Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:reko.mclu.1964
Die magischen Kanäle, 1964
Marshall McLuhan
Quelle
Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Aus dem Engl. von Meinrad Amann. Düsseldorf/Wien/New York/Moskau: ECON Verlag 1992, S. 22-24, 48-52, 80-85, 326-339. ISBN: 3-430-16404-4.
Erstausgabe
Understanding Media: The Extensions of Man. New York: McGraw-Hill 1964.
Genre
Buch
Medium
Film, Bild, Massenmedien
[22] […] Knapp bevor ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht, werden die Schallwellen an den Tragflächen des Flugzeugs sichtbar. Das plötzliche Sichtbarwerden des Schalls gerade dann, wenn der Schall aufhört, ist ein treffendes Beispiel jener großen Seinsgesetzmäßigkeit, die neue und gegensätzliche Formen offenbart, wenn frühere Formen gerade den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichen. Die Mechanisierung war nie so deutlich atomistisch oder kontinuierlich wie bei der Geburt des Films, dem Zeitpunkt also, der uns über die Mechanisierung hinaus in die Welt des Wachstums und der organischen Wechselbeziehungen [23] hineinführte. Der Film brachte uns, durch bloße Beschleunigung der Mechanik, von der Welt der Folge und Verbindung zur Welt der schöpferischen Gestalt und Struktur. Die Botschaft des Mediums Film ist die des Übergangs von linearer Verbindung zur Gestalt. Es ist der Übergang, der zu der nun vollkommen richtigen Bemerkung geführt hat: „Wenn es funktioniert, ist es überholt.“ Wenn die elektrische Geschwindigkeit noch mehr von den mechanischen Filmsequenzen übernimmt, werden die Kraftlinien in Strukturen und Medien laut und deutlich. Wir kehren zur allumfassenden Form des Bildsymbols zurück.
Einer hochalphabetisierten und mechanisierten Kultur erschien der Film als eine Welt triumphierender Illusionen und Träume, die man mit Geld kaufen konnte. In diesem Augenblick der Geschichte des Films kam der Kubismus auf, der von E. H. Gombrich in seinem Buch „Art and Illusion“ als „der gründlichste Versuch, Mehrdeutigkeit auszuschließen und einer Lesart des Bildes Geltung zu verschaffen – der eines von Menschenhand geschaffenen Werkes, einer mit Farbe behandelten Leinwand“ bezeichnet worden ist. Denn der Kubismus setzt alle Aspekte eines Gegenstandes gleichzeitig anstelle des „Augenpunktes“ oder des Aspekts der perspektivischen Illusion. Der Kubismus ersetzt die spezialisierte Illusion der dritten Dimension auf der Leinwand durch ein Wechselspiel von Ebenen und Widersprüchen oder durch einen spannungsgeladenen Widerstreit der Muster, Lichter und Anordnungen, die durch das Miteinbeziehen „die Botschaft an den Mann bringen“. So werden, wie viele behaupten, wirklich Gemälde geschaffen und nicht Illusionen.
Mit anderen Worten, der Kubismus gibt innen und außen, oben, unten, hinten, vorne und alles übrige in zwei Dimensionen wieder und läßt damit die Illusion der Perspektive zugunsten eines unmittelbaren sinnlichen Erfassens des Ganzen fallen. Mit diesem Griff nach dem unmittelbaren, totalen Erfassen verkündete der Kubismus plötzlich, daß das Medium die Botschaft ist. Ist es nicht klar, daß im selben Augenblick, in dem das Aufeinanderfolgen der Gleichzeitigkeit weicht, wir uns in der Welt der Struktur und Gestalt befinden? Ist nicht gerade das in der Physik wie in der Malerei, Dichtung und auf dem Gebiete der Kommunikation eingetreten? Die Aufmerksamkeit gilt nicht mehr [24] speziellen Teilaspekten, sondern wendet sich der Gesamtwirklichkeit zu, und wir können jetzt ganz natürlich sagen, „das Medium ist die Botschaft“.
[…] [48] 3. DIE UMKEHRUNG DES ÜBERHEIZTEN MEDIUMS
In einer Schlagzeile vom 21. Juni 1963 hieß es:
In 60 Tagen Inbetriebnahme des heißen Drahtes Moskau-Washington
Vom Genfer Büro der Londoner „Times“:
Das Abkommen über die Errichtung einer Fernmeldeverbindung für dringende Fälle zwischen Washington und Moskau wurde gestern von Charles Stelle für die Vereinigten Staaten und von Semjon Zarapkin für die Sowjetunion hier unterzeichnet …
Die Verbindung, die als heißer Draht bekannt ist, wird, wie wir von offizieller amerikanischer Seite erfahren, in 60 Tagen eröffnet werden. Es werden dabei gepachtete kommerzielle Systeme, das eine als Kabel, das andere drahtlos, mit Fernschreiberausrüstung verwendet werden.
Die Wahl des heißen Mediums des Drucks anstelle des kühlen, mitteilsamen Mediums des Telefons ist äußerst unglücklich getroffen. Zweifellos wurde die Entscheidung durch die literarische Tendenz des Westens zur gedruckten Form mitbeeinflußt, und zwar mit der Begründung, daß sie unpersönlicher als das Telefon ist. Die druckschriftliche Form zeigt in Moskau ganz andere Begleiterscheinungen als in Washington. Das gilt auch für das Telefon. Die Vorliebe der Russen für diesen, ihren mündlichen Traditionen geistig so eng verwandten Apparat ergibt sich aus der vollen, nichtvisuellen Beteiligung, die er mit sich bringt. Der Russe verwendet das Telefon zum selben Zweck, den wir mit dem hitzigen Reden eines Menschen verbinden, der uns am Kragen packt und dessen Gesicht nur zwölf Zoll von uns entfernt ist.
[49] Sowohl das Telefon wie der Fernschreiber stellen als Verstärkungen einer unbewußten kulturellen Tendenz Moskaus einerseits und Washingtons andererseits geradezu eine Aufforderung zu ungeheuren Mißverständnissen dar. Der Russe, der „Horchwanzen“ in Zimmern anbringt und Abhörspionage betreibt, findet das ganz natürlich. Er ist jedoch außer sich über die optische Spionage des Fotografierens und findet das ganz unnatürlich.
Das Prinzip, daß alle Dinge während ihres Entwicklungsstadiums in Formen erscheinen, die jenen, die sie dann endgültig annehmen, entgegengesetzt sind, ist eine alte Weisheit. Das Interesse an diesem Vermögen, sich durch Entfaltung ins Gegenteil zu verkehren, ist aus einer Vielzahl von oft weisen, oft erheiternden Beobachtungen ersichtlich. Alexander Pope schrieb:
Des Lasters Gesicht ist mit Fratzen bedeckt,
Daß sein Anblick allein in uns Abscheu erweckt;
Doch seh‘n wir es zu oft, vertraut mit dem Wahn,
Ertragen, bedauern und nehmen wir‘s an.
Eine Raupe, die einen Schmetterling anstarrte, soll bemerkt haben: „Na, mich wirst du nie in einem dieser verdammten Dinger erwischen.“
Wir haben auf einer anderen Ebene in diesem Jahrhundert gesehen, wie man, nachdem die überlieferten Mythen und Legenden entlarvt worden waren, dazu überging, sie ehrfürchtig zu studieren. Sobald wir beginnen, tiefenpsychologisch auf das gesellschaftliche Leben und die sozialen Probleme der zum Dorf gewordenen Welt zu reagieren, werden wir zu Reaktionären. Die Beteiligung als Begleiterscheinung unserer instantanen Techniken verwandelt alle, auch noch so „sozialbewußten“ Menschen in Konservative. Als der Sputnik zum erstenmal auf die Umlaufbahn gebracht wurde, ließ eine Lehrerin ihre Zweitkläßler ein Gedicht zu diesem Thema schreiben. Ein Kind schrieb:
Die Sterne – so groß,
Die Erde – so klein,
Bleib‘ wie du bist.
[50] Beim Menschen sind das Wissen und der Erkenntnisprozeß gleiche Größen. Unser Vermögen, Sternsysteme genausogut wie subatomare Strukturen zu begreifen, ist eine Entwicklung von Fähigkeiten, die diese einschließt und über sie hinausführt. Der Zweitkläßler schrieb mit eigenen Worten über das Leben in einer Welt, die viel größer als irgendeine ist, die ein Wissenschaftler heute mit Instrumenten messen oder mit Begriffen beschreiben kann. W. B. Yeats schrieb über diese Umkehrung: „Die sichtbare Welt ist keine Wirklichkeit mehr, und die unsichtbare Welt ist kein Traum mehr.“
Verbunden mit dieser Umwandlung der realen Welt in die Utopie des Science- fiction, ist die Umkehrung nun in vollem Gange, wobei sich die westliche Welt ostwärts und die östliche Welt westwärts bewegt. Joyce gab diese gegenläufige Umkehrung in seinem rätselhaften Ausdruck verschlüsselt wieder:
Der Westen rüttelt den Osten wach
Doch ihr habt dann die Nacht zum Morgen.
Der Titel seines „Finnegans Wake“ enthält eine ganze Gruppe von vielschichtigen Wortspielen über die Umkehrung, mit der der westliche Mensch den Kreis des primitiven Stammes oder des „Finn“ von neuem betritt und der Spur des alten Finn folgt, diesmal aber hellwach ist, wenn er wieder in das primitive Dunkel des Stammes tritt. Das ist wie unser gegenwärtiger Zustand, in dem wir uns des Unbewußten bewußt sind.
Der Sprung der Geschwindigkeit vom Mechanischen hinauf zur instantanen elektrischen Form verkehrt die Explosion in Implosion. In unserem gegenwärtigen Zeitalter der Elektrizität prallen die Kräfte der Implosion oder Zusammenziehung unserer Welt mit den alten traditionellen Organisationsformen der Explosion zusammen. Bis vor kurzem hatten unsere sozialen, politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen und Vereinbarungen ein einspuriges Schema gemeinsam. Wir halten es immer noch für „explosiv“ oder expansiv; und obwohl es nicht mehr zutrifft, sprechen wir immer noch von der Bevölkerungsexplosion und der explosionsartigen Ausdehnung des Bildungswesens.
In Wirklichkeit ist es nicht die zahlenmäßige Zunahme auf der Welt, die [51] unser Bevölkerungsproblem schafft. Es ist vielmehr der Umstand, daß jeder auf der Welt in nächster Nähe des andern leben muß, weil wir, durch die Elektrizität bedingt, am Leben der andern aktiv Anteil nehmen. So ist es auch im Bildungswesen nicht die Anzahl der Lernbegierigen, die zur Krise führt. Unsere gegenwärtigen Bildungsprobleme ergeben sich aus der Umstellung auf die Koordination des Wissens, nachdem die einzelnen Fächer des Lehrplans völlig voneinander getrennt gewesen waren. Die Souveränität mancher Lehrkanzel ist unter den von der elektrischen Geschwindigkeit geschaffenen Bedingungen so rasch geschwunden wie die manch eines Nationalstaates. Das sture Beharren auf den alten Schemata der mechanischen, einspurigen Ausdehnung vom Zentrum zur Peripherie ist mit unserer elektrischen Welt nicht mehr vereinbar. Die Elektrizität zentralisiert nicht, sie dezentralisiert. Es ist das wie der Unterschied zwischen einem Eisenbahnnetz und einem elektrischen Gitternetz: Das eine macht Kopfbahnhöfe und große Städtezentren erforderlich. Die elektrische Energie, die dem Bauernhof wie den Verwaltungsbüros in gleicher Weise zur Verfügung steht, macht es möglich, daß jeder Ort zum Zentrum wird, und verlangt keine massiven Anhäufungen.
Dieses Schema der Umkehrung zeigt sich ziemlich früh bei den elektrischen „arbeitssparenden“ Apparaten, sei es nun ein Toaster, eine Waschmaschine oder ein Staubsauger. Anstatt Arbeit zu sparen, wird es jedermann möglich, seine eigene Arbeit zu tun. Was das neunzehnte Jahrhundert Dienern und Dienstmädchen aufgetragen hatte, tun wir jetzt selber. Dieser Grundsatz gilt im Zeitalter der Elektrizität ganz allgemein. In der Politik ermöglicht er Castro, unabhängig als Kern oder Zentrum zu existieren. Er würde Quebec die Möglichkeit geben, die Kanadische Union in einer Weise zu verlassen, wie es unter dem System der Eisenbahn völlig undenkbar gewesen wäre. Die Eisenbahn verlangt einen einheitlichen politischen und wirtschaftlichen Raum. Andererseits erlauben Flugzeug und Radio die größte Diskontinuität und Mannigfaltigkeit in der Raumordnung.
Heute ist das große Prinzip der klassischen Physik, Wirtschafts- und Staatswissenschaft, nämlich das der Teilbarkeit jedes Prozesses durch reine Ausweitung, in die ganzheitliche Feldtheorie umgeschlagen; und die Automation in der Industrie ersetzt die Teilbarkeit eines Prozesses [52] durch die organische Verflechtung aller Funktionen zu einem Komplex. Das elektromagnetische Band folgt dem Fließband.
Im gegenwärtigen elektrischen Zeitalter der Information und der programmierten Produktion nehmen sogar Waren immer mehr den Charakter von Information an, obwohl sich dieser Trend hauptsächlich in den zunehmenden Werbekosten zeigt. Bezeichnenderweise tragen gerade jene Waren, wie Zigaretten, Kosmetika und Seifen, die im gesellschaftlichen Verkehr am häufigsten gebraucht werden, einen Großteil der Unterhaltungskosten der Medien im allgemeinen. Wenn die elektrische Information auf eine höhere Stufe gebracht wird, dient fast jedes Material jeder Art von Bedürfnis oder Funktion und drängt den Intellektuellen immer mehr in die soziale Führungsrolle und die Dienstleistung in der Produktion ab.
[…] [80] 7. HERAUSFORDERUNG UND ZUSAMMENBRUCH
Die Rache des Schöpferischen
Es war Bertrand Russell, der sagte, daß die Methode des „schwebenden Urteils“ die größte Entdeckung des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sei. A. N. Whitehead andererseits erklärte, wie die Entdeckung der Technik des Entdeckens die größte Entdeckung des neunzehnten Jahrhunderts sei. Die Technik nämlich, nach der man von dem zu Entdeckenden ausgeht und Schritt für Schritt, wie an einem Fließband, die Sache bis zu jenem Punkt zurückverfolgt, von dem man ausgehen muß, um an den gewünschten Gegenstand heranzukommen. In der Kunst und Literatur hieß das, von der Wirkung ausgehen und dann ein Gedicht, ein Gemälde oder ein Gebäude zu ersinnen, das genau diese und keine andere Wirkung hätte…
Aber die „Methode des schwebenden Urteils“ geht noch weiter. Sie nimmt die Auswirkung etwa einer unglücklichen Kindheit auf einen Erwachsenen vorweg und hebt die Wirkung auf, bevor es dazu kommt. In der Psychiatrie ist das die Methode des völligen Gewährenlassens, die zu einem seelischen Betäubungsmittel ausgeweitet wird, wobei verschiedene Nachwirkungen und moralische Folgen von Fehlurteilen systematisch ausgeschaltet werden.
Das ist etwas ganz anderes als die betäubende oder narkotische Wirkung einer neuen Technik, die die Aufmerksamkeit einschläfert, während die neue Form die Tore der Urteilskraft und Wahrnehmung zuschlägt. Denn um eine neue Technik in das Gruppendenken einzuführen, sind massierte chirurgische Eingriffe in die Gesellschaft notwendig, und das geschieht durch den schon früher besprochenen eingebauten Betäubungsmechanismus. Nun bringt uns „die Methode des schwebenden Urteils“ die Möglichkeit, das Narkotikum zurückzuwei[81]sen und die Operation der Einführung der neuen Technik in die Psyche der Gemeinschaft immer wieder zu verschieben. Eine neue Stauung steht uns bevor.
Werner Heisenberg ist mit seinem Buch „Das Naturbild der heutigen Physik“ das Beispiel eines modernen Quantenphysikers, dessen totales Formenbewußtsein ihn zur Annahme veranlaßt, daß wir uns wohl am besten von den meisten von ihnen distanzieren. Er weist darauf hin, daß technische Veränderungen nicht nur unsere Lebensgewohnheiten, sondern auch die Formen des Denkens und Werturteils wandeln, wozu er beifällig die Ansicht eines chinesischen Weisen zitiert:
Als Dsi Gung durch die Gegend nördlich des Han-Flusses kam, sah er einen alten Mann, der in seinem Gemüsegarten beschäftigt war. Er hatte Gräben gezogen zur Bewässerung, er stieg selbst in den Brunnen hinunter und brachte in seinen Armen ein Gefäß voll Wasser herauf, das er ausgoß. Er mühte sich aufs äußerste ab und brachte doch wenig zustande.
Dsi Gung sprach: Da gibt es eine Einrichtung, mit der man an einem Tag hundert Gräben bewässern kann. Mit wenig Mühe wird viel erreicht. Möchtet Ihr die nicht anwenden? Der Gärtner richtete sich auf, sah ihn an und sprach: Und was wäre das?
Dsi Gung sprach: Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorne leicht ist. Auf diese Weise kann man das Wasser schöpfen, daß es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen.
Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht, und er sagte lachend: Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benutzt, so betreibt er alle seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiß in den Regungen seines Geistes. Ungewißheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Sinn nicht verträgt. Nicht daß ich solche Dinge nicht kenne, ich schäme mich, sie anzuwenden.
[82] Wohl das Interessanteste an dieser Geschichte ist, daß sie den modernen Physiker anspricht. Sie würde Newton oder Adam Smith nicht angesprochen haben, denn sie waren große Fachleute und Verfechter der atomistischen und spezialistischen Methoden. Hans Selye geht überhaupt durchaus konform mit der Ansicht des chinesischen Weisen in seiner Arbeit an der „Streß“-Theorie der Krankheit. In den zwanziger Jahren war er sehr enttäuscht gewesen, daß Ärzte sich immer auf die Feststellung einzelner Krankheiten und spezifischer Heilmittel für solche isolierte Ursachen konzentrierten, während sie dem „Syndrom des Krankseins“ nie Beachtung schenkten. Jene, die sich mit dem Programminhalt von Medien befassen und nicht mit dem Medium selbst, scheinen sich in derselben Lage wie Ärzte zu befinden, die das „Syndrom des Krankseins selbst“ unbeachtet lassen. Hans Selye, der das Problem der Krankheit allumfassend und als Ganzes zu lösen versuchte, begann, was Adolphe Jonas mit Reizung und Gegenreizmittel fortgeführt hat, nämlich eine Untersuchung der Reaktion auf Schädigungen als solche oder auf neu auftretende Belastungen jeder Art. Heute haben wir Narkotika, die es uns möglich machen, daß einer am andern die schrecklichsten Eingriffe durchführen kann.
Die neuen Medien und Techniken, durch die wir uns selbst verstärken und ausweiten, stellen gewaltige kollektive Eingriffe dar, die ohne antiseptische Mittel am Körper der Gesellschaft vorgenommen werden. Wenn die Operationen notwendig sind, muß mit der Unvermeidlichkeit einer Infektion während der Operation gerechnet werden. Denn wird die Gesellschaft mit einer neuen Technik operiert, ist nicht die aufgeschnittene Stelle der am meisten betroffene Teil. Die Druck- oder Schnittstelle ist betäubt. Das ganze System aber wird verändert. Die Wirkung des Radios ist visuell, die Wirkung des Fotos auditiv. Jede neu wirksame Kraft verändert das Verhältnis aller Sinne zueinander.
Was wir heute suchen, ist entweder ein Mittel, um diese Verlagerungen in der Sinnesorganisation der psychischen und sozialen Perspektiven kontrollieren zu können, oder ein Mittel, um sie überhaupt zu verhindern. Eine Krankheit ohne deren Symptome zu haben, heißt gefeit sein. Keine Gesellschaft war sich jemals klar genug über ihre eigenen Handlungen, um gegen ihre neuen Ausweitungen oder Techniken immun zu [83] werden. Heute spüren wir allmählich, daß die Kunst uns vielleicht diese Immunität geben kann.
In der Geschichte der menschlichen Kultur gibt es kein Beispiel von bewußter Anpassung der verschiedenen Faktoren des individuellen und sozialen Lebens an neue Ausweitungen, außer den zaghaften Bemühungen der Künstler, am Rande sozusagen. Der Künstler greift die Botschaft der kulturellen und technischen Herausforderung schon Jahrzehnte, bevor ihre umgestaltende Wirkung eintritt, auf. Dann baut er Modelle oder Archen Noahs, um sich gegen den bevorstehenden Umbruch zu wappnen. „Der Krieg von 1870 hätte nie ausgefochten werden müssen, wenn die Leute mein Buch ‚Education sentimentale‘ gelesen hätten“, sagte Gustave Flaubert.
Diese Seite der neuen Kunst empfiehlt Kenneth Galbraith den Geschäftsleuten, die im Geschäft bleiben wollen, besonders aufmerksam zu beachten. Denn im Zeitalter der Elektrizität hat es keinen Sinn mehr, darüber zu reden, daß der Künstler seiner Zeit voraus sei. Unsere Technik ist auch ihrer Zeit voraus, wenn wir von der Fähigkeit Gebrauch machen, sie als das zu sehen, was sie ist. Um einen unnötigen Schiffbruch der Gesellschaft zu verhindern, will der Künstler nun seinen elfenbeinernen Turm verlassen und den Kontrollturm der Gesellschaft übernehmen. Genauso wie höhere Bildung längst nicht mehr eine Marotte oder ein Luxus, sondern eine dringende Notwendigkeit für die Produktions- und Betriebsorganisation im elektrischen Zeitalter ist, wird der Künstler unentbehrlich bei der Gestaltung und Analyse und zum Verständnis der Lebensformen und Strukturen, die die Technik der Elektrizität hervorbringt.
Die perkutierten Opfer der neuen Technik haben alle, durch die Bank, unklar formulierte Klischeevorstellungen über die Praxisfremdheit der Künstler und ihre Vorliebe für das Phantastische. Aber im letzten Jahrhundert hat man doch allgemein erkannt, daß, wie Wyndham Lewis sagt, „der Künstler sich immer damit befaßt, eine ausführliche Geschichte der Zukunft zu schreiben, weil er der einzige Mensch ist, der sich der Natur der Gegenwart bewußt ist“.
Das Wissen um diesen einfachen Sachverhalt ist jetzt Gebot, wenn der Mensch überleben will. Die Fähigkeit des Künstlers, dem mörderischen Schlag einer neuen Technik jederzeit auszuweichen und solche Gewalt[84]akte ganz bewußt zu parieren, ist uralt. Uralt ist auch die Unfähigkeit des betroffenen Opfers, das dem neuen brutalen Druck nicht ausweichen kann, die Notwendigkeit des Künstlers einzusehen. Künstler auszuzeichnen und berühmt zu machen, kann auch eine Methode sein, ihr prophetisches Wirken zu übersehen und dessen rechtzeitigen Einsatz für ein Überleben zu verhindern. Der Künstler ist der Mensch, der auf jedem Gebiet der Natur- oder Geisteswissenschaften die Tragweite seines Schaffens und der neuen Erkenntnisse seiner Zeit erfaßt. Er ist ein Mensch mit vollem und ganzem Bewußtsein.
Der Künstler kann das Verhältnis der Sinne zueinander berichtigen, noch ehe ein neuer Anschlag der Technik bewußte Vorgänge betäubt. Er kann es berichtigen, noch bevor die Betäubung und ein unterschwelliges Herumtappen und die Reaktion einsetzen. Wenn das stimmt, warum übergibt man dann die Sache nicht jenen, die in der Lage sind, etwas dagegen zu tun? Wenn diese Auslegung auch nur im entferntesten stimmte, würde sie uns eine weltweite Waffenruhe und eine Zeit der Bestandsaufnahme garantieren. Wenn es stimmt, daß der Künstler die Mittel in der Hand hat, die Folgen eines technischen Traumas vorwegzunehmen und zu verhindern, was sollen wir dann von der Welt und den Funktionären der „Kunstkritik“ halten? Erscheint sie uns nicht plötzlich als eine Verschwörung, um den Künstler zu einem Kauz, einem Fasler oder einem Milltown zu machen? Wenn man die Menschen überzeugen könnte, daß Kunst exaktes Wissen im voraus ist, wie man mit psychischen und sozialen Auswirkungen der kommenden Technik fertigwerden kann, würden dann nicht alle Künstler werden? Oder würden sie beginnen, neue Kunstformen in Orientierungskarten der Gesellschaft zu übertragen? Ich möchte wissen, was geschehen würde, wenn man die Kunst plötzlich als das sähe, was sie ist, nämlich genaue Information darüber, wie man seine Psyche umgestalten soll, um den Schlag von unseren eigenen erweiterten Fähigkeiten abfangen zu können. Würden wir dann Kunstwerke nicht mehr so betrachten, wie ein Forschungsreisender Gold und Edelsteine sieht, wenn sie von einfachen Analphabeten als Schmuck getragen werden?
Auf jeden Fall wird den Menschen in der experimentellen Kunst eine genau detaillierte Darstellung der kommenden brutalen Wirkung ihrer eigenen Gegenreizmittel oder Techniken auf ihr eigenes Seelenleben [85] vermittelt. Denn jene Teile unserer eigenen Person, die wir in Form neuer Erfindungen aus uns hinausprojizieren, stellen Versuche dar, dem kollektiven Druck von außen und der Reizflut zu begegnen oder sie zu neutralisieren. Aber das Gegenreizmittel erweist sich gewöhnlich als größere Qual als der ursprüngliche Reiz, wie bei der Rauschgiftsucht. Und gerade hier kann uns der Künstler zeigen, wie man „sich nicht aus dem Sattel werfen läßt“, anstatt immer nur „klein beizugeben“. Man kann nur immer wieder sagen, daß die Geschichte des Menschen eine lange Liste von „Immer-klein-Beigeben“ ist.
[…] [326] 29. DAS KINO
Die filmmeter„wahre“ Welt
In England wurde das Kino ursprünglich „Bioscope“ genannt, weil es die wirkliche Bewegung der Formen des Lebens (vom griechischen bios, Leben, Lebensweise) visuell darstellte. Der Film, mit dem wir die wahre Welt als Filmmeterware aufspulen, um sie dann als Zauberteppich der Phantasie abrollen zu lassen, ist eine sensationelle Verbindung der alten mechanischen Technik mit der neuen elektrischen Welt. Im Kapitel über das Rad wurde berichtet, wie dem Film beim Versuch, die fliegenden Hufe eines galoppierenden Pferdes zu fotografieren, eine Art symbolischer Ursprung zukommt; denn eine Reihe von Kameras aufstellen, um Bewegungen von Tieren zu studieren heißt, das Mechanische und das Organische auf besondere Weise vereinen. In der Welt des Mittelalters stellte man sich den Wechsel in organischen Wesen merkwürdigerweise als das aufeinanderfolgende Ersetzen einer statischen Form durch eine andere vor. Man betrachtete das Leben einer Blume wie eine Art Filmstreifen von Phasen oder Seinsstufen. Der Film ist die vollkommene Verwirklichung der mittelalterlichen Vorstellung des Wandels in Form einer unterhaltenden Illusion. Physiologen stehen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Films und des Telefons. Auf dem Film erscheint das Mechanische organisch, und das Wachsen einer Blume kann so leicht und ungezwungen dargestellt werden wie die Bewegung eines Pferdes.
Wenn der Film das Mechanische und das Organische zu einer wellenförmigen Welt verschmilzt, wird auch seine Verbindung zur Technik des Buchdrucks hergestellt. Der Leser muß beim Projizieren von Wörtern sozusagen den weißen und schwarzen Sequenzen von Momentaufnahmen – der Buchdruck ist nichts anderes – folgen und dabei die [327] Tonspur selbst beistellen. Er versucht, dem geistigen Profil des Verfassers mit verschieden großer Geschwindigkeit und Illusion zu folgen und ihn zu verstehen. Man kann den Zusammenhang zwischen Film und Buchdruck, in bezug auf ihr Vermögen, im Beschauer oder Leser Vorstellungen anzuregen, kaum überschätzen. Cervantes widmete seinen „Don Quichotte“ zur Gänze diesem Aspekt des gedruckten Wortes und seinem Vermögen, das hervorzubringen, was James Joyce durch den ganzen „Finnegans Wake“ als die „ABCD-Mentalität“ bezeichnet, was man als „abgesagt“ (ab-said) oder „ab-wesend“ (absent) oder einfach als alphabetisch gesteuert auffassen kann. Es ist Sache des Schriftstellers oder Filmregisseurs, den Leser oder Beschauer von seiner eigenen Welt in eine andere, die des Buchdrucks und Films, zu versetzen. Das geschieht so offensichtlich und vollständig, daß jene, die dieses Erlebnis haben, es unterschwellig und ohne kritische Stellungnahme hinnehmen. Cervantes lebte in einer Welt, in welcher der Druck so neu war, wie der Film heute im Westen, und es schien ihm klar, daß der Buchdruck, genauso wie heute Bilder auf der Leinwand, die wirkliche Welt entthront hatte. Die Leser oder Zuschauer waren, ihrem Zauber verfallen, zu Träumern geworden, wie René Clair im Jahre 1926 vom Film sagte.
Der Film als nicht verbale Erlebnisform ist wie die Fotografie eine Aussageform ohne Syntax. In Wirlichkeit [sic] setzen jedoch Filme wie der Buchdruck und die Fotografie einen hohen Bildungsgrad bei den Benutzern dieser Medien voraus und wirken auf Nichtalphabeten verwirrend. Die Gewohnheit unserer Zivilisation, die Bewegung des Auges der Kamera, wenn es eine Gestalt verfolgt oder von der Bildfläche verschwinden läßt, einfach hinzunehmen, ist für afrikanisches Filmpublikum nicht annehmbar. Wenn jemand von der Bildfläche verschwindet, will der Afrikaner wissen, was mit ihm geschehen ist. Ein alphabetisches Publikum jedoch, das gewohnt ist, gedruckten Vorstellungsbildern Zeile um Zeile zu folgen, ohne die Logik der linearen Folge in Frage zu stellen, nimmt die Filmsequenzen wortlos hin. René Clair wies darauf hin, daß der Dramatiker, wenn zwei oder drei Personen gemeinsam auf der Bühne stehen, ihre Anwesenheit dort dauernd begründen und erklären muß. Aber das Filmpublikum, wie auch der Leser, nimmt die bloße Frage als rational hin. Was immer die [328] Kamera ins Auge faßt, akzeptiert das Publikum. Wir werden in eine andere Welt versetzt. Wie René Clair bemerkte, macht die Leinwand ihre weißen Tore zu einem Harem schöner Visionen und Jugendträume auf, die viel vollkommener als der schönste Körper sind. Yeats sah den Film als eine Welt platonischer Idealbilder, wobei der Filmprojektor „Gischt auf die schemenhafte Modellwelt der Dinge“ warf. Das war die Welt, die Don Quichotte gefangenhielt, zu der er durch die Tore der Foliobände der eben erst gedruckten Abenteuerromane Zutritt fand. Die enge Beziehung zwischen der „Meterwahren Welt“ des Films und dem persönlichen Phantasieerlebnis im gedruckten Wort ist also für die Gültigkeit des Films in unserer westlichen Welt Voraussetzung. Sogar die Filmindustrie betrachtet alle ihre großen Erfolge als Abkömmlinge von Romanen, und auch nicht ohne Grund. Der Film in seiner Form als Spule oder Drehbuch ist ganz mit der Buchkultur verhaftet. Man braucht sich nur einen Augenblick lang einen Film, der auf der Zeitung aufgebaut ist, vorzustellen um sofort einzusehen, wie eng Film und Buch verbunden sind. Theoretisch gibt es keinen Grund, der gegen eine Verwendung der Filmkamera zur Aufnahme von komplexen Gruppen von Einzelheiten und Ereignissen spräche, die in ihrer Form durch die Datumsgrenze bestimmt wäre, wie sie ja auf der Zeitungsseite tatsächlich dargestellt sind. Eigentlich ist die Tendenz zu einer solchen Formgebung oder „Bündelung“ in der Dichtung stärker als in der Prosa. Die symbolistische Dichtung hat mit der Mosaikform der Zeitungsseite viel gemeinsam, doch nur wenigen Menschen gelingt es, sich von der gleichförmigen und zusammenhängenden Raumauffassung entsprechend zu lösen, um symbolistische Gedichte zu erfassen. Eingeborene jedoch, die mit der phonetischen Schrift und dem linearen Buchdruck wenig in Berührung kommen, müssen Fotos oder Filme „sehen“ lernen, genauso wie wir unsere Buchstaben lernen müssen.
Tatsächlich fand John Wilson vom Afrikanischen Institut der Universität London, daß es leichter sei, Afrikaner ihre Buchstaben als Mittel zum Verständnis der Filmsprache zu lehren, nachdem er jahrelang versucht hatte, ihnen ihre Buchstaben durch Filme beizubringen. Denn selbst wenn Eingeborene gelernt haben, Bilder zu „sehen“, können sie unsere Vorstellungen von räumlichen und zeitlichen „Sinnestäuschungen“ nicht übernehmen. Als man afrikanischen Zuschauern Chaplins Film [329] „The Tramp“ zeigte, kamen sie zu dem Schluß, daß die Europäer Zauberer seien, die das Leben wiedererwecken können. Sie sahen eine Person der Handlung, die einen wuchtigen Schlag auf den Kopf ohne Anzeichen einer Verletzung überstand. Wenn die Kamera schwenkte, glaubten sie, sie sähen die Bäume sich bewegen, Gebäude wachsen oder einschrumpfen, weil sie zur Aufnahme des Alphabetentums, daß der Raum kontinuierlich und gleichförmig ist, nicht fähig sind. Nichtalphabeten nehmen perspektivische oder Distanzwirkungen von Licht und Schatten einfach nicht auf, die wir als angeborenes menschliches Marschgepäck betrachten. Gebildete Menschen fassen Ursache und Wirkung als aufeinanderfolgend auf, als ob eines vom anderen durch eine natürliche Kraft geschoben würde. Analphabeten zeigen sehr wenig Interesse für diese Art „wirksamer“ Ursache und Wirkung, sind aber von verborgenen Formen, die magische Wirkungen hervorrufen, fasziniert. Innere Ursachen viel mehr als äußere interessieren die nicht durch das Alphabetentum und das Visuelle bestimmten Kulturen. Und deswegen sieht der alphabetisierte Westen die übrige Welt in einem nahtlosen Netz von Aberglauben gefangen.
Wie die oralen Russen nehmen die Afrikaner nicht gern Bild und Ton zusammen auf. Der Tonfilm war das Todesurteil des russischen Filmschaffens, weil die Russen wie jede rückständige oder orale Kultur ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Mitwirkung haben, die der Zusatz des Tons zum optischen Bild nicht mehr erlaubt. Sowohl Pudowkin wie Eisenstein waren gegen den Tonfilm, meinten jedoch, daß das optische Bild weniger Schaden litte, wenn der Ton symbolisch und kontrapunktisch statt realistisch verwendet würde. Der Drang der Afrikaner zu gemeinsamer Beteiligung und zum Singen und Schreien während der Filmvorführungen wird durch die Tonspur völlig blockiert. Unsere eigenen Tonfilme haben das optische Paket als bloße Handelsware noch perfekter gemacht. Denn beim Stummfilm liefern wir automatisch den Ton für uns selbst durch „Schließung“ oder Vervollständigung. Und wenn man ihn uns beistellt, gibt es viel weniger bei der Gestaltung eines Bildes „mitzumachen“.
Man hat auch festgestellt, daß Nichtalphabeten ihre Augen nicht wie die Menschen des Westens ein paar Schritte vor der Leinwand oder in einiger Entfernung von einem Foto fixieren können. Daher tasten ihre [330] Augen das Foto oder die Leinwand ab, wie sie es mit den Händen machen würden. Die gleiche Gewohnheit, die Augen wie Hände zu gebrauchen, läßt die europäischen Männer amerikanischen Frauen so „sexy“ erscheinen. Nur eine äußerst alphabetische und abstrakte Gesellschaft lernt die Augen zu fixieren, wie wir das beim Lesen von gedruckten Texten lernen müssen. Es gibt viele Feinheiten und Synästhesien in der primitiven Kunst, doch keine Perspektive. Die alte Ansicht, daß jeder Mensch in Wirklichkeit perspektivisch sehe, die Renaissancemaler aber nur gelernt hätten, perspektivisch zu malen, ist irrig. Gerade unsere erste Fernsehgeneration verliert eben jetzt sehr schnell die Gewohnheit des perspektivischen Sehens als Form der Sinneswahrnehmung, und Hand in Hand mit dieser Veränderung erwacht ein Interesse an Wörtern, nicht als an etwas Visuell-Gleichförmigem und Stetigem, sondern als einmaligen, die Gesamtperson ansprechenden Strukturen. Daher auch die plötzlich so starke Vorliebe für Wortspiele, sogar in dezenten Werbetexten.
Von anderen Medien aus, wie dem Buchdruck, betrachtet, besitzt der Film das Vermögen, eine große Menge von Informationen zu speichern und zu vermitteln. In einem Augenblick stellt er eine Szene mit Gestalten dar, wozu mehrere Seiten Prosa nötig wären. Im nächsten Augenblick schon kann er diese detailreiche Information wiederholen. Der Schriftsteller aber hat keine Möglichkeit, dem Leser eine Menge von Einzelheiten en bloc oder als Gestalt vor Augen zu halten. Wie die Fotografie den Maler zur abstrakten, plastischen Kunst drängte, festigte der Film den Schriftsteller in seiner Sprachökonomie und seinem Tiefensymbolismus, wo der Film nicht mit ihm rivalisieren kann.
Ein anderer Aspekt der ungeheuren Menge von Einzelheiten, die in einer Filmszene möglich sind, kommt in historischen Filmen wie „Heinrich V.“ oder „Richard III.“ zum Ausdruck. Hier wurde ein umfangreiches Studium bei der Gestaltung der Szenerie und der Kostüme betrieben, an welchen ein Sechsjähriger genauso wie ein Erwachsener seine Freude haben kann. T. S. Eliot berichtete, wie bei den Dreharbeiten zu seinem „Mord im Dom“ es nicht nur erforderlich war, zeitgenössische Kostüme zu verwenden, sondern – so groß ist die Präzision und Tyrannei des Auges der Kamera – die Kostüme mußten auch nach den Webeverfahren des zwölften Jahrhunderts hergestellt [331] werden. Hollywood mußte bei all seinen Illusionen auch viele exakt wissenschaftliche Rekonstruktionen zahlreicher historischer Szenen liefern. Theater und Fernsehen können mit sehr oberflächlichen Annäherungen auskommen, weil sie ein detailarmes Bild zeigen, das einer genauen Prüfung aus dem Wege geht.
Zuerst jedoch inspirierte der ausführliche Realismus von Schriftstellern wie Dickens Filmpioniere wie D. W. Griffith, der ein Exemplar eines Romans von Dickens zu seinen Aufnahmen mitbrachte. Der realistische Roman, der mit der Zeitung als Form eines Querschnittes durch die Gemeinschaft und als Berichterstattung menschlicher Interessen im achtzehnten Jahrhundert aufkam, nahm die Form des Films in allen wichtigen Punkten vorweg. Sogar die Dichter übernahmen denselben Panoramastil mit Einblendungen von menschlich Interessantem und Nahaufnahmen als Varianten. Grays „Elegy“, Burns „The Cotter‘s Saturday Night“, Wordsworths „Michael“ und Byrons „Childe Harold“ gleichen alle Drehbücher für einen zeitgenössischen Dokumentarfilm.
„Es begann mit dem Kessel…“, so beginnt „Cricket and The Hearth“ von Dickens. Wenn der moderne Roman aus Gogols „Mantel“ hervorging, kochte der moderne Film, wie Eisenstein sagt, aus diesem Kessel über. Es sollte klar sein, daß der amerikanischen und britischen Einstellung zum Film jedes freie Wechselspiel der Sinne fehlt, das Eisenstein oder René Clair so natürlich erscheint. Besonders den Russen fällt es leicht, irgendein Problem strukturell, d. h. also plastisch anzufassen. Für Eisenstein war das Überwältigende am Film, daß er „ein Akt des Gegenüberstellens“ ist. Aber für eine Kultur, die im Banne einer straffen typographischen Konditionierung steht, konnte das nur eine Gegenüberstellung von einheitlichen und zusammenhängenden Charakteren und Eigenschaften sein. Es darf keine Sprünge vom einmaligen Raum des Teekessels zum einmaligen Raum des Kätzchens oder Stiefels geben. Wenn solche Gegenstände erscheinen, müssen sie durch eine Geschichte verbunden werden oder in einem einheitlichen perspektivischen Raum „eingeschlossen“ sein. Salvadore Dali [sic] mußte, um Furore zu machen, nur die Schubladenkommode und den Konzertflügel in ihrem eigenen Raum, von irgendeiner Wüsten- oder Alpenlandschaft abgehoben, existieren lassen. Durch das bloße Herauslösen von Gegen[332]ständen aus dem einheitlich kontinuierlichen Raum des Buchdrucks kamen wir zur modernen Kunst und Dichtung. Wir können die psychische Druckwirkung der Typografie an der Aufregung erkennen, die durch diese Befreiung ausgelöst wurde. Die Ich-Imago der meisten Menschen scheint durch die Typografie geprägt zu sein, so daß das Zeitalter der Elektrizität mit seiner Rückkehr zum ganzheitlichen Erlebnis ihre Ich-Vorstellung bedroht. Das sind die fragmentierten Menschen, für welche durch die spezialisierte Routine die bloße Aussicht auf eine Geborgenheit in Muße und ohne Arbeit zum Alptraum wird. Elektrische Gleichzeitigkeit bedeutet das Ende der Spezialausbildung und -arbeit und verlangt umfassende Querverbindungen; das gilt auch für die Persönlichkeit.
Das Beispiel von Charles Chaplins Filmen hilft dieses Problem klären. Sein Film „Moderne Zeiten“ wurde als Satire auf den aufgespaltenen Charakter der modernen Arbeit verstanden. Als Clown zeigt Chaplin die Leistung des Akrobaten in einer Pantomime ausdrücklicher Unzuständigkeit, denn jede Spezialistenarbeit läßt die meisten unserer Fähigkeiten unberücksichtigt. Der Clown erinnert uns an unseren Zustand der Fragmentierung, in dem er akrobatische oder spezialisierte Aufgaben im Geiste des ganzen oder ganzheitlichen Menschen bewältigen will. Das ist die Formel für hilflose Unzuständigkeit. Auf der Straße, in Gesellschaft anderer, am Fließband, überall folgt er seinem Drang, mit einem imaginären Schraubenschlüssel in den Händen zu zucken. Aber die Pantomime dieses und anderer Filme von Chaplin ist genau die eines Roboters, der mechanischen Puppe, deren schweres Pathos darin liegt, daß sie dieser Lebenssituation des Menschen so nahe kommt. Chaplin spielte in seinem ganzen Filmwerk ein Puppenballett in der Art von Cyrano de Bergerac. Um den pathetischen Effekt der Tanzpuppe zu erzielen, übernahm Chaplin (ein Bewunderer und persönlicher Freund der Pawlowa) von dieser die Fußstellung des klassischen Balletts. So konnte er seine Clownerien mit dem Fluidum von „Spectre de la Rose“ umgeben. Vom englischen Varieté, wo er zuerst auftrat, holte er Typen wie die des Mr. Charles Pooter, der faszinierenden Gestalt des Herrn Niemand. Dieses Bild von Eleganz in Lumpen hüllte er durch die Anlehnung an Formen des klassischen Balletts in feenhafte Romantik. Die Form des Films ent[333]sprach völlig diesem kombinierten Leitbild, weil der Film selber ein ruckartiges, mechanisches Flimmerballett ist, das eine weite Traumwelt romantischer Illusion aufleuchten läßt. Aber die Filmform ist nicht nur ein Marionettentanz von einzelnen Aufnahmen, denn er ist imstande, die reale Welt durch das Mittel der Illusion nachzuvollziehen und sogar zu übertreffen. Deshalb war Chaplin, zumindest in seiner Stummfilmzeit, nie versucht, die Cyrano-Rolle der Marionette, die nie wirklich lieben konnte, aufzugeben. In dieser stereotypen Rolle erkannte Chaplin den Kern der Illusion des Films und spielte meisterhaft mit diesem Kern, welcher den Schlüssel zum Verständnis des Pathos der mechanischen Zivilisation darstellt. Eine mechanisierte Welt ist immer dabei, sich auf das Leben vorzubereiten und fährt zu diesem Zweck mit einem schrecklichen Pomp von Fertigkeiten, Methoden und Einfällen auf.
Der Film führte diesen Mechanismus bis zu einem letzten mechanischen Höhepunkt und darüber hinaus in einen Surrealismus aus Träumen, die man für Geld kaufen kann. Nichts ist der Filmwelt so kongenial wie diese Pathetik des Überflusses und der Macht als Mitgift der Marionette, für die beides nie Wirklichkeit werden kann. Das ist der Schlüssel zum Verständnis von „The Great Gatsby“, in dem der wahre Höhepunkt erreicht wird, wenn Daisy in die Betrachtung von Gatsbys herrlicher Hemdensammlung verfällt. Daisy und Gatsby leben in einer Scheinwelt, die durch Macht verdorben und in ihren Träumen doch unschuldig idyllisch ist.
Der Film ist nicht nur großartiger Ausdruck des Mechanischen, sondern bietet paradoxerweise als Erzeugnis das zauberkräftigste aller Konsumgüter, nämlich Träume an. Es ist daher kein Zufall, daß der Film sich besonders als ein Medium gezeigt hat, das armen Leuten die Rollen von reichen und mächtigen Leuten anbietet, die alle Träume des Geizes in den Schatten stellen. Im Kapitel über die Fotografie wurde darauf hingewiesen, wie das Pressefoto im besonderen die Reichen davon abhielt, den Weg des auffallenden Aufwandes zu wählen. Das Paradeleben, das die Fotografie den Reichen vorenthielt, gab das Kino den Armen mit verschwenderischer Geste:
[334] O Glück, das mir gegeben,
Ich wird‘ in Luxus leben,
Denn ich hab' eine Tasche voller Träume.
Die Magnaten von Hollywood handelten richtig, von der Annahme ausgehend, daß der Film dem amerikanischen Einwanderer sofort Erfüllung bringe. Diese Taktik, so bedauerlich sie im Lichte „des absolut und ideal Guten“ erscheinen mag, paßte haargenau auf die Form des Films. Dies bedeutete, daß in den zwanziger Jahren der amerikanische Lebensstil in Konserven in alle Länder der Erde exportiert wurde. Die Welt stand begeistert Schlange, um Konserventräume zu kaufen. Der Film begleitete nicht nur das erste große Konsumentenjahrhundert, sondern schuf auch Anreize für die Werbung und wurde selbst eines der wichtigsten Konsumgüter. Vom Studium der Medien her gesehen ist es nun klar, daß die Macht des Films, Informationen in leicht zugänglicher Form zu speichern, unerreicht ist. Tonband und Filmaufzeichnungsgeräte könnten den Film vielleicht einmal als Informationsspeicher übertreffen. Aber der Film bleibt eine Hauptinformationsquelle, eine Rivale des Buches, dessen Technik er so intensiv fortgesetzt und auch übertroffen hat. Gegenwärtig ist der Film noch gleichsam in seinem Manuskriptstadium, doch in Kürze wird er unter dem Druck des Fernsehens in das Stadium des Koffergeräts, also vergleichsweise in die Phase des gedruckten Buches treten. Bald wird jedermann einen kleinen, billigen Filmprojektor haben können, der 8-mm-Tonfilmkassetten wie auf einem Fernsehbildschirm abspielt. Eine solche Entwicklung gehört zur gegenwärtigen technischen Implosion. Die Trennung von Projektor und Leinwand ist ein Zeichen unserer früheren mechanischen Welt der Explosion und Trennung von Funktionen, die nun von der elektrischen Implosion abgelöst werden.
Der Mensch der Kultur des Buchdrucks nahm den Film bereitwillig an, weil er wie Bücher eine innere Welt der Phantasie und der Träume bot. Der Zuschauer sitzt, psychologisch gesehen, genauso einsam im Kino wie der Leser vor seinem Buch. Beim Lesen von Handschriften war das nicht der Fall, auch gilt das nicht für den Fernseher. Es macht keinen Spaß, das Fernsehgerät für sich allein im Hotelzimmer oder auch zu [335] Hause einzuschalten; das Fernsehmosaik verlangt gemeinsame Ergänzung und Besprechung. Das war auch bei der Handschrift, bevor der Buchdruck aufkam, der Fall, da die Handschriftenkultur durch den mündlichen Ausdruck geprägt ist und den Dialog und die Diskussion verlangt, wie die ganze Kultur der Antike und des Mittelalters zeigt. Eine der wichtigsten Auswirkungen des Fernsehens war der Anstoß zum Bau von „Lernmaschinen“. In Wirklichkeit sind diese Maschinen Weiterentwicklungen des Buches in Richtung auf die Dialogform. Diese Lernmaschinen sind nichts anderes als Privatlehrer, die allerdings nach dem gleichen Grundsatz falsch benannt sind, der auch Namen wie „drahtlose Telegrafie“ und „pferdelose Wagen“ entstehen ließ; das sind nur zwei von vielen Beispielen, die zeigen, wie jede Neuerung ein Anfangsstadium durchmachen muß, in dem die neue Wirkung durch die alte Methode gewährleistet wird, allerdings in einer durch neue Merkmale verstärkten oder veränderten Form.
Der Film ist nicht ein einfaches Medium wie das Licht oder das geschriebene Wort, sondern eine kollektive Kunstform, bei der verschiedene Einzelmenschen für die Farben, die Beleuchtung, den Ton, die Darstellung und das Sprechen der Texte verantwortlich sind. Auch Presse, Rundfunk, Fernsehen und Comics sind an ganze Teams und Hierarchien von Fähigkeiten in gemeinsamem Vorgehen gebunden. Vor dem Film erlebte man das klarste Beispiel eines derartigen gemeinsamen künstlerischen Schaffens in der industrialisierten Welt in den großen, modernen Sinfonieorchestern des neunzehnten Jahrhunderts. Merkwürdigerweise rief die Industrie immer lauter nach Zusammenarbeit in Gruppen beim Verkauf und der Versorgung, je weiter ihre Spezialisierung fortschritt. Das Sinfonieorchester wurde zum stärksten Ausdruck der Kraft einer solchen koordinierten Anstrengung, obwohl diese Wirkung den Beteiligten selbst entging, sowohl im Orchester wie in der Industrie.
Als die Herausgeber von Zeitschriften kürzlich dazu übergingen, Methoden des Drehbuchs auf die Gestaltung von Sachartikeln anzuwenden, verdrängte der Sachartikel die Kurzgeschichte. Der Film ist in dieser Hinsicht der Konkurrent des Buches. (Das Fernsehen wieder ist wegen seiner Mosaikwirkung die Konkurrenz der „Illustrierten“). Ideen, die als Reihe von Aufnahmen oder bildlichen Situationen fast wie [336] bei Lernmaschinen dargestellt werden, vertrieben die Kurzgeschichte aus dem Zeitschriftenblätterwald.
Hollywood hat das Fernsehen hauptsächlich dadurch bekämpft, daß es zu einer Fernsehfiliale wurde. Ein Großteil der Filmindustrie ist nun damit beschäftigt, dem Fernsehen Programme zu liefern. Aber eine neue Taktik wurde doch auch versucht, nämlich der Monster-Budget-Film. Es ist sicher, daß das Technicolorverfahren der Wirkung des Fernsehbildes am nächsten kommt. Technicolor lockert die Intensität der Fotografie stark auf und schafft teilweise die Bedingungen für aktiv teilnehmendes Sehen. Wenn Hollywood die Gründe für den Erfolg von „Marty“ eingesehen hätte, hätte das Fernsehen zu einer Revolution im Film führen können. „Marty“ war eine Fernsehshow, die auf dem Schirm in der detailarmen Form des optischen Realismus gebracht wurde. Es war nicht eine Geschichte des Erfolges, und es traten keine Stars auf, weil das wenig intensive Fernsehbild mit dem hochbrisanten Image des Stars unvereinbar ist. Die Marty-Show, die wie ein früher Stummfilm wirkte, gab der Filmindustrie alle Tips [sic], die sie braucht, um sich mit dem Fernsehen messen zu können.
Dieser lässige, kühle Realismus ließ den neuen englischen Film rasch hochkommen. „Room at the Top“ bringt diesen neuen Realismus. Es handelt sich nicht nur um die Geschichte des Erfolges, sondern es wird hier das Ende des Aschenbrödelschemas ausgesprochen, wie Marilyn Monroe das Ende des Starkults bedeutete. „Room at the Top“ erzählt die Geschichte vom Affen, der, je höher er steigt, immer mehr von seinem Hinterteil sehen läßt. Und die Moral von der Geschichte: Erfolg verdirbt nicht nur, sondern ist die Formel zum Elend. Für ein heißes Medium wie den Film ist es sehr schwer, die kühle Botschaft des Fernsehens zu akzeptieren. Aber Peter Sellers Filme „I‘m All Right“, „Jack“ und „Only Two Can Play“ sind genau auf den Charakter des kühlen Fernsehbildes abgestimmt. Darin liegt auch der zweideutige Erfolg von „Lolita“. Als Roman verkündete er eine antiheroische Auffassung des Romantischen. Die Filmindustrie hatte es lange Zeit mit dem Kreszendo [sic] der Erfolgsstory gehalten und eine breite Straße zur Romantik gebaut. „Lolita“ zeigte, daß diese breite Straße doch nur ein Kuhweg war, und was den Erfolg betrifft, wollte er nicht einem Hund in den Schoß fallen.
[337] Im Altertum und im Mittelalter waren jene Geschichten am beliebtesten, die sich mit dem Sturz der Fürsten befaßten. Mit dem Aufkommen des sehr heißen Mediums der Presse wandte sich das Interesse dem aufsteigenden Ast und Geschichten des Erfolges und plötzlichen Aufstiegs zu. Es schien möglich, durch die neue typographische Methode der gleichförmigen Aufteilung von Problemen bis ins kleinste alles zu erreichen. Aus dieser Methode entstand schließlich der Film. Der Film war als Form die letzte Erfüllung des großen Vermächtnisses der typographischen Zerlegung. Aber die elektrische Implosion hat nun den ganzen Expansionsprozeß dieser Zerlegung umgekehrt. Die Elektrizität brachte uns die kühle Mosaikwelt der Implosion, des Gleichgewichts und des Statischen wieder. In unserem Zeitalter der Elektrizität erscheint uns der individualistische Berserker auf dem Weg nach oben als grausames Abbild zertrampelten Lebens und zerrissener Harmonien. Darin liegt die unterschwellige Botschaft des Fernsehmosaiks mit seinem Gesamtfeld gleichzeitiger Impulse. Filmstreifen und -sequenzen können sich nur noch dieser höheren Macht beugen. Unsere Jugend hat sich die Botschaft des Fernsehens in ihrem Beatnik-Protest gegen Konsumentenbräuche und die Geschichte der großen Privatkarrieren zu Herzen genommen.
Da die beste Methode, einer Form auf den Grund zu kommen, darin besteht, sie in einer ungewohnten Umgebung zu betrachten, hören wir einmal, was Präsident Sukarno von Indonesien einer großen Gruppe von Hollywood-Größen 1956 erklärte. Er sagte, er betrachte sie als Radikale und Revolutionäre, die den politischen Wandel im Osten sehr beschleunigt hätten. Was der Ferne Osten in Hollywood-Filmen erblickte, war eine Welt, in der die gewöhnlichen Leute Autos und elektrische Öfen und Kühlschränke haben. So betrachtet sich der Orientale als ein gewöhnlicher Mensch, dem man die Geburtsrechte des gewöhnlichen Menschen vorenthalten hat.
Das ist wieder eine Möglichkeit, das Filmmedium als Monsterreklame für Konsumgüter zu sehen. In Amerika ist dieser wesentliche Aspekt des Films nur unterschwellig zu spüren. Ohne weiß Gott unsere Filme als Anreiz zur Aufregung und Revolution zu betrachten, fassen wir sie als Trost und Kompensation auf oder als einen Zahlungsaufschub in Form von Tagträumerei. Aber der Orientale hat im Gegensatz zu uns [338] doch recht. Der Film ist wirklich ein starker Arm des Giganten der Industrie. Daß er vom Fernsehbild amputiert wird, zeigt eine noch größere Umwälzung auf, die im Kern des amerikanischen Lebens vor sich geht. Daß der alte Osten die politische Zugkraft und die Herausforderung zur Industrialisierung in unserer Filmindustrie spürt, ist ganz natürlich. Der Film ist genauso wie das Alphabet und das gedruckte Wort eine aggressive und gebieterische Form, die explosionsartig in andere Kulturen eindringt. Seine Explosivkraft war im Stummfilm wesentlich größer als im Tonfilm, denn die elektromagnetische Tonspur deutet schon darauf hin, daß die elektrische Implosion die mechanische Explosion ersetzt. In extremer Form ist diese Implosion oder Zusammenziehung das Bild des Raumfahrers, der in seinen winzigen Schalenraum eingeschlossen ist. Er erweitert etwa keineswegs unsere Welt, sondern kündigt deren Reduktion auf Dorfgröße an. Die Rakete und die Raumkapsel machen genauso wie das Fernmeldewesen, der Rundfunk und das Fernsehen der Herrschaft des Rades und der Maschine ein Ende.
Wir wollen einen weiteren Einfluß des Films von einer sehr aufschlußreichen Seite her betrachten. In der modernen Literatur gibt es wohl kaum eine Technik, die so gerühmt wurde wie der Bewußtseinsstrom oder innere Monolog. Ob bei Proust, Joyce oder Eliot, die Form der Folge ermöglicht es dem Leser, sich in besonderer Weise mit den verschiedensten und seltensten Charakteren zu identifizieren. Der Bewußtseinsstrom wird eigentlich dadurch erreicht, daß die Technik des Films auf das Buch übertragen wird, von wo sie in einem tieferen Sinne ihren Ausgang nahm; denn Gutenbergs Technik der beweglichen Typen ist, wie wir gesehen haben, für jedes industrielle oder filmtechnische Verfahren unbedingt erforderlich. Wie die Infinitesimalrechnung, die vorgibt, durch Zerlegung in kleine Teilchen Bewegung und Wandel zu erfassen, tut das der Film, indem er die Bewegung und den Wandel in eine Reihe von Stehbildern auflöst. Der Buchdruck tut etwas Ähnliches, wenn er vorgibt, den ganzen geistigen Prozeß zu erfassen. Doch der Film und die Technik des Bewußtseinsstroms schienen den innigen Wunsch zu erfüllen, uns von der mechanischen Welt zunehmender Normung und Gleichschaltung zu befreien. Noch niemanden hat die Eintönigkeit oder das Gleichmaß des Chaplin-Balletts oder die mono[339]tonen, gleichförmigen Träumereien seines literarischen Bruders Leopold Bloom bedrückt.
Im Jahre 1911 war Henri Bergsons Buch „Schöpferische Entwicklung“, in dem er den Denkprozeß mit der Form des Films in Beziehung brachte, eine Sensation. Durch diese höchste Stufe der Mechanisierung, wie sie in der Fabrik, dem Film und der Presse zum Ausdruck kommt, schien dem Menschen durch den Bewußtseinsstrom oder „innerlichen Film“ der Weg in eine Welt des Spontanen, des Traumes und des einmaligen persönlichen Erlebens frei. Vielleicht begann das ganze mit Mr. Jingle in „Pickwick Papers“. Bestimmt machte Dickens in „David Copperfield“ eine große technische Entdeckung, da sich hier zum erstenmal die Welt in realistischer Weise auftut, wenn die Augen eines erwachenden Kindes als Kamera verwendet werden. Hier lag vielleicht schon der Bewußtseinsstrom in seiner ursprünglichen Form vor, lange bevor Proust, Joyce und Eliot die Technik übernahmen. Man sieht hier, wie es unerwartet zu einer Bereicherung der menschlichen Erfahrung durch Kreuzung und Wechselwirkung von lebendigen Medienformen kommen kann.
Importierte Filme aus allen Ländern, besonders aber aus den Vereinigten Staaten, sind in Thailand sehr populär, und zwar teilweise wegen der geschickten thailändischen Methode, die Schwierigkeit der Fremdsprache zu umgehen. In Bangkok verwendet man statt Untertiteln das sogenannte „Adam-and-Eving“. Es besteht darin, daß ein an Ort und Stelle gesprochener Dialog von thailändischen Schauspielern, die das Publikum nicht sieht, über Lautsprecher übertragen wird. Wegen des präzisen zeitlichen Einsatzes und der großen Ausdauer, welche diese Technik verlangt, können diese Schauspieler dafür mehr verlangen als die bestbezahlten Filmstars von Thailand.
Wohl jeder hat sich schon einmal gewünscht, während einer Filmvorführung mit einer eigenen Lautsprecheranlage ausgerüstet zu sein, um entsprechende Bemerkungen zu machen. In Thailand könnte man während des geistlosen Austausches großer Stars mit der erklärenden Interpolation Großes leisten.
Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, 1964