Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Was stellt das dar?, 1913

Fernand Léger

Quelle

Fernand Léger: "Was stellt das dar?", in: Fernand Léger 1980. Ausstellungskatalog Fernand Léger 1881-1955. Staatliche Kunsthalle Berlin vom 24. Oktober 1980 bis 7. Januar 1981. Berlin: MD 1980, S. 50-51, 53-55, 58, 62-63. ASIN B005KPKT6U.

Erstausgabe

"Les origines de la peinture et sa valeur représentative" [Vortrag vom 5. Mai 1913, Paris], in: Montjoie! Nr. 8 (29. 5. 1913), S. 7; Nr. 9-10 (29. 6. 1913), S. 9 ff.

Genre

Vortrag

Medium

Kunst

[50] Es liegt mir fern, Ziel und Mittel einer Kunst erklären zu wollen, die sich bereits weitgehend durchgesetzt hat. Ich möchte hier nur versuchen, eine jener Fragen zu beantworten, die vor den meisten modernen Bildern bis zum Überdruß gestellt werden. Diese Frage läßt sich im banalen Satz „Was stellt das dar!“ resümieren, auf den ich mich hier beschränke, um kurz zu zeigen, wie sinnlos er ist.

Käme der Nachbildung eines Gegenstandes im Bereich der Malerei irgendein Eigenwert zu, besäße das Bild des erstbesten Malers, das etwas wiedergibt, über diese „photographische“ Qualität hinaus auch noch Kunstwert. Es dürfte wohl überflüssig sein, die Unhaltbarkeit einer solchen Behauptung ausführlich darzulegen. Ich beschränke mich daher auf die schon mehrfach gemachte, aber nie genug wiederholte Feststellung, daß der Realismus oder realistische Wert eines Werkes nicht im geringsten von der Qualität, die das Bild als Nachahmung oder Wiedergabe eines Objektes besitzt, abhängig gemacht werden kann.

Diese Binsenwahrheit muß wie ein Dogma akzeptiert und als Axiom für das allgemeine Verständnis der Malerei anerkannt werden. Dabei gebrauche ich absichtlich das Wort „realistisch“, und zwar in seinem ursprünglichsten Sinn, denn die Qualität eines Gemäldes steht in direktem Verhältnis zu seinem Gehalt an wirklichem Realismus.

Aber was besagt in der Malerei „Realismus“?

Definitionen sind immer gefährlich, denn wo ein ganzes Konzept in wenige Worte gepreßt wird, geschieht dies leicht auf Kosten der Klarheit, oder man erliegt der Gefahr der Simplifizierung. – Hätte ich dennoch eine Definition zu wagen, würde ich sagen, so wie ich ihn verstehe sei Realismus in der Malerei die simultane Zusammenordnung der drei bildgestaltenden Grundelemente Linie, Form und Farbe. Kein Werk, in welchem eine dieser drei Komponenten zugunsten der beiden anderen aufgegeben wird, kann Anspruch auf wirkliche Klassik, das heißt auf Bestand über die Epoche seiner Entstehung hinaus, erheben. Es entgeht mir natürlich nicht, wie dogmatisch sich eine derartige Definition ausnimmt, aber um die Gemälde, die nach solcher Klassik tendieren, von den anderen zu unterscheiden, scheint sie mir dennoch unentbehrlich zu sein.

Alle Kunstepochen haben oberflächlich hingepinselte Werke gesehen, deren Erfolg [51] ebenso schlagartig wie kurzlebig war. Bald opferte man jede Tiefe einer farbig schmeichelnden Flachmalerei, bald beschränkte man sich auf eine lediglich angelernte Formgebung und Malschrift und hatte die Unverfrorenheit, das Endprodukt als „Charaktermalerei“ anzupreisen.

Derartige Werke, die trotz des in sie gesteckten Talentes nur Ausdruck ihrer Epoche sind, hat es, ich möchte das wiederholen, schon immer gegeben. Sie erregen Aufsehen, erstaunen oder schockieren vielleicht die Zeitgenossen, aber da ihnen die für den wahren Realismus unabdingbaren Elemente fehlen, haben sie letztlich keinen Bestand. Die drei oben erwähnten Grundkomponenten wurden in den Werken der meisten Maler, die den Impressionisten vorausgegangen waren, eng mit der Nachahmung eines Sujets verbunden, dem ein absoluter Eigenwert zukam. Außer den Porträts hatten alle Kompositionen, auch die dekorativen, große Begebenheiten, religiöse Dogmen, mythologische Szenen oder Ereignisse aus der zeitgenössischen Geschichte zu schildern.

Die Impressionisten haben als erste dem Sujet einen absoluten Wert aberkannt und nur noch einen relativen gelten lassen. Ihre Tat und Erkenntnis verknüpft und erklärt die ganze Entwicklung der modernen Malerei. Die Impressionisten sind die großen Erneuerer, aber insofern als sie, um sich von der bloßen Nachahmung freizumachen, in der Malerei nur noch die Farbe sahen und daher in ihren Werken Form und Linie zu kurz kommen ließen, auch die Primitiven unserer Kunst.

Ihre aus dieser Konzeption heraus entstandenen bewunderungswürdigen Bilder bedingten ein neues Farbverständnis. Ihre Bemühung um eine wirklichkeitsgesättigte Atmosphäre bezog sich bereits auf das Sujet: Bäume und Häuser verschmolzen zu einer geschlossenen Einheit und wurden von einem Farbdynamismus zusammengefaßt, der sich mit den impressionistischen Mitteln freilich noch nicht recht entfalten ließ.

Die Wiedergabe eines Sujets, wie es noch allenthalben in ihren Werken vorkommt, ist also nur noch ein Anlaß zu bereichernder Vielfalt, ein Thema, sonst nichts. Stellen sie einen grünen Apfel auf einem roten Tischtuch dar, interessiert die Impressionisten nicht mehr die Beziehung zwischen den beiden Objekten, sondern das Verhältnis der Farbtöne Rot und Grün.

Mit der Umsetzung dieser Erkenntnis in lebendige Werke wurde der Durchbruch zur modernen Kunst unvermeidlich. Wenn ich mit Nachdruck auf die Wichtigkeit des französischen Impressionismus verweise, so deshalb, weil damals, wie mir scheint, die zwei großen Kunstauffassungen des visuellen und des konzeptionellen Realismus aufeinandergestoßen sind: Die Zeit des visuellen Realismus, der die ganze Malerei bis zu [53] den Impressionisten umfaßt, ging zu Ende, und der neue, konzeptionelle Realismus fand seine ersten Meister.

Der visuelle Realismus blieb, wie gesagt, den Gegenständen (Objekten), Motiven (Sujets) und perspektivischen Mitteln verhaftet, die man heute als unbrauchbar und antirealistisch erkannt hat.

Der konzeptionelle Realismus, der diesen Ballast daher über Bord werfen mußte, ist bereits in einer Reihe moderner Werke verwirklicht worden.

Einer der Impressionisten, Cézanne (1839-1906), erkannte klar, was der alten Malerei abging. Er spürte die Notwendigkeit einer neuen Zeichnung (Linie) und Form, die mit der modernen Farbauffassung in Einklang zu bringen war. Alle drei Grundelemente zusammenzubringen, war das Ziel seines lebenslangen Suchens und Forschens.

Ich entnehme Emile Bernards (1868-1941) reich dokumentierter Studie „Souvenirs sur Paul Cézanne et lettres inédites“ (Paris 1912; erstmals veröffentlicht im „Mercure de France“ vom 1. und 15. Oktober 1907) ein paar Gedanken über den Meister von Aix und diese und jene Überlegung, die aus Cézannes eigenem Ideengut stammt. „Seine Sehweise“, schreibt Bernard, „hatte ihren Sitz eher im Hirn als im Auge.“ Er interpretierte zu sehr, was er sah. Was er schuf, entsprang im Grunde genommen ganz seinem Genie. Wäre seine schöpferische Vorstellungskraft etwas stärker gewesen, hätte er es sich ersparen können, dem Motiv aufzulauern – „aller au motif“, wie er zu sagen pflegte – oder vor seiner Staffelei Stilleben aufzubauen. In Cézannes Briefen finden sich Stellen wie: „Die Objekte müssen sich drehen, sich entfernen und leben. Ich wollte aus dem Impressionismus etwas so Bleibendes machen wie die Kunst der Museen.“ Und etwas später lese ich einen Satz, der das, was ich eben dargelegt habe, noch unterstreicht: „Nach der Natur malen heißt für einen Impressionisten nicht, den Gegenstand malen, sondern Empfindungen realisieren.“ Beim Betrachten von Zeichnungen von Signorelli († 1523) weinte er vor Verzweiflung: „Ich habe es nicht zustande gebracht. Ich bleibe der Primitive des von mir gefundenen Weges.“

Von Zweifeln gequält und niedergeschlagen, glaubte Cézanne bisweilen an die Notwendigkeit überkommener Formen. Er ging [54] in die Museen, studierte die Ausdrucksmittel der Alten und kopierte in der Hoffnung, bei ihnen zu finden, was sein künstlerisches Gespür in ihm selber nicht fand. Sein Werk, so schön und bewundernswert es auch ist, trägt häufig das Stigma dieses unbefriedigten Suchens. Denn er sah natürlich die Gefahr seiner Bildung und erkannte, daß jeder Schritt zurück ein Risiko bringt und auch die festverankerten Werte eines alten Meisterwerkes immer subjektiv-persönlich bleiben. Schrieb er doch selbst in einem Brief, den ich hier wörtlich zitiere: „Hat man die alten Meister gesehen, gilt es, möglichst schnell wegzukommen, um ungestört die Gefühle und Empfindungen seines Inneren überprüfen zu können.“

Diese Bemerkung des großen Malers verdient genau erwogen zu werden.

Der Maler, der sich mit traditionellen Werken auseinanderzusetzen versucht, sei auf die Wahrung seiner eigenen Persönlichkeit bedacht. Wir sollen die Bilder der Alten betrachten und sie studieren – aber immer mit größter Distanz.

Als Maler müssen wir über ihnen stehen und sie kritisch analysieren. Wir dürfen von ihnen nicht überwältigt werden. Sich von einem Werk so stark beeindrucken zu lassen, daß man in ihm aufgeht, ist das Vorrecht des Kunstfreundes, nicht aber des Künstlers.

Der Künstler hat immer in einem gewissen Einverständnis mit seiner Epoche zu stehen und muß daher sein natürliches Bedürfnis nach den verschiedensten Eindrücken auf sie hin ausbalancieren.

In der Geschichte der modernen Kunst kommt Cézanne der Platz zu, den Manet (1832-1883) ein paar Jahre zuvor eingenommen hatte. Beide waren Maler des Überganges.

Das von seiner Sensibilität geleitete Suchen und Forschen veranlaßte Manet, nach und nach die Ausdrucksmittel seiner Vorgänger aufzugeben, und machte ihn unbestreitbar zum großen Schöpfer des Impressionismus.

Je länger wir uns mit dem Werk dieser beiden Maler beschäftigen, desto tiefer erstaunt uns die Analogie ihrer geschichtlichen Stellung. Manet ließ sich von den charakteristischen Meisterwerken großer Spanier wie Goya (1746-1828) und Velasquez [sic] (1599-1660) inspirieren, um über sie zu seinem Stil zu gelangen.

Cézanne fand eine Farbe und bemühte sich im Gegensatz zu Manet um die Zeichnung und um die Form, die sein Vorgänger aufgelöst hatte und ohne die er, wie er es deutlich spürte, den Wirklichkeitsreichtum nicht bewältigen konnte.

Welches auch immer ihre Tendenzen gewesen sein mögen, alle großen Stilepochen der Malerei manifestierten sich im Verhältnis zum unmittelbar Vorangegangenen als Revolution und Reaktion und nicht als Evolution.

[55] Manet zerstörte, um selber schöpferisch tätig zu sein. Und wenn wir die Geschichte der bildenden Künste noch weiter zurückverfolgen, sehen wir, wie auf die bis zum Exzeß sinnenfreudigen, allzu manierierten Meister des achtzehnten Jahrhunderts Maler wie David (1748-1825) und Ingres (1780-1867) mit ihren Schulen folgen, deren forcierte Betonung entgegengesetzter Stiltendenzen als Reaktion verstanden sein will.

Selber auf die Spitze getrieben, rief ihr formelhafter Klassizismus Delacroix (1798-1863) auf den Plan, der mit romantischem Ungestüm das Konzept seiner Vorgänger über den Haufen warf und zu sinnlich satten Farben und dynamisch bewegten Linien und Formen zurückkehrte.

Diese Beispiele zeigen wohl deutlich, daß die heutige Konzeption keine Reaktion gegen die Ideen der Impressionisten, sondern im Gegenteil ihre Wiederaufnahme und Weiterentwicklung und eine Art Ausweitung ihrer Absichten mit von ihnen damals außer acht gelassenen Mitteln ist.

Dem Divisionismus der Farbe, der bei den Impressionisten zwar nur zaghaft, aber doch deutlich wahrnehmbar anklingt, folgt nicht ein statischer Kontrast, sondern ein Suchen in Richtung eines Divisionismus der Form und der Zeichnung.

Das Werk der Impressionisten ist also nicht der Abschluß einer Bewegung, sondern vielmehr der Anfang einer andern, die von den heutigen Malern fortgesetzt wird.

Die angemessenen Beziehungen zwischen Volumen, Linien und Farben bilden die Basis allen künstlerischen Schaffens der letzten Jahre und bestimmen die Malerkreise des Auslandes ebensosehr wie jene in Frankreich.

Von nun an konzentrieren sich alle Bemühungen auf die Intensivierung eines mit rein dynamischen Mitteln erreichbaren Realismus, werden die von jeder Nebenbedeutung befreiten bildnerischen Farb-, Form- und Linien-Kontraste zum Grundgerüst des modernen Gemäldes.

Wie schon in der Geschichte der vorimpressionistischen Malerei werden die Künstler aus dem Norden ihre dynamischen Mittel vor allem in der Entfaltung der Farbe finden, jene des Südens hingegen eher in der Betonung der Zeichnung und Form.

Obwohl in Frankreich konzipiert, ist die so verstandene Malerei universal und ermöglicht, wie zum Beispiel die italienischen Futuristen beweisen, jedem Talent und Temperament, sich in ihr zu entfalten.

Daß das Gemälde größer und die Produktion daher zahlenmäßig geringer wird, ist eine logische Folge der neuen Konzeption, denn um alle ihre Möglichkeiten ins Spiel zu bringen, muß diese Malerei notwendigerweise auf eine Erweiterung des Arsenals ihrer Mittel bedacht sein.

Viele Leute warten mit Ungeduld, bis das, was sie in der Entwicklungsgeschichte der [58] Kunst als Intermezzo betrachten, vorbei sei. Sie warten auf „etwas anderes“ und glauben, die moderne Malerei befinde sich in einem zwar eventuell notwendigen Durchgangsstadium, kehre aber schon bald zu dem zurück, was man „Malerei für jedermann“ nennen könnte.

Das ist natürlich ein schwerwiegender Irrtum. Wenn eine Kunst wie die heutige über all ihre Mittel verfügt, die ihr restlos vollendete Werke zu schaffen erlauben, muß und wird sie das Feld für lange Zeit behaupten. Ich bin überzeugt, daß wir einer Kunstauffassung entgegengehen, die sich, was ihren Einfluß betrifft, mit den größten Stilepochen der Vergangenheit messen kann, werden doch überall die gleichen Tendenzen zu großen Dimensionen und dieselben von einer neuen Gesellschaft getragenen Bemühungen spürbar. Gerade diese letzte Feststellung ist von solcher Bedeutung, daß man meines Erachtens näher auf sie eingehen sollte.

Die meisten literarischen und künstlerischen Bewegungen unseres Landes haben sich in der Regel auf gleiche Weise manifestiert, was mir ein Beweis ihrer großen Vitalität und Strahlkraft zu sein scheint. Solange sich ein künstlerisches Konzept erst in einer vereinzelten Schöpfung realisiert hat, darf es durchaus bezweifelt werden. Doch der Beweis für seine Lebenskraft ist geliefert, sobald es mit den verschiedensten, je persönlichen Ausdrucksmitteln von vielen Künstlern zugleich verwirklicht wird.

Von sämtlichen Kunstauffassungen ist die gefühlsbetonte zweifellos jene, für die sich die großen Massen am meisten erwärmen. Die alten Meister hatten nicht nur auf die bildnerischen Qualitäten zu achten, sondern mußten auch dieses allgemeine Bedürfnis nach Erbauung stillen und darauf bedacht sein, vielseitige, auf ihre ganze Gesellschaft bezogene Werke zu schaffen. Zu ihren Aufgaben gehörte es zudem die Architektur, soweit sie Ausdruck des Volksempfindens war, zu unterstützen. Um das Volk zu belehren, zu erziehen und zu unterhalten, bedurfte sie einer literarischen Komponente. Nur so konnte sie mit dekorativen Fresken und Bildern, die die Großtaten der Menschheit zur Darstellung brachten, Kirchen, öffentliche Gebäude und private Paläste ausstatten. Schildern war für sie ein Gebot der Zeit.

Damit die Maler in einer Epoche, die weder geistiger noch ungeistiger als frühere Jahrhunderte, sondern nur anders, war, wie jedermann leben, ihre neue Sehweise durchsetzen und alles, was mit Hilfe der Perspektive und einer gefühlsbetonten Kunstauffassung aufgebaut worden war, wieder wegräumen konnten, war noch einiges mehr als persönlicher Mut und individuelle Konzepte vonnöten. Wäre ihnen ihre Zeit nicht selbst zu Hilfe gekommen und wäre, was mehr ist, ihre Kunst nicht eng mit der Gegenwart und, im Sinne einer Evolu[62]tion, auch mit längst vergangenen Epochen verbunden gewesen, hätten diese Maler ihre neue Konzeption nie verwirklichen können.

Das kurzatmige, zersplitterte Leben der Gegenwart bedurfte als Ausdrucksmittel eines dynamischen Divisionismus. Die Kunst als Gefühlswert aber, das künstlerische Sujet als Ausdruck des Volksempfindens, befindet sich in einer Krise, die es genau ins Auge zu fassen gilt.

Diese Zeit des Umbruchs läßt sich in etwa mit dem fünfzehnten Jahrhundert vergleichen, der Epoche der höchsten Blüte und des Zerfalls der gotischen Kunst, während der die Architektur das überragende Ausdrucksmittel des Volksempfindens gewesen war und sich das Steinskelett der Kathedralen mit allem, was die schöpferische Phantasie Frankreichs an üppigem Schmuck hervorbringen konnte, über und über behängt hatte, bis die revolutionäre Erfindung des Buchdrucks diese alten Mittel von Grund auf umzugestalten begann. Eine viel zitierte Stelle aus dem Kapitel „Ceci tuera cela“ („Das eine tötet das andere“) in Victor Hugos Roman „Notre-Dame de Paris“ (1831) mag, was ich sagen möchte, illustrieren:

„Im fünfzehnten Jahrhundert erfand das Genie des Menschen ein Mittel, sich zu verewigen, das nicht nur viel dauerhafter und beständiger als alles Gebaute, sondern auch einfacher und leichter anzuwenden ist. Auf die in Stein gemeisselten Zeichen der alten Bildhauer folgten Gutenbergs in Blei gegossene Lettern. – Das Buch hat den Bau gestürzt.“

Ohne die Absicht zu haben, die gegenwärtige Entwicklung auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Entdeckungen mit der Revolution zu vergleichen, die am Ende des Mittelalters durch Gutenbergs Erfindung im Bereich der menschlichen Ausdrucks- und Überlieferungsmöglichkeiten ausgelöst worden war, möchte ich doch darauf aufmerksam machen, daß moderne Errungenschaften wie die Farbphotographie, der Film, die Rotationspresse mit ihrem Überangebot an mehr oder weniger volkstümlichen Romanen und das einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gewordene technisierte Theater in der Malerei jede weitere Bemühung um das gefühlsbetonte, abbildende volkstümliche Sujet vollständig überflüssig machen.

Was wollen, muß man sich fragen, all diese mehr oder weniger historischen oder dramatischen Bilder des Salon Français neben der Leinwand eines Lichtspieltheaters? Wie könnte die bildende Kunst je einen dermaßen intensiven visuellen Realismus erreichen!

Vor ein paar Jahren hätte sich vielleicht noch einwenden lassen, diesen neuen technischen Verfahren fehle die Farbe. Aber inzwischen hat man die Farbphotographie erfunden. Damit gehen Bilder mit realisti[63]schen Themen auch ihres letzten Vorzugs verlustig und verlieren das Interesse des Volkes – ihre einzige Daseinsberechtigung. Die paar Arbeiter, die man früher in den Museen vor einer Reiterattacke Edouard Detailles (1848-1912) oder einem historischen Erinnerungsbild Jean-Paul Laurens (1838-1937) antreffen konnte, sitzen heute im Kino, und auch die kleinen Geschäftsleute der Mittelklasse verzichten auf die Dienste der malenden Quartier- und Provinzgrößen, denen sie früher mit ihren Porträtaufträgen zu leben ermöglicht hatten, denn der Photograph besorgt das alles schneller, billiger und erst noch genauer. So ist die Zunft der Porträtisten zum Aussterben verurteilt, und die Historien- und Genremalerei darf nicht einmal sanft entschlafen; sie wird von der neuen Zeit mit Gewalt umgebracht. – „Das eine tötet das andere!“

Nachdem sich die Ausdrucksmittel vervielfacht haben, muß sich die bildende Kunst folgerichtig auf ihr eigentliches Ziel, den konzeptionellen Realismus, beschränken, der erstmals bei Manet in Erscheinung tritt, sich in den Werken der Impressionisten und des Meisters von Aix entwickelt und von den heutigen Malern überall zum Sieg geführt wird.

Selbst die Architektur, die während Jahrhunderten falsch verstandenen Traditionen gehuldigt hatte, entledigt sich ihres „naturalistischen“ Putzes und bemüht sich erfolgreich um ein zweckmäßiges modernes Konzept.

Sie beschränkt sich als Kunst auf ihre eigenen Ausdrucksmittel und konzentriert sich auf die Proportionen ihrer Linien und das Gleichgewicht der großen Volumen. Auch die dekorativen Partien werden als plastische Bauglieder architektonisch gestaltet.

Jede der bildenden Künste zieht sich auf sich selbst zurück und respektiert ihre Grenzen

Sich zu spezialisieren ist ein Gebot der Zeit, das für die Malerei nicht weniger Gültigkeit besitzt als für jede andere Äußerung des schöpferisch tätigen Menschen – eine logische Forderung, wird doch durch diese Selbstbeschränkung auf allen eigenständigen Schaffensgebieten eine größere Intensität ermöglicht.

Die Malerei gewinnt damit an Realismus. Ihr modernes Konzept besteht also nicht in einer lediglich vorübergehend gültigen, nur ein paar Eingeweihten zugänglichen Abstraktion, sondern ist der umfassende Ausdruck einer neuen Generation, deren Müssen und Wollen es vollständig entspricht.

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