Kind mit Sprengstoff. Robert Delaunay sagt kurz: „Der Schienenweg bietet das Bild des Sukzessiven, das sich der Parallele nähert: die Parität der Schienen.“2

Die Schienen, die zusammenlaufen und doch nicht zusammenlaufen, die zusammenlaufen, um dahinten gleich weit entfernt zu bleiben, die Welt, die meiner Perspektive gemäß ist, um von mir unabhängig zu sein, die für mich ist, um ohne mich zu sein, Welt zu sein. Das „visuelle quale“ gewährt mir, und nur mir allein, die Gegenwart dessen, was nicht ich ist, dessen, was einfach und schlechthin ist. Es ist dazu fähig, weil es als Gebilde die Konkretisierung einer universellen Sichtbarkeit ist, eines einzigen Raumes, der trennt und vereinigt, der allen Zusammenhang trägt (selbst den von Vergangenheit und Zukunft, denn wenn sie nicht am selben Raum teilhätten, bestünde er nicht). Jedes visuelle Ding wirkt trotz seiner Individualität auch als Dimension, weil es sich als Ergebnis einer Entfaltung des Seins darbietet. Das bedeutet letzten Endes, daß es dem Sichtbaren eigentümlich ist, im strengsten Sinne des Wortes durch ein Unsichtbares gedoppelt zu sein, das es als ein gewissermaßen Abwesendes gegenwärtig macht. „So hatten zu ihrer Zeit unsere gestrigen Antipoden, die Impressionisten, völlig recht, bei den Wurzelschößlingen, beim Bodengestrüpp der täglichen Erscheinungen zu wohnen. Unser pochendes Herz aber treibt uns hinab, tief hinunter zum Urgrund … Dann werden jene Kuriosa zu Realitäten… weil sie nicht nur Gesehenes mehr oder weniger temperamentvoll wiedergeben, son[41]dern geheim Erschautes sichtbar machen.“1 So gibt es das, was das Auge von vorn trifft, die frontalen Eigenschaften des Sichtbaren – aber auch das, was es von unten her trifft, die tiefe Verborgenheit der jeweiligen Haltung, die der Körper einnimmt, um zu sehen – und es gibt das, was das Sehen obendrein trifft, all die Phänomene des Fliegens, Schwimmens, der Bewegung, wo es nicht mehr teilhat an der Schwere der Ursprünge, sondern an den freien Vollendungen.2 Der Maler berührt durch sein Sehen beide Extreme. Auf dem unvordenklichen Grunde des Sichtbaren hat sich etwas bewegt, hat sich entzündet, das nun seinen Körper überkommt, und alles, was er malt, ist eine Antwort auf diese Anregung, seine Hand „nur das Instrument eines fernen Willens“. Wie auf einem Kreuzwege ist sein Sehen die Begegnung aller Aspekte des Seins. „Ein gewisses Feuer, zu werden, lebt auf, leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt als Funke, den Kreis schließend, woher es kam: Zurück ins Auge und weiter.“3 In diesem Kreislauf gibt es keinen Bruch, unmöglich zu sagen, daß an einer bestimmten Stelle die Natur ende und der Mensch oder der Ausdruck beginne. So ist es das stumme Sein, das selber dazu kommt, seinen eigenen Sinn zu manifestieren. Eben deshalb ist die Alternative einer gegenständlichen oder nichtgegenständlichen Darstellung schlecht gestellt: es ist wahr und widerspruchslos zugleich, daß keine Weintraube je das gewesen ist, was sie in der gegenständlichsten Malerei ist, und daß keine Malerei, selbst die abstrakte, dem Sein entraten kann, daß die Weintraube Caravaggios die Weintraube selbst ist.4 Dieses Vorausgehen dessen, was ist, vor dem, was man sieht und sehen läßt, dessen, was man sieht und sehen läßt, vor dem, was ist – eben das ist Sehen. Will man die ontologische Formel der Malerei angeben, so braucht man den Worten des Malers kaum etwas hinzuzufügen, wie ja Klee selbst mit 37 Jahren jene Worte niederschrieb, die man seinem Grabstein eingraviert hat: „Diesseitig bin ich gar nicht faßbar.“5

V

Da Tiefe, Farbe, Form, Linie, Bewegung, Umriß und Physiognomie Verzweigungen des Seins sind und da jede von ihnen den ganzen Baumwipfel umfassen kann, gibt es in der Malerei keine isolierten „Pro[42]bleme“ noch wirklich entgegengesetzte Wege, noch partielle „Lösungen“, noch einen Fortschritt durch Anreicherung, noch ein unwiderrufliches Optieren. Es ist niemals ausgeschlossen, daß der Maler eines der Embleme wiederaufgreift, die er beiseite geschoben hatte, natürlich indem er es anders sprechen läßt: die Umrisse von Rouault sind nicht die Umrisse von Ingres. Das Licht – „eine alte Sultanin“, sagt Georges Limbour, „deren Reize zu Beginn dieses Jahrhunderts verblichen sind“1 –, das Licht, das zunächst von den Malern aus der Materie vertrieben war, erscheint schließlich bei Dubuffet wieder, als eine Art Gewebe der Materie. Vor solcher Umkehr ist man niemals sicher. Noch vor völlig unerwarteten Übereinstimmungen: es gibt Fragmente von Rodin, die Statuen von Germaine Richier sind, weil beide Bildhauer waren, das heißt an ein und dasselbe Netz des Seins angeschlossen. Aus dem selben Grunde ist nichts jemals verbürgt. Indem der Maler an einem seiner geliebten Probleme „arbeitet“, sei es dem des Samtes oder der Wolle, wirft er ohne sein Wissen die Gegebenheiten aller anderen über den Haufen. Selbst wenn es nur partiell zu sein scheint, ist sein Forschen immer total. Sobald er eine bestimmte Fertigkeit erlangt hat, bemerkt er, daß er ein neues Feld eröffnet hat, wo alles, was er vorher hatte ausdrücken können, in anderer Weise noch einmal gesagt werden muß. Was er gefunden hat, besitzt er noch nicht; es muß noch gesucht werden, der Fund ist das, was neue Forschungen hervorruft. Die Idee einer universellen Malerei, einer Totalisierung der Malerei, einer vollständig verwirklichten Malerei ist sinnlos. Sollte die Welt auch Millionen von Jahren dauern, für die Maler, wenn es dann noch welche gibt, wird sie noch zu malen sein, sie wird enden, ohne vollendet worden zu sein. Panofsky zeigt, daß die „Probleme“ der Malerei, die ihrer Geschichte den Weg weisen, oft auf Umwegen gelöst werden, nicht im Verfolg der Forschungen, die sie zunächst gestellt hatten, sondern im Gegenteil, wenn die Maler, am Ende der Sackgasse angelangt, sie zu vergessen scheinen, sich anderswohin ziehen lassen, sie plötzlich dann auf einem ganz anderen Wege wiederfinden und das Hindernis überwinden. Diese blinde Geschichtlichkeit, die im Labyrinth auf Umwegen, durch Übertretungen, Sprünge und plötzliche Schübe vorankommt, bedeutet nicht, daß der Maler nicht weiß, was er will, sondern daß das, was er will, diesseits der Ziele und Mittel liegt und von oben her all unsere nützliche Aktivität bestimmt.

Wir sind so sehr in der klassischen Vorstellung der Verstandesadäquatheit befangen, daß dieses stumme „Denken“ der Malerei uns bisweilen den Eindruck eines nichtigen Strudels von Bedeutungen, einer paralysierten oder fehlgeschlagenen Sprache hinterläßt. Und wenn man antwortet, daß kein Denken sich ganz und gar von einem Träger löst, [43] daß es das einzige Privileg des sprachlichen Denkens ist, das seinige handlich gemacht zu haben, daß ebensowenig wie die Gestalten der Malerei die der Literatur und der Philosophie verbürgt sind, sich in einem stabilen Schatz ansammeln, daß selbst die Naturwissenschaft eine Zone des „Fundamentalen“ anzuerkennen lernt, die, von dichten, offenen und zerrissenen Wesen bevölkert, man keineswegs erschöpfend behandeln kann, wie die „ästhetische Information“ der Kybernetiker und die mathematisch-physikalischen „Operationsgruppen“, und daß wir schließlich nirgends imstande sind, eine objektive Bilanz zu ziehen, noch einen Fortschritt an sich zu denken, daß die ganze menschliche Geschichte in gewissem Sinne stillsteht, was, sagt der Verstand, wie Lamiel, ist das alles? Besteht der Gipfelpunkt der Vernunft darin, jenes Schwinden des Bodens unter unseren Schritten festzustellen, einen Zustand fortwährender Benommenheit pompös eine Befragung zu nennen, ein Im-Kreise-Herumlaufen Forschen, und Sein dasjenige, was niemals ganz und gar ist?

Diese Enttäuschung jedoch ist die einer trügerischen Vorstellung, die eine Positivität verlangt, die ihre Leere gerade ausfüllt. Es ist das Bedauern, nicht alles zu sein. Ein Bedauern, das nicht einmal ganz begründet ist. Denn wenn wir weder in der Malerei noch anderswo eine Hierarchie der Zivilisation feststellen, noch von Fortschritt sprechen können, so nicht darum, weil uns irgendein Schicksal zurückhielte, sondern weil gewissermaßen die erste aller Malereien bis auf den Grund der Zukunft reichte. Wenn keine Malerei die Malerei vollendet, wenn sogar kein Werk sich absolut vollendet, dann verändert, verwandelt, erhellt, vertieft, bestätigt und erhöht jede Schöpfung alle anderen, erschafft sie wie der oder läßt sie im voraus entstehen. Wenn die Schöpfungen kein ein für allemal erworbener Besitz sind, so nicht nur darum, weil sie wie alle Dinge vergänglich sind, sondern auch, weil sie fast ihr ganzes Leben noch vor sich haben.

Le Tholonet, Juli-August 1960.

1 [18] G. Charbonnier: Le Monologue du peintre. Paris 1959, p. 172.

1 [21] G. Charbonnier, a. a. O., p. 34.

2 G. Charbonnier, a. a. O., p. 143-145.

3 Claudel: Introduction à la peinture hollandaise. Paris 1935. Neuaufl. 1946.

1 [22] P. Schilder: The image and appearance of the human body. New York 1935. Neuaufl. 1950.

2 Robert Delaunay: Du cubisme à l'art abstrait. Cahiers publiés par Pierre Francastel. Paris 1957.

1 [23] Dioptrique: Discours VII. Edit. Adam et Tannery, VI, p. 165.

2 Descartes: Discours I. Zit. Ausg., p. 83.

3 Ebd., p. 84.

1 [24] Descartes, a. a. O., IV, p. 112-114.

2 Ebd., p. 112-114.

3 Ebd., VI, p. 130.

1 [26] Das System der Mittel, durch die sie uns sehen läßt, ist Gegenstand der Wissenschaft. Warum also sollten wir nicht methodisch vollkommene Abbilder der Welt hervorbringen, eine universelle Malerei, die von der persönlichen Kunst befreit wäre, so wie eine allgemeine Sprache uns aller verworrenen Beziehungen entheben würde, von denen die existierenden Sprachen voll sind?

1 [27] E. Panofsky: Die Perspektive als symbolische Form, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, IV. (1924-1925).

1 [28] E. Panofsky, a. a. O.

1 [29] Descartes, a. a. O., VI, p. 135.

2 Ebd., p. 137.

1 [31] B. Dorival, Paul Cézanne, Ed. P. Tisné Paris 1948: Cézanne par ses lettres et ses témoins, p. 103 f.

1 [33] G. Charbonnier, a. a. O., p. 176.

2 R. Delaunay, zit. Ausg., p. 109.

1 [34] F. Novotny: Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive. Wien 1938.

2 W. Grohmann: Paul Klee, 1954, S. 141.

3 R. Delaunay, a. a. O., p. 118.

4 P. Klee: Tagebuch.

5 Georg Schmidt: Les aquarelles de Cézanne, p. 21.

6 P. Klee, a. a. O.

7 Ch. P. Bru: Esthétique de l'abstraction. Paris 1959, p. 86, 99.

8 H. Michaux: Aventures de lignes.

1 [35] H. Michaux, a. a. O.

1 [36] Ravaisson. Zit. v. H. Bergson: La vie et l'œuvre de Ravaisson, in: La Pensée et le mouvant. Paris 1934.

2 Ebd., p. 264-265.

3 H. Michaux, a. a. O.

4 Ebd.

1 [37] W. Grohmann, a. a. O., S. 192.

1 [38] Rodin: L'art, entretiens réunis par Paul Gsell. Paris 1911.

1 [39] Rodin, a. a. O., p. 86. Rodin benutzt den weiter unten zitierten Ausdruck „Metamorphose“.

2 H. Michaux, a. a. O.

3 Robert Delaunay, a. a. O., p. 175.

4 Rilke: Auguste Rodin. Paris 1928, p. 150.

1 [40] Robert Delaunay, a. a. O., p. 110 u. 115.

2 Ebd.

1 [41] Klee, Jenaer Vortrag, 1924, nach W. Grohmann, a. a. O., S. 367.

2 Klee: Wege des Naturstudiums, 1923, nach G. v. San Lazzaro, Klee.

3 Klee. Zit. bei W. Grohmann, a. a. O., S. 98.

4 A. Berne-Joffroys: Le dossier Caravage. Paris 1959, und Michel Butor: La Corbeille de l'ambrosienne, NRF. 1960.

5 Klee: Tagebücher, 1898-1918, S. 427.

1 [42] G. Limbour: Tableau bon levain à vous de cuire la pâte; l'art brut de Jean Dubuffet. Paris 1953.

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Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, 1964

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