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Suprematismus. Die gegenstandslose Welt, 1927
Kasimir S. Malewitsch
Quelle
Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch: Suprematismus – Die gegenstandslose Welt, hrsg. von Werner Haftmann, übertragen von Hans von Riesen. Köln: DuMont Schauberg 1962, S. 39-60, 64-68, 74-77, 79-84, 89-93, 99-112, 113, 118-120, 154-160, 161-162, 169-171, 183-194, 198-203, 214-217.
Erstausgabe
Suprematismus – Die gegenstandslose Welt [Witebsk, 18. 2. 1922]. München: Langen 1927. (= Bauhausbücher. 11.).
Genre
Abhandlung
Medium
Malerei
[39] Teil I.
Suprematismus
Suprematismus als reine Erkenntnis
1 Der Mensch sucht gültige Antworten auf alle Fragen, die auf ihn einstürmen. Seine Gedanken sind dabei vorwiegend auf das Nützlich-Praktische gerichtet, welchen Problemen er sich auch gegenübergestellt sehen mag.
Für ihn ist eine Antwort immer erst dann gültig, wenn er aus ihr einen Nutzen für das praktische Leben ziehen kann, wenn durch zweckmäßige Handlungen praktische Gegenstände für den täglinchen [sic] Gebrauch entstehen.
Jede Unternehmung versucht der Mensch so zu lenken, daß sie ein praktisches Ergebnis zeitigt und ihn dem Ziel, sein Wohlergehen zu steigern, näher bringt.
Nun hat aber jeder Mensch eine andere Vorstellung von dem zu erstrebenden Ziel und sucht seinen eigenen Weg, auf dem er es zu erreichen hofft.
Daraus ergibt sich eine Vielfalt von Fragen, Zielen, Zweckmäßigkeiten und Antworten.
2 Es wird also an das Leben nur die Frage nach dem Praktischen gestellt, und so richtet der Mensch sein ganzes Verhalten und Handeln darauf aus, diese Frage zweckmäßig zu lösen, wobei er auch seine sonstigen Handlungen ganz diesem Ziele unterordnet und so immer wieder zu praktischen Gegenständen gelangt.
3 Auf der Suche nach praktisch verwendbaren Lösungen strengt der Mensch sein Denken unendlich an, ist unzufrieden mit den gefundenen Lösungen der Vergangenheit und erwartet von der Zu[40]kunft die Vervollkommnung der gegenwärtigen oder vergangenen Unzulänglichkeiten.
4 Die fieberhaft suchenden Gedanken erhellen mit Blitzesschnelle das Dunkel der Zukunft und lassen den Menschen die in ihr verborgenen Lösungsmöglichkeiten, richtiger, den Schlüssel dazu, für Augenblicke erkennen.
5 Nur wenigen aber ist es vergönnt, in jenen blitzartigen Erhellungen den Schlüssel zu erkennen. Wer ihn erkennt, bewegt sich weiter, wer ihn nicht erkennt, bleibt bei seiner bisherigen Beweisführung. Hat aber jener, der den Schlüssel zu erkennen vermochte, nun wirklich die Vollkommenheit erreicht? Hat er einen Vorteil gegenüber dem, der sich noch des alten Schlüssels bedient, an alte Beweise glaubt, - wenn beide überholt sein sollten, wenn morgen ein neuer Schlüssel entdeckt werden sollte?
6 In die Lösung praktischer Probleme vertieft, übersehen wir die andere Frage, ob der Mensch die angestrebte Vollkommenheit je erreichen kann, wenn er alle seine Gedanken ausschließlich auf praktisch-nützliche Ziele richtet. Die Tatsachen der Vergangenheit haben jedenfalls bisher noch nicht den Beweis erbringen können, daß wir in dieser Richtung der praktischen Vollkommenheit näher gekommen sind. Sie beweisen eher, daß der Mensch das gesteckte Ziel noch nicht erreicht hat.
7 Jedes Streben nach praktischer Vollkommenheit, nach dem vollkommenen praktischen Gegenstand, scheitert an der Wahrheit oder Wirklichkeit des Seins, das nicht gegenständlich ist.
8 Man sollte meinen, daß die Menschheit rascher und sicherer zu dem erstrebten praktischen Resultat gelangen könnte, wenn sie sich zu einer einheitlichen Gesellschaft zusammenschließen würde. Statt dessen aber versucht nach wie vor jeder auf eigene Faust, das ihm so erstrebenswert erscheinende, praktische Ziel zu erreichen. Dadurch wird die an sich gemeinsame, auf das Nützliche gerichtete Frage in eine Unzahl scheinbarer Verschiedenheiten aufgesplittert und wird nun in jedem dieser Teilgebiete auf eine andere Art beantwortet.
9 Der Mensch besitzt ein Mittel – die Bewegung. Seine vor[41]dringlichste Aufgabe scheint es zu sein, in der praktischen Welt für eine gleichmäßige Verteilung der Bewegung in den Massen zu sorgen, denn nur dann kann die Masse sich gleichmäßig fortbewegen, nur dann das praktische Gleichgewicht aufrecht erhalten werden. Darin besteht das höchste Ziel aller wirtschaftlich-praktischen Überlegungen, die in der allgemeinen Gleichheit ihren Ausdruck finden sollen. Tut sich aber einer hervor, so tritt er aus der Masse heraus und beginnt diese entweder zu spalten, oder er zieht die ganze Masse hinter sich her.
10 Die gegenständlich-praktische Welt, die ihre gedankliche Arbeit ausschließlich auf praktische Lösungen ausgerichtet hat, hat sich, um ein einheitliches praktisches Ganzes zu erreichen, in eine Vielzahl von Berufen aufgeteilt und jedem Berufe einen Teil vom Gewicht des Ganzen übertragen. Durch dieses System glaubt die gegenständlich-praktische Welt, einen einheitlichen technischen Organismus zu schaffen. Das Gewicht des Menschen, als internationalem Bestandteil, kann – so glaubt man – durch nationale Sonderbegabungen auf bestimmten technischen Gebieten noch gesteigert werden, was sich bei bestimmten technischen Funktionen für die Allgemeinheit günstig auswirken könnte. Jeder Beruf wird als eine mechanische Funktion innerhalb des Gesamtorganismus begriffen.
11 Das Denken ist in Spezialgebiete aufgeteilt worden, als könnte es in seiner Einheit die praktischen Probleme nicht in ihrer Gesamtheit überschauen.
12 Das Denken gilt in der gegenständlichen, praktisch-wissenschaftlichen Welt als höchstes Mittel, als stärkste Waffe. Mit der Geschwindigkeit eines Blitzes, vielleicht sogar mit einer um ein Vielfaches größeren Geschwindigkeit durcheilt es das All, tastet es ab in Breite und Tiefe, immer auf der Suche nach dem echten Ganzen und nach den Ursachen der Erscheinungen. Dabei vergißt der Mensch aber, daß die von ihm wahrgenommenen Erscheinungen nur das Ergebnis von Vorstellungs-Prozessen in seinem kleinen Schädel sind und daß die Schwierigkeit der Erkenntnis in den gedanklichen Konstruktionen über eine – in Wirklichkeit gar nicht vorhandene – zweckgebundene, praktisch-räumliche Welt zu suchen ist.
[42] 13 Das Denken, das die praktisch-gegenständliche Welt erfunden hat, hätte ebensogut auch zu gegenstandslosen Vorstellungen gelangen können, wenn es die zwecklose Jagd nach Phantasiegebilden aufgegeben hätte. Durch die Schaffung der Vorstellung vom praktischen Nutzen hat es aber bewiesen, daß es unfähig ist, die Endlichkeit, die Vollkommenheit der praktischen Vorstellung zu erreichen. Damit hat es aber auch bewiesen, daß es im Widerspruch zur Natur steht, die das Prinzip des praktischen Nutzens nicht kennt.
14 Das Denken, das sich auf den praktischen Nutzen gründet, also auf die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit, will diese ständig verbessern. Das bewahrt es aber nicht davor, daß es vor der Zukunft genauso unzulänglich erscheinen wird. Trotzdem ist es überzeugt, daß die ‚Zukunft‘ jenes Allheilmittel ist, das es von den Gebrechen seiner Unvollkommenheit befreien und ihm dazu verhelfen könnte, in ihr die Vollkommenheit der praktischen Welt zu erreichen, die es in der Vergangenheit nicht erreichen konnte. Von der Zukunft erwartet der Mensch die Berichtigung der Fehler der Vergangenheit. Man kann aber mit Bestimmtheit sagen, daß solche Berichtigungen nicht zur Vollkommenheit des praktischen Seins führen werden. Die historische Entwicklung hat das ja hinlänglich bewiesen, da doch für die praktische Welt der Vergangenheit unser Heute noch Zukunft war. Die Vollkommenheit des praktischen Organismus kann nie erreicht werden, weil es ihn in der Natur nicht gibt. Streben wir trotzdem weiter zu dieser Vollkommenheit hin, so können wir nur zur Vernichtung des praktischen Organismus kommen. Das Sein als praktische Idee lenkt also unser Bewußtsein aus einer Unvollkommenheit in die andere, da die Vorstellung vom Sein ja immer nur meine Vorstellung von ihm ist, das wahre Wesen der Natur aber unbekannt bleibt.
So darf man also auch von der Zukunft keine praktische Vollkommenheit erwarten, weil die Natur, die unser Bewußtsein lenkt, nicht praktisch ist und alle praktisch-wissenschaftlichen Errungenschaften nur Scheinerrungenschaften sind. Die Zukunft beweist im[43]mer die Unzulänglichkeit dessen, was gestern noch zukünftig war. Unser Bewußtsein war also falsch geleitet, weil es dessen nicht gewahr wurde. Auf diese Weise bleibt also die Vollkommenheit des praktischen Seins immer nur eine Idee, wird aber niemals zur Sache oder zum Gegenstand.
15 Alles Praktische offenbart seine gestrige Unzulänglichkeit. Der praktisch-nützliche Bereich wird täglich wieder aufgefüllt mit neuen Vervollkommnungen, die aber immer nur die äußere Seite verändern, während der Kern doch unzulänglich bleibt. Die Vervollkommnung der praktischen Waffen gar zerstört im Kriege nicht nur die ganze praktische Technik, sondern hat auch die Massenvernichtung wirklicher Werte zur Folge. Mithin ist die Kultur des rein Praktischen auf einer sehr seltsamen Logik aufgebaut: Anhäufung von Werten einerseits und der Zerstörung dieser Werte andererseits. In dieser Weise lenkt das praktische Sein das Bewußtsein des Menschen. Der wahre Sinn des Seins hat aber mit Krieg gar nichts zu tun. Vor dieser durch jene eigenartige Logik bedingten Wirkung kann sich kein praktischer Gegenstand retten. Der Mensch kann eben seine Gedanken nie ganz durchdenken, wodurch die unzulänglich durchdachten praktischen Dinge vernichtet werden. Eine praktische Sache kann daher immer nur eine unzulänglich durchdachte Sache sein, niemals eine voll durchdachte.
16 Aus dem Gesagten läßt sich schließen, daß der Mensch seinem Wesen nach nicht praktisch ist – und niemals bei vollem Verstand. Seine ganze Kultur der praktisch-technischen Errungenschaften ist genauso unzulänglich wie sein Verstand. Somit kann eine Sache oder ein Gegenstand niemals in seiner praktischen Vollkommenheit verwirklicht werden. Darum gab es und gibt es keinen vollkommenen Gegenstand und wird es auch nie einen geben.
17 Die wissenschaftliche Technik hat den Weg über den Verstand gewählt, um zu logisch durchdachten Ergebnissen zu gelangen. Sie wird ihr Ziel nie erreichen, weil sich nichts vollkommen durchdenken läßt: Es gibt keinen Gegenstand, der klar erkennbare Grenzen hätte, in denen man ihn durchdenken könnte.
18 So kann zum Beispiel ein politischer Staatsvertrag niemals [44] in allen seinen Konsequenzen durchdacht werden und kann niemals das politische Gleichgewicht für alle Zeiten sichern. Man versucht zwar dieses über den Völkerbund zu erreichen, das heißt – einen Zustand zu schaffen, bei dem niemand mehr da ist, mit dem Abmachungen getroffen werden könnten. Entschieden der allerpraktischste Weg, - aber nur unter der Voraussetzung, daß die internationalen Grundsätze nicht durch eine neue Lehre gestört werden, die die Nichtigkeit internationaler Abmachungen beweist.
19 Praktisch sein heißt, die Dinge voraussehen können. Da aber jede Voraussicht nur eine Vorstellung von möglichen Ereignissen sein kann oder eine theoretische Berechnung dieser Ereignisse, so kann es niemals eine echte genaue Voraussicht geben.
Vor dem gleichen Problem steht auch die Kunst, wenn sie versucht, echte Realitäten der Natur auf der Bildfläche darzustellen. Mit solchen Versuchen beweist sie nur, daß es gar keine Möglichkeit gibt, die tatsächliche Realität der Natur darzustellen oder zu vermitteln, es sei denn, die Bemühungen lösen sich im Ungegenständlichen auf. Die Realität ist unfaßbar. Da nun aber eine ‚ungegenständliche‘ Tatsache vom ‚logisch-wissenschaftlichen‘ und vom ‚politischen‘ Standpunkt aus nicht geduldet werden kann, so hat der Staat oder die Gesellschaft ihre äußeren Merkmale praktisch-nützlich ausgewertet.
20 Die wissenschaftliche Technik und die Wirtschaftspolitik haben meiner Ansicht nach bewiesen, daß sie unfähig sind, die Probleme der gegenständlich-praktischen Kultur zu lösen, diese Kultur zu vollenden und praktisch zu verwirklichen. Man könnte einem solchen erfahrenen Praktiker, der sich auf seine historischen Fehlschlüsse stützt, zurufen: „Genug! Du bist zu nichts fähig! Weder kannst Du Dein auf historischen Fehlschlüssen aufgebautes Sein, noch Dein Bewußtsein anders leiten als über die Fehlschlüsse der Vergangenheit, und so wird auch Deine Zukunft nur ein weiterer historischer Fehlschluß sein!“
21 Wenn nun schon durch Jahrtausende Versuche auf dem Wege der gegenständlich-praktischen, auf ‚wissenschaftlichen Beweisen‘ begründeten Kulturen erfolglos durchgeführt werden, warum sollte man dann nicht auch einen Versuch nach dem gegenstandslosen Plan [45] unternehmen, einem Plan unwissenschaftlicher, unlogischer Handlungen, für deren Echtheit und Gültigkeit nichts spricht, und der jeden Sinn und jede Begründung durch die reine Vernunft ablehnt.
22 Der Mensch hat einen guten Lehrmeister – die Natur, das heißt jene ursprüngliche Echtheit, die ihre weder sinn- noch zweckgenbundene [sic] Arbeit verrichtet und sich uns ohne Ziel und Sinn offenbart. Wir aber geheimnissen in sie eine sinnvolle, zweckgebundene gegenständliche Welt hinein, erfinden eine sinnvolle Theorie von der Entstehung der Arten und behaupten, daß diese Theorie, als wissenschaftlich exaktes Wissen der Ursachen und Wirkungen, die Wirklichkeit sei.
Wissenschaft, Kunst, Religion behaupten auf drei verschiedenen Wegen, die Grenzen ihrer Bereiche erreichen zu können, indem sie allem einen Sinn zu geben versuchen: Die Wissenschaft sieht ihn im vollkommenen Gegenstand, die Kunst in der Schönheit, die Religion in Gott, so als bestünden diese sinnvollen Begriffe in der Natur in Wirklichkeit. Mit seinem menschlichen Verstand will der Mensch den gegenstandslosen Zustand der Natur in einen gegenständlichen verwandeln. So wird das gegenständliche Bewußtsein geformt, und Gott, Sache, Schönheit werden zum Material seiner gegenständlichen Ideen.
23 In der Idee des praktischen Realismus befangen, will der Mensch die ganze Natur nach seinem idealen Entwurf formen. Der ganze gegenständliche, wissenschaftlich untermauerte praktische Realismus und seine ganze Kultur sind aber eine niemals zu verwirklichende Idee, denn in der Natur gibt es nichts Ideales, es sei denn in der Gegenstandslosigkeit. In ihr verschwindet aber jede Vorstellung von einem Ideal, einem Nutzen, einer Vollkommenheit. Der gegenständliche Idealist ist wie ein Träumer: Ihm schwebt der Gegenstand von idealer Vollkommenheit vor, wie die Nymphe dem Dichter. Er will sie festhalten in seiner Poesie, sie aber bleibt ewig eine flüchtige Erscheinung. So auch der Gegenstand für den gegenständlichen Idealisten: ewig entgleitend, niemals greifbar, niemals physisch beherrschbar. Trotzdem versucht der Idealist immer wieder das Gegenstandslose gegenständlich zu machen. Diese vergeblichen [46] Bemühungen sind es, die den Sturm des Zornes der materialistischen Dichter, Künstler und Techniker entfesseln und Krieg, Drahtverhaue, Giftgase, Selbstmorde, Tränen, Zähneknirschen, Trauer und Kummer im Gefolge haben.
24 Jahrtausende sind so vergangen in Leid und Kummer, und weitere Jahrtausende werden so vergehen, ohne daß jemand jemals das Ungegenständliche erfassen könnte, um es in einen Gegenstand, sei es körperlicher oder geistiger Art, zu verwandeln. Der Mensch versucht, den Gegenstand seiner Wahnvorstellungen zu erreichen. Auf der Jagd nach diesem vorgestellten Gegenstand, den er durch eine Theorie womöglich zahlenmäßig errechnet hat, zerfleischt er sich, sprengt sich in die Luft, ertrinkt, erstickt. So gesehen, erscheint die ganze gegenwärtige Kultur wie ein Irrenhaus und steht ihm in keiner Weise nach: Dunkelkammern, Einzelzellen, Krankensäle – alle diese Dinge gibt es im ‚freien‘, ‚sinnvollen‘ und ‚vernünftigen‘ Leben auch, nur heißen sie hier ‚Massengefängnisse‘ und ‚Einzelhaft‘. Denn jeder, der sich dem jeweils herrschenden Regime nicht unterwirft, wird auf entsprechende Kammern verteilt, nur mit größerer Härte und Strenge. Alle übrigen befinden sich in ‚Freiheit‘, gelten als gesund und unterstehen der Leitung, die sie für ‚Vergehen‘ mit Geld-, Freiheits- oder Todesstrafe bedroht, - welch letztere in einem richtigen Irrenhaus für kein Vergehen angewendet wird. Im Gegenteil: Die gesamte Leitung eines wirklichen Irrenhauses, seine Regierung sozusagen, rechnet mit der Möglichkeit jedes Verbrechens und entfernt vorsorglich alle Waffen und Hilfsmittel, mit denen ein Verbrechen begangen werden könnte. Sie verzichtet auf Verbote, weil ohne Verbot auch keine Übertretung möglich ist.
Die Regierungen im sogenannten freien Leben sind aus irgendwelchen Gründen überzeugt, daß alle ‚frei‘ lebenden Menschen als gesund zu gelten hätten. Dabei besteht aber zwischen ihnen und den amtlich anerkannten Geisteskranken kein nennenswerter Unterschied: Beide sind von dem Wahn besessen, daß die Welt zur Befriedigung der praktischen Bedürfnisse des Menschen erschaffen sei. Beide leiden unter Halluzinationen, und wie die einen beim Einschlagen von Glasscheiben sich die Hände verletzen, so schneiden sich die [47] anderen gegenseitig die Hälse durch, wenn sie die entsprechende Waffe finden. Ein grundlegender Unterschied ist allerdings: Während die ‚Regierung‘ des richtigen Irrenhauses von den Insassen alle Waffen, wie Messer, Gabeln, Stricke, Streichhölzer usw., sorgfältig fernhält, stellt die Staatsregierung im Gegenteil Waffen her und lehrt ihre Irren diese Waffen so geschickt wie möglich zu handhaben, um dann die Insassen einer Anstalt auf die einer anderen zu hetzen und sie zu vernichten. Weigert sich aber ein Mensch, sich in der Kunst des Tötens ausbilden zu lassen, so kommt er in eine Irrenanstalt oder in den Kerker. Auf solch fragwürdigen Grundsätzen ist das ganze Leben des praktischen, gegenständlichen Realismus aufgebaut und weist noch einen weiteren Unterschied gegenüber einem wirklichen Irrenhaus auf: Dort werden Irre von Gesunden geleitet, im Leben aber die Gesunden von Irren. Irre haben die Macht an sich gerissen und veranstalten ein organisiertes, wissenschaftlich fundiertes Gemetzel, wobei sie die Gesunden zwingen, das zu tun, was in einem Irrenhaus nicht zugelassen ist.
Die Gegenstandslosigkeit allein kann den Wesenskern der Menschheit vom Wahn befreien, indem sie den praktischen Sinn des Gegenstandes als Lüge entlarvt.
25 Seitdem nun die Einheitlichkeit und Ganzheit des nicht auf das Praktische gerichteten Wesens des Menschen sich an dieser Lüge zerschlug und in eine Vielzahl von Berufen zerbröckelte, bemüht der Mensch sich, den praktischen Realismus, - also etwas, was es gar nicht gibt –, zu verwirklichen. Damit hofft er, durch praktische Vollkommenheit seine innere Einheit und Geschlossenheit wieder zu gewinnen. Er will ganz praktisch werden, will alle seine Handlungen in die Bahn der Zweckmäßigkeit leiten, obwohl doch die Natur durchaus nicht praktisch handelt und sich nicht auf zweckbedingten Wegen bewegt, sondern auf dem Wege der Erregung durch Reize, die nicht von Zeit und Raum abhängen.
Bei allen seinen Bemühungen scheint der Mensch seine Hauptsorge auf die Steigerung der Geschwindigkeit zu richten, als wolle er etwas Versäumtes nachholen und damit seine praktische Unzulänglichkeit zu einer künftigen Vollkommenheit bringen.
[48] Er erdenkt Gegenstände des praktischen Realismus, um sie auf die Natur zu übertragen. Er erfindet Systeme, die er als Krönung seines gegenständlich-praktischen Lebens ansieht.
26 Dieses Leben ist in drei praktische Hauptwege aufgespalten: Die Kunst, die Religion und die wissenschaftliche Technik – drei reale, praktische und theoretische Vorstellungen, die aber ständig in Widerspruch zueinander geraten, weil jede einzelne sich für die allein richtige, für die tatsächlich praktische Wahrheit hält. An diesem Kreuzweg hat sich der Mensch gleichsam selbst gekreuzigt und kann sich nun schon durch Jahrhunderte nicht von diesem Kreuz befreien. An diesem Kreuzweg muß sich jeder Mensch entscheiden, welcher der drei Wahrheiten er folgen will. Je nach dem gewählten Weg baut er sich seine Welt auf und muß, wenn er zur inneren Einheit, zu einer Wahrheit, zum einheitlichen Ursprung gelangen will, gegen die übrigen Wege kämpfen.
Nur für eine der Wahrheiten kann er sich entscheiden, denn es kann der Mensch nicht in drei Wahrheiten leben.
27 Jede der drei ‚Wahrheiten‘ hat ein Ziel, und es ist klar, daß die Mittel zur Erreichung dieses Zieles die gegenständliche Bewegung der Dinge sein wird, die ihrerseits durch entsprechende zweckbedingte Handlungen des praktischen Realismus reguliert wird. Der Fortschritt wird sich in Gestalt neuer Dinge realisieren, das Ding selbst ist realisierte Bewegung. Folglich wird allen drei Wahrheiten die technische Kunst als Mittel gemeinsam sein, um zu Errungenschaften zu gelangen und den Dingen Form und Sinn zu geben.
28 In allen drei ‚Wahrheiten‘ dominiert der praktische Realismus der Dinge als letztes Teil.
Die ‚Wahrheit‘ des Ingenieurs, diese zuletzt entstandene Wahrheit, kann natürlich nicht anders als praktisch sein, da ihre Welt der praktischen Zweckmäßigkeiten mit jedem Tag weiter vervollkommnet wird. Die wissenschaftlich-geistige ‚Wahrheit‘ läßt sich in zwei Bereiche einteilen: den praktisch-gegenständlich-utilitären und den gegenstandlosen. Man kann auch sagen: angewandte Wissenschaft und freie Forschung um der Forschung willen.
Die Religion hat auch ihre ‚Wahrheit‘ gefunden, indem sie ein [49] System schuf, nach dem der Mensch selbst in zwei Bereiche eingeteilt wird: den materiellen Leib und die immaterielle Seele. Im Bereich der Seele ist der Mensch schwerelos. Schwerelosigkeit ist auch das höchste Ziel der Technik.
Nur die Kunst strebt nach Monumentalität, erzeugt Gewicht, macht Leichtes schwer, strebt zur Statik, zum nicht-zerstörbaren Zustand. Im Gegensatz zur Religion und zur technischen Wissenschaft sammelt sie bewußt Gewicht im Monument. In dieser Beziehung steht der Künstler in Widerspruch zum Ingenieur. Das Denken des Ingenieurs richtet sich immer auf die zukünftige Vollkommenheit, die Aufhebung der Schwerkraft und die Abänderung der gestrigen Gewichtsverteilungen, und schafft immer wieder neue Ordnungen der Verteilung.
Der Künstler aber will alles Zukünftige in der Vollkommenheit der Kunst vergangener Zeiten festhalten, in einer ‚unvergänglichen‘ Form der Verhältnisse, obwohl das Leben in seiner Dynamik sich ständig verändert. Darum kann der Ingenieur die Welt der Dinge verändern, der Künstler aber nicht. Alle neuen Lebensinhalte werden in der Kunst verschlungen von den Formen und Verhältnissen der Vergangenheit.
Wenn der Ingenieur tief in die Zukunft vordringt, bringt er von dort neue Vervollkommnungen, der Künstler aber, der sich in die Vergangenheit vertieft, bringt nur das, was ist oder schon war. Der Ingenieur ist bemüht, jedes seiner Erzeugnisse so zu bauen, daß es durch seine Form und Wirkung eine ideale Gewichtsverteilung darstellt, der Künstler aber bemüht sich im Gegenteil darum, die Gewichte zusammenzufassen in einem idealen monumentalen Aufbau. Er will sein ‚Ich‘ oder eine bestimmte inhaltliche Idee in einem Monument der Schwere offenbaren, das der Zeit entgegenwirken soll.
Alle drei ‚Wahrheiten‘ gründen unverkennbar ausschließlich auf praktischen Gesichtspunkten, deren Ziel dennoch die Schwerelosigkeit ist.
Der Ingenieur ist erbarmungslos gegen die gestrigen Vollkommenheiten. Auch die gesamte technische Jugend ist für jeden neuen Schritt. Ihre Parole ist: „Weiter!“
[50] Die entgegengesetzte Erscheinung beobachtet man in der Kunst. Da lautet die Parole: „Weiter in die Vergangenheit!“ oder „Wir hassen das Morgen!“
29 Die Technik hat den Nutzen zum Ziel. Den Nutzen erblickt sie in erster Linie im schnellen Fortschritt, denn die Menschheit wird beunruhigt durch die ferne Zukunft, durch die nebelhafte Vorstellung von deren Vollkommenheit. Die Technik verfolgt in aller Ewigkeit dieses Ziel und müht sich ab, es dem Menschen näherzubringen oder, umgekehrt, den Menschen dem Ziel. Darin liegt das Wesen jeder Technik. (Übrigens: Jede der drei ‚Wahrheiten‘ hat ihre Technik.) Darum muß jeder ihrer Schritte zweckdienlich sein. Jeder neu erzielte Nutzen verändert die Welt oder das Bewußtsein. Darum fürchtet die Technik das Vergangene, im Gegensatz zur Kunst, die bis zum heutigen Tag die Formen, die Erfahrungen und das Können der Vergangenheit zu erhalten versucht und damit nichts Neues leistet und nichts verändert.
So verändert der Mensch also im Grunde stets nur seine ‚Nützlichkeiten‘, niemals aber die Welt oder die Natur.
30 Alle drei ‚Wahrheiten‘ haben Gegenstände ihres Fortschritts, des praktischen Realismus zum Ziel. So steht vor der Religion als Gegenstand des Heils – Gott, als Grenze des praktischen Realismus geistiger Ordnung, vor der Kunst – die Schönheit, vor der Wissenschaft – die Erkenntnis. Die gegenstandslose Wahrheit wird in ihnen verwandelt in ein gegenständliches Ganzes, das erreicht und bewältigt werden muß. Wird das Erreichte nützlich sein?
31 Nachdem der Mensch sich nützliche Ziele gesetzt hat, strebt er auch zu ihnen hin. Dadurch wird sein sogenanntes Leben zum praktischen Handeln, zu einem Streben zum Leben; es ist nicht das Leben selbst. Dieses kann erst erreicht werden, wenn das ‚Ziel‘ erreicht ist. Das, was wir heute Leben nennen, sind nur zweckdienliche Handlungen, um zum wirklichen Leben zu gelangen.
Da die Welt aber gegenstandslos ist, sind alle gesetzten Ziele niemals zu erreichen. Niemals kann durch zweckbedingte Handlungen das Leben erreicht werden, weder in Gott, noch im technischen Gegenstand, noch in der Schönheit.
[51] 32 Die Kirche hat die ausweglose Lage erkannt, dieses endlose Streben nach einem unerreichbaren Ziel, sie hat die Endlosigkeit begrenzt durch den Begriff Gott als dem Vollendeten, dem Absoluten. Auf diese Weise macht es die ‚Technik der Kirche‘ möglich, das Ziel zu erreichen, da die Welt, als Schöpfung Gottes, vom Standpunkt der Kirche etwas Absolutes ist. Gott ist vollendet, absolut, unverrückbar in seiner Vollkommenheit und darum ohne Bewegung zu einer Vervollkommnung hin. In diesem ‚Nicht-Bewegen‘ findet die Religion das absolute Leben, völlige Unbeweglichkeit und Schwerelosigkeit, die immaterielle, gegenstandslose Welt.
33 Die gegenständliche Welt ist ein Ziel. Für dieses Ziel entstand eine besondere Geisteskraft – das Bewußtsein. Das ‚Ziel‘ ist für den Menschen ein Lockmittel. Ohne Ziel macht er keinen Schritt, obwohl er sehr wohl weiß, daß die vor ihm aufgebauten Ziele nichts weiter sind als Theaterkulissen, wie alles Gegenständliche des praktischen Realismus leere Theaterkulisse ist.
34 Die Nützlichkeit ist eine rein menschliche Annahme, die es in der Natur nicht gibt. Welche ‚Nützlichkeit‘ (im Sinne des Menschen) kann schon ganz allgemein oder für das menschliche Dasein im ewigen Werden und Vergehen im endlosen All liegen? Es kann keine Nützlichkeit ohne Ziel und kein Ziel ohne Nützlichkeit geben.
35 Das ganze Weltall bewegt sich im Wirbel gegenstandsloser Erregung. Auch der Mensch mit seiner ganzen gegenständlichen Welt bewegt sich in der Unendlichkeit des Gegenstandslosen, und auch alle seine Dinge sind im Grunde gegenstandslos, da sie ja im Endergebnis das Ziel nie erreichen. Daraus ist zu folgern, daß die praktische ‚Realität‘ der Dinge nicht wirklich ist. In dem Maße, in dem der Mensch die Welt als eine gegenständliche, greifbare Sache betrachtet, kann er sich ihrer als Gegenstandslosigkeit, als absoluter Aufhebung der Schwere, auch nicht bewußt werden.
Das gesetzte praktische Ziel verlangt die Schaffung aller nur möglichen Hilfsmittel. Als leitendes Hauptgesetz für die Schaffung dieser Hilfsmittel ergab sich die Wirtschaftlichkeit. Die Wirtschaftlichkeit wurde zum Regulator der Bewegung aller Schöpfungen des Menschen. Plakate an allen Ecken und Enden ermahnen die Schaf[52]fenden zu gegenständlicher Brauchbarkeit, Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit. Dadurch wird der Wille des Schaffenden eingezwängt in den engen Käfig der Forderung nach praktisch-nützlichen Handlungen. Nach der Auffassung der Allgemeinheit ist der Wille frei; in Wirklichkeit aber kann er seine Freiheit niemals erlangen, solange sein Schaffen auf gegenständlich-praktische Nützlichkeitserwägungen beschränkt bleibt. Der Schaffende kann die Grenzen des Gegenständlichen nicht überwinden, darum kann sich sein Wille nicht in Freiheit offenbaren. Der Wille kann erst dann in die grenzenlose Weite freier Entfaltung hinaustreten, wenn er die Grenzen des Gegenständlichen sprengt, zur gegenstandslosen Bewegung vorstößt und sich darin auflöst.
Aber in irgendeiner Form muß sich der Wille doch manifestieren, muß seine Wünsche erfüllen; und vielleicht sind diese, seine Wünsche dann wieder seine Grenzen, bilden wieder einen Gegenstand, eine durch den Willen sichtbar gemachte Errungenschaft?
Demnach muß jeder Wille, wie das Schaffen und die Darstellung, ein Produkt der Gegenständlichkeit sein. In der Gegenstandslosigkeit aber gibt es keine Wünsche. Sie ist einfach ein Erregungszustand ohne jeden Willen, ohne jedes Wollen, da in ihm nichts ist, worauf sich ein Wollen richten könnte. Die Erregung kennt keinen Willen, keine Freiheit, keine Verbote und auch kein Verlangen, irgendetwas zu vollbringen. Ich glaube, daß auch das gesamte Weltall keinen solchen Willen hat. Wille oder Willenlosigkeit bedeutet immer irgendeine Entscheidung. Im Weltall aber gibt es keine Entscheidungen dieser Art. In ihm wurde niemals etwas unternommen, keine Entscheidungen getroffen. Für einen ‚Willen‘ bleibt einfach kein Raum, weder im Großen noch im Kleinen.
Was bleibt aber denn nun der Allgemeinheit, der Menge, von der gegenständlichen Welt? Nichts weiter als Zwang und Unausweichbarkeit! Die Welt der Allgemeinheit ist die Welt des Zwanges und unausweichlicher Notwendigkeiten, die ihrerseits von ihr Willen und Kraft verlangen.
Zwang und Notwendigkeit haben aber mit Schöpfung nichts zu tun, denn Schaffen verlangt Freiheit, Unabhängigkeit, Zwanglosig[53]keit. Darum kann man in der gegenständlichen Welt nicht von ‚Schaffen‘ reden, sondern bestenfalls von ‚Darstellen‘ oder ‚Abbilden‘. Der im Gegenständlichen befangene Mensch kann wohl verschiedene Kniffe erdenken, niemals aber schöpferisch sein. Der Abbildner oder Darsteller muß in seiner unausweichlichen Abhängigkeit über eine große Anpassungsfähigkeit verfügen, um Zwang und Notwendigkeit nicht als solche zu empfinden. Der wahrhaft schöpferische Mensch ist dazu gar nicht fähig – er ist frei!
Frei sein heißt keine Grenzen, keine Hindernisse kennen. Da aber jeder Gegenstand seine fest umgrenzte Funktion hat, so ist es klar, daß er nicht in das Gebiet des Schöpferischen gehört, sondern ausschließlich in das Gebiet der Erfindung.
Der Wille der praktisch eingestellten Allgemeinheit ist auf die Überwindung aller Naturgewalten gerichtet, er will sie überwinden, unterwerfen und beherrschen. Das heißt, daß die Allgemeinheit den Willen für ein Element der Natur hält, daß die Natur sich in der Gewalt des Willens befinde, und daß die Allgemeinheit die Natur überwinden und sie ihrem Willen unterordnen muß. Die gegenständliche Welt ist der Kampf zweier Willen. Es gibt aber nur einen Willen, denn es kann in der Natur keinen anderen Willen geben als den in mir, oder umgekehrt, in der Natur keinen Willen, der nicht in mir wäre. Die Gegensätze des gespaltenen Willens bestehen nur im Menschen. Darum scheint die Bemühung der Menschheit, durch Gegenständlichkeiten den Willen der gegenstandslosen, willenlosen Natur zu besiegen, auf irgendwelchen grundlegenden Mißverständnissen zu beruhen, denn offensichtlich wird ein und derselbe Wille sich selbst in verschiedenen Auffassungen gegenübergestellt. Man kann Willenloses und Gegenstandsloses nicht besiegen, welche Grenzen auch immer aufgerichtet würden. Die Grenzen würden immer nur für den Willen des durch diesen Willen zum Handeln veranlaßten Subjektes Geltung haben. Es ist so, als begäbe sich die gegenstandslose Natur durch den Menschen in dessen gegenständliche Willenssphäre oder in eine neue, reale Organisiertheit, als wolle sie durch das menschliche Hirn zu einem neuen Sinn gelangen.
Vielleicht hebt der Mensch auch darum die gefalteten Hände sei[54]nes Willens und strengt seine Stimme an, um der Natur Befehle seines praktischen Verstandes zu erteilen und die Willenlosigkeit der Natur dem Willen des praktischen Realismus zu unterwerfen. Statt dessen aber fesselt er nur seinen eigenen Willen und führt ihn in den Abgrund eines vermeintlichen praktischen Realismus.
37 So hat sich der Mensch die gegenständliche Vollkommenheit zum Ziel gesetzt, hat sich Zwang und Notwendigkeiten aufgebürdet, als hätte er absichtlich oder aus Gedankenlosigkeit sich selbst befohlen, den beschwerlichen Weg des praktischen Realismus zu gehen, der ihn angeblich zur Vollkommenheit führen wird, zu etwas also, was unerreichbar ist und auch dem Wesen des Menschen gar nicht entspricht.
Der ganze, weder Freiheit noch Verbote kennende, außerhalb aller religiösen Bindungen stehende Mensch hat sich in die Wege der verschiedenen Wahrheiten eingeschaltet und hofft, ausgerechnet auf ihnen dahin zu gelangen, worin er sich schon befindet: in die geschlossene, unterschiedslose Welt der Gegenstandslosigkeit. Auf der Drei-Wege-Kreuzung des praktischen Realismus spaltet sich sein Wille in drei Richtungen.
Auf dem religiösen Wege wird der Wille auf Schritt und Tritt abgetötet, indem er sich ganz dem Willen Gottes anvertraut.
Auf dem technisch-wissenschaftlichen Wege wird der Wille den praktischen Handlungen und Zielen des Alltags geopfert.
Auf dem Wege der Kunst aber öffnet sich eine neue Möglichkeit der freien Bewegung, unter der unabdingbaren Voraussetzung allerdings, daß der Wille sich in der Kunst unabhängig von den Ideologien und Inhalten der beiden anderen Wege, außerhalb also der Religion und der auf Ernährung abgestimmten Form des Lebens der technisch-praktischen Einrichtungen, offenbart.
Die Kunst, befreit von aller Abhängigkeit, wird zum Herzen der Menschheit, das höher und mächtiger schlagen wird als die Bewegungen der Kometen in ihren Bahnen. Aber der Wille hat in diesem Schlagen dann kein anderes Ziel als die Freiheit, also die Willenlosigkeit. In dieser Möglichkeit liegt der Vorzug der Kunst vor den anderen Wegen des gegenständlich-praktischen Realismus. Da der [55] Wille – jeder Wille – das Produkt des praktischen Realismus ist, so muß er folgerichtig dort verschwinden, wo es keine Ziele und keine zweckgebundenen Handlungen gibt: in der gegenstandslosen Kunst!
Jeder der drei Wege ist ein gesonderter und unabhängiger Weg, obwohl sie alle drei zu einem Ziele streben – zum praktischen Realismus: In der (bisherigen) Kunst – zur Schönheit, in der Religion – zu Gott, in der Wissenschaft – zur gegenständlich-technischen Vollkommenheit.
Im Suprematismus, dem befreiten Nichts der Gegenstandslosigkeit, gibt es das alles nicht.
38 Die Religion in ihrer reinen Form läßt sich weder für die Wissenschaft noch für den ganzen praktischen Nahrungs- und Daseinskampf verwenden. So kann man auch die Kunst weder für das eine noch für das andere mißbrauchen. Alles, was von der Religion oder der Nahrungs- und Gebrauchsgüter-Produktion als sogenannte Kunst verwendet wird, ist keine Kunst, sondern nur Theater-Requisit. Wenn das Wesen der wahren Kunst offenbar wird, dann wird man erkennen, daß sie einen selbständigen Weg darstellt, genau wie jeder der beiden anderen Wege, mit dem Unterschiede, daß die Kunst nicht wie diese beiden den praktischen Realismus anstrebt.
An dem Drei-Wege-Kreuz wird der Mensch gespalten: Jedem der drei Wege widmet er einen Teil seiner Zeit und findet in jedem die ‚Wahrheit‘.
40 Der Mensch dient also drei ‚Wahrheiten‘ und erhofft von den drei Wahrheiten sein Heil. Jedoch ist er nicht in der Lage, ein Ganzes zu schaffen, auch wenn er seine ‚dreieinige‘ gegenständliche Kultur durch die Kirche gekrönt hat.
41 So weit man die Entwicklung der Menschheit bis in ihren Ursprung verfolgen kann, hat sich die Kunst immer in der Abhängigkeit von den beiden anderen Wegen befunden. Die Kunst spielte von jeher die Rolle der Krönung und Verschönerung des Lebens und wurde immer als ein Mittel betrachtet, das den Lebensinhalt spiegeln sollte. Es wurde behauptet, daß das Leben eben jene Grundlage sei, ohne welche die Kunst überhaupt nicht bestehen könne. Ein [56] eigener Weg wurde ihr ganz entschieden abgesprochen mit der Begründung, Kunst an sich sei kein Inhalt. In Wirklichkeit aber kann man Kunst weder auf dem einen noch auf dem anderen Wege ‚anwenden‘, sobald ihr gegenstandsloses Wesen erkannt ist. Im Grunde genommen ist keiner der drei Wege aufeinander anwendbar.
In der Tat, wie wäre eine Verbindung möglich zwischen Technik und Kunst, da beide im Grunde ihres Wesens so völlig verschieden sind? Die Technik strebt nach dem praktischen Gegenstand, ist befangen in Zeit, Raum und Ziel, hat eine ‚Vergangenheit‘, eine ‚Zukunft‘, eine ‚Gegenwart‘, hat endlich ‚Verstand‘. Von alledem ist die Kunst frei, sofern sie ihre äußerste Grenze, die Gegenstandslosigkeit, erreicht hat, das heißt, zum Urgrund ihres Wesens durchgestoßen ist. Zwischen Kunst und Technik liegt ein unüberbrückbarer Abgrund, die Unvereinbarkeit zweier Glaubensbekenntnisse: des gegenständlichen und des gegenstandslosen.
Der Mensch, der in seinem animalischen, gegenständlich-praktischen Zustand verharrt, ahnt doch, daß es etwas gibt, das über seine mechanisch-technischen Handlungen hinausreicht. In dieser sehr unklaren Ahnung blinkt tatsächlich Höheres, als es die von nüchterner Sachlichkeit gestellten Aufgaben von ihm verlangen. Jeder der drei Wege glaubt, den Menschen zu diesem Höheren, dem Heil, zu führen. Der religiös-geistige Weg sieht dieses Heil in Gott, der technisch-praktische im vollkommenen Gegenstand, die Kunst in der ‚Schönheit‘. Aber ein Heil kann niemals das wahre Heil sein, wenn es ein Gegenstand ist, eine Sache oder sonstwie faßbar. Das wahre Heil kann nur die Gegenstandslosigkeit sein!
43 Jede Idee entsteht aus dem Zusammenwirken verschiedener Voraussetzungen. In der Gegenstandslosigkeit aber fehlen alle Voraussetzungen, die irgendeine Idee entstehen lassen könnten.
44 Auch in der Natur gibt es keine Voraussetzungen, aus denen sich Ideen entwickeln könnten, denn die Natur ist eine vollkommene Einheit, die aber gleichzeitig nicht da ist, weil sie sich im Zustand der Gegenstandslosigkeit befindet. Das Leben des Menschen aber ist voller Voraussetzungen, Umstände und Beziehungen, aus deren Differenzierung sich die Gegenstände ergeben.
[57] Das Streben der Menschen nach Höherem bezieht sich in der Mehrzahl der Fälle auf geistige Gebiete, nicht materielle, was aber noch nicht Gegenstandslosigkeit bedeutet, weil auch die geistigen Handlungen von Ideen gelenkt werden, die von praktischen Erwägungen bestimmt werden. Jedenfalls ist mir keine Idee bekannt, die außerhalb jeder praktisch-materiellen Verwendbarkeit gestanden hätte. Wie hoch auch die geistigen Ziele gesteckt sein mögen, immer münden sie im Endergebnis in irgendeinen praktischen Nutzen.
So ist zum Beispiel auf dem religiösen Gebiet der ewige Held ein Heiliger, der sich selbst vernichtet und das Heil predigt. Es gibt aber keine Ikone, auf der der Heilige eine Null wäre. Das Wesen Gottes aber ist das Null-Heil. Darin liegt zugleich das Heil Null, wie ein Kreis der Umwandlungen alles Gegenständlichen in Ungegenständliches. Wenn die Helden und Heiligen gewahr würden, daß das Heil der Zukunft das Null-Heil ist, dann wären sie verwirrt durch die Wirklichkeit. Der Held würde sein Schwert sinken lassen, und dem Heiligen würden die Gebete auf den Lippen ersterben.
45 Keine der Lebensströmungen ist bisher dem Gegenstandslosen nahegekommen, hat die Menschheit auf die Ebene des Menschlichen gehoben. Alle blieben in der Ebene des animalischen Nutzens. Die Ideenwelt aber, in der man etwas Höheres sehen sollte als das auf animalische Nahrungs- und Daseinssorgen ausgerichtete Leben, blieb animalisch.
Religion und Kunst wollen sich von dieser animalischen Futtertrog-Ideologie befreien. Beide wollen zu Handlungen gelangen, deren ein Tier, das die absolut verwirklichte Futtertrog-Idee ist, nicht fähig ist.
Der Kunst ist dies inzwischen gelungen, allerdings noch nicht im umfassenden Sinn, sondern im ästhetischen. Die ästhetische Gegenstandslosigkeit blieb vorerst noch an den Gegenstand gebunden. Um zur vollkommenen Gegenstandslosigkeit zu gelangen, mußte dieser Umstand überwunden werden. Die vollkommene Gegenstandslosigkeit führt aus dem Bereich der bisherigen Kunst heraus, weil diese ja nur dazu gedient hatte, den gegenstandslosen Ästhetizismus mit dem Gegenstand zu verbinden. Als es den Malern gelang, sich vom [58] Gegenstand zu befreien, wurde für sie das, was bisher als ‚Kunst‘ galt, überflüssig. Es ist wahrscheinlich, daß es in der Natur keine ‚Kunst‘ gibt, da sie keine Gegenstände nach irgendwelchen ästhetischen Grundsätzen nachbildet. Aber auch ohne jede Gegenständlichkeit besteht die Natur weiter. Die Menschen versuchen in ihr ein weises Walten zu erkennen, es ist aber anzunehmen, daß es in der Natur überhaupt keine Weisheit im menschlichen Sinne gibt, die nichts weiter ist, als Überlegungen, Urteile und Schlußfolgerungen, die der Mensch über die unfaßbare Natur anstellt.
46 Die Natur strebt nichts an, erkennt nichts, weil es in ihr nichts gibt, was sie erkennen könnte; sie kennt kein Ziel, keinen Sinn, keine Nützlichkeitserwägungen. Man könnte sogar sagen, daß es in der Natur kein Leben gibt, sofern man unter ‚Leben‘ die praktischen Äußerungen im Sinne des Menschen versteht.
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Das Leben ist nur darum Leben, weil es das Denken gibt: Ich denke – darum lebe ich! Ich kann nicht leben, wenn ich nicht denke. Man kann nicht sagen, daß die Natur nicht lebt, daß es sie nicht gibt, auch wenn das Bestehen dieser oder jener Wirklichkeit nur mein Gedanke ist, in ihr wirken aber Lebensäußerungen ohne Ziel, Verstand, Überlegung, Wissen und Idee. Sie ist der ewige, ideenlose Herzschlag, ohne Ursache und Voraussetzung, sie ist Erregung und Gegenstandslosigkeit. Daher kann alles bestehen, was auch nicht denkt. Es ist möglich, daß der Gedanke Leben erzeugt, bestimmte Formen als Merkmale des Lebens. Der Mensch, der sich in die Tiefe der Naturgeheimnisse begibt, in der keinerlei greifbare Gegenstände zu denken sind, sagt: dort ist kein Leben, dort gibt es keine Gedanken, keine Bücher, keine Bewegung. Was kann es denn da noch geben, außer der Gegenstandslosigkeit, außer der gegenstandslosen Natur? Erst das Erscheinen des Menschen führt zu einer neuen Reaktion, die Gegenstände schafft, das heißt Begriffe bildet. Die Verwirklichung dieser Begriffe führt zur Herstellung neuer Dinge, es entstehen Gegenstände, es entsteht das, was wir unter ‚Leben‘ verstehen. [59] So entsteht das gegenständliche Leben der Begriffe, Erkenntnisse, das Wesentliche aber, die Gegenstandslosigkeit, wird dadurch nicht erschüttert.
Der Mensch versteht unter ‚Leben‘ nur die Welt seiner Begriffe und Beziehungen. Mit dem gleichen Recht könnte man aber sagen, daß die Natur dort aufhört, wo im menschlichen Bereich die Wüste menschlicher Begriffe herrscht.
Man kann also zwei Arten von ‚Leben‘ unterscheiden: Das gegenständliche Leben, zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und das gegenstandslose Leben, eine Leere, in der es kein Streben nach Befriedigung gibt. Die Idee der Befriedigung von Bedürfnissen erzeugt das Streben nach Vervollkommnung. Eines der Ziele der Vervollkommnung ist die Gleichheit, die Abschaffung aller Unterschiede.
In der Gegenstandslosigkeit gibt es dieses alles nicht. In ihr läßt sich nichts herausheben oder unterscheiden. Sie ist eine Erscheinung, die außerhalb alles Physischen bleibt. Doch da nun einmal für die Durchschnitts-Menschheit alles einen Nützlichkeitswert haben soll, so wurden künstlerische Werke zu einer neuen ästhetischen Form der Nützlichkeit, zu einer Fiktion, die jene Bereiche umfassen sollte, in denen eine Befriedigung materieller Bedürfnisse nicht zu erwarten war. Die künstlerisch-ästhetische Fiktion dient vielleicht dem Zweck, die ästhetische Seite der Dinge zu offenbaren, ebenso aber die Erscheinungen der Natur zu deuten. Die Kunst kann ein Mittel sein zur Lösung von Problemen jener Gebiete, deren Erforschung auf den Wegen der Religion und der Wissenschaft nicht möglich ist. Im Zusammenhang damit ließe sich die Behauptung aufstellen, daß ein Gegenstand oder ein Vorgang erst dann als vollkommen erforscht bezeichnet werden kann, wenn neben den chemischen und physikalischen Untersuchungen auch die religiöse und die ästhetische Seite der Dinge erforscht ist. Die volle Erkenntnis der Dinge wird erst durch ästhetische Erkenntnisse erreicht, wie ja in unserem Leben die meisten Dinge erst dann für vollkommen gelten, wenn sie auch künstlerisch geformt sind.
Somit kann man sagen, daß Gegenstände, Sachen, sich aus Erkenntnissen bilden. Wenn aber der Gegenstand das Resultat der Er[60]kenntnis ist, dann kann man das keineswegs eine schöpferische Tat nennen. Der Gegenstand wurde ja nicht geschaffen, sondern erkannt. Das Schöpferische aber vollzieht sich außerhalb der Erkenntnis, in blindem Wirken und auch das nur unter der Bedingung, daß dieses Wirken keinen Beeinflussungen durch die äußeren Verhältnisse ausgesetzt ist. Die Erkenntnis ist ein Vorgang, bei dem Unbekanntes oder Gegenstandsloses in erkennbare Gegenstände verwandelt wird, wobei das Erkannte in dem Maße richtig sein wird, in dem es in einen Gegenstand der Erkenntnis verwandelt worden ist.
Forschungen bauen sich ausschließlich auf Voraussetzungen und Annahmen über das Unbekannte auf. Unterscheidungsmerkmale werden durch Beobachtung und Experiment festgelegt. Das Ergebnis wird aber meiner Ansicht nach noch kein gültiger Beweis sein, daß sich der gesuchte Gegenstand dem Forscher voll offenbart hat. Es wird nur eine Annahme sein, die nur soweit bewiesen sein wird, als sich der Gegenstand im physikalischen Experiment erkennen ließ.
Wenn alles aber nur Annahme ist, so scheidet auch hier das schöpferische Element aus, zum mindesten ist es dann nicht echt. Es kann nichts Echtes geben, das nur eine Vorstellung von der Idee des Unbekannten ist. Auf solchen ‚Ideen‘ ist das ganze praktisch-gegenständliche Leben aufgebaut. Sein entgegengesetzter Pol ist die Kunst. Das Leben aber will beide Pole in einer einheitlichen gegenständlichen Idee vereinigen.
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[…] [64] […] Man sagt: „Das Bild ist aufgebaut“, „Die Rede ist aufgebaut“, „das Haus ist aufgebaut“. Wir beginnen zu untersuchen, was aufgebaut ist, und was nicht. Wir versuchen, den unversieglichen Weisheitsquell der Natur zu erforschen, aus dem die Wissenschaft ihre Weisheit schöpft und dafür sorgt, daß wir nicht dumm bleiben und einiges verstehen. Wir versuchen festzustellen, ob es im gesamten vorstellbaren und nicht vorstellbaren Sein eine Ordnung gibt, und müssen erkennen, daß uns jede Möglichkeit fehlt, auf diesem Gebiet irgendetwas Endgültiges festzustellen. Der Mensch hat aber etwas gar nicht so Dummes gefunden: Die Bedingtheit und die Relativität. Und gerade die Relativität beweist, daß es nichts ‚Aufgebautes‘, nichts ‚Geordnetes‘ gibt, wie auch nichts Chaotisches. Es gibt nichts, was sich ordnen ließe oder was chaotisch bleiben könnte. Daraus kann man schließen, daß unser gesamtes Leben auf ‚Gesetzmäßigkeiten‘ ruht, die nichts weiter sind als leere Annahmen (Bedingtheiten) und deren Relativität. Darin ist nicht einmal eine Theaterkulisse mehr zu erkennen, – nicht einmal die!
Der ganze praktisch-gegenständliche Realismus entwickelt eine Wissenschaft und erfindet sinnreiche Geräte, um Messungen an Annahmen, nicht aber an der Wirklichkeit, vorzunehmen.
[65] Trotz dieser hoffnungslosen Lage besteht aber die Natur, es bestehen die Dinge, es besteht eine Ordnung der Verbindung von Elementen. Das alles besteht aber außerhalb unseres Wissensbereiches, unseres Empfindens, unseres Fühlens. Was ‚wirklich besteht‘, können wir nicht erkennen. Die wissenschaftliche Einordnung der Welt in einzelne Fächerchen beschränkt sich auf vereinbarte Zeichen, wie etwa H2O oder HO3. Die Wissenschaft gibt also nur einen Katalog vereinbarter Zeichen, aber nicht die Wirklichkeit selbst, obwohl über den Eingängen zu wissenschaftlichen Instituten groß das Wort Wissen prangt.
Das ‚Wissen‘ ist die Grundlage aller Wissenschaft. Wissen bedeutet die Wahrheit, die Wirklichkeit sehen. Ohne Wissen kann man keinen Schritt tun. Wissen ist die unausweichliche Forderung des gegenstandsbefangenen Denkens. Ohne Wissen lassen sich keine praktischen Gegenstände herstellen. So ist also in der gegenständlichen Kultur das Wissen das einzige Fundament der ‚Wirklichkeit‘. Auf diesem Fundament ruht unser ganzes bewußtes Leben.
Ein reichlich unsicheres Fundament, denn das ‚Wissen‘ widerlegt ständig das, was in der Vergangenheit für Wissen gehalten wurde. Folglich können Wissenschaft und Wissen nicht die Mittel sein, mit deren Hilfe man die absolute Wahrheit, die absolute Wirklichkeit feststellen könnte. Wie kann man aber etwas aufbauen, wenn die Realität des Fundamentes fehlt?!
Die Wissenschaft und die Durchschnittsmenschheit behaupten, daß ein Mensch ohne Wissen zu nichts tauge. Dabei merken sie nicht, daß das ganze geforderte Wissen auch nicht viel taugt. Wissenschaft ist doch nichts anderes als ein ewiger Meinungsstreit über die Wahrheit. Es ist ein Streit um Erfahrungen, Begründungen und Beweise, die sich vielfach gegenseitig widersprechen oder ausschließen, in keinem Falle aber eine Sicherheit dafür geben, daß sie unwiderlegbar und unerschütterlich sind. Wenn aber die Wissenschaft nicht in der Lage ist, sich für die ewige Unwandelbarkeit ihrer Beweise zu verbürgen, so beweist sie damit nur die Gegenstandslosigkeit der Natur, die außerhalb jeder Erkenntnismöglichkeit, jeden Wissens steht. Die Natur scheint mir vielmehr dem entgegengesetzten Grundsatz zu [66] folgen: Nicht wissen, sondern wirken! Daraus könnte man folgern, daß man wirken kann, ohne zu wissen. Wissen kann es nur dort geben, wo die Natur erkannt ist. Da wir aber die Natur nicht erkennen können, so gibt es auch kein ‚Wissen‘.
Für die Allgemeinheit gilt als reale ‚Wahrheit‘ einfach das Wahrnehmbare. Für die Wissenschaft gibt es diese Realität nicht ohne weiteres, jedoch auch sie ist bei ihren Forschungen auf das Wahrnehmbare angewiesen.
Für den Maler bedeutet Realität etwas ganz anderes als für die Wissenschaft und die Allgemeinheit. Für diese beiden liegt Realität im Lebendigen. Für den Maler liegt der Fall umgekehrt: Für ihn ist die lebendige Realität nicht in der Natur, sondern auf seiner Bildfläche, das heißt, sobald das Darzustellende alle wirkliche Natur verloren hat, – Gewicht, Beweglichkeit, Zeit, Raum.
Die Allgemeinheit hält aber solche Darstellungen des Künstlers für real. Möglich, daß sie eine andere Realität als die des dargestellten Gegenstandes meint. Vielleicht gar meint sie die künstlerische Gestaltung, die die eigentliche Realität des Künstlers ist. Solche Auffassungen sind selten. Aber auch in diesen seltenen Fällen erkennt die Allgemeinheit das Künstlerische nur in Verbindung mit dem dargestellten Inhalt. Außerhalb der gegenständlichen Gestaltung vermag sie nichts Künstlerisches mehr zu erkennen. Daraus ersehen wir, daß es eine einheitliche Vorstellung von der Realität der Natur nicht gibt. Der Künstler hat eine, der Ingenieur eine andere, der Wissenschaftler eine dritte und der Geistliche eine vierte usw. Eine objektive Gliederung der Naturelemente ist nur in ganz groben Zügen möglich: ‚Wasser‘, ‚Erde‘, ‚Ahorn‘, ‚Eiche‘. Würde man die Natur als ein ungeteiltes und unteilbares Ganzes objektiv erfassen können, so gäbe es keine Möglichkeit, das Leben auf der Vielfalt ihrer Teile und Strömungen aufzubauen. Nur durch die subjektive Einteilung der Natur konnte die Allgemeinheit ihr durch gemeinsame Interessen verbundenes, gegenständliches Leben aufbauen.
Es ist möglich, daß Subjektivität wie Objektivität gleichermaßen schuld sind an der Differenzierung der als Einheit erkannten Natur, die weder Objektivität noch Subjektivität kennt. Mit der Differen[67]zierung hat sich die Allgemeinheit die Möglichkeit verbaut, die Natur in ihrer Einheit zu erfassen, das heißt als etwas Einheitliches ohne jede Differenzierung zugunsten der Interessen einzelner. Übrigens scheint mir kaum ein Unterschied zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven zu bestehen, da ja jede objektive Erkenntnis möglicherweise nur die Summe vieler subjektiver Erkenntnisse ist, die, wie jede Summe, wieder in ihre Bestandteile zerfallen kann, sobald eine neue subjektive Erkenntnis hinzukommt, die die Objektivität einer bereits geformten Vorstellung von der Realität eines Objektes in Frage stellt.
Die Kunst beginnt heute sich vom gegenständlich-praktischen Realismus zu trennen und sich der Gegenstandslosigkeit zuzuwenden. Damit erreicht sie jene Grenze, an der Kunst aufhört, im landläufigen Sinne Kunst zu sein. Das Wesen der Kunst wird in eine andere Ebene gehoben. Dieser Übergang in eine andere Ebene führt zur Zerstörung der gegenständlichen Scheinbarkeit, bis zu deren völliger Ausschaltung. Für die bildnerische Aussage hat der Gegenstand eigentlich nie eine entscheidende Rolle gespielt und wurde nur durch den Futtertrog-Realismus, man kann sagen, die Futtertrog-Diktatur, in den Vordergrund geschoben.
Die Entthronung der praktisch-‚realen‘ Gegenstände durch die ‚Neue Kunst‘ im 20. Jahrhundert gab der Allgemeinheit Anlaß, diese Kunst der Zersetzung des praktischen Geistes und damit der Kunst selbst anzuklagen. Die Ankläger täuschen sich aber sehr: Die Zersetzung der gegenständlichen Welt bedeutet noch lange nicht die Zersetzung der Kunst oder die Zerstörung des Geistes der Kunst. Im Gegenteil, sie setzt den Geist der Kunst erst wieder in seine Rechte ein, hebt ihn in die gegenstandslose Wahrheit, in eine neue Wirklichkeit des Seins.
Wenn der Geist des freien Wirkens versucht, aus den Grenzen des Gegenstandes herauszutreten, so verläßt er die Form der gegenständlich praktischen Kultur und offenbart die Gegenstandslosigkeit als das von der Katastrophe der festgeprägten Formen, der Arten, des Bewußtseins, der Kultur der Vollkommenheiten befreite Nichts.
Die praktisch-gegenständliche Kultur ist ständig von Kata[68]strophen bedroht. Die Natur kennt diese Katastrophen nicht. Ob nun der Erdball zerfällt, ob die Sonne erlischt, für die Natur als solche ändert sich nichts. Ob glänzend, ob leuchtend, ob heiß, ob kalt, ob dunkel oder grau, immer bleibt sie die Natur. Für sie gibt es keine Katastrophen, weil es in ihr keinen praktischen Realismus gibt, keinen Gegenstand, keine Organisation, keine Form, nichts, was in die Brüche gehen, verfaulen oder sich sonst in irgendeiner Gefahr befinden könnte. In ihr ist nichts, was im gegenständlichen praktischen Realismus des Menschen ist, der glaubt, die Natur nach seinen Vorstellungen realisieren zu können. Er glaubt, das Gesetz finden zu können, nach dem sich das Wirken der Natur vollzieht, und sucht nun dieses in allen Erscheinungen und deren vermeintlichen Ursachen. Er konstruiert und organisiert, mit dem Ziel, ein praktisches System zu finden, das das Wirken der Natur erklärt.
Die gegenstandslose Natur aber kennt kein Ziel und kennt, trotz der scheinbaren Ordnung, kein praktisch konstruiertes System. Die Gegenstandslosigkeit ist Ziel-los. Damit wird auch der grundlegende Unterschied klar zwischen dem praktisch-gegenständlichen Realismus und dem gegenstandslosen Suprematismus: Was der eine ständig von Katastrophen bedroht wähnt, ist für den anderen die Ordnung elementarer Erregungen.
Der Mensch hat, ob bewußt oder unbewußt, die schwerste aller Arbeiten auf sich genommen: Die Naturgewalten zu erkennen und zu organisieren. Durch Beherrschung der Naturgewalten will er seine Kultur vor Katastrophen bewahren, das heißt, er will sich gegen elementare Erregungen schützen. Darum besteht seine ganze Kultur aus mancherlei Dingen und Geräten, mit denen er mögliche schädigende Wirkungen der Naturgewalten abwehren will. Es entstehen alle möglichen Erfindungen gegenständlich-praktischer Ordnung zur Fesselung und Nutzbarmachung der Naturgewalten. Die gegenständlich-praktische Kultur organisiert, fesselt, macht nutzbar oder unschädlich. Naturgewalten werden zum Kampf gegen Natur[69]gewalten organisiert.
[…] [74] […] Der erste Teil ist bei den gegenständlichen Wertunterschieden des praktischen Realismus stehengeblieben, der andere ist auf den gegenstandslosen Weg des weißen Suprematismus hinausgetreten und ist damit zum eigentlichen Wesen der Kunst vorgestoßen. Ich glaube, daß dieser Vorstoß der Kunst auch die übrige menschliche Gesellschaft zu der Erkenntnis führen wird, daß auch ihr eigentliches Wesen die weiße gegenstandslose Gleichheit ist.
Der Suprematismus, als gegenstandslose, weiße Gleichheit, ist meiner Ansicht nach das Ziel, auf das alle Bemühungen des praktischen Realismus gerichtet sein müßten, denn in ihm liegt das Wesentliche, das der Mensch sucht.
Die gegenstandslose Gleichheit darf man aber nicht mit ‚Gleichgewicht‘ gleichsetzen. Das Gleichgewicht setzt immer einen gegenständlichen Zustand voraus, der niemals vollkommen und endgültig sein kann, da in ihm immer die Möglichkeit einer Überraschung liegt und damit die Erwartung einer Katastrophe.
In der gegenstandslosen Gleichheit wird nichts weiter erwartet, in ihr ist nichts, was ins Gleichgewicht gebracht werden könnte.
Der Mensch erwartet bewußt die Katastrophe seines Endes, den Tod. Sein Bewußtsein ist aber gleichzeitig unsterblich und ewig, vereinigt in einem Ort, der Gott genannt wird. Gott allein ist unsterblich und ewig und trägt daher die Merkmale der gegenstandslosen Wesenheit, die keinerlei Katastrophen ausgesetzt ist. Von Katastrophen bedroht ist also nur das, was stirbt. Es stirbt der Verstand, die Vernunft, es stirbt der Gegenstand und seine ganze gegenständliche Welt. Es sterben Raum und Zeit und das, was man Materie nennt, es sterben Namen und Begriffsbestimmungen. Alles das ist aber nicht in Gott, darum ist er ewig, darum ist er unsterblich.
Die Gegenstandslosigkeit darf auch nicht mit ‚Unendlichkeit‘ gleichgesetzt werden, weil mit diesem Begriff auch die Vorstellung von etwas ‚Endlichem‘ verbunden ist. ‚Endliches‘ als Gegensatz zum [75] ‚Unendlichen‘. Die Gegenstandslosigkeit kennt keine Dimensionen. Verteilt der Mensch in ihr trotzdem Unterscheidungsmerkmale auf Zeit und Raum, so muß es zur Katastrophe kommen, weil die Menschheit sich auf ihr Bewußtsein stützt, das überall Katastrophen wittert und den Menschen in ewiger Unruhe und Angst vor der Katastrophe hält.
Die Wissenschaft kennt diese Angst nicht, sie braucht keine Katastrophen zu erwarten, denn sie hat erkannt, daß der Ur-Stoff, mit anderen Worten die Gegenstandslosigkeit, niemals verschwinden kann, welche Umstände auch eintreten mögen, weil der Ur-Stoff unveränderlich und unvergänglich ist in seiner echten Unsterblichkeit. Auch der Mensch bleibt in seinem Ur-Stoff außerhalb von Katastrophen und Tod. Alle seine Unterscheidungsmerkmale gegenüber anderen Menschen (seinen Mitmenschen) sind nur Schein, sind gegenstandslos, da doch alle aus dem gleichen Grundstoff bestehen. Verschwinden, untergehen, sterben kann also immer nur der Schein, niemals der Stoff selbst, der unveränderlich ist in seiner gegenstandslosen Gleichheit.
Die gesamte, von uns wahrgenommene Natur befindet sich in gegenstandslosem Zustand. Nur unsere Vorstellung, die vom praktischen, gegenstandsbefangenen Realismus bestimmt wird, unterschiebt ihr Differenzierungen, die in drei große Gruppen, entsprechend den drei Wegen, zusammengefaßt werden können: Religion, Wissenschaft, Kunst. Durch diese Einteilung wurde aus dem ‚Nichts‘ ein ‚Etwas‘. Bei der Begründung meiner These von der Gegenstandslosigkeit will ich alle drei Wege erforschen, um die bestimmenden Wesenszüge der Kunst der letzten Jahre aufzuzeigen. Die Geschichte der Entwicklung der Kunst zeigt eindeutig, daß diese sich ausschließlich unter dem Zeichen des praktisch-gegenständlichen Realismus vollzog nach künstlerischen, ästhetischen und ethischen Grundsätzen. Die Maler-Ästheten selbst entwickelten die Kunst nicht, im Gegenteil, sie hemmten ihre Entwicklung, weil sie sich mit Ästhetik, Moral und der künstlerischen Seite des Lebens beschäftigten und nicht mit dem Leben der Malerei. Sie beachteten die Tatsache nicht, daß das Wesen der Malerei nichts mit den Bedürfnissen des praktischen Le[76]bens zu tun hat, wie auch nichts mit Ästhetik oder Ethik. Das wahre Wesen der Kunst ist das gegenstandslose Wirken, das die Begriffe Ästhetik und Ethik nicht kennt. Der Mensch kann gar nicht wissen, was für die Natur ‚künstlerisch‘, ‚ästhetisch‘ oder ‚ethisch‘ ist. Alle diese Begriffe gibt es in der Natur nicht, es sind rein menschliche Begriffe, die keineswegs Gesetze für alle und alles sein können. Aus diesen vom Menschen geschaffenen Begriffen wurde auch der Begriff des ‚Künstlers‘ geboren. So wurden diese Begriffe denn zum Inhalt der Kunst, und der Künstler wurde zum Darsteller der gegenständlich-praktischen Bereiche des Lebens. Dieses Leben aber hat in ihm einen Magier oder einen Flickschneider gefunden, der mit seiner Kunst die Blößen und Unzulänglichkeiten zu verdecken hat.
Die Gesellschaft hat sich die Vorstellung angeeignet, daß ihr Verhalten, ob moralisch oder unmoralisch, durch die Kunst verschönt, ja sogar zum Kunstwerk erhoben werden kann.
Der Künstler wurde zum Webmeister wundertätiger Meßgewänder, durch die jeder Lebensinhalt, welcher Art immer er auch sein mochte, verherrlicht werden konnte. Nachdem die Kunst ihr gegenstandsloses Wesen der Herrschaft der Ästhetik, Ethik und Schönheit ausgeliefert hatte, fand sich auch ein passender Rahmen für sie: Die Akademie der schönen Künste! In diesem festlichen Rahmen ist alles das eingeschlossen, was keinerlei Wirklichkeit in sich hat, außer der Tatsächlichkeit leerer, nichtssagender Konventionen.
Die Gesellschaft hofft, daß die Kunst mit ihrer Ästhetik und Sittlichkeit sie und ihren Staat reinwaschen kann. Ist diese Hoffnung begründet? Ich glaube nicht, denn im wahren Kunstwerk werden Gesellschaft und Staat in ihrer ganzen Nacktheit dargestellt. Ich glaube auch nicht, daß etwas, das reinigungsbedürftig ist, durch irgendwelche Umrahmung, sei sie aus Gold oder Holz, gereinigt werden kann. Man kann das Unreine durch keinerlei Künste in Reines verwandeln.
Die Natur ist unsere Lehrmeisterin, aber eine Lehrmeisterin, deren Lehren, Experimente und Erfahrungen nicht ohne weiteres von den Schülern verstanden werden. Darum entstehen verschiedene Mei[77]nungen, verschiedene Auslegungen der Erfahrungen, über die heftig diskutiert wird. Im Endergebnis ist die Natur dann nicht so sehr Lehrmeisterin als Anlaß zu Meinungen und Auslegungen aller Art. Die Natur als Lehrmeisterin kennt in ihrer Lehre, wenn man sich so ausdrücken kann, nichts von alledem, was sich ihre Schüler zusammengereimt haben. In ihrer Lehre ist lediglich die Gegenstandslosigkeit, und es ist anzunehmen, daß in dieser Gegenstandslosigkeit das wirkliche Leben zu finden ist, zu dem der gegenständlich-praktisch [sic] Realismus hinstrebt. Da er aber aus der Gegenstandslosigkeit den Gegenstand herausgebildet hat, so wurde das wahre Leben zum praktischen Sein. Dieses praktische Sein hält naturgemäß unser Bewußtsein im gegenständlich-praktischen Realismus. So bleibt die Lehre unserer Lehrmeisterin unbeachtet, weil sie nicht verstanden wird. Wir können ihr Wesen nicht bestimmen, können sie nicht abgrenzen und darum auch nicht erkennen.
[…] [79] […] Somit ist das, was man als ‚Idee‘ in der Natur bezeichnet, nichts als eine Wahnvorstellung des Menschen.
Auch die Kunst kennt keine Ideen als Inhalt. Sie befindet sich im Zustand gegenstandslosen Schaffens wie auch die reine Wissenschaft und alle Erscheinungen der Natur.
Nehmen wir an, daß ein Fluß die malerische Masse sein soll, die durch eine Ebene fließt, die wir wie eine Malfläche betrachten wollen. Dann sehen wir, daß der Fluß mit seinem Lauf eine gewisse Zeichnung bildet, die in verschiedenen Farbtönen gefärbt ist. Diese Farbtöne erzeugen ihrerseits in Verbindung mit einfallenden Strahlen und anderen sich bewegenden Massen neue Töne. Wir sehen also eine Vielfalt variierender Schwankungen einer sich ständig ändernden Erregung. Alle Erregungen erzeugen, wenn sie sich begegnen oder gegenseitig überschneiden, neue Veränderungen, und dieser ewige Kes[80]sel hört zu keiner Zeit auf zu brodeln, ständig wechselnde Formen zu zeichnen und zu malen.
Wenn wir diese Vorgänge genau verfolgen, so werden wir in ihnen weder Sinn noch Ziel, noch Nutzen, noch sonstige praktische Erwägungen erkennen können. Bald hebt sich das Wasser als Nebel, bald fällt es wieder als Tau oder bildet Wolken, die sich wieder auflösen oder als Regen herunterkommen. Dieser ganze Kreislauf vollzieht sich ganz offensichtlich völlig planlos, ohne irgendeine leitende Idee im Sinne des gegenständlich-praktischen Realismus. Es sind vollkommen gegenstandslose Erregungen, die diese Wirkungen auslösen. Das Leben äußert sich durchaus nicht nur in gegenständlich-praktischen oder religiös-geistigen Bereichen. In dem planlosen Walten der Natur ist viel mehr Leben als in den ihr von den Menschen unterschobenen Ideen und Sinngebungen.
Die sinn- und planlosen Vorgänge in der Natur brechen sich in der menschlichen Idee und ergeben das, was man praktisches Leben nennt, als eine real niemals faßbare Spiegelung.
Auch in anderer Beziehung gleicht der Künstler der Natur: Er begeistert sich mehr an ihrem sinn- und ideenlosen Walten als an dem ‚Sinn‘ aller praktischen wissenschaftlichen oder geistig-religiösen Errungenschaften. Immer wird für den Künstler die Natur ein ideenloses Walten sein, und jede menschliche Idee von einem Gegenstand verwandelt sich in seiner malerischen Erregung in ein ideenloses Walten und läßt entweder eine ästhetische Farbschicht oder Nichts zurück. Ist der Künstler rein in seiner Erregung, dann kennt er auch nicht die Begriffe der ‚künstlerischen Schönheit‘, der ‚Ästhetik‘, der ‚Moral‘. Und wie sehr er sich auch abmühen sollte zu beweisen, daß irgendein Schönheitsbegriff sein Wirken bedingt, so werden alle seine Beweise doch immer nur Begriffsbestimmungen bleiben, die sich der Mensch zurechtgelegt hat. Wenn die Natur in ihren Erscheinungsformen wie ein Künstler im Sinne gegenständlich-praktischer Vorstellungen wirken würde, dann würde sie wie dieser Künstler bei jeder Erscheinung verkünden: Wie schön ist doch der Bogen, den der Fluß um diesen Berg macht! Wie künstlerisch fällt das Wasser [81] von jenem Felsen! Wie melodisch murmelt der Bach! Oh, wie herrlich ist diese Blume!
Nichts von alledem geschieht aber. Ebensowenig kennt auch der reine Maler derartige Ausrufe, denn auch er ist gegenstandslos. In seinem Bilde verändert sich nichts, verlagert sich nichts, bewegt sich nichts.
Die Allgemeinheit ist der Ansicht, daß die Natur zweckvoll sein müsse. Jeder Fußbreit Natur muß den Bedürfnissen des Menschen angepaßt, ihre Gegenstandslosigkeit in gegenständlichen Nutzen umgewandelt werden. Aus diesen Bemühungen des Menschen, sich der Natur oder die Natur seinen Bedürfnissen anzupassen, ist die gegenständlich-praktische Kultur des praktischen Realismus entstanden. Die Natur macht es dem Menschen aber nicht leicht, sie aus dem gegenstandslosen Zustand herauszubringen. Wieviel Mühe und Arbeit mußte er aufwenden, um sich zum Beispiel das Wasser dienstbar zu machen. Boote und Schiffe mußten erfunden und gebaut werden. In seinen Schiffen sieht er einen Sieg über das Meer. In Wirklichkeit hat er aber nichts besiegt, sondern sich nur schlecht und recht dem Meer angepaßt. Trotzdem glaubt er, die Natur organisiert zu haben.
Das gleiche versucht der Mensch auch mit der Kunst. Auch sie wird ‚organisiert‘, um sie als Ausdrucksmittel für den gegenständlichen Realismus und seine Ideenwelt verwendbar zu machen.
Während aber die Natur sich gegen die menschlichen Organisationsversuche sehr entschieden wehrt, hat die Kunst sich widerspruchslos unterjochen lassen. Sie wurde irregeführt und sank zur gemalten Literatur des ideologisch ausgerichteten, gegenständlichen Lebens herab. Die ideologisch-gegenständlich ausgerichtete Allgemeinheit erkannte die Kraft der Kunst und nutzte sie für ihre Bedürfnisse im Daseinskampf aus. Die ‚Kunst‘ hat sich sehr schnell an ihren gegenständlich-praktischen Kerker gewöhnt und kam sogar zu der Überzeugung, daß es eine andere Daseinsberechtigung für sie gar nicht gebe, daß ihre Aufgabe ausschließlich in der Illustrierung des ideologischen Daseinskampfes bestehe.
Doch auf die Dauer läßt sich die reine Kunst ebensowenig an die [82] Bedürfnisse der Allgemeinheit anpassen, wie die Natur. Denn, wie ließe sich Gegenstandslosigkeit an irgendwelche praktischen Konstruktionen anpassen, in irgendwie geartete feste Formen bringen? Die gegenstandslosen Erregungen bleiben in der Natur, wie in der Kunst, immer gegenstandslos: Es wird eine Mühle gebaut, mit Wind- oder Wasserantrieb, und schon spricht der Mensch von der Ausnutzung der Wind- oder Wasserkraft. In Wirklichkeit aber blieben Wind und Wasser in ihrer Freiheit und verloren nichts. Weder Wind noch Wasser, noch das Meer wissen, daß sie Mühlen zu treiben, Schiffe zu tragen haben. (Neuerdings die Luft – Aëroplane).
Die gegenständlich-praktische Allgemeinheit aber wirft ihre verschiedenen gegenständlich-praktischen Ideengehalte auf die Palette des Künstlers und verunreinigt damit die Kunst.
Die gegenständlich eingestellte Gesellschaft hat ihr praktisches, für real gehaltenes Leben aufgebaut. Sie begnügt sich aber nicht mit der ‚Realität‘, sondern fordert von der Kunst auch noch Symbole für diese Realität.
Ein einfaches Ei wurde so durch die Palette eines Malers zum Symbol des Osterfestes, der Auferstehung, und erlangte dadurch eine erhabene Bedeutung. Die ideologische Arbeit der gegenständlich eingestellten Gesellschaft schuf in den Malern und sonstigen Künstlern die Überzeugung, daß ihre einzige Aufgabe in der Schaffung ideologischer Symbole liege, daß nicht das Ei die Wirklichkeit sei, sondern die dem Ei gegebene symbolische Bedeutung.
So entstand auch die Auffassung, daß ein Fluß nur zu dem Zweck Fluß sei, um Kähne zu tragen. Der Fluß als Symbol einer menschlichen Idee. Was wäre es auch schon für ein Fluß, wenn er keine Kähne trüge?! (Oder, was wäre die Luft für eine Luft, wenn sie keine Aëroplane trüge?!).
Analog fragte sich der Künstler, was er für ein Künstler wäre, wenn er der Ideologie des praktischen Lebens nicht als Spiegel diente. Die ideologischen Inhalte dieses Lebens sind doch das Gnadenbrot, das die Allgemeinheit ihm zuwirft.
Einem reinen Künstler aber werden die ideologischen Inhalte des praktischen Lebens ebenso fremd bleiben wie dem Meer die Schiffe. [83] Vielleicht war die Kunst früherer Zeiten für die damalige Allgemeinheit genau so ‚geschmacklos‘, ‚unkünstlerisch‘ und ‚unorganisiert‘, wie es die Neue Kunst für die heutige Allgemeinheit ist. Heute gilt alles Vergangene als untadelig, geschmackvoll, künstlerisch.
Anders als an der Kunst begeistern sich die Menschen an der Natur ständig und unvermindert. Ihre Begeisterung gilt allerdings immer nur den neuen Entdeckungen, sei es auf bildnerischem oder auf wissenschaftlichem Gebiet. Wie kann man aber die vielfältigen Erscheinungen der Natur, die doch nicht nach künstlerischen Gesichtspunkten organisiert sind, künstlerisch darstellen? Sind nicht alle neuen Entdeckungen der Künstler, genau wie die der Wissenschaftler, nichts weiter als einfache Sichtbarmachung farbiger Erscheinungen, ohne jeden Anspruch auf künstlerische Merkmale? Sonne und Mond sind doch keineswegs Lampen, die unseren gegenständlich-praktischen Realismus auf der Erde zu beleuchten oder Dichtern als poetische Embleme zu dienen haben.
Ebensowenig hat auch die Kunst den Zweck, den Geschmack der Allgemeinheit zu befriedigen oder ihn zu vervollkommnen.
Das Wirken des Künstlers ist vielmehr einem Wirbelwind zu vergleichen inmitten der Fülle der Erregungen. Wenn das Werk dann auf die Allgemeinheit eine Wirkung ausübt, dann nur eine, die sich etwa der der Sonne vergleichen ließe, die sich durch die Ausstrahlung ihrer Glut im Weltall verströmt –, diese Wirkung ist einesteils gegenstandslos, enthält aber auch malerische oder wissenschaftliche Entdeckungen neuer Zusammenhänge in der Welterkenntnis. Die Allgemeinheit hat festgesetzt, daß die gesamte Natur, die Sonne, der Mond und die Sterne einzig und allein im Interesse des Menschen geschaffen wurden. Darum gab sie ihnen Namen und betrachtete sie als Spender allen Heils oder als Gottheit, die dem Menschen wohlwill. In Wirklichkeit scheinen mir aber die Himmelskörper keineswegs mit solchen Sorgen belastet, ebensowenig wie jene Erscheinung, die die Allgemeinheit mit ‚Kunst‘ zu bezeichnen pflegt. Diese Bezeichnung erhielt die Kunst, weil sie in hohem Maße, wenn nicht ganz, den Interessen der Allgemeinheit dient. Die Kunst wurde zur Meisterschaft, zu einem Handwerk, einem Gewerbe, das in seinen [84] Erzeugnissen das Leben wiederzugeben versuchte. Es fragt sich aber, ob es im Leben oder in der Natur eine Kunst der Darstellung oder Abbildung überhaupt gibt.
Eine Kunst dieser Art kann es gar nicht geben. Bei ihr handelt es sich nur um eine gewisse Meisterschaft in der Nachbildung von Erscheinungen und Handlungen. Eine solche Meisterschaft gibt es in der Natur nicht, sie bildet nichts nach.
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[…] [89] […] Die Neue Kunst hat den Grundsatz in den Vordergrund gestellt, daß Kunst nur sich selbst zum Inhalt haben kann. So finden wir denn in ihr nicht die Idee von irgendetwas, sondern nur die Idee von der Kunst selbst, ihren Selbstinhalt. Die ureigene Idee der Kunst ist die Gegenstandslosigkeit. Sie entwickelt sich unaufhaltsam zur Selbständigkeit, zur Unabhängigkeit von allen Erscheinungen gegenständlich-praktischer Organisationen. Die ‚Neue Kunst‘ ist auf dem Wege zu ihrer eigenen Wahrheit und lehnt jeden Versuch ab, sich zum Ausdrucksmittel ihr fremder ‚Wahrheiten‘ der gegenständlich-praktisch eingestellten Gesellschaft erniedrigen zu lassen.
In der suprematistischen Gegenstandslosigkeit hat die ‚Neue Kunst‘ ihre endgültige Form gefunden. In ihr erblicke ich die Wahrheit, die dem Wesen der reinen Kunst entspricht und die früher oder später auch die Wahrheit der heute noch in gegenständlich-realistischen Vorstellungen lebenden Menschheit sein wird.
Allein, ungeachtet dieser positiven Feststellung und der Überzeugung, daß der Suprematismus die reine Kunst sei, ergibt sich doch die zunächst überraschende Frage, ob der Suprematismus zum Begriff der Malerei im landläufigen Sinne zu zählen sei.
„Ein Grundelement der Malerei ist die Zusammenfassung einzelner farbiger Elemente zu einer Einheit, das heißt, durch die gegenseitige Durchdringung aller Elemente zu einer Einheit entstehen malerische Gebilde.“
Dieses Grundmerkmal trifft aber keineswegs für den Suprematismus zu, denn sein farbiger Aufbau ist nichts weniger als ein malerisch zusammengefaßtes Farbengemisch.
Bei folgerichtiger Entwicklung des Suprematismus verschwindet nämlich auch die Farbe, und es tritt die schwarze und die weiße Phase ein, die sich aus quadratischen Formen des Schwarz und des Weiß herausbildet, zu denen dann als Farbe das Rot hinzutritt.
[90] Der Suprematismus hat, wie auch die Malerei, als Ursprung die Farbe. Die Farbe ist also der Ausgangspunkt zweier verschieden gerichteter Entwicklungen: einmal in Richtung der Malerei als Zusammenfassung farbiger Elemente zu einer bestimmten Harmonie oder einem bestimmten System, zum anderen in Richtung gegenstandsloser Erregungen, die möglicherweise eng an die gegenstandslose Malerei grenzen.
In gewissen malerischen Harmonien oder Systemen wird eine rein malerische Kultur erkennbar. In dem Maße, in dem der Maler sich diese Harmonien oder dieses System bewußt zum Ziele setzt, vergegenständlicht sich seine Malerei, je weniger er von diesem System weiß oder es sich zum Ziele setzt, um so mehr nähert er sich der reinen Erregung, die nichts von irgendeiner Kultur oder einem Zweck weiß. Der Suprematismus als Gegenstandslosigkeit hat absolut keine Begriffsbestimmungen. Natürlich können endlose Versuche unternommen werden, diese zu finden, aber jede Analyse und Synthese wird immer das bleiben, was sie ist – die übliche sogenannte ‚wissenschaftliche‘ Forschungsarbeit.
Das gleiche gilt übrigens auch für die Maler ganz allgemein: Auch hier ist alles Gerede über malerische Kulturen oder künstlerische Aussagen nichts weiter als allgemein übliche Behauptungen, die sich ausschließlich in den Grenzen des allgemeinen Geschmacks bewegen, der irgendwann einmal durch einen Künstler gebildet wurde. Sobald wir eine Kultur und ihre Errungenschaften zur reinen Erregung in Beziehung setzen, verschwinden alle kulturellen Unterscheidungsmerkmale. Diese Unterscheidungsmerkmale gibt es natürlich, doch hängen sie ausschließlich von den in einer Gesellschaft geltenden Anschauungen ab, die von ihrem Standpunkt aus bestimmt, welche Erscheinungen als Kultur zu gelten haben.
So ist es durchaus denkbar, daß die Allgemeinheit entscheidet, daß unsere Erde auf einer höheren Kulturstufe stehe als irgendein anderer Planet. Wie kommt eine solche Behauptung zustande? Welche Merkmale ermöglichen uns die Entscheidung, auf welcher Kulturstufe unsere Nachbarplaneten stehen?
Wir fällen solche Urteile aufgrund von Vergleichen. Wir sagen, [91] daß es auf den Nachbarplaneten keine Menschen gibt und daß es folglich dort auch keine Kultur geben kann. Haben wir ein Recht, den Menschen als Maßstab für die Beurteilung kultureller Werte zu nehmen? Kann es nicht vor dem Erscheinen des Menschen in anderen Ausprägungen Kulturen gegeben haben, die vielleicht viel höher standen als die in mancher Beziehung doch recht fragwürdige menschliche Kultur? Begegnen wir nicht auf Schritt und Tritt hochentwickelten Kulturen in Kristallen, Insekten, im ganzen uns umgebenden Leben?
Was ist denn Kultur? Hauptmerkmal jeder Kultur ist die Zusammenfassung verschiedener Werte zu einem geschlossenen Ganzen. Demnach ist Kultur nichts anderes als Anpassung eines Wertes an einen anderen. Mit anderen Worten: Kultur ist Gewichtsverteilung.
Je genauer die einzelnen Werte einander angepaßt sind, um so höher die Kultur. Das gleiche gilt auch für die malerische Kultur, die, geleitet von der inneren Kraft einer Erregung, verschiedene Farbwerte einander anpaßt.
Bei der Umgruppierung der Farbwerte verändern sich aber die einzelnen Farbelemente nicht. Sie lassen sich nicht kultivieren, denn sie sind unveränderlich in ihren Grundeigenschaften. Selbst wenn man sie über das ganze All verteilen und ewig umgruppieren würde, so könnte man trotzdem nicht behaupten, daß ein und dasselbe Farbelement auf dem Orion auf einer höheren Kulturstufe stehe als beispielsweise auf dem Mond.
Wo ist Vollkommenheit und Kultur im Weltraum? Es ist überaus schwer, ich möchte sagen, unmöglich zu entscheiden, was vollkommener ist, das Wasser oder der Dampf. Beide Erregungszustände haben in ihrem Wert eine gegenständlich nicht nachweisbare Gleichheit. Diese Gleichheit ist tatsächlich ungegenständlich und mit keiner Waage, keinem Meßgerät zu bestimmen. Somit gibt es von diesem Gesichtspunkt aus weder das, was man Kultur, noch das, was man Vollkommenheit nennt, es gibt nur unbestimmbare Erregungen von Gleichheiten. Das ist auch das wahre Wesen der ganzen Kunst, das sich in seiner höchsten Form, in der gegenstandslosen Malerei – [92] dem Suprematismus, offenbart. Darum kann man den Suprematismus als einen Aufstieg der Kunst bezeichnen, die beginnende Überwindung des gegenständlich-praktischen Realismus. Der Suprematismus führt über die Grenze rein malerischer Kunst hinaus, er ist der Kern ihres Wesens, der sich in uns als Gegenstandslosigkeit bewegt.
Bisher wurde die Kunst als Überbau verstanden, der die ‚Wirklichkeit‘ des im Leben vorherrschenden praktisch-gegenständlichen Futtertrog-Realismus mit all seinen Folgeerscheinungen als das Heil des absolut Materiellen widerzuspiegeln hatte.
Daß diese Auffassung falsch war, ist durch die Kunst selbst, und vorwiegend durch die Malerei, eindeutig bewiesen worden. Das Erscheinen des Kubismus, einer einfachen bildnerischen geometrischen Kristallisation der Malerei als Selbstzweck, rief in den Reihen der Realisten Verwirrung hervor. Sie betrachteten den Kubismus ganz allgemein als eine Verfallserscheinung des Geistes, als eine Kunst, die nur aus geldlichen Erwägungen entstanden sei. Dabei übersahen sie aber, daß das Geld doch nur aus einer Gesellschaftsschicht kommen kann, die selbst im praktischen Realismus befangen ist. Der Kubismus bekämpft aber den praktischen Realismus, zerstäubt das Gespenst der Gegenständlichkeit.
Es ist durchaus verständlich, daß die Allgemeinheit keine Mittel und Kniffe scheute, um die sich anbahnende Entwicklung der Kunst zur Wahrheit im Keime zu ersticken. Die elementare Kraft des Kubismus hat sich aber als stärker erwiesen und alle niederträchtigen Verdrehungen widerlegt. Im Kubismus fand die Malerei eine Form, die es ihr ermöglichte, sich vom gegenständlichen Realismus zu lösen. Damit trat aber nicht nur eine völlige Umwälzung auf dem vom Unbewußten gespeisten schöpferischen Gebiet der Malerei ein, sondern auch das Bewußtsein vieler Maler wurde schlagartig von der kubistischen Lehre erfaßt. Im Kubismus erstand eine neue Organisation der malerischen Werte, die mit einem im gegenständlich-praktischen Realismus befangenen Bewußtsein gar nicht hätte erfaßt werden können. Die Maler konnten vor allen Dingen nicht fassen, daß die Malerei eine selbständige, unabhängige Sache sein sollte, die [93] weder vom Inhalt noch von der Form des gegenständlich-praktischen Realismus und schon gar nicht von den politischen oder wirtschaftlichen Zielsetzungen abhängig sein wollte.
Die Maler mußten sich mit neuen Konstruktionsfragen auseinandersetzen, die sie früher nicht gekannt hatten. Sie waren bis dahin auch nicht auf den Gedanken gekommen, daß man malerische Gebilde aufbauen könne, ohne Gegenstände zu verwenden, daß die Malerei zu einer eigenen malerischen Gestaltung kommen und nicht wie früher nur Gegenstände nachbilden könne.
[…] [99] […] Die Entwicklung der Malerei der Gegenwart zeigt, daß sie aus der Kunst im bisherigen Sinne ausgeschieden und in die Gegenstandslosigkeit eingegangen ist. Sie streitet jegliche Kontinuität als gegenständlich-praktische Realität ab. Die Ablehnung der Kontinuität und der Kultur, die zum gegenständlich-praktischen Realismus geführt hat, führte die Malerei zu einer neuen Weltbetrachtung – zur suprematistischen Gegenstandslosigkeit. In ihr gibt es keine Vollkommenheiten, an denen die gegenständliche Kultur so reich ist, keine Vergleichsmöglichkeiten, keine Vorrechte, keine Wertunterschiede.
In der Gegenstandslosigkeit darf man keine Elemente und Disziplinen suchen. Darum gibt es in der suprematistischen Gegenstands[100]losigkeit auch keine Gesetze. Für Kultur und Wissenschaft ist das Gesetz die alleinige Grundlage. Ich aber behaupte, daß Gesetze nur da gebraucht werden, wo keine Vollkommenheit ist. Die Natur ist vollkommen, darum gibt es in ihr keine Gesetze. Was der Mensch als sogenannte ‚Naturgesetze‘ bezeichnet, ist nichts weiter als seine Erfindung, das Ergebnis seiner Analysen und seiner eingebildeten Formsynthesen. Die Wissenschaft selbst liefert den Beweis dafür, daß es keine feststehenden Naturgesetze gibt, wenn sie einmal ‚erkannte‘ Gesetze durch neue ersetzt. Gesetze werden durch Gesetze aufgehoben. Das beweist doch eindeutig, daß es bis heute noch kein unwiderlegbares, vom Menschen völlig durchdachtes Gesetz gegeben hat.
Gibt es Gesetze in der Kunst? Müssen sie sein? In der praktisch-gegenständlichen Kunst jedenfalls: Der Inhalt des Nicht-zu-Ende-Gedachten der ganzen menschlichen Betriebsamkeit ist ja das Gesetz des Lebens und der gegenständlichen bildenden Kunst. Jedes gegenständliche Erzeugnis hat seine Entwicklungslinie nach dem Gesetz des historischen Materialismus. Diese Linie hat ihrerseits das Gesetz von ‚Oben‘ und ‚Unten‘, das also ebensowenig durchdacht ist, wie der historische Materialismus selbst. Sobald aber die Kunst in die Gegenstandslosigkeit einmündet, verschwinden die Gesetze, verschwinden Begriffe wie ‚Oben‘ und ‚Unten‘. Es gibt dann nicht jene Vorstellungen und Begriffe und Gegenstände, auf die man irgendwelche Gesetze anwenden könnte. Dem Menschen zerfällt alles unter den Händen, weil er Gesetzmäßigkeiten vermutet, wo keine sind. Die Natur ist unzerstörbar, zerstörbar sind nur die menschlichen Gesetze.
Diese Feststellungen haben bei der gelehrten wie auch bei der ungelehrten Allgemeinheit einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen und sind hart und scharf kritisiert worden. Dabei wurde aber übersehen, daß dieselbe Allgemeinheit in ihren Vorstellungen vom Erdball und dem Universum schon lange die Begriffe von ‚Oben‘ und ‚Unten‘ nicht mehr kennt.
Der konstruktive Kubismus wurde von einer ganzen Künstlergruppe völlig falsch verstanden: Sie faßte seine Konstruktivität als [101] malerische Entwicklung auf, die zum gegenständlichen Aufbau hinführt. Dadurch konnte sie sich nicht vom Gegenstand und von den nicht-zu-Ende-gedachten Gesetzen der Gesellschaft befreien. Die Folge war eine Spaltung der ‚Neuen Kunst‘ in zwei Strömungen: Die gegenstandsgebundene und die gegenstandslose. In den neuen malerischen Gebilden wurden Anzeichen einer räumlichen Gestaltungsmöglichkeit mit stark ausgeprägten geometrischen Elementen sowohl in der Malerei als auch in der Plastik erkennbar. Es ergab sich die Frage, ob dieses etwas mit Kunst zu tun habe oder eher auf Gesetzen der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit beruhe.
Untersuchungen und Vergleiche ergaben, daß die ganze technisch-gegenständliche Kultur ausschließlich nach dem Gesetz der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit aufgebaut ist und daß wir ohne diese Gesetze weder von Raum noch von Zeit eine Vorstellung hätten. Wir würden nicht wissen, ob wir uns zur Vollkommenheit hin bewegen oder nicht.
Das Gesetz der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit sichert uns den Fortschritt, das heißt also das, was die Allgemeinheit für die Grundlage ihres Daseins hält. Fortschritt bedingt die Vorstellung von ‚Hinten‘ und ‚Vorne‘, ‚Oben‘ und ‚Unten‘, von Vergangenheit und Zukunft. Wer sich der Zukunft nähert, ist fortschrittlich, wer in der Vergangenheit verharrt, ist rückständig. Unter diesem Gesichtswinkel werden alle Handlungen und Verhaltensweisen des einzelnen wie der Allgemeinheit bewertet. Gegen das Gesetz der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit konnte die Kunst sich nicht behaupten. So hat denn auch sie ein ‚Vorne‘ der Vollkommenheit als Ziel. Die praktische Technik hat, nach Anerkennung der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit als Hauptgrundlage ihrer vermeintlichen Kraft, diese im praktischen Realismus auch der Kunst aufgezwungen. Wenn dabei auch irgendwelche künstlerischen Erwägungen zugelassen wurden, so niemals als bestimmende, sondern immer nur als zweitrangige Faktoren.
Die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit wurde zum Gesetz der ideologisch ausgerichteten, praktisch-gegenständlichen Allgemeinheit. [102] Dieses Gesetz durfte nicht umgangen werden, es war auch nicht erlaubt, seine Unsinnigkeit zu beweisen, weil dieses Gesetz zur ‚Absoluten Wahrheit‘ erklärt worden war, nach der sich das Leben der Allgemeinheit zu entwickeln hatte. Andere Wahrheiten wurden daneben nicht geduldet. Die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit war als unumstößliches Gesetz überzeugend und anschaulich bewiesen worden. Wendet man es aber auf dem Gebiet der Kunst an, so stellt man fest, daß es in der Kunst nichts gibt, was den praktischen Erwägungen der Allgemeinheit entspricht. Im Bereich der Kunst läßt sich weder Zeit noch Raum feststellen. Die Kunst ist zeitlos und folgt nicht den Gesetzen der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit. Sie kennt keine Zweckmäßigkeit als inneren Antrieb, sie kennt auch keine Vollkommenheit, denn sie ist ewige Kunst. Was ist denn aber dieses Wirtschaftsgesetz, ohne das die Kunst angeblich nicht bestehen kann? Wenn jede heutige Vollkommenheit morgen schon zur Unzulänglichkeit wird, dann ergibt sich doch unwillkürlich die Frage, ob ein solches Wirtschaftsgesetz überhaupt als sinnvoll angesehen werden kann.
Wirtschaftlich Vollkommenes kann es doch nur dann geben, wenn ein Gegenstand seine endgültige Form findet und niemand mehr in der Lage sein wird, eine weitere Vervollkommnung zu denken, das heißt, wenn der Zustand eintritt, in dem weiteres Denken unmöglich wird oder das Denken in die Gegenstandslosigkeit übergeht.
Nur unter dieser Voraussetzung kann die Wirtschaft ihre letzte Vollkommenheit erreichen, weil dann das Ziel erreicht und die Endlosigkeit durch die Gegenstandslosigkeit besiegt sein wird. Vergleichen wir Kunstwerke mit Erzeugnissen der gegenständlich-praktischen Technik aus verschiedenen Zeiten, so werden wir feststellen, daß Kunstwerke auch dann ihren Wert behalten, wenn sie der Vergangenheit angehören, die Werke der Technik aber ihren Wert verlieren, wenn sie veralten.
Dieses beweist, daß die Kunst nicht den Wirtschaftsgesetzen unterworfen ist und auch nicht der Zeit. Somit ist die Kunst in ihren Werken vollendet, während die Technik sich ständig bemüht, es zu werden. Die Vollkommenheit eines Kunstwerkes darf man natür[103]lich nicht nach den Gesetzen der Anatomie oder Perspektive beurteilen. Im praktisch-technischen Bereich haben die Gesetze der Anatomie dagegen allergrößte Bedeutung. So muß der Techniker zum Beispiel bei der Steigerung der Geschwindigkeit sowohl die Anatomie des Menschen als auch die der Maschine kennen.
Es waren auch Versuche festzustellen, den Begriff des Wirtschaftsgesetzes in die Malerei einzubeziehen. Man ging dabei von der Erwägung aus, daß jeder Maler bemüht sein müsse, mit dem geringsten Aufwand an Mitteln seinen Zustand auszudrücken. Solche Versuche könnte man gelten lassen. Ein anderer Grund für die Ausdehnung des Wirtschaftsgesetzes auf die Malerei war der, daß sie das folgerichtige Fortschreiten von einem Zustand in einen anderen anschaulich bewies.
Maler bauen ihre Werke auf der Geometrie der Natur auf. Sie waren daher abhängig von den Naturformen und fanden ein bestimmtes Höchstmaß der Harmonie zwischen dem Maler und der Natur. In der Folge ergab es sich, daß der malerische Zustand der Natur unveränderlich ist, daß ihr Klang also nur in der Geometrie hegt. Die Werke der Malerei aber zeigen, daß sich in ihnen die Geometrie der Natur verändert. Man kann annehmen, daß sich hierbei nur die Beziehungen zwischen dem Maler und der Natur verändern und zwar nur vom Künstler her. Die Natur bleibt unverändert. Veränderungen ergeben sich nur durch die unterschiedliche Reaktion eines Künstlers auf die Einwirkungen der Natur.
Ferner: In der Malerei gehen Formen der Natur verloren. Wir sehen eine neue Organisation malerischer Werte. Somit sehen wir eine folgerichtige Entwicklung malerischer Formen. Da aber nach Ansicht der Allgemeinheit jede Entwicklung sich nach wirtschaftlichen Grundsätzen vollzieht, nämlich das gesteckte Ziel auf schnellstem Wege zu erreichen, so ist die Gültigkeit der Wirtschaftsgesetze für die Kunst bewiesen.
Das gilt vielleicht für die Malerei des gegenständlich-praktischen Realismus. Kommt man aber an die Grenze der Gegenstandslosigkeit, dann verschwinden alle gegenständlichen Vorstellungen von Zeit, Raum, nah, fern, und es bleibt nur die Erregung und das durch [104] sie bedingte Wirken ohne jedes Ziel. Damit betreten wir ein Gebiet, auf dem andere Beweise, andere Vergleiche gelten, auf dem es keine gegenständliche Vorstellung von Zeit und Raum, von Vollkommenheit und Unvollkommenheit mehr gibt, auf dem nur die Erregung als Gegenstandslosigkeit außerhalb aller Begriffe und Vorstellungen gegenständlicher Beziehungen wirkt. Hier gelten auch die Gesetze wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit nicht, da die Gegenstandslosigkeit keine Entwicklung zu einer weiteren Vervollkommnung kennt. Nichts entwickelt sich in der Welt, nichts vermehrt sich, nichts verringert sich, sofern die Vorstellung richtig ist, daß Materie unveränderlich, also die absolute Untätigkeit ist.
Somit ist jede Erscheinung, die auf Erregung zurückzuführen ist, begrifflich nicht zu bestimmen. Sie ist frei von allen Gesetzen, die für die gegenständlichen praktischen Erfindungen Geltung haben. Folglich befindet sich der Suprematismus als Gegenstandslosigkeit außerhalb aller Voraussetzungen der Allgemeinheit. Er beantwortet nicht ihre Fragen. Trotzdem schließt die suprematistische Gegenstandslosigkeit den eigentlichen Wesenskern der Allgemeinheit mit ein, nur ist dieser Wesenskern zur Zeit noch von der vorgetäuschten Realisierung von Beziehungen überwuchert.
Diese Vortäuschungen sind es, die die Allgemeinheit dann in der Kunst als ‚Schönheit‘ ansieht. Die Allgemeinheit erkennt die Schönheit also nicht in Wirklichkeit, sondern nur in der vorgetäuschten Realisierung durch die Kunst.
Ähnlich ist es in der Wissenschaft, die ihre Wahrheiten in vereinbarten Zahlen und Zeichen, niemals aber in Wirklichkeit sieht. Ähnlich ist es auch in der gegenständlichen Kunst: Die Schönheit ist nur im Kunstwerk, also einer vorgetäuschten Wirklichkeit, nicht aber in der Natur. Das kommt vielleicht daher, daß wir die Natur nur in ihren äußeren Erscheinungen zu erfassen vermögen.
Die gegenständlichen Bauten und Werke kommen natürlich nicht ohne Konstruktionen aus. Diese Konstruktionen werden aber ausschließlich von den Fragen der Nützlichkeit, der praktischen Brauchbarkeit, der Festigkeit und Wirtschaftlichkeit bestimmt. Konstruktion ist eine unerläßliche Voraussetzung jeder gegenständlich-prak[105]tischen Vollkommenheit. Da man über die Konstruktion zu einem System kommt, so ist sie auch für die ‚Neue Kunst‘ verpflichtend geworden. Dieses kam im Kubismus besonders klar zum Ausdruck, der dem Maler neue (materielle) Beziehungen aufzeigte und ihm ein besonderes System für ihre Anordnung gab. Allerdings gilt das nur für die rekonstruktive Periode des Kubismus, als er sich wieder auf den Gegenstand zurückzuziehen begann.
Sobald sich der Kubismus aber der Gegenstandslosigkeit nähert, verschwindet der Begriff ‚Konstruktion‘, da nichts da ist, ‚was‘ konstruiert werden könnte.
Hierbei taucht die Frage auf, ob in suprematistischen Erscheinungen konstruktive Momente zu finden sind. Gibt es in der Gegenstandslosigkeit eine konstruktive Betätigung?
Dem Arbeitsprozeß nach müßte diese Frage bejaht werden, aber man muß zwei verschiedene Arten des Konstruierens unterscheiden: Die praktisch-gegenständliche und die gegenstandslose (das heißt: ohne gegenständliches Ziel). Die Allgemeinheit versteht unter Konstruktion eine praktische Betätigung, bei der die Festigkeit des Materials untersucht und die Elemente des Baues, entsprechend seiner geplanten praktischen Verwendung, bestimmt werden. Wenn aber kein praktischer Gegenstand da ist, dann kann es eine Konstruktion in diesem Sinne nicht geben, denn wir haben keinen Festpunkt, auf den wir uns beziehen können, und kein Maß. Ebenso können wir nicht feststellen, ob die Zusammenfassung der projektierten Kräfte konstruktiv oder nicht konstruktiv ist. Kann man den Begriff konstruktiv überhaupt auf Äußerungen und Erscheinungen anwenden? Kann man sagen, daß in der Natur alles konstruiert ist, da sich doch alles ständig verändert, nichts fest ist, alles in ewiger Umstellung und Umwandlung begriffen, sich im ewigen Wirbel der Erregung befindet!
Die Gegenstandslosigkeit kennt weder Konstruktion noch System. In ihr wird niemals etwas zusammengefügt, noch kann etwas auseinanderfallen. Das gleiche gilt auch für die Natur. Trotzdem ist sie da, und wir sehen in all ihren Formen und in der menschlichen Betätigung ein ständiges Zusammenfügen und Zerlegen. Den [106] Beweis seiner Existenz sieht der Mensch nicht so sehr in den Erscheinungen der Natur als in seinen Betätigungen. Aber ungeachtet dieses Beweises kann der Mensch doch niemals behaupten, daß seine Existenz und die Bewertung seiner Wahrnehmungen echte Wirklichkeit ist.
In weit zurückliegenden Zeiten konnte der Mensch noch keine Einzelheiten aus dem Ganzen herauslösen. Das Ganze selbst war ihm ebensowenig bekannt wie auch uns. Doch nach und nach begann der Mensch Einzelheiten wahrzunehmen, die er früher in seiner Vorstellung nicht unterscheiden konnte. Diese vorgestellten Unterscheidungen wurden für ihn zum Kriterium seiner Bewertungen. Es entstand eine Vorstellung vom Ganzen, es entstand eine Idee. Entsprechen denn aber die unserer Vorstellung entsprungenen Bewertungen auch der Wirklichkeit? Was kann die Wissenschaft unternehmen, um die Wirklichkeit zu erfassen? Ist etwa das Zeichen DO3 ein unumstößlicher Beweis der Wirklichkeit?
Der Mensch glaubt an die Wirklichkeit und Echtheit blühender Felder, und wenn er ausgebildeter Botaniker ist, wird er sagen können: Dieses ist eine Nelke und nichts anderes. Für einen anderen bedeuten bestimmte Formeln diese oder jene Verbindung von Elementen der Materie. Für den Gelehrten sind selche Bezeichnungen die echte Welt. Derjenige aber, der die wissenschaftlichen Geheimnisse nicht kennt, kennt auch nicht die wirkliche Welt. Vom Standpunkt der Wissenschaft kann ein solcher Mensch nichts vollbringen, denn er sieht nicht die vielen Einzelheiten der zergliederten Welt, bestenfalls nur einen beschränkten Teil der Welt, entsprechend der Zahl der ihm bekannten Einzelheiten. Die Wissenschaft behauptet, daß derjenige, der die Formeln der von ihr zergliederten Welt nicht kennt, auch die Welt nicht kennt und darum weder etwas erfinden oder gar schaffen kann. Ich bin ein Nichts, wenn mir die in der Formel HO4 eingeschlossene Welt verborgen bleibt, ich gerate in eine furchtbare Lage, bin an Händen und Füßen gefesselt, wenn ich nicht in den Tempel der Wissenschaft gelange und dort vor den Priestern der Wissenschaft meine Dummheit und Unwissenheit bekenne in der Hoffnung, daß sie mir die wirkliche Welt über die Formel HO4 [107] zeigen. Erst dann wird die Taube der Erleuchtung sich auf mich niederlassen, und ich werde die Welt und ihre Wahrheit erkennen.
Wenn ich mich in das Wesen der wissenschaftlichen Verwirklichung der Natur vertiefe, so überkommen mich Zweifel, ob die ‚unumstößlich bewiesene‘, ‚anschauliche‘ Wirklichkeit der Natur, dargestellt durch die Formel CD1, nicht bei weiteren Experimenten zweifelhaft werden könnte, daß das unteilbare echte CD1 doch in neue Einheiten zerfällt und so die Wirklichkeit sich in einen Nebel auflöst und sich in der Unendlichkeit verliert. Der Menge wird es aber kaum gelingen, die Welt des H3 zu begreifen, weil die Wissenschaft inzwischen eine neue Formel für die ‚Wirklichkeit‘ gefunden hat. Die Allgemeinheit glaubt unerschütterlich an die Wirklichkeit der wissenschaftlich erkannten Welt, so unerschütterlich, wie etwa ein Christ daran glaubt, in den Himmel zu kommen.
Die Allgemeinheit ist fest davon überzeugt, daß man ohne Wissenschaft keinen Schritt tun kann. Sie bleibt aber trotzdem bei ihren häuslichen Verrichtungen, denn es ist schwer, in eine Universität zu gelangen, außerdem ist der Weg dornenvoll und voller Fallstricke.
Dornenvoll ist auch der religiöse Weg. Auch er soll zur Erkenntnis der Welt, der Natur führen. Nach der christlichen Lehre offenbart sich die Welt in drei Elementen: Gott-Vater, Gott-Sohn und Heiliger Geist, die eine unendliche Reihe von Erscheinungen erzeugen. Auch die Wissenschaft muß eine endgültige Zahl von Elementen feststellen, auf die sie die unendliche Reihe der Naturerscheinungen zurückführen kann.
Somit steht die Allgemeinheit vor den Formeln der Wissenschaft wie vor einem Teleskop. Da aber jeweils immer nur einer durch dieses Teleskop blicken kann, staut sich die Menge davor, und jeder wartet, bis er an die Reihe kommt. Das Observatorium aber ist klein und kann nicht die ganze Menge fassen. Darum bleiben in ihm nur einige wenige, die dann in periodischen Publikationen bekanntgeben, daß die ganze, von der Allgemeinheit aufgebaute Welt, in der sie lebt, nicht der Wirklichkeit entspricht und einer Kritik nicht standhält. Die durch die Formel D10 dargestellte Welt existiert überhaupt nicht, vielmehr drückt sich die Wirklichkeit ab sofort in der [108] Formel H100 aus. Trotz dieser umwälzenden Erkenntnis stellt die Allgemeinheit aber fest, daß die Welt geblieben ist, wie sie seit jeher war, und sich in keiner Weise verändert hat. Das Wasser bleibt nach wie vor Wasser und ahnt nicht, daß es als wirkliche Realität nicht mehr besteht, sondern zu einer neuen Realität H2O geworden ist und daß überhaupt die bisher angenommene Realität der Dinge in eine neue Realität umfassenderer Formeln übergegangen ist.
Die Wirklichkeit der Dinge und Erscheinungen können wir niemals erkennen. Wir kennen im besten Fall die vereinbarten Formeln und Zeichen, gleichsam als Schlüssel, mit deren Hilfe wir uns diesen oder jenen Beweis für wirklich Bestehendes verschaffen können, das heißt, den Beweis dafür, was niemals bewiesen werden kann. Ungeachtet dessen lenkt aber die Wissenschaft unentwegt das Schaffen der Massen und behauptet, daß ohne Kenntnis der von ihr festgestellten ‚Wirklichkeiten‘ keine Handlung möglich sei.
Die Autorität der Wissenschaft ist groß, und auf dem Gebiet der gegenständlichen Erfindertätigkeit ist sie tatsächlich ein wichtiges Mittel, nur daß der größte Teil der Allgemeinheit dieses Mittel nicht begreifen kann.
Der Wissenschaft ist es bisher nicht gelungen, so weite Kreise der Allgemeinheit zu erfassen, wie es Religionslehren gelungen ist. Die Wissenschaft ist vermutlich in zu viele Spezialgebiete aufgeteilt. Es gibt keine alles umfassende Gesamtwissenschaft, die etwas so geschlossenes Ganzes darstellen könnte wie etwa die Vorstellung von einem einigen Gott. Allerdings hat auch diese Vorstellung keinen größeren Wirklichkeitsanspruch, wie alle ‚Beweise‘ der Wissenschaft.
Die Verbindung der Allgemeinheit zu Gott ist das Gebet, die Anbetung. Die Verbindung zur Wissenschaft wird aber verhindert durch die Vielfalt der Spezialgebiete. Jeder Gelehrte ist ein Spezialist für einzelne Naturerscheinungen. Da die Vielfalt der Erscheinungen endlos ist, ist auch die Vielfalt der Spezialgebiete endlos. Je mehr die Welt zergliedert wird, um so mehr neue Realitäten werden entdeckt, um so mehr Spezialgebiete entstehen.
Somit kann, bei endloser Entwicklung der Wissenschaft, eine solche Vielfalt von Spezialgebieten entwickelt, die Welt so zerstäubt [109] werden, daß auf jeden Menschen irgendein Spezialgebiet entfällt, das er zu erforschen hat. Ein so eingeengter Spezialist wird dann nur noch ein mechanischer Teil eines ihm unbekannten Weltbaues sein, in dem ihm nur eine Funktion übertragen sein wird. Durch jeden erforschten Teil glaubt man, die Realität der Welt als Ganzes zu erkennen, wobei jedes erforschte Spezialgebiet eine Welt für sich wird, die man aber mit der Welt als Ganzem für untrennbar verbunden hält. Diese Verbindung wird für die wahre Verbindung der Weltbeziehungen gehalten, während sie in Wirklichkeit nur eine durch menschliche Assoziationen bedingte Verbindung ist. Daraus ergibt sich, daß jedes erforschte Spezialgebiet zu einer eigenen Welt wird, die sich niemals mit der wirklichen Welt verbinden läßt. Ein Mensch kann mit der von ihm erkannten Realität niemals Erscheinungen begreifen, deren Realität von einem anderen Menschen auf dessen Spezialgebiet erkannt wurde. Und selbst das, was von allen für eine unumstößliche Tatsache gehalten wird, wird von jedem anders aufgefaßt und ausgelegt. Daraus wird klar, warum eine Entwicklung der Wissenschaft auf einem gemeinsamen Wege unmöglich ist.
Die Vorstellung von der Welt wird immer subjektiv sein, und die professionellen Zergliederungen, wie der gewaltsame Mechanisierungsprozeß, bleiben für die Gesamtheit unklar. Die scheinbare Klarheit und Erkenntnis ergibt sich daraus, daß die Einzelheiten, die sie erkennen zu können glaubte, ganz und gar ihre Erfindung sind. In der Natur gibt es sie nicht.
Selbstverständlich hat auch in der nichtwissenschaftlichen Allgemeinheit jeder seine eigene Vorstellung von der Welt, aber keiner kann mit Bestimmtheit sagen, wie sich der andere die Welt wirklich vorstellt. Allerdings bestehen bestimmte Konventionen über die Einzelerscheinungen, an die sich eine ganze Gemeinschaft hält, wodurch Gemeinden oder Kollektive entstehen, die nach gemeinsamen vereinbarten Grundsätzen leben.
Eine solche Konvention ist zum Beispiel die Kunst im althergebrachten Sinne und der Beruf des Künstlers. Jeder Angehörige dieser Berufsgruppen ist nichts anderes als eine der vielen Funktionen [110] im Weltbau, nicht einmal eine Persönlichkeit, sondern eine Maschine, der ein bestimmter Platz und eine bestimmte Funktion im Weltbau zugewiesen ist.
Der Berufsgruppe der Maler ist die Funktion zugewiesen, die Natur nach künstlerischen Gesichtspunkten darzustellen und zwar als Teil eines Weltbildes, das von einer besonders scharfsichtigen Persönlichkeit erkannt wurde. An sich hätte unter dieser Funktion eine einfache, lebendige Wechselbeziehung zwischen der Natur und dem Maler verstanden werden müssen, außerhalb aller gegenständlichen und professionellen Bezeichnungen.
Jedoch konnte der Mensch augenscheinlich nicht inmitten der Naturerscheinungen leben, ohne sie zu kennen und zu erkennen. So wurde die Malerei, wie auch jede andere menschliche Tätigkeit, lediglich ein Mittel, die Natur zu erkennen, anstatt ihre eigentliche Funktion zu erfüllen.
Der Mensch begann, jeder Erscheinung einen Namen zu geben in dem Glauben, daß, wenn alles seinen Namen hätte, die Welt dem Menschen gleichsam vertraut werden würde. Mit der Registrierung der Funktionen und der Beschreibung der Erscheinungen glaubte der Mensch, alle Geheimnisse der Natur gelöst zu haben.
Auch die Wissenschaft gab Dingen und Erscheinungen Bezeichnungen und schuf eine wissenschaftliche Registratur. Die Grenzen bestimmter Erscheinungen steckte sie ab, indem sie diese Erscheinung aus der namenlosen Einheit herauslöste. Nur so konnte sie, wenigstens in der Vorstellung, durch ihre Funktion klar und also fachlich verständlich wissenschaftlich begründet werden. Von diesem Augenblick an begann die wirkliche Welt als Ganzes, Unteilbares, zu verschwinden – die Kultur begann, die zerstäubte Welt der scheinbaren wissenschaftlichen Begründungen und Differenzierungen. Es begann die Kultur der Zergliederung, die den Fachmann erzeugte, weil jedes erkannte Einzelgebiet irgend jemand anvertraut werden mußte. Da Einzelerkenntnisse aber keine ganze Wahrheit, Einzelteile keine Wirklichkeit ergeben, wurden mehrere Einzelerkenntnisse zu Gruppen zusammengefaßt, in denen sich alle fachlichen Erkenntnisse zu einem Weltbild zusammenfinden sollen.
[111] So auch die Malerei. Auch sie gab die Natur wieder und erfüllte damit die Funktion eines Weltbildes, indem sie Bezeichnungen der Einzelerscheinungen dieses Weltbildes für die Wirklichkeit ansah. Gleichzeitig wurde von ihr aber auch bewiesen, daß die Zergliederung nicht durch Versuche auf der Bildfläche vollzogen wird. Die Bildfläche wurde zur wirklichen Einheit der Natur, ihrer nicht von einander getrennten Einzelerscheinungen. Solche Beweise hätten dem Maler sagen müssen, daß er Erscheinungen nicht anders aufnehmen kann als in völliger Verschmelzung, daß auf seinem Bild nicht eine funktionell-fachliche Ansicht, sondern ein Gesamt-Welt[112]bild der Kunst entsteht. Er hätte erkennen müssen, daß es für ihn weder Form noch Rauminhalt gibt und es keiner wissenschaftlichen Begründungen bedarf, daß die Welt für ihn in der ungeteilten Erregung besteht, die keinerlei Zergliederung unterliege. In diesem einheitlich Verbundenen besteht die Ganzheit des Weltbaues. Trotzdem gibt die Kunst nach wie vor Gegenstände wieder, indem sie Einzelheiten zusammenfaßt, so daß für sie nur das Sichtbare, nicht aber die Wirklichkeit eine Rolle spielt. Somit ist es keine Malerei, sondern lediglich die Wiedergabe verschiedener Vereinbarungen. Der Maler beschränkt sich auf die Wiedergabe von Luft, Wasser, Himmel, Wiesen, Tieren, Porträts. Er spezialisiert sich, er beschäftigt sich mit dem, was es in der wirklichen Natur nicht gibt. Die Bildfläche selbst beweist ihm, daß in ihr nichts Echtes existiert, daß Luft, Wasser, Wiese, Porträt nichts anderes sind als Eindrücke seines zersplitterten Bewußtseins. Dieses muß der Maler wohl in guten Stunden fühlen, denn er setzt doch alle seine Kräfte ein, um die Wirklichkeit rein gegenständlicher menschlicher Beziehungen zu finden. Auch in ihm lebt, wie im gegenständlichen Dichter die Sehnsucht, die isolierten Teilchen zu erfassen und zusammenzufügen.
Dadurch wurde der Gegenstand zur Wahrheit, die Wahrheit aber zur Lüge, da man aus ihr die Wirklichkeit des Gegenstandes ableitete, obwohl alle Beweise zu der einen Wahrheit, zu der ungeteilten, der gegenstandslosen Natur hinführen.
Der Maler will die Wahrheit überwinden, will die Natur auf der Leinwand zum Leben erwecken, wie es auch in anderen Berufszweigen geschieht. Auch der Techniker strebt nach der Verwirklichung des menschlichen gegenständlich-praktischen Heils, ohne dazu fähig zu sein, ebensowenig wie der Maler die Luft auf seinem Bilde so verwirklichen kann, daß der Mensch sie atmen könnte. Immerhin hat der Maler die Zwecklosigkeit solcher Bemühungen erkannt, hat sich aber beruhigt und sich mit dem ‚als ob‘ begnügt.
Wie die Natur als Gesamtheit keine Zahlen, keine Namen und keine isolierten Einzelerscheinungen kennt – dieses ist alles erst durch die Forschung in sie hineingetragen worden – so gibt es auch in der malerischen Wahrheit all dieses nicht. Der Maler stellt die [113] Welt der Erregungen dar, ohne sie von der Weltwahrheit zu trennen. Die Wahrheit des Malers ist die untrennbare Verkettung und Verschmelzung. Sein wirklicher Realismus besteht nicht aus Licht, Luft, Wasser, Steinen, Beton, Kupfer, Eisen. Diese sind ja nur Realitäten der Allgemeinheit. Die Allgemeinheit sieht in dem Bilde alle aufgezählten Einzelerscheinungen, sie sieht Luft, Steine, Wasser; in Wirklichkeit befindet sich aber auf der Leinwand nur ein Material, die Farbe. Ist das nicht ein Beweis dafür, daß auch alle anderen Wahrheiten der Allgemeinheit genauso entstehen, daß die Gesamtheit der Welt, die Weltwahrheit auch nur aus einem Stoff besteht und die scheinbaren Differenzierungen lediglich durch die geltenden Vereinbarungen entstehen? Vielleicht kann der Maler zum wahren Interpreten der Natur, der Wirklichkeit werden, wenn er in seiner Arbeit nichts anderes sieht als die Arbeit der wahren Natur, wenn er die Natur als gegenstandslose Erregung betrachtet und nicht als scheinbare Wirklichkeit. Sind vielleicht die Bestrebungen, Versuche und Experimente auf anderen Fachgebieten auch nur Schein? Ein Schein, der sich ebenso verflüchtigt, wie alle Versuche der künstlerischen Gestaltung sich auf der Bildfläche in der Konstruktion oder Komposition von Linien, Flächen, Rauminhalten und Gegenständen auflösen.
[…] [118] […] Als Beweis für das Gesagte kann meiner Ansicht nach ein Gemälde angesehen werden. Es bestätigt die Erfahrung, daß das, was wir wahrnehmen und fühlen, in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. Wir nehmen in einem Gemälde Raum, Entfernungen, Gewichte anscheinend ganz eindeutig wahr, in Wirklichkeit kann man aber zum Beispiel den Raum nicht umfassen. Man sagt ja auch, daß ein [119] Gemälde nur den Eindruck von Raum, Entfernung, Gewicht vermittelt. Dann drängt sich aber auch die Frage auf, ob alles, was wir für Wirklichkeit halten, nicht auch nur Eindruck ist, ob das, was wir für Raum und Dimension halten, auch tatsächlich Raum und Dimension ist. Ungeachtet dieser berechtigten Zweifel vertieft die Allgemeinheit in ihrem Bewußtsein immer mehr die Vorstellung von Raum und Dimensionen. Diese Vorstellung ist aber durchaus nicht für alles Lebende einheitlich, und sogar dem Menschen ist eine klare Vorstellung von dem Begriff ‚Dimension‘ nicht ohne weiteres gegeben. Ich denke, daß der frühe Mensch solche Vorstellungen noch gar nicht kannte. Er war ein reines Wesen in natürlichem Zustande, das keine Unterscheidungen kannte. Dann tauchten die Dimensionen auf. Erst zwei, dann drei, alles als Ergebnis einfacher Vorstellungen, die aber nur eine relative Gültigkeit haben. Da Relatives aber nicht greifbar, nicht wirklich da ist, so sind alle Dimensionen nicht wirklich, sondern nur Eindrücke.
Diese Schlußfolgerung wird meiner Ansicht nach durch die Bildfläche voll bestätigt: Weder zwischen Vordergrund und Horizontlinie, noch zwischen Boden und Wolken ist irgendeine Dimension feststellbar. Der Maler selbst ist aber vollkommen davon überzeugt, daß der räumliche Eindruck durchaus besteht. Erst waren die Künstler überzeugt, daß es zwei Dimensionen gibt, dann drei, und heute beginnen sie schon, an die vierte Dimension zu glauben, und sind überzeugt, daß sie auch die Zeit mit in ihre Bildfläche einbeziehen können. In ähnlicher Weise ist auch die ganze gelehrte und ungelehrte Allgemeinheit davon überzeugt, daß ihre Leitsätze für alles, was in der Welt besteht, ihre Geltung haben. Bei der Betrachtung der wissenschaftlichen und sonstigen ‚Beweise‘ stellen wir fest, daß der Glaube an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft sich immer mehr festigt, und daß die Wissenschaft ihrerseits in immer steigendem Maße für sich das Recht in Anspruch nimmt, sich in alle Lebensbereiche einzumischen. Ein Teil der Menschen und der Künstler ignoriert zwar die Wissenschaft, ein weit größerer aber neigt zu allen möglichen ‚wissenschaftlichen Begründungen‘ und will das Licht der Wissenschaft in bisher dunkle Bereiche des künstlerischen Schaffens [120] bringen. Man kann ja auch nicht sagen, daß die gegenständliche Kunst nicht bis zu einem gewissen Grade wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien bedarf. Die gegenständliche Kunst konnte ja keinen Schritt tun ohne die Wissenschaft: Die Inspirationen waren eingeengt durch die wissenschaftlichen Gesetze der Perspektive, der Anatomie, der geschichtlichen Tradition und so weiter. Dieselben Künstler aber behaupten in bezug auf die Neue Kunst, daß sie eine reine Verstandeskunst sei und daher unfrei in ihrer unwissenschaftlichen Inspiration. Meiner Ansicht nach aber ist die Inspiration, oder richtiger, die Freiheit der Erregung, nur in der Gegenstandslosigkeit zu verwirklichen, in der es keine Gesetze gibt, durch die die freie Entfaltung gehemmt werden könnte. Es ist möglich, daß die neue Bewegung in der Malerei zu neuen Forschungsergebnissen führen und eine neue Wissenschaft von der Kunst ins Leben rufen wird, aber diese Wissenschaft wird zur Kunst die gleiche Beziehung haben wie zur wirkenden Natur, das heißt das Schaffen des Künstlers bleibt, wie das der Natur, unbeeinflußt von jeder Wissenschaft.
In der Gegenstandslosigkeit ist die innere Erregung frei von allen Vorbildern des praktischen, gegenständlichen Realismus. Die Gegenstandslosigkeit beschäftigt sich nur mit der Wirklichkeit und befreit den Maler von allen gegenständlich-praktischen Vorbildern. Das Schaffen des gegenstandslosen Künstlers ist elementar. Er spürt, daß er vollkommen unabhängig, daß sein Wille frei wird, richtiger: Daß er frei von jedem ‚Wollen‘ wird. Er kennt kein wollendes ‚Ich‘ außerhalb aller anderen Erscheinungen. Die Gesetze der Perspektive, der Anatomie und so weiter werden für ihn absurd, sinnlos, im Gegensatz zu den Malern, die noch an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft glauben und der technischen Irrlehre vertrauen, die da behauptet, unsere Augen könnten sehen, unser Bewußtsein erkennen, unsere Hände greifen und unsere Füße uns bewegen. Diese Maler verbauen sich durch ihr ‚Wollen‘ den Weg zur Freiheit des Schaffens, zumal dieses ‚Wollen‘ ja von den Gesetzen, der jeweils herrschenden Idee, der Moral und der Ethik der Allgemeinheit abhängt.
[…] [154] […] Mit Verstand bewaffnet tritt der Mensch zum Angriff auf die Weltwirklichkeit an, die keinen Anfang und kein Ende hat, kein Fundament, kein Dach. Seine Angriffe richtet er dahin, wo es keine Fundamente gibt, die man zerstören, keine Mauern, die man einreißen oder in die man eine Bresche schlagen könnte. Was der Mensch in seinem Forschungsdrang auch unternehmen mag, immer wird es ein unverständiger Versuch bleiben, weil es in der Weltwirklichkeit nicht den Gegenstand oder die Abgrenzung gibt, jenes Absolute, in das der Verstand eindringen könnte. Wenn es aber nichts Absolutes gibt, dann gibt es auch kein Forschungsobjekt, dann gibt es nur die Gegenstandslosigkeit. Wenn das Forschungsobjekt fehlt, dann kann es auch kein Wissen geben. Das Forschungsobjekt müßte aus dem Weltzusammenhang herausgelöst werden, und nicht nur das, es [155] müßte auch gültig beschrieben werden. Die daraus gezogenen Schlußfolgerungen würden sich dann nur auf Annahmen unserer Vorstellungen stützen können. Darüber könnten auch weder physikalische Experimente noch Analysen hinweghelfen. Alle physikalischen Experimente müssen sich auf die Untersuchung von Einzelerscheinungen beschränken, denn nur aus dem Zusammenhang herausgerissene, isolierte Erscheinungen lassen sich physikalisch untersuchen, wenn die Forschung sich nicht im Uferlosen verlieren will. Isolierte Erscheinungen und Elemente können aber niemals ein Bild vom Ganzen geben. Wir können aus ihnen keine gültige Vorstellung von der gesamten Wirklichkeit ableiten, können seine wirkliche Form nicht finden. Auch in der Malerei lassen die Versuche keine gültige Vorstellung von der Form zu. Die Formen von Gegenständen, die in einem Gemälde wiedergegeben werden, haben kein Volumen. Dadurch ist jeder Versuch, auf einer Malfläche die wirklichen Formen wiedergeben zu wollen, sinnlos. Das gleiche gilt für jeden Forschungsversuch, der eine begründete, wirkliche Form finden will. Wenn wir dem Menschen einen kultivierten Zustand zuerkennen, dem Tier aber nicht, so geschieht das ganz willkürlich, denn der Mensch, der seine Wesenheit nur in der technisch-wirtschaftlichen Vollkommenheit sieht, unterscheidet sich doch nicht vom Tier. Alles nämlich, was seinen Vorrang vor dem Tier rechtfertigen könnte, wie Wissen, gesunder Menschenverstand, Logik, Vernunft, sind ja nur leere Begriffe, weil er mit ihrer Hilfe die Wirklichkeit nicht erkennen kann. Sein Verstand lebt nur in Erfindungen von Vorstellbarem.
Die Natur, deren Wirklichkeit jenseits des Verstandes liegt, ist ungegenständlich, und wenn es dem Menschen gelänge, über den Bereich des Erdballes hinauszugelangen und in der Finsternis die endlosen Abgründe zu empfinden, wo in wirbelnder Rotation sich Nebel, Sonnen und Planeten bewegen, dann würde er erkennen, in welchem Unverstand er sich befindet. Er würde die Kraft der gewaltigen Weite und Freiheit des unverständigen Geschehens erblicken und könnte sich überzeugen, daß nur im ‚Unverstand‘, im ‚Ziellosen‘, ‚Grenzenlosen‘, die Wahrheit und Wirklichkeit des Geschehens sich vollzieht. Er würde sich überzeugen, daß seine ‚wissen[156]schaftlichen‘, ‚verstandesmäßigen‘ Schlußfolgerungen nicht die Wirklichkeit sind, sondern Annahmen, die jeder Begründung entbehren.
Frei in seinem ‚Un-Verstand‘ jagt unser Erdball, unbekannt wohin, ohne Ziel, ohne Logik, ohne Begründung. Wohin jagt er, zu welchem Ziel wird er uns bringen? Oder bewegt er sich vielleicht nirgendwohin, und Planet und Sonne sind nur der Glanz erstarrter Augen eines Irren?
Der Verstand ist ein Mittel, um Erkenntnisse zu gewinnen. Erkenntnisse sind der Wert des Lebens. Werte schaffen Ungleichheit und Feindschaft, obwohl die kulturellen Werte jedem zugänglich sein sollten und die Menge gleich reich an ihnen sein könnte.
Die Theorie des Kapitalismus verbietet niemandem, so reich zu sein wie jeder andere, verbietet auch niemandem, klug zu sein: Gelehrter, Künstler, Dichter, Bildhauer, Architekt. Trotzdem aber besteht die Ungleichheit: Da sind Gebildete und weniger Gebildete, Gelehrte und Nicht-Gelehrte, Künstler und Nicht-Künstler, alles Wertunterschiede, die durch die Kultur erzeugt werden und damit die Einheit der Natur zerstören, die solche Wertunterschiede nicht kennt.
Dessen ungeachtet ordnet die Menschheit aber diese Wertunterschiede nach Kategorien und glaubt, damit den Grad der gewonnenen Naturerkenntnis messen zu können.
Jede Kategorie oder jedes Spezialgebiet ‚erkennt‘ das ihm wertvoll Erscheinende und reiht es in die Kultur ein. Wenn die Menschheit auf diesem Wege die Gesamtheit der Natur erfassen und erkennen könnte, wenn jeder einzelne Mensch über das absolute Wissen verfügen würde, dann wären Natur und menschliche Kultur ein Ganzes. Es würde dann für den Menschen keine Wertunterschiede mehr geben, keine Tiefe und keine Höhe, in die er fallen oder auf die er steigen könnte. Es gäbe keine Fragen mehr, ob die Natur weise sei oder nicht, ob dunkel oder hell, kalt oder warm, weil die Natur diese Unterscheidungen nicht kennt. Erst der Mensch unterscheidet zwischen klug und dumm, gelehrt und ungelehrt, wobei er seine Wertungen nach dem Grad der ‚Naturerkenntnis‘ bestimmt. In der Na[157]tur ist alles so fein gesponnen, sie bildet eine so lückenlose Einheit, daß der Mensch mit seinem Verstand, so sehr er ihn auch schärfen und verfeinern mag, nicht in sie eindringen kann. So muß er seine Wertunterschiede auf spießbürgerliche Konventionen gründen, ohne die keine menschliche Kultur denkbar ist.
Der Maler kennt auf seiner Bildfläche Probleme dieser Art nicht. In seiner Naturauffassung schaltet er alle Wertunterschiede aus.
Für sein Gemälde sind Sonne, Licht, Schatten, Wasser, kurz alles, was wir in der Natur sehen, völlig gleichwertig. Der Menge erscheinen Berge und Täler im Gemälde von realer Wirklichkeit. Untersucht man aber die Malfläche mit Hilfe einer Wasserwaage, so wird man keinerlei Höhenunterschiede feststellen können. Die Wirklichkeit der Malfläche ist gegenstandslos. Das gleiche gilt aber nicht nur für die Malfläche, sondern auch für alle anderen Erscheinungen.
Die neue Auffassung vom Wesen der Malerei hat die Einstellung und die Beziehung zum Gegenstand völlig verändert und damit die Fehler der althergebrachten Vorstellungen von den Problemen der Malerei aufgezeigt.
Auf die grundlegende Verschiebung im Bewußtsein der Maler, die der Kubismus bewirkte, wurde bereits hingewiesen. Das hat die Menge sehr beunruhigt, weil dadurch ein Wertbegriff der Kultur, nämlich die Kunst, aus ihr verschwindet. Damit aber nicht genug, – beim Übergang zur Gegenstandslosigkeit gehen auch andere kulturelle Hilfsmittel und Werte verloren. Der Sinn der Malerei beweist, daß die Menschheit außerhalb des Seins steht, außerhalb der gegenstandslosen Wirklichkeit. Der Drang nach Freiheit, nach Befreiung von allem, beweist, daß auch die übrige Menschheit sich zur Freiheit der Grenzenlosigkeit, das heißt zur Gegenstandslosigkeit hin entwickelt. Damit aber gerät sie in Widerspruch zum wissenschaftlichen Naturalismus, der das Einzelobjekt erkennen will. Trotzdem bleibt die Sehnsucht des Menschen nach dem Urquell der unzerstörbaren Einheit. Mögen die verschiedenen Systeme und Lehren noch so sehr voneinander unterscheiden, in ihrem Wesenskern sind sie alle gleich: Sie alle erstreben die Gleichheit und Einheit. Leider haben die Leitenden dieses noch nicht erkannt. So hat zum [158] Beispiel die Religion den Ewigen Gott vor sich. Anstatt aber diesen Ewigen Gott als Einheit anzuerkennen, geraten die Menschen in erbitterten Streit miteinander wegen des richtigen Weges zu ihm. Gott zerfällt für sie in verschiedene Bekenntnisse, die Bekenntnisse in Systeme, und diese werden nun wichtiger als Gott. Die Frage, wie man zu Gott gelangen kann, welche Abzeichen, welche Gewänder die besten sind, führt zu den heftigsten Feindschaften. Die Frage nach dem Wege zu Gott ist zur Frage nach der äußeren Form des Gottesdienstes, nicht aber zu einer Frage der Gottfindung geworden. Solche Sinnlosigkeiten ergeben sich aus dem gegenständlich-praktischen Realismus. Wenn aber einmal ein gegenständliches materielles Heil festgesetzt ist, dann ist jedes System überzeugt, daß es den besten Weg zur Erreichung dieses Heiles gewählt habe. Daraus entsteht der ewige Streit. Streit und Feindschaft sind Realitäten, aber niemals Wahrheiten.
Wenn wir zur Gegenstandslosigkeit des weißen Suprematismus gelangen sollten, der anstelle des erstrebten materiellen Heiles die Gegenstandslosigkeit setzt, so würde niemand in ihr eine Gnade, einen schenkenden Gott finden, keine Herren und keine Knechte, keine Gegenstände und nichts von dem, was das Leben der Menge heute ausmacht. Im gegenstandslosen Suprematismus verschwinden alle Fragen, wie etwa: „Wie habe ich Gott zu dienen?“, „Wie habe ich zu beten?“, „Wie habe ich zu bauen?“, „Wonach habe ich zu streben?“ Diese Fragen sind ja alle erst durch die gegenständliche Bewußtseinsrichtung entstanden, müssen also von selbst verschwinden, sobald wir zur Gegenstandslosigkeit gelangen.
Die Entwicklung der Menschheit, die bisher von ihren Lehrern und Führern immer nur in Richtung des gegenständlichen Heiles gelenkt wurde, wird möglicherweise im Sozialismus oder Anarchismus ihre äußerste Grenze erreichen. Die materiell eingestellte Menschheit kennt nur die Sorge um ihr materielles Wohl, darum muß der Sozialismus sich zu seiner Verwirklichung auch dieses wirksamen Argumentes bedienen. Doch steht ihm auch ein anderes Argument zur Verfügung: Die religiös-geistige Gegenständlichkeit. Allerdings bezeichnet der heutige Sozialismus dieses Argument als [159] Aberglaube und Vorurteil und sucht es auf jede Weise auszuschalten. Mir scheinen aber diese Bemühungen völlig überflüssig zu sein, weil die religiös-geistige Gegenständlichkeit ja auch nur auf der Ebene eines durchaus gegenständlichen Heiles steht, somit also nur eine Variante des praktischen Realismus ist. Ist es denn nicht gleichgültig, wovon der Mensch satt wird, ob von der religiös-geistigen oder von der sozialistischen Gegenständlichkeit? Wichtig ist ja nur, daß er die Nahrung bekommt, nach der ihn hungert, das erhoffte Ziel erreicht er weder durch die eine, noch durch die andere.
Wie man es aber auch betrachten mag – alles ‚Wollen‘ endet immer in der Sättigung mit Brot oder mit Geist, den beiden ewigen Gerichten, die das gegenständlich-praktische Sein zu bieten hat. Sie sind der Gipfel und die Vollendung für die gegenständlich eingestellte Menge. Ingenieur und Geistlicher müßten sich die Hände reichen, denn beide dienen dem Prinzip der Sättigung, der eine auf materiellem, der andere auf geistigem Gebiet.
Das gegenständliche Heil steigt und fällt in Wellen, und es scheint, daß es im Sozialismus wieder seinen höchsten Gipfel erreichen wird. Danach wird dann eine neue Epoche anbrechen, die Epoche der Gegenstandslosigkeit. Den Keim hierzu hat die Malerei bereits im weißen Suprematismus gelegt, der die Befreiung von allen überkommenen Vorstellungen bringt und in die Einheit, in das befreite ‚Nichts‘ einmündet. Diese neue Malerei hat als erstes bewiesen, daß es in der Natur das Relativitätsprinzip, auf das sich unsere Erkenntnis der Realität der Natur gründet, nicht gibt. Diese Tatsache ist aber von niemand beachtet worden, nicht einmal von den Malern selbst, die zwar das Gemälde als Fläche erkannten, aber nicht in der Lage waren, die Bildfläche anders aufzubauen als mit Hilfe des Relativitätsprinzips.
Trotz aller Verschiedenheiten, die die Maler auf ihrer Leinwand darzustellen versuchten, blieb sie unvermindert eine Fläche. Damit ist doch bewiesen, daß alle wahrgenommenen Verschiedenheiten in der Bildfläche verschwinden. Als ich aber das suprematistische Quadrat schuf, war die Empörung groß. Ich wurde beschuldigt, mich ‚außerhalb der Malerei‘ gestellt zu haben. Es ist aber gar nicht der [160] Kern der Frage, ob jemand außerhalb oder innerhalb von irgendetwas steht, oder woraus etwas hervorgegangen ist, wichtig ist allein der Beweis.
Der Suprematismus ist weder aus dem Kubismus noch aus dem Futurismus hervorgegangen, weder vom Westen, noch vom Osten, denn die Gegenstandslosigkeit ist nichts, was aus etwas anderem hervorgehen kann; einzig und allein steht in allem die Frage, ob etwas erkannt wird oder nicht. Möglicherweise läßt sich alles zurückführen auf den Beweis der Einheit, der allgemeinen Gleichheit, den Nullpunkt, auf den Beweis, daß in allem die Ablehnung der Verschiedenheiten erkennbar wird, daß alles Wahrnehmbare außerhalb der Unterscheidungen steht.
Dargestellte Rauminhalte, Flächen und Linien existieren nur auf der Bildfläche, nicht aber in Wirklichkeit. Der Maler glaubt, daß er Zeit, Raum und Rauminhalt in seinem Bild eingefangen hat. Er konnte seine Wesenheit nicht anders ausdrücken als durch Gegenüberstellungen von Verschiedenheiten, wie auch der Mensch sein Leben nicht anders aufbauen kann. Es wäre interessant, festzustellen, was geschehen würde, wenn alle Gegenüberstellungen verschwinden, das Gesetz der Beziehungen aufgehoben, mit einem Wort die Gegenstandslosigkeit erreicht würde.
Interessant aber ist auch die Tatsache, daß selbst im gegenständlichen Aufbau des Lebens die Gegenstandslosigkeit bereits Realität geworden ist. Worauf bauen wir denn unser Leben, unsere ‚Kultur‘ auf? Sind die Grundpfeiler tatsächlich so fest, so unerschütterlich? Haben sich diese Grundpfeiler nicht immer wieder als trügerisch erwiesen? Und sind nicht gerade die Grundpfeiler, die am unerschütterlichsten aussehen, gefährlicher als solche, die von vornherein Zweifel erregen? So entwickeln wir im Vertrauen auf die ‚felsenfeste Grundlage‘ wissenschaftlicher Erkenntnis unser Leben stufenweise immer weiter, und plötzlich zerbröckelt die ‚feste‘ Grundlage unseres Lebensaufbaues, der einstürzt und uns unter seinen Trümmern begräbt. Zerstört wird aber die gegenständlich-wissenschaftliche Grundlage immer durch die Wissenschaft selbst, womit mir bewiesen scheint, daß es nichts Dauerhaftes und Unerschütterliches [161] gibt. Darum lebt auch die Menschheit in ewiger Angst, daß die Grundlagen ihres Lebens zerstört werden könnten, und sieht doch keine andere Möglichkeit, dieses Leben anders aufzubauen als auf wissenschaftlich begründeten Ideen. So bleibt unser Lebensaufbau auch weiterhin unsicher und wirklichkeitsfremd.
Weder die Menschheit allgemein noch der Maler im besonderen haben ihre Lage begriffen. Sie bauen nach wie vor ihr Leben auf willkürlich herausgegriffenen Teilen des Ganzen auf.
In einem sinnvoll zusammengefügten Ganzen verlieren alle Einzelteile ihre Wertunterschiede. Das ist besonders anschaulich in der Malerei zu erkennen: Hier verlieren alle Einzelheiten ihren Eigenwert, lösen sich in der gegenstandslosen Fläche auf, ohne irgendwelche Merkmale ihrer ursprünglichen Verschiedenheit mehr erkennen zu lassen.
Das gleiche gilt für jeden Versuch, einzelnes zu einer Einheit zusammenzufügen. Das ist meiner Ansicht nach die Wirklichkeit. Leider ist diese Wirklichkeit noch von keinem Führer auf seine Fahne geschrieben worden. Immer ist es das praktisch materielle Heil, das auf die Fahne jeder neuen Bewegung geschrieben wird, und immer liegt dieses Heil irgendwo in der Zukunft wohl verwahrt. Die Menschen müssen bloß alle Schwierigkeiten überwinden, die sie noch von dem versprochenen Heil trennen. Diese Zukunft steht als nebelhafte Vorstellung vor den gegenstandsbefangenen Menschen wie der Begriff ‚Gott‘ vor den religiösen. Die Maler aber ‚beweisen‘ unverdrossen, daß die Zukunft des Gegenstandes ihre Bildfläche ist, in der sie ihr künftiges Heil finden werden. Sie merken nicht, daß sich der Gegenstand in der Bildfläche bereits aufgelöst und seine Zukunft in der Gegenstandslosigkeit gefunden hat. Die Maler aber, selbst führende Maler, sagen nichts darüber, daß es nicht Aufgabe der Kunst sei, den Gegenstand oder irgendwelche anderen Erscheinungen zu verherrlichen. Im Gegenteil, sie behaupten sogar (und versuchen es mit ihren Bildern zu beweisen), daß die Elemente der künstlerischen Gestaltung vorhanden und von ihnen erkannt sind. Diese Elemente werden in einer neuen Ordnung zueinander in Beziehung gebracht, doch zeigt diese neue Ordnung jetzt schon, daß mit ihrer [162] Hilfe die Elemente nicht zu einer künstlerischen Form zusammengefügt werden können, vermutlich, weil dieser neuen Ordnung der künstlerische Ursprung fehlt.
Darum versuche ich zu zeigen, daß das wahre Wesen der Malerei nicht in den Gegenständen der sogenannten künstlerischen Kultur des praktischen Realismus zu suchen ist. Die Welt ist ungegenständlich, und nur der Mensch ist es, der sie vergegenständlichen und in reale Formen zwingen will.
[…] [169] […] Im Grunde genommen besteht die ganze menschliche Kultur nur aus Annahmen. Annahmen und Vermutungen ergeben Annäherungswerte und schaffen die Möglichkeit, diese Werte zu erlangen und ihre Aufteilung unter sich zu planen.
Solange der Mensch sich in der Wahnvorstellung seines Eigenwertes von der Natur absondert, kann er nur durch Beraubung der Natur seiner Vorstellung zu den Kulturwerten gelangen. Er schafft erst eine wertvolle, reiche Natur und holt dann den Reichtum für sich heraus. Und dazu bedarf er der Schlüssel, Dietriche und anderer Waffen. Die nach der Absonderung des Menschen verbleibende Rest-Natur kann man aber in keinen Kulturbeutel stecken, und selbst kann der Mensch auch nicht hinein, obwohl gerade das sein Ziel ist. Auf eine andere Ebene oder in einen anderen Lagerschuppen läßt sich die Rest-Natur auch nicht verlegen, denn alle möglichen Ebenen und Lagerschuppen sind ja in dieser Rest-Natur mit einbegriffen. Die Natur fürchtet weder Diebe noch Verbrechen, sie baut keine Lagerschuppen und kennt keine Verbote, denn niemand kann jemals etwas aus ihr heraustragen. Der raffgierige Mensch denkt, daß alles in der Natur wertvoll sei, und scharrt sich vermeintliche Werte zusammen, die aber immer nur die regenbogenfarbenen Banknoten bleiben, die ihm angeblich wirkliche Werte garantieren.
Das ist die eine Seite der Kultur – die Absonderung von Einzelwerten aus der Wirklichkeit der Welt. Die andere Seite ist die Zer[170]störung dieser Werte, als wären echte Werte nur durch Zerstörung von Werten zu gewinnen.
Die gegenständliche Wahrheit beschränkt sich aber immer nur auf die rein äußerlichen Merkmale der kosmischen Wahrheit, das heißt, diese selbst ist gegenstandslos. Auf diese Weise unterliegen alle utilitären Gegenstände, ob real bestehend oder nur vorgestellt, dem gleichen Prozeß der Erkenntnis, auch wenn sie zeitlich verschieden wahrgenommen werden.
Die Wahrnehmung vollzieht sich auf zwei Ebenen: einmal im Menschen selbst, zum anderen im realen Raum. Wir können sie die verstandesmäßige und die physische Wahrnehmung nennen. Jeder Gegenstand entsteht erst in der Vorstellung, um dann, auf dem Wege über eine bestimmte Arbeitsleistung, greifbare Gestalt anzunehmen, die real, physikalisch nachweisbar existiert, nicht als Abstraktion, sondern als Wirklichkeit. Da aber auch diese Wirklichkeit nur einer Vorstellung entspringt, so ist auch die physikalische Wirklichkeit nur eine vorgestellte, das heißt, auch sie bleibt gegenstandslos.
Wie bereits mehrfach dargelegt, ist die gesamte menschliche Kultur und überhaupt die ganze Entwicklung der menschlichen ‚Wirklichkeit‘ einzig und allein auf das materiell- und geistig-gegenständliche Wohlergehen ausgerichtet. Die Arbeit, die zur Erreichung dieses Wohlergehens geleistet werden muß, sollte den Menschen eigentlich vor der Zerstörung der jeweils erreichten Vollkommenheiten bewahren. Nun herrscht aber die Ansicht vor, daß das Alte zerstört werden müsse, damit Besseres geschaffen werden könne. Somit rechtfertigen Neuschöpfungen die Zerstörung. Jede Neuschöpfung soll ein Schritt weiter auf dem Wege zur unterschiedslosen Einheit sein. Dort, wo auch nur das Geringste zusammengefügt wird, ist Zerstörung keine Sünde mehr, ganz gleich, wozu und wofür etwas zusammengefügt wird. Es gehört nun einmal zum Wesen des Menschen, daß er zu einer Einheit strebt, zu einer Verschmelzung aller Einzelerscheinungen, das ist der Inhalt seiner Kultur, der Sinn seiner unermüdlichen Arbeit.
Der Mensch müht sich damit ab, die bei seinem ersten Sündenfall [171] entstandenen Vorstellungen zu verwirklichen und sie zu einer physischen oder auch transzendenten Einheit zu verschmelzen. Das heißt, den Unterscheidungen ihre Unterschiedslosigkeit wiedergeben. Aber nach wie vor bleibt der Mensch in seiner bisherigen Vorstellung von der Welt befangen und hofft nach wie vor, in dieser Vorstellung die Wirklichkeit erkennen zu können – eine trügerische Hoffnung, was meiner Ansicht nach hinlänglich durch den bisherigen Ablauf der menschlichen Kulturen bewiesen wird.
–
[…] [183] […] Die Natur kennt keine Gerichte und keine Strafgesetze, sie ist grenzenlos wahr in ihrem ‚Nichts‘, in ihrer Gegenstandslosigkeit. Alle Operationen im Leben sind einfache Konventionen, also das gleiche ‚Nichts‘, weil doch jede Konvention nur eine angenommene Wirklichkeit ist, wie die Banknote, die als Goldwert angenommen wird. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sind alle Konventionen heuchlerische Fälschungen. Ein Maler, der eine Landschaft auf seiner Bildfläche darstellt mit Bäumen, Flüssen, Häusern, gibt auch nicht die Wirklichkeit, sondern nur die Vorstellung von angenommenen Gegenständen wieder. Die auf der Bildfläche dargestellten Menschen bewegen sich auch nur in unserer Vorstellung, während sie in Wirklichkeit unbeweglich sind. Die auf der Bildfläche dargestellte Welt ist somit etwas ganz anderes als unsere Vorstellung von ihr, wodurch der Begriff des Wirklichen fragwürdig wird. Man müßte in erster Linie überhaupt erst einmal feststellen, was unter der ‚Wirklichkeit‘ alles Seienden zu verstehen ist. Vielleicht ist das Leben, das wir mit allen sich in ihm bewegenden Gegenständen als wirklich bezeichnen, nicht viel anders, wie eine Bildfläche, auf der sich die Gegenstände auch nur in unserer Vorstellung bewegen. Wir begleiten sie zu einem von uns angenommenen Ort, den wir jedoch niemals wirklich bestimmen können. Selbst fahrplanmäßig festgelegte Stationen der Eisenbahn können nicht als Beweis für die Möglichkeit einer wirklichen Ortsbestimmung angesehen werden. Auch die Möglichkeit, daß Eisenbahnzüge dem Menschen als Fortbewegungsmittel dienen könnten, war ebensowenig vorauszusehen wie die Entwicklung vom Handkarren zur Lokomotive und von dieser zum Aëroplan.
Übrigens ist die zweckmäßige Bewegung zwischen zwei Punkten auf der Erde sicher noch nicht das Endziel der Entwicklung. Dieses Ziel ist doch wohl mehr die Loslösung von der Erde und der Vorstoß in den Raum. Hierzu wäre aber eine Lokomotive keineswegs geeignet, so daß man sie als eine falsch gerichtete Entwicklung an[184]sehen muß, die nur engbegrenzten wirtschaftlich-praktischen Vorstellungen entsprungen ist.
Sinnvoller scheint schon die Entwicklung des Aëroplans, der sich doch immerhin vom Erdboden löst und sich bis über die Wolken erhebt. Auch das ist ein Ortswechsel. Aus alledem gewinnt man den Eindruck, daß der Mensch weder den tieferen Sinn des Seins noch das Ziel seiner Entwicklung vorauszusehen vermag.
Es ist auch eine andere Auffassung möglich: Der Mensch fertigt einen Gegenstand an und glaubt, daß alle für die neue Konstruktion aufgewendeten Kräfte in ihr zum Ausdruck kommen und somit eine neue Art von Kräften darstellen. Das ist aber ein Trugschluß, weil Kräfte sich nicht konstruieren lassen.
Die Erfahrung der Malerei beweist, daß alles, was in der Vorstellung entsteht, nicht in der Bildfläche existiert, daß es in ihr keine Formen, keine Zeit, keinen Raum und keine Kräfteverschiebungen gibt. Dafür bestehen aber in ihr Wirkungen, die außerhalb jeder gegenständlichen Realität liegen. Solche Wirkungen nenne ich ‚Erregung‘, ein Zustand der weder meß- noch wägbar ist. Eine Erforschung, die zu einer wirklichen Erkenntnis führt, kann nur an einem Forschungsobjekt durchgeführt werden, das absolut abgrenzbar ist. Wenn wir die Behauptung der Kirche betrachten, daß Gott die absolute Vollkommenheit sei, so erblicken wir darin einen doppelten Sinn: Einerseits müßte Gott als absolute Vollkommenheit abgrenzbar und darum erkennbar sein, andererseits aber ist Gott ewig und unbegrenzbar und darum unbegreifbar. Die Kirche hat entschieden, daß Gott unerforschbar und unbegreifbar sei. Unerforschbar sind auch die Linien und Formen auf der Bildfläche, auf der sie zwar sichtbar, aber keine Wirklichkeit sind. Nicht anders verhält es sich mit dem ‚wirklichen‘, materiellen Leben des Menschen. Trotzdem bleibt der Mensch ewig damit beschäftigt, alles zu erforschen und ‚wissenschaftlich‘ zu begründen, sei es im Materiellen oder im Geistigen. Somit setzt sich das Leben der Menschen aus Dingen zusammen, die es gar nicht gibt, die weder erforschbar, noch wißbar, noch begreifbar sind.
Noch eine Auffassung gibt es, die Anspruch darauf erhebt, die [185] Wirklichkeit des Seins beweisen zu können. Es ist die ‚Anschaulichkeit‘ von Ursache und Wirkung. Doch auch in diesem Falle kann die Feststellung einer anschaulichen Ursache nicht reine Wirklichkeit sein, denn auch diese Ursache ist nur eine Annahme, entspringt meiner Vorstellung. Im Endergebnis bleibt jede ‚Ursächlichkeit‘ ein Geheimnis, die letzte wahre Ursache nicht erkennbar. Ein Geheimnis ist die Ursächlichkeit aber nur darum, weil meine Gedanken etwas nicht Bestehendes begreifen wollen. Jede Ursache ist das Sein, das die Erscheinungsformen ständig verändert. Da aber jede Erscheinung ihrerseits das Sein ist, so kann es gar nicht die gesuchten verschiedenen Ursachen geben und damit auch keine Anschaulichkeit. Es spricht aber auch nichts für die Wirklichkeit des Seins, nichts bestätigt es, woraus man schließen kann, daß es unmöglich ist, zu erkennen, was mein Bewußtsein lenkt, was der Ursprung aller Ursachen ist.
Das Bewußtsein selbst besteht in der Natur auch nicht in Wirklichkeit. ‚Bewußtsein‘ ist also wie auch das ‚Sein‘ nichts anderes als ein Name, und dieser Name wird von der Menge als Wirklichkeit des Lebens angesehen, eine ‚Wirklichkeit‘, die nichts anderes ist als Konvention, Annahme, Meinung. Somit kann man das Leben der Menge mit der Leinwand eines Malers vergleichen: Er versucht, etwas darzustellen, das nicht wirklich existiert. Um eine reale Welt zu schaffen, gab die Menge dem Unbekannten Namen, wodurch das Unbekannte für sie zu einer Realität wurde. So entstand die scheinbare Realisierung, die sich auf Vorstellungen, nicht aber auf wirklich Erkanntes stützte. So hat denn die Wissenschaft dem Unbekannten Namen gegeben, wie ‚Kampfer‘, ‚Nickel‘, ‚Platin‘ und fand die nächstliegenden Ursachen ihrer Wirkungen. Kann aber denn ein Name reale Wirklichkeit sein? Mir scheint dies nicht der Fall. Das, was die Wissenschaft in den Händen zu haben glaubt, wird ihr nie bekannt werden, ebensowenig wie jedem anderen Menschen, der einen Namen trägt, bekannt wird, ob sein Name seinem Selbst auch wirklich entspricht. So ist denn das ganze menschliche Dasein auf konventionellen Begriffsbestimmungen aufgebaut. In Wirklichkeit aber muß es eine andere Realität geben, die jenseits [186] der Bewußtseinssphäre verborgen ist. Die Natur hat keine Namen, und wenn der Mensch die Wirklichkeit der Natur erreichen könnte, dann würde auch er keine Namen mehr brauchen.
Menschen, die auf dem Friedhof liegen, sind alle gleich und unschädlich für die Natur. Weder sind sie in einem Gesetz unterworfen, noch können sie bestraft werden, und kein Machthaber kann ihnen befehlen. Wenn ein Mensch bei einem Vergehen ertappt wird, das noch keinen Namen hat, dann ist der Staat machtlos, weil Unbekanntes nicht abgeurteilt werden kann. Das Gericht muß erst ein Gesetz benennen können, weil es Gesetze an sich, als Wirklichkeit nicht gibt. Auch Wissenschaft und Religion müssen allen Erscheinungen erst Namen geben, damit sie zu realen Tatsachen werden. Der Staat erkennt Realitäten nur aufgrund der Namensgebung an. Doch Name bleibt Name und Wahrheit bleibt Wahrheit, und gerade diese bleibt weitgehend unbekannt.
Bei jeder Namensgebung wird untersucht, ob der in Aussicht genommene Name noch frei ist, ob in ihm nicht ein Teil einer dem Gesetz widersprechenden fremden Idee liegt. Nicht selten auch trägt das Echte einen falschen Namen, das heißt einen Namen, der dem Inhalt nicht entspricht. So scheint mir zum Beispiel die Bezeichnung ‚Wissenschaft‘ oder ‚Bildung‘ keineswegs dem in sie hineingelegten Sinne zu entsprechen. Wissenschaft und Bildung haben die Aufgabe, Dunkles hell und klar zu machen, damit das ‚dunkle‘ Volk die Wahrheit erkenne. Doch werden dem Volk immer nur ‚Wahrheiten‘ untergeschoben, die zwar zweckdienlich, aber gefälscht sind, da ja die echte Wahrheit verborgen bleibt.
Wissenschaft und Bildung bringen daher in Wirklichkeit nur die Namen der Erscheinungen, während die Erscheinungen selbst im Dunkel bleiben. Es leuchten die Namen wie ordensgeschmückte Uniformen, wie blankgeputzte Buchstaben in einem Buch.
Der Geistliche hebt das Neugeborene aus dem Taufbecken und sagt der Mutter: „Nimm ihn hin, dies ist Iwan.“ Und alle sind überzeugt, daß dieses nun der wirkliche ‚Iwan‘ sei, klug und hell. Und aus solchen konventionellen Iwans setzt sich das ganze Leben, [187] die ganze Weisheit der Menge zusammen, ‚wissenschaftlich begründet‘ und ‚bewiesen‘.
Wissenschaft und Bildung wollen Unbekanntes beleuchten, das ist ihr Inhalt. Doch um unbekanntes Dunkel aufhellen zu können, muß das Unbekannte erst zergliedert werden, es muß nachgesehen werden, was die Truhe eigentlich enthält. Diese Truhe muß unbedingt geöffnet werden. Nun liegt aber alles Dunkel in der kosmischen Wirklichkeit, und diese ist nun einmal keine Truhe, die man öffnen könnte. Für sie lassen sich weder Schlüssel noch Dietriche finden. Diese Wirklichkeit ist auch kein Ei, das die Hand der Hausfrau in Eigelb und Eiweiß teilen kann. Außerdem ist auch die Wissenschaft keine Hausfrau, für die der Augenschein allein schon ein ausreichender Beweis für die Teilbarkeit des Eies ist.
Darum scheint mir, daß es kaum gelingen kann, das Wunder zu vollbringen und Blinde sehend zu machen.
Der Mensch will die wirkliche Welt erkennen, die in völliger Dunkelheit liegt. Der menschliche Verstand, das einzige Licht in dieser Dunkelheit, soll sie erleuchten, damit der Mensch die Wirklichkeit erkennen kann. Der Verstand ist bemüht, aus dem Dunkel etwas in seinen Lichtschein zu ziehen. Dieses ‚Etwas‘ scheint dann sichtbar zu werden, bleibt aber doch dunkel.
Der Verstand kann gleichsam als ein weißes Feld angesehen werden, das sich gegen die allgemeine Dunkelheit abhebt. Es sind die Gegensätze Weiß und Schwarz. Die Trennung der beiden zeigt, daß sowohl das eine wie das andere ein ‚Nichts‘ ist. Der Verstand ist für den Durchschnittsmenschen das, was für den Maler die Farbe ist, wenn er auf der Bildfläche ein Volumen darstellen will. Das dargestellte Volumen ist aber gar nicht vorhanden. So läßt sich auch auf dem weißen Felde des Verstandes nichts Wirkliches wiedergeben. Aus dem Versuch, das Dunkel zu erkennen, entstanden das Weiße, das Farbige und verschiedene andere Vorstellungen. Auf dem weißen Felde des Verstandes teilte sich das Dunkel, und es entstanden unterschiedliche Einzelerscheinungen, die zueinander in Beziehungen gerieten und die verschiedensten Kombinationen und Verbindungen ergaben.
[188] Diese gegenseitigen Beziehungen und Gegenüberstellungen verlangten nach weiteren Erkenntnisversuchen in Richtung auf ihre Eigenschaften, Qualitäten und so weiter. So entstand und entwickelte sich über alle möglichen Bauten und Erzeugnisse der Aufbau des Lebens, der sich für die Durchschnittsmenschheit ausschließlich auf praktisch-nützliche Dinge beschränkte. Tatsächlich sind aber alle auf dem weißen Felde des Verstandes erschienenen Gegenüberstellungen und Beziehungen nackte Gegenstandslosigkeit. Sie haben ebensowenig eine praktisch-nützliche Zielsetzung wie die kosmische Wirklichkeit. Auch unser Erdball ist nicht der Inbegriff einer rein utilitären Kugel, die um des Menschen willen erschaffen wurde. Das würde wohl auch niemandem in den Sinn kommen, denn der Mensch hat ja nicht einmal eine Vorstellung, wohin und warum der Erdball sich im Wirbel der Welten bewegt. Trotz der ununterbrochenen Forschungsversuche der Wissenschaft bleiben alle sogenannten Erkenntnisse doch nur trügerische Irrlichter. Die Wirklichkeit bleibt im Dunkel, obwohl der Mensch immer wieder neue Lichtquellen zu schaffen versucht. Sein Leben ist inzwischen zu einem Arsenal von Hilfsmitteln geworden, und die Vielfalt der Hilfsmittel zeigt, wie unwirksam und unvollkommen diese Hilfsmittel sind. Sie sind nicht geeignet, die unbekannte Wirklichkeit zu erhellen, und können im besten Falle dazu dienen, neue Hilfsmittel zu schaffen, mit denen die Wahrheit erkannt, die Weltgeheimnisse sichtbar gemacht werden könnten. Obwohl aber der Verstand heller leuchtet als die Sonne und in seinem Felde auch die strahlendste Scheibe trübe erscheint, kann er die Wirklichkeit doch nicht erkennen. So bleibt denn alles nach wie vor in Dunkel gehüllt, ist nichts zu erkennen, was die gegenständlichen Futtertrog-Bedürfnisse voll befriedigen könnte. Alles, was die Menschheit schafft, bleibt einfache Nachbildung, ähnlich wie in der Kunst, denn auch sie geht von falschen Nützlichkeitsvorstellungen aus.
Es ist notwendig, das Bewußtsein der Durchschnittsmenschheit zu reformieren, Kunst und Wissenschaft von den Fesseln der Nützlichkeitserwägungen zu befreien. Die Malerei hat sich allerdings schon von dem Druck der Gegenständlichkeit befreit. Frei von allen [189] falschen Vorstellungen, die ihr von der utilitären Lebensauffassung aufgezwungen waren, strebt sie der Freiheit des Schaffens zu. Es kann nichts frei sein, was praktisch nützlich ist, was nach einem Ziel strebt, Verstand oder Vernunft hat. Es kann keine Brücke gebaut werden, wo es keine Ufer gibt.
Wissenschaft, Religion, Kunst, drei Wege, auf denen sich die gegenstandsbefangene Menschheit in den Fesseln von Ziel, Sinn, Logik und so weiter bewegt. Diese Fesseln empfindet die Menschheit aber schon gar nicht mehr als Last, denn sie sind schon zu untrennbaren Teilen ihres Organismus geworden. Alle Menschen sind überzeugt, daß Logik, Verstand, Ziel der ganze Sinn des Lebens seien. Gut und brauchbar ist nur das, was anschaulich, klar, wissenschaftlich begründet und bewiesen ist. Die Welt erscheint ihnen als Laden, der mit den verschiedensten nützlichen Gegenständen angefüllt ist. Wissenschaft, Religion und Kunst suchen stets einen sichtbaren Gegenstand, den sie sich aber auf verschiedene Art vorstellen. Die Gültigkeit dieser Vorstellungen und Annahmen wird in wissenschaftlichen Experimenten geprüft. Das ändert aber nichts daran, daß die Prüfungsergebnisse immer wieder umgestoßen werden, sobald neue Vorstellungen, neue Annahmen auftauchen. Somit erweisen sich die wissenschaftlich überprüften und begründeten ‚Wahrheiten‘ als irrig, der Gegenstand zerfällt und verliert seine Wirklichkeit. Somit erweist sich das wissenschaftliche Experiment doch nicht als beweiskräftig. Es kann auch gar nicht beweiskräftig sein, weil sowohl das für das Experiment verwendete Objekt als auch die verwendeten Mittel nur Vorstellungen entspringen. Aber irgendwie wird die Vorstellung von der fiktiven Wirklichkeit doch zur Tatsache.
Gegen die fiktive, vorgetäuschte Wirklichkeit ist als erste die Kunst aufgestanden und hat mit ihren Werken das Trügerische aller Vorstellungen bewiesen: Auf der Malfläche war nicht ein einziger Gegenstand körperlich festzustellen.
In der Malerei sehe ich den bisher einzigen Versuch, das einzige wahre Experiment, das die Fiktivität aller Vorstellungen von der verborgenen Wahrheit beweist, der Wahrheit nämlich, daß es den Gegenstand als Wirklichkeit nicht gibt und daß es ein Zeichen [190] menschlicher Begriffsverwirrung ist, nach einem solchen Gegenstand zu suchen.
Darum sehe ich die Malerei oder die Kunst überhaupt als den ersten Schritt auf dem Wege zum gegenstandslosen Suprematismus, zu der Welt als Gegenstandslosigkeit, zum befreiten Nichts, an, auf dem Wege zu einem Zustand, in dem es nichts Erkennbares, ja nicht einmal den gegenstandslosen Rhythmus mehr gibt. Auch der Rhythmus, als einfaches Auf und Ab, ist schon eine Begrenzung der harmonisierten Vollendung. Rhythmus ist schon ein Gesetz, ist schon eine Unterscheidung, die im Widerspruch steht zum Gegenstandslosen, zum Unterschiedslosen. Bisher war der Rhythmus das einzige Gesetz des ganzen menschlichen Schaffens, jedoch wurde dieses Gesetz bisher nur von der Kunst als bewußte Wirklichkeit verstanden, auf die sich alle Schöpfungen der Kunstschaffenden gründeten. Auf anderen Gebieten dagegen wurde der Rhythmus überhaupt nicht beachtet, das Interesse galt ausschließlich den Zahlen, den Berechnungen, die jeden dem Material innewohnenden Rhythmus verdeckten. Aber gerade im Rhythmus erblicke ich das, was zur Entstehung dieses oder jenes Materials geführt hat, ihm diese oder jene Dichte oder sonst eine in ihm verborgene Kraft verliehen hat.
Die Berechnung der Druckfestigkeit eines Materials ist nichts anderes als die Berechnung seiner rhythmischen Erregung. Dieser zahlenmäßig errechenbare Druck ergibt sich aus dem Zusammenwirken rhythmischer Bewegungen, die einen vorgestellten Bau oder, richtiger, ein rhythmisches Gebilde ergeben. So hat jede Maschine ihren Rhythmus, und dieser müßte meiner Ansicht nach für jeden Ingenieur das Grundproblem sein. Aber eine nach rein rhythmischen Gesetzen gebaute Maschine, frei von allen Nützlichkeitserwägungen, wäre zweifellos eine absolute Neuheit. Ein Ingenieur dürfte eine solch reine Verwirklichung rhythmischer Gesetze gar nicht bauen, weil er praktische Gegenstände anzufertigen hat.
Ähnlich ist auch die Lage eines Malers, der sein Werk nach rein malerisch-rhythmischen Gesetzen verwirklichen will. Auch er darf es nicht tun, weil er gegenständliche Abbilder schaffen muß. So ste[191]hen beide, Ingenieur wie Künstler, auf einer falschen, ihnen untergeschobenen Ebene.
Sobald ein Schaffender beginnt, seine Erregung durch den Rhythmus auszudrücken, befindet er sich im Einklang mit der kosmischen Wirklichkeit. Drückt er sie aber in einem Gegenstand als einem praktischen Gebilde aus, so gerät er in die Gewalt einer rein praktischen Starrheit. Das Ergebnis ist dann nicht mehr absoluter, reiner Rhythmus, sondern nur noch ein praktisch-nützlicher Gegenstand. Der Gegenstand wird immer in seinem vorgestellten Zustand gezeichnet und ist darum unwirklich. Es wird daher nicht die Wirklichkeit, sondern nur eine Vorstellung oder eine Annahme, genauer, ein Traum, ein Trugbild wiedergegeben. Somit ist das Leben des Menschen von lauter Trugbildern umgeben, die körperliche Tatsachen geworden sind. Der Traum wurde gleichsam zum wachen Leben, zur ‚Wirklichkeit‘. Der Mensch ist noch nicht sehend geworden in der Welt der Wirklichkeit, er ist noch nicht erwacht. Dabei ist er aber unentwegt bemüht, Hilfsmittel zu finden, mit denen er die harte Schale durchbrechen könnte, die ihn von der Wirklichkeit trennt. Wissenschaft, Religion, Kunst sind solche Hilfsmittel, die zu seinem Erwachen führen, ihm den Durchbruch zur kosmischen Wirklichkeit ermöglichen sollen. Der Kampf gegen die Traumvorstellungen ist ihr eigentlicher Sinn. Nichts wollen sie schlafen lassen, und die Religion will selbst die Toten noch am Jüngsten Tage erwecken, um sie in die Wahrheit allen Seins einzuführen. Dann werden die Toten nicht mehr tot und der Schlaf nicht mehr Schlaf sein. Folglich verfügt die Religion anscheinend bereits über jenes Wissen vom Tage der Erweckung, an dem vieles, vielleicht sogar alles, sich als Wirklichkeit erweisen wird und die Vorstellungen nicht mehr als Wirklichkeit angesehen werden. Das ‚Ich‘ wird das All erblicken, wenn es sich in ihm auflöst. Die Religion behauptet allerdings, daß vorher noch Gericht gehalten würde, bei dem entschieden werden soll, wer erwachen darf und wer nicht, wobei die Wirklichkeit, in Gestalt der Dreieinigkeit – Gott-Sohn-Heiliger Geist – den Vorsitz im Gericht haben wird. Dann wird alles Verborgene sichtbar werden, es wird Schluß gemacht mit allen Vorstellungen und Vermutungen, und [192] der Schlaf wird dem Wachsein weichen. Bleibt aber Gott verborgen, so bleibt auch die Wahrheit verborgen, und niemand wird auferstehen vom ewigen Schlaf. Die Menschheit und die Wissenschaft werden die Wahrheit nie erblicken, alles bleibt in dem bisherigen ewigen Schlaf, in den bisherigen Vorstellungen befangen. Der ‚Jüngste Tag‘ und das ‚Jüngste Gericht‘ sind für den religiösen Menschen die vorstellbaren Mittel zur Überwindung des ewigen Schlafes. Nach Auffassung der Kirche erweckt Gott, nach Auffassung der Wissenschaft aber die Zukunft. Was für die Religion Gott ist, ist für die Wissenschaft die Zukunft.
Für beide ist die Grundaufgabe die gleiche, dem Menschen die Wahrheit, die Wirklichkeit zu offenbaren, ihn aus seinem Schlaf zu erwecken. Diese Grundaufgabe ist aber nicht nur nicht erreicht, sondern es scheint fast, als wäre sie noch gar nicht erkannt.
Vergleicht man aber Religion und Wissenschaft mit dem dritten Weg, der Kunst, so kann man hier doch schon Anzeichen einer Erweckung erkennen, denn die Kunst beginnt bereits, die von ihr aufgenommenen Vorstellungen nicht mehr als Tatsachen anzusehen. Der Gegenstand existiert in ihr nicht mehr körperlich. Alle Vorstellungen der Menschheit, wie ‚Tier‘, ‚Himmel‘, ‚Mensch‘, ‚Erde‘, ‚Wasser‘ und so weiter sind als bloße Vorstellungen erkannt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Wenn der Mensch hofft, bei seinem Erwachen die Wirklichkeit in Gestalt vollkommener Gegenstände zu erblicken, so wird er sicher schwer enttäuscht werden. Die Wirklichkeit wird außerhalb alles Vorstellbaren sein, das heißt gegenstandslos. Der Maler beweist auf seiner Bildfläche, daß auch bei Wahrung der Erkennbarkeit und Vorstellbarkeit eines Gegenstandes dieser doch nicht Wirklichkeit wird. Die Kunst verläßt daher ihre gegenständliche Auffassung von der Wirklichkeit und kommt dadurch zum wahren befreiten ‚Nichts‘, zur Gegenstandslosigkeit. In der Gegenstandslosigkeit wirkt das ‚Nichts‘, das nicht weiß, worin, wofür und warum es wirkt, weil alle Fragen in der fiktiven Welt der Vorstellungen bleiben, die zu keinem klaren Urteil führen können.
Die Vernunft, als Funktion des Verstandes, befindet sich in der [193] vorgestellten fiktiven Welt. Sie strengt sich unendlich an und erfindet in einem Falle ein Alphabet, im anderen verschiedene Feilen und Sägen. Mit dem Alphabet glaubt sie, ihre ganzen ‚Erkenntnisse‘ festhalten und damit die Wirklichkeit der vorgestellten Welt beweisen zu können. Mit den Sägen will sie die Welt zersägen. Aber Gegenstandsloses läßt sich weder erklären noch zersägen.
Die Erbauer des Turmes zu Babel wollten auch die Feste des Himmels erreichen, um von der Vorstellung zur Wirklichkeit, zur letzten Wahrheit vorzustoßen. Doch die Feste des Himmels gibt es ebensowenig wie eine Zukunft in den Räumen der Zeit. Es gibt auch keinen gegenständlichen Gott, von dem uns irgendeine Entfernung trennen könnte. Unser ganzer Erdball ist durchfahren und durchforscht, und nirgendwo ist eine Spur von Zukunft, Gott oder einem wahren Heil gefunden worden. Auch im Weltenraum wird nichts derartiges zu finden sein. Trotzdem wird unverdrossen praktisch, zielbewußt, wissenschaftlich weiter gesucht. Gott und Zukunft bleiben aber nach wie vor im Unbekannten. Die ‚Logik‘ der Überlegungen sucht immer wieder Verbindungswege zu diesem Unbekannten, um es endlich zu erkennen.
Die neue gegenständliche Lehre soll die Menschheit zu einem anderen gesunden Verstand bringen, indem sie behauptet, daß man nicht in ferner Zukunft zu suchen brauche, daß alles im ‚Heute‘ liege und sich anschaulich verändere und zwar durch klar erkennbare Ursachen. Diese Lehre wäre vielleicht die Wahrheit, wenn das gegenständliche Bewußtsein sich nicht immer wieder und immer weiter in Vorstellungen und Vermutungen verstricken würde, wenn die ‚anschauliche‘ Veränderung des Daseins nicht das Bewußtsein lenken würde. Das Dasein ist das ‚Heute‘, das ‚Sofort‘ und ist Vollkommenheit. Da es aber das Bewußtsein noch lenkt, so ist die Vollkommenheit noch nicht erreicht, womit mir bewiesen scheint, daß das vollkommene Dasein immer noch in der Zukunft liegt. Nach wie vor steht vor jedem gegenständlichen Dasein die Hoffnung oder das ewige Gespenst, in einem Falle Gott, im anderen die Zukunft.
Somit befindet sich das gegenstandsbefangene Bewußtsein im Schlaf der Vorstellungen und Vermutungen. Im Schlaf auch eilt die [194] Menschheit durch die in der Vorstellung ihres Bewußtseins entstandenen Zeiträume.
Wirtschaft, Verstand, Urteilsfähigkeit, Sinn, Logik, Wissenschaft, alles sucht Gott oder die Zukunft, sucht das vollkommene Dasein, sucht die Wahrheit. Wenn aber das Erwachen kommt, dann wird sich herausstellen, daß wir uns in der gegenstandslosen Wahrheit befinden. Die Welt als Vorstellung, als Vernunft, als Wille, wird vergehen wie Nebel.
Zusammenfassend möchte ich feststellen: Allen Handlungen der menschlichen Weisheit, ihrer gegenständlichen Denkweise, ist das Prinzip der Gegenstandslosigkeit entgegenzustellen, ein Prinzip, das frei ist von allen gegenständlichen Beschränkungen und Grenzen, frei von jedem Versuch, irgendetwas Gegenständliches in der Zukunft oder in Gott zu erstreben, irgendwelche gegenständlichen Hoffnungen in sie zu setzen.
Im weiten Raum kosmischer Feiern errichte ich die weiße Welt der suprematistischen Gegenstandslosigkeit als Manifestation des befreiten Nichts!
Februar 1922
Witebsk Kasimir Malewitsch
[198] (Teil II – Suprematismus / Suprematismus als Gegenstandslosigkeit)
[…] Ich verstehe unter einem Gedanken einen Zustand ununterbrochner Summierung von Vorstellungen, die durch erkennbare oder verborgene Ursachen hervorgerufen werden.
Wenn meine Definition richtig sein sollte, so ist die Gesamtheit [199] der Natur – Gedanke und die Erscheinungen – die Formen der erkannten, im Gedanken vorgestellten Ursachen.
Dann ist in der Natur Verstand und Gedanke als leitendes, lenkendes Prinzip, in dem nichts sein kann, was man als ‚Materie‘ bezeichnen könnte. Daraus aber würde sich ergeben, daß die Natur eine Summierung von Gedanken ist und jede Summierung in ihr ein Gedanke.
13 Die Natur ist allumfassend, das Umfaßte kann sich aber gegenseitig nicht erkennen und strebt daher zu einer Ganzheit, um sich in ihr zu erkennen.
Es bleibt aber immer nur eine Vielfalt von menschlichen Meinungen über die Natur, die aber alle kein gültiges Paßbild ergeben können, nach dem die Identität der Natur festgestellt werden könnte. Das Auge sieht die Kennzeichen der Erscheinungen, der Körper spürt ihre Wirkungen, mehr aber auch nicht.
14 Die Natur ist nach allen Seiten hin offen, und der Mensch befindet sich gleichsam in ihr, im Inneren ihrer Erregungen. Trotzdem kann er ihre Wirklichkeit nicht begreifen und kann trotz aller Anstrengungen nicht mehr tun, als seine Vermutungen über die Nanur [sic] zu äußern. Folglich ist alles das, was der Mensch hervorbringt, was er für die Erkenntnis der Einwirkungen hält, nur Ableitung aus seinen Vermutungen über die Natur.
15 Die Natur liegt überall offen da, ihr Wesen aber bleibt verborgen in der Vielfalt der verschiedenen Meinungen und Vermutungen. Die einheitliche Erregung wird immer dann vielgestaltig, wenn Meinungen in Formen, Sprache oder Tönen verkündet werden. Die Erscheinungen gelangen von Erregung zu Erregung, von Ursprung zu Ursprung, vom Gegenstandslosen zum Gegenstandslosen – ein ewiger Kreis von Sinnlosigkeiten, angefüllt mit einer Kette verschiedener Sinngebungen, während am Anfang und Ende dieses Weges die Sinnlosigkeit steht.
16 Die Bewegung der Sinngebungen ist unendlich mannigfaltig. In ihrem Lauf durch die Unendlichkeit hinterlassen diese Sinngebungen Spuren am Himmel des Gedächtnisses wie die Meteore im Weltenraum, deren Realität eine Zeitlang festgehalten wird, wonach sie [200] sich im Nichts auflösen. Das Leben ist nur der Wirbel der Meinungen und Vermutungen, die wie die Erregung von Ursprung zu Ursprung jagen, Kulturkreise erzeugend und sie wieder im Nichts auflösend.
17 Vergleicht man die Bewegung des Gedankens mit der Bewegung des Sonnenlichtes oder der Kometen im All, und versucht man, über den Gedanken in die Naturgewalten der Erscheinungen einzudringen, so entstehen neue Arten von Vorstellungen, schneller als das Aufleuchten und Verlöschen flüchtiger Erscheinungen, schneller als die Zerstäubung und erneute Zusammenballung von Welten. Neue Vorstellungen und Meinungen von der Wirklichkeit entstehen, die aber immer nur Vorstellung und Meinung bleiben. Nichts läßt sich erfühlen, nichts erkennen, weder mit dem Körper noch mit den Augen. Jedoch im Gedanken wirbeln die Welten wie im Weltall – als Begriffe, die vom Gedanken geschaffen wurden.
18 Der menschliche Schädel stellt die Unendlichkeit für die Bewegung der Vorstellungen dar. Er gleicht der Unendlichkeit des Weltalls, kennt wie sie keine Decke, keinen Boden und bietet Raum für einen Projektionsapparat, der leuchtende Punkte als Sterne im Raum erscheinen läßt. Im menschlichen Schädel entsteht und vergeht alles, genau wie im Weltall: Kometen, Epochen, alles wird und vergeht in seinen Vorstellungen.
Wie groß auch das Vorgestellte sein mag, es findet Platz im Schädel genau wie im Weltall, obwohl der Raum des Schädels von einer knöchernen Wand umschlossen ist. Was bedeutet dann aber Raum, Größe, Gewicht, wenn alles zusammen in einem so kleinen Behälter Platz findet. Das ist entschieden noch wunderbarer als das Weltall, das doch von keiner Wand eingeengt wird. Vielleicht läßt sich aber umgekehrt auch das Weltall dem menschlichen Schädel vergleichen, da es – wie der Mensch in seinem Schädel – keine Grenzen für die Bewegungen der Planeten empfindet. Ohne Ende jagen in beiden Meteore, Sonnen, Planeten, Kometen dahin.
Alles das ist aber nur möglich, weil es nur Vorstellung und Vermutung ist, die weder Gewicht noch Bewegung haben. So vollziehen sich alle kosmischen Vorgänge im Schädel, wie im Weltall. Dort wie hier läßt sich nichts zerteilen, nichts zusammenfügen, weil alle Vor[201]stellungen und Meinungen immer mein Ganzes sind, überall und nirgends.
19 Der Gedanke bewegt sich, die Erregung nicht, weil in ihr nichts ist, das sich bewegen könnte. Es bewegt sich nur der Gedanke und erzeugt durch diese Bewegung reale Vorstellungen. Der schöpferische Gedanke dichtet die Wirklichkeit, die dann zum Forschungsobjekt für den Menschen wird. Diese Forschung kann dann nichts anderes sein als neue Dichtung. Somit ‚erforscht‘ der Mensch niemals etwas, sondern müht sich nur ab, seine eigene Dichtung zu begreifen.
20 Vor dem Menschen steht die Welt als unverrückbare Tatsache der Wirklichkeit wie eine unerschütterliche Realität. Jedoch können aus dieser unerschütterlichen Realität nicht zwei Menschen zu einer übereinstimmenden Auffassung von der Wirklichkeit kommen. Wieviele Menschen auch in diese ‚Realität‘ eindringen mögen, jeder wird eine andere Vorstellung von der Wirklichkeit mitbringen. Der eine und der andere wird vielleicht überhaupt nichts mitbringen, weil er nichts Wirkliches und Reales erblicken konnte. Doch ungeachtet dessen, werden alle ihre Meinungen mitbringen und werden diese Meinungen zur ‚Wirklichkeit‘ erklären, womit bewiesen wäre, daß es kein Objekt gibt, das man als ‚Wirklichkeit‘ bezeichnen könnte.
Trotzdem aber bleibt der Mensch nach wie vor besorgt, alles zu begründen, zu durchdenken, auf seinem ‚festen Fundament‘ zu ordnen, und wird nicht gewahr, daß dieses ‚feste Fundament‘ nur rieselnder Sand ist. Das ist die unerschütterliche Logik des Menschen.
21 Der Maler beweist zwar einwandfrei auf seiner Bildfläche, daß seine Welt kein Fundament hat, daß für seine Häuser keine Grundsteine gelegt, keine Ziegelsteine gemauert werden müssen. Trotzdem sagen wir alle, daß die Häuser stehen. Die ganze Welt eines Bildes ist aufgebaut, aber nicht etwa nur als Bild, sondern als wirkliche Realität. Versuchen wir aber, diese Realität zu wägen, diese Häuser, Berge, Flüsse, dann staunen wir, weil das empfundene Gewicht in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Wir brauchten aber nicht zu staunen, denn es ist ja die gleiche Wirklichkeit wie in der [202] Natur. Wenn ein Naturgebilde oder ein Menschenwerk viele Zentner zu wiegen scheint, so doch nur unter bestimmten Voraussetzungen. Die reale Welt des Ingenieurs drückt sich in Gewichten aus. Er unterscheidet zwei Arten von Gewicht oder zwei reale Zustände dessen, was er Material nennt.
Erstens das naturgegebene Gewicht, das der Ingenieur im Material sieht, und zweitens ein Gewicht, das im Zustand einer bestimmten Gewichtsverteilung eine andere Realität annimmt. Wenn das natürliche Gewicht nach einem bestimmten System zu einem neuen Organismus zusammengefügt wird, kann es schwerelos werden, wie ein auf der Bildfläche dargestelltes Gewicht.
Das Bild des Malers wiegt vielleicht fünf Pfund, das aber, was auf dem Bilde dargestellt ist, kann die Vorstellung von Tausenden von Zentnern erwecken. So sind die ‚realen‘ Erscheinungen der ‚Wirklichkeit‘. Ein fertiggebautes Haus macht auf uns einen bestimmten Eindruck, wir haben aber nicht die Möglichkeit, diesen Eindruck genau auszumessen, weder mit dem Zirkel noch mit dem Zollstock. Die Realität des Hauses können wir nur durch eine Empfindung in uns feststellen, was aber nur die Realität des Hauses in uns sein wird. Nur so können wir sein Gewicht, die Dynamik des Materialdruckes wahrnehmen, das natürliche Gewicht aber bleibt unbekannt, weil alle Einzelteile im Weltall durch gegenseitige Beziehungen sich im Zustand der Ausgewogenheit befinden.
Das natürliche Gewicht kann auch darum nicht wahrgenommen und bestimmt werden, weil es nicht jene Grundeinheit gibt, die für sich allein gewogen werden kann. Folglich ist das natürliche Gewicht auch nur relativ, und die Genauigkeit der Wahrnehmung von Gegenständen wird ausschließlich von unserem Wahrnehmungsvermögen bestimmt, ihre Realität kann nur auf der Waage unserer Auffassung gewogen werden.
22 Alles, was wirkt, führt zu einer realen Erregung. Darum kann man nicht sagen, daß das Bild eines Malers nicht real wäre weil Realität nur in der Natur wäre. Unter ‚Realität‘ müssen wir unsere inneren Erregungen verstehen, die durch äußere Erscheinungen hervorgerufen werden. Wäre es nicht so, könnten wir auch [203] nicht wissen, ob die Welt der Dinge (der Gegenstände) existiert. Wenn ich hier von ‚Dingen‘ oder ‚Gegenständen‘ spreche, so bediene ich mich der für die Allgemeinheit geltenden Konventionen, da die Existenz von Dingen und Gegenständen ja anders gar nicht nachzuweisen ist. Es gibt keinen abgegrenzten, begrifflich festlegbaren, von der Umwelt abgesonderten Gegenstand.
23 Ein Gegenstand wäre wie die Erregung grenzenlos und unfaßbar, darum kann es ihn nicht geben.
24 Somit ist die Bildfläche ein Beweis dafür, daß die sichtbaren oder fühlbaren Kräfte oder die Dichte der Natur sich nicht im geringsten auf der Leinwand verändern: Die Härte eines dargestellten Stahles oder ein dargestellter Nebel, bleiben in ihren Auswirkungen identisch. Wir leben also nur in der Wirklichkeit von Wirkungen, oder richtiger: in der Wirklichkeit der durch Wirkung erzeugten Erregungen, deren Sinn sich nicht analysieren läßt.
25 Das Weltall, der Kosmos der Erregungen, ist in seiner Vielfalt ein Ganzheits-Komplex. Der Kosmos, als Zentrum des Alls, ist das Herz der Erregungen. Unter ‚Kosmos‘ verstehe ich dabei einen Zustand gegenseitiger Erregung (oder auch Einzelerregung), der die Erscheinungen hervorruft, die wir wahrzunehmen versuchen.
[…] [214] […] 35 Die Künstler kennen noch nicht die Macht der Kunst und nicht ihren Sinn, ganz im Gegensatz zu den wissenschaftlichen, vernünftigen Technikern und dem rein materiellen Leben, die den Hunger bekämpfen und materielle Bedürfnisse befriedigen und glauben, daß alles durch sie ins Leben gerufen wird und daß sie selbst aus diesem Leben, aus der Welt konkreter Nützlichkeitserwägungen hervorgegangen sind. Sie merken nicht, daß sie auf ihrer Bühne inmitten von Theaterkulissen leben. Die ganze Welt ihrer Vorstellung [215] ist nur Kulisse, denn die Wirklichkeit steht außerhalb ihrer Vorstellung.
Das Wahre, das Wirkliche ist nur in der Erregung. Der Zuschauer sieht im Theater die Kulissen, die die Wirklichkeit darstellen sollen. Er weiß auch, daß die Personen nicht die wahren Personen sind, die sie darstellen. Trotzdem wird der Zuschauer von diesen unwirklichen, theatralischen Beziehungen der Darsteller ergriffen. Ihn ergreift dabei nicht die Wirklichkeit, sondern der Grad der Erregung, der durch die Spannung hervorgerufen wird. Somit gibt es auf der Bühne keine Wirklichkeit. Sie erscheint nur dann, wenn der Spannungszustand des Schauspielers die Kulisse verwandelt. Auch das, was wir das Sein nennen, ist nicht die Wirklichkeit, sondern Kulisse unserer Vorstellung.
Das gleiche gilt auch für den Maler (für den bildenden Künstler): auch er gibt auf seiner Leinwand keine Wirklichkeit, sondern nur Merkmale der Spannung, die Einwirkung des gleichen ‚Nichts‘ der Erscheinungen. Jeder Künstler strebt zur Wirklichkeit und versucht sie durch einen Betrug zu zeigen. Es gelingt ihm aber nicht, weil die ganze sogenannte Wirklichkeit auch nur Theaterkulisse ist, ein Trugbild, entstanden aus seinen Ansichten.
Der Künstler muß sich von dem Amt des Kulissenschiebers befreien, muß sich lossagen von den Bemühungen, sein Nervensystem der Wiedergabe von Erscheinungen anzupassen, die für Wirklichkeit gehalten werden. Er begeistert sich, bringt sich in Stimmung, paßt sich der ganzen Natur der Erscheinungen an, das heißt, er ist bemüht, Theaterkulissen in wirkliche Lebenstatsachen zu verwandeln. Im Theater und in der Kunst der Gegenwart sehe ich ein vielleicht noch nicht voll erkanntes Bemühen, wahr zu sein, das heißt Erregung, Spannung, ‚Sein‘ zu sein. Alles Gegenständliche in der Kunst wird als Kulisse entlarvt. Der Gegenstand ist in Wirklichkeit nur die Folge einer Erregung oder richtiger, der Gegenstand war nie ein Gegenstand, sondern nur eine Erregung, erzeugt von Kräften, die unserer Vorstellung unbekannt bleiben.
36 Es ist Sache des Künstlers, die Kunst zu ihrer Suprematie zu führen und nicht zur ‚Kunst‘ der Wiedergabe von Erscheinungen. [216] Die Kunst insgesamt muß aus der ‚Kunst‘ in die Kunst des Suprematismus übergeleitet werden, wie es die Malerei bereits getan hat, die zu ihrem Wesenskern, zu ihrer Suprematie vorgestoßen ist. Erst in ihr beginnt das wahre Sein des Künstlers.
37 Aufgabe der Kunst war es, Erregungs- oder Spannungszustände in die Wirklichkeit zu verkörpern, in eine ‚Wirklichkeit‘ die doch immer nur Kulisse bleibt. Die wahre Wirklichkeit bleibt unsichtbar, denn es kann die gegenständliche Kunst nicht in sie eindringen.
Wie sehr die Natur den Menschen auch in ihrer lebendigen Wirklichkeit ergreifen mag, viel mehr noch wird der Mensch ergriffen, wenn ihm die gleiche Natur von einem Künstler als Kulisse dargestellt wird, in einem Zustand also, in dem sie nicht mehr Wirklichkeit ist.
Das Können, etwas Vorhandenes nachzubilden, war bisher der Genius der Kunst. Die Neue Kunst hingegen hat diesem Genius entsagt und versucht, die Erregung sichtbar zu machen. Ihr Genius ist nicht mehr die Kunst des Nachahmens, sondern der Verkörperung der Erregung als Erweckung zum Sein, zur Wirklichkeit. Als Wirklichkeit tritt die Kunst in ihre Suprematie.
Für den neuen Künstler gibt es keine Kunst, die sich auf das Können beschränkt, auf einen Kampf, eine Überwindung von ‚Notwendigkeiten‘. Für ihn existiert keine Natur als Einzelerscheinung, wie es für ihn nichts gibt, was abgesondert für sich betrachtet werden kann, und es verharrt in ihm auch nichts in Ruhe, sobald die Flamme der Erregung in ihm lodert.
Er sieht die Natur als einen Kosmos der Erregung, und das Verschwinden der sogenannten ‚Natur‘ ist für ihn nichts weiter als das Verschwinden von allen möglichen Hindernissen, Notwendigkeiten und Siegen über die Natur. Er überwindet nichts mehr, er dringt nirgends ein, er wirkt.
Sieg über die Natur, ihre Überwindung, das sind Aufgaben der Technik und der alten Kunst.
Für den neuen Künstler erwächst daraus die Aufgabe, alles das, was bisher mit Natur bezeichnet wurde, in Gegenstandslosigkeit zu [217] verwandeln, wie sie ehedem zum Gegenstand verwandelt wurde. Wenn er diese Aufgabe erfüllt, dann wird die Kunst aufhören, nur Theaterkulisse zu sein, dann wird sie Wirklichkeit. Die Künstler werden dann durch ihr Wirken neue Erscheinungen mit einer neuen Ordnung ihrer Wechselbeziehungen schaffen.
Die Bewegung des Suprematismus geht bereits in dieser Richtung, sie ist auf dem Wege zur weißen gegenstandslosen Natur, zu weißen Erregungen, zum weißen Bewußtsein und zu weißer Reinheit als der höchsten Stufe jeden Zustandes, der Ruhe wie der Bewegung.
Meiner Ansicht nach, die sich sowohl auf suprematistische Erfahrungen als auch auf Forschungsergebnisse über die Bewegung von Farbe, Materie und Kraft stützen kann, ist die weiße Natur schon vorauszusehen. Diese weiße Natur wird eine Ausweitung der Grenzen unserer Erregung sein. Schwarz und Weiß sind nur bestimmte Punkte auf dem Ring der Bewegung, wobei Weiß das Wachstum oder das Lebensalter der Natur kennzeichnet, nicht aber irgendeinen Sieg des Menschen über die Natur, wie man es bisher bei jeder Handlung des Menschen anzunehmen pflegte: „Wir haben die Natur besiegt!“ Worin besteht denn dieser Sieg? Wo ist er? Man glaubt, es wäre schon alles besiegt und besetzt; trotzdem wächst und gedeiht alles ruhig weiter und verändert sich dank dieses Wachstums. Die Natur besiegen, würde heißen, sein eigenes Wachstum besiegen. Die Natur besiegen, würde heißen, sich selbst besiegen. […]
Kasimir S. Malewitsch: Suprematismus. Die gegenstandslose Welt, 1927