Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Das Fiktive und das Imaginäre, 1991

Wolfgang Iser

Quelle

Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 24-27, 29-30, 35-41, 43-44, 48-49, 401-407, 481-504. ISBN: 3-518-28701-X.

Erstausgabe

Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie [1990]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. ISBN: 3-518-58077-9.

Genre

Buch

Medium

Literatur

[24] […] Ein literarischer Text ist als Produkt eines Autors eine bestimmte Form der Weltzuwendung. Da diese in der gegebenen Welt, auf die sich der Autor bezieht, nicht vorhanden ist, muß sie in die vorhandene Welt hineingetrieben werden, um zur Geltung zu kommen. Hineintreiben heißt, die vorgefundenen Organisationsstrukturen nicht abzubilden, sondern zu dekomponieren. Daraus ergibt sich die für jeden fiktionalen Text notwendige Selektion aus den vorhandenen Umweltsystemen, seien diese soziokultureller Natur oder solche der Literatur selbst. Die Selektion ist insofern Grenzüberschreitung, als die Realitätselemente, die nun in den Text eingehen, nicht mehr an die semantische oder systematische Strukturiertheit der Systeme gebunden sind, denen sie entnommen wurden. Das gilt für die Umweltsysteme genauso wie für Texte, auf die sich der jeweils neue Text bezieht. Dadurch geschieht mehreres zugleich. Zunächst rücken die Bezugsfelder als solche in den Blick, da erst der selektive Eingriff in sie und die sich darin anzeigende Umstrukturierung ihrer Organisationsform diese als Bezugsfelder gewärtigen läßt. Solange sie als Systeme die Organisationsform der jewei[25]ligen sozio-kulturellen Welt bilden, fallen sie so weitgehend mit ihren regulativen Funktionen zusammen, daß sie als solche kaum wahrgenommen werden; sie werden für die Realität selbst gehalten. Die Selektion reißt sie aus dieser Identifikation heraus und macht sie zum Gegenstand der Wahrnehmung. Die Qualität des Wahrgenommenwerdens ist jedoch kein integraler Bestandteil des jeweiligen Systems, weshalb erst der erfolgte Eingriff diese Möglichkeit erzeugt. Daher macht der Selektionsakt die Bezugsfelder des Textes als die in seiner Umwelt gegebenen Systeme kenntlich, die in dem Augenblick ihre Konturierung erfahren, in dem sie überschritten werden. Organisationsform und Geltung der Systeme geraten dabei außer Kurs, weil nun bestimmte Elemente aus ihnen herausgebrochen und anderer Kontextualisierung unterworfen werden; das gilt für Werte und Normen genauso wie für Zitate und Anspielungen. Die in den Text übernommenen Elemente seiner Umwelt sind in sich nicht fiktiv, nur die Selektion ist ein Akt des Fingierens, durch den Systeme als Bezugsfelder gerade dadurch voneinander abgrenzbar werden, daß ihre Begrenzung überschritten wird.

Die so erzeugte Wahrnehmbarkeit der Bezugsfelder gewinnt ihre perspektivische Einstellung durch deren Spaltung in solche Elemente, die im Text aktualisiert werden, und in solche, die inaktiv bleiben. Lassen die gewählten Elemente ein Bezugsfeld allererst aufscheinen, so zeigt die getroffene Auswahl das mit an, was davon ausgeschlossen ist. Präsentieren sich die in den Text eingekapselten Elemente der Bezugsfelder vor dem Hintergrund dessen, was durch sie ausgegrenzt ist, so sind die im Text anwesenden Elemente durch abwesende gedoppelt. Dadurch rückt das gewählte Element in eine perspektivische Einstellung, die eine Einschätzung des im Text Gegenwärtigen durch Abwesendes ermöglicht. So zieht zwar der Selektionsakt nochmals eine Grenze im jeweils gewählten Bezugsfeld des Textes, doch nur, um diese wiederum zu überschreiten, damit [26] Gegenwärtiges aus Abwesendem visiert werden und Abwesendes sich in Gegenwärtiges einzeichnen kann.

Ein solcher Sachverhalt hat Ereignischarakter, der folglich nicht referentialisierbar ist und sich darin manifestiert, daß es für die Selektion keine Regel gibt, weil sich in ihr immer nur eine Wahl bekundet, die der Autor durch seine Weltzuwendung im Blick auf die Umweltsysteme getroffen hat. Gäbe es für die Selektion eine Regel, dann wäre dieser Akt nicht Grenzüberschreitung, sondern nur zulässige Möglichkeit im Rahmen einer herrschenden Konvention. Ist der Selektionsakt ein solcher des Fingierens, der als Grenzüberschreitung Ereignischarakter besitzt, so gründet seine Funktion in dem, was durch ihn hervorgebracht wird. Konstituiert der Selektionsakt die Bezugsfelder des Textes als konturierte und voneinander abhebbare Umweltsysteme, deren Begrenzung überschritten wird, so geschieht in diesem Vorgang ein Tilgen vorhandener Zuordnungen und ein Ergänzen um neue Zuordnungen des jeweils gewählten Elements. Dadurch werden diese anders gewichtet, als es im gegebenen Bezugsfeld der Fall war. Tilgen, Ergänzen und Gewichten erweisen sich als basale Operationen der Weltherstellung, wie sie Nelson Goodman in seinem Buch Weisen der Welterzeugung6 dargestellt hat.

Gleichzeitig bringt sich im Tilgen, Ergänzen und Gewichten eine Absicht zum Ausdruck, die sich – obwohl im fiktionalen Text nicht formuliert – in solchen Operationen zeigt. Die Selektion als Akt des Fingierens erwiese sich dann als Möglichkeit, die Intentionalität eines Textes zu fassen, denn sie bewirkt es, daß bestimmte Sinnsysteme der Lebenswelt zu Bezugsfeldern des Textes und diese wiederum zum Kontext wechselseitiger Auslegung werden. Sie manifestiert sich ferner in der Steuerung einer solchen Auslegung, indem das einzelne Bezugsfeld die gewählten Elemente vor dem [27] Hintergrund der durch diese Wahl ausgeschlossenen aufscheinen läßt und so der im Bezugsfeld versammelten Welt die perspektivische Einstellung hinzugewinnt. In diesem Vorgang schattet sich das intentionale Objekt des Textes ab, das sein Realwerden der Irrealisierung derjenigen Realitäten verdankt, die in den Text eingekapselt sind.

Damit sollten sich auch Schwierigkeiten beseitigen lassen, die bislang die Diskussion um die Autorenintention belastet haben. Der in Seminar und Hörsaal so häufig geäußerte Wunsch, die authentische Autorenintention zu ermitteln, führte dazu, daß man versuchte, die Psyche des Autors oder die Strukturen seines Bewußtseins zu ergründen – ein Sachverhalt, der immer nur spekulative Lösungen erbrachte. Die Intention ist wahrscheinlich weder in der Psyche noch im Bewußtsein aufzudecken, sondern nur über die Manifestationsqualitäten einzukreisen, die sich in der Selektivität des Textes im Blick auf seine Umweltsysteme erkennen lassen. Textintentionalität ist folglich etwas, das sich in der jeweils gegebenen Welt nicht vorfindet, ohne dadurch schon ein Imaginäres zu sein. Entspringt sie einem Akt des Fingierens, dann erweist sie sich als „Übergangsgestalt“7 zwischen Realem und Imaginärem, indem sie die Bezugsfelder des Textes zum Material ihrer Manifestation macht und das Imaginäre zur Bedingung ihrer Vorstellbarkeit ausprägt.

Die Selektion als ein Akt des Fingierens besitzt ihre innertextuelle Entsprechung in der Kombination von Textelementen; diese reicht von der lexikalischen Wortbedeutung über die eingekapselte Textumwelt bis hin zu den Schemata, durch die Figuren und deren Handlungen organisiert werden. Die Kombination ist insofern ein Akt des Fingierens, als auch sie den basalen Modus, Grenzüberschreitung zu sein, erkennen läßt.

Das zeigt sich auf der lexikalischen Ebene vorwiegend [28] durch Neologismen, wie sie etwa in der Joyceschen Wortprägung benefiction vorliegen. Die Teleskopierung von benefaction/benediction und fiction wird dazu benutzt, um die semantische Bestimmtheit des Lexikons zu entgrenzen. Die lexikalische Bedeutung wird abgeblendet, um eine indexikalische aufblenden zu können, wobei sich ein Figur- und Grundverhältnis einstellt, das sowohl eine Abgrenzung der Wortfelder voneinander als auch ein ständiges Umspringen des Blickpunktes zwischen ihnen erlaubt. Je nachdem, welche Bezugsdimension die Figur und welche den Grund abgibt, werden sich die semantischen Relationen verändern. Ja, es ist am Ende eher die Instabilität einer so organisierten Beziehung, die in ein Oszillieren umschlägt und dadurch ein semantisches Spektrum entstehen läßt, das auf keines der beiden Wortfelder mehr zurückzubringen ist.

In ähnlicher Weise können Reimstrategien die Bedeutung des Lexikons entgrenzen, wie es sich etwa in jenen Versen von Eliots Prufrock zeigt:

Should I, after teas and cakes and ices,

Have the strength to force the moment to its crisis?8

Die in Reimstellung stehenden Worte heben gerade durch ihren Gleichklang die semantische Divergenz hervor. Signalisiert das Gleiche, daß es nicht äquivalent ist, so funktioniert die Kombination als das Aufdecken des Unterschieds im Ähnlichen. Wiederum organisiert sich dieser Unterschied als ein Figur- und Grundverhältnis, wobei die Krise trivialisiert werden und die Eiscreme unvordenkliche Bedeutung gewinnen kann. Doch im Endeffekt wird es auch hier wie in ähnlich gelagerten Fällen zu einer Steigerung des semantischen Potentials kommen, und zwar deshalb, weil die Kombination so angelegt ist, daß das Figur- und Grundverhältnis ein [29] ständiges Kippen in jeweils andere Beziehungen erlaubt.

Ähnliches gilt auch für die aus der Textumwelt selektierten Elemente, die in erzählender Literatur etwa dem Bilden schematisierter Ansichten dienen, durch die Figuren und Handlungen vorgestellt werden. Daraus entstehen semantische Räume, deren Begrenzungen der Held in der Regel überschreitet9, so daß die Relevanz des Bezugsfeldes bald Grund und bald Figur sein kann. Ein solches Umspringen läßt ein Netz von Beziehbarkeiten entstehen, das in der bloßen Gegebenheit der Textschemata noch nicht enthalten war.

So erzeugt die Kombination als Akt des Fingierens innertextuelle Relationierung. Ist diese ein Produkt des Fingierens, so erweist sie sich genauso wie die Textintentionalität als „fact from fiction“.10 Diese ‚Faktizität‘ gewinnt die Relationierung durch den jeweiligen Grad ihrer Bestimmtheit ebenso wie durch das Einwirken auf jene Elemente, die sie aufeinander bezieht. Da sie selbst keine Eigenschaft dieser Elemente ist, teilt sie nicht deren Realitätsstatus, obwohl ihre Bestimmtheit den Anschein erweckt, als ob sie ein Reales sei. Ihre ‚Faktizität‘ gewinnt sie folglich nicht durch das, was sie ist, sondern durch das, was durch sie entsteht. Denn jede hergestellte Beziehung wird die Gegebenheit der Elemente verändern, ja, diese zu bestimmten Positionen verfestigen, die ihre Stabilität durch das von ihnen Ausgeschlossene gewinnen. Das Abgewiesene aber verschattet sich in der realisierten Beziehung und gibt ihr Kontur; dadurch kommt das Abwesende zur Gegenwart. Lebt aber die realisierte Beziehung von dem, was sie abweist, so bringt die Relationierung als Produkt eines fingierenden Aktes das Realisierte und das Abwesende prinzipiell in eine Ko-Präsenz, die bewirkt, daß realisierte Beziehungen in [30] ihre Schattenhaftigkeit zurückfallen und andere sich vor ihnen zu stabilisieren vermögen. Relationierung macht daher nicht nur die jeweils untereinander verbundenen Positionen im Blick auf ihre Positionalität überschreitbar, sie läßt auch die realisierte Beziehung – je nach dem intentionalen Erfordernis des Textes – wiederum von den abgewiesenen Möglichkeiten überschreiten. […]

[34] […] Die bisher beschriebenen Akte des Fingierens im fiktionalen Text, die der Selektion und die der Kombination, bezogen sich auf die Grenzüberschreitung von Text und Textumwelt bzw. auf eine solche innertextueller Bezugsfelder. Dabei war eine zunehmende Komplizierung unverkennbar. Die Relationierung als ein Produkt der Kombination galt nicht nur dem Herstellen solcher Bezugsfelder aus dem selektierten Material, sondern noch einmal der Relationierung dieser Felder untereinander, wodurch sich eine entsprechende Differenzierung der hier zur Geltung kommenden Qualität des Fiktiven erkennen ließ. Diese Differenzierung wird sich noch einmal steigern, wenn wir nun einen weiteren Akt des [35] Fingierens in den Blick nehmen, dessen Qualität in der Entblößung seiner Fiktionalität besteht.

Es kennzeichnet die Literatur im weitesten Sinne, daß sie sich durch ein Signalrepertoire als fiktional zu verstehen gibt. Nun kann es hier nicht darum gehen, die Vielfalt des Zeichenrepertoires zu entwickeln, durch das sich in der Literatur der fiktionale Text als solcher entblößt. Es muß jedoch betont werden, daß sich ein solches Signalrepertoire nicht ausschließlich an linguistischen Zeichen des Textes festmachen läßt, und alle Versuche, die solches zu erweisen trachteten, sind letztlich gescheitert. Denn das im Text markierte Fiktionssignal wird erst zu einem solchen durch bestimmte, historisch variierende Konventionen, die Autor und Publikum teilen und die mit den entsprechenden Signalen aufgerufen werden. Daher bezeichnet das Fiktionssignal nicht etwa die Fiktion schlechthin, sondern den ‚Kontrakt‘ zwischen Autor und Leser, dessen Regelungen den Text nicht als Diskurs, sondern als „inszenierten Diskurs“ ausweisen.19 So sind die literarischen Gattungen beispielsweise solche langfristig wirksamen Regelungen, die eine Vielfalt historischer Variationen der zwischen Autor und Publikum herrschenden Kontraktbedingungen ermöglichen. Doch selbst kurzfristige und daher situationsspezifische Bezeichnungen wie etwa non-fiction novel funktionieren in der gleichen Weise, indem hier die Konvention gerade durch ihr Dementi aufgerufen wird. In dieser uns durch Konvention geläufigen Vertrautheit des hier gewiß noch recht grob skizzierten Signalrepertoires steckt indessen schon eine weitere Konsequenz. Denn Fiktionen gibt es ja nicht nur als fiktionale Texte, sie spielen in den Aktivitäten des Erkennens, Handelns und Verhaltens eine ebenso große Rolle wie in der Fundierung von Institutionen, Gesell[36]schaften und Weltbildern.20 Von einer solchen Vorkommensweise der Fiktionen unterscheidet sich der fiktionale Text der Literatur dadurch, daß er seine Fiktionalität entblößt. Die Selbstanzeige dessen, was er zu sein vorgibt, ändert nun seine Funktion gegenüber jenen Fiktionen, die sich als solche nicht zu erkennen geben. Immer dort, wo die Entblößung unterbleibt, geschieht das mit Rücksicht auf die Erklärungs- und Fundierungsleistungen, die die Fiktion zu erbringen hat. Dabei muß der Verzicht auf die Entblößung noch nicht einmal einer Täuschungsabsicht entspringen; sie hat allein deshalb zu unterbleiben, weil sonst die Geltung der erbrachten Erklärung bzw. Fundierung in Mitleidenschaft gezogen würde. In der Verschleierung ihres Status gibt sich eine auf Erklärung bedachte Fiktion den Anschein von Realität, den sie in diesem Falle allerdings auch braucht, weil sie nur so als die transzendentale Bedingung der Konstitution von Realität funktionieren kann.

Wenn dagegen ein fiktionaler Text durch Kontraktsignale sich als solcher zu erkennen gibt, dann wird sich die Einstellung zu dem von ihm entworfenen Sachverhalt ändern. Wo das nicht geschieht, entsteht ein Fehlverhalten, das in der Literatur verschiedentlich thematisiert worden ist, so etwa, wenn in Fieldings Tom Jones Partridge anläßlich einer Hamlet-Aufführung diese nicht für ein Schauspiel, sondern für eine Realität hält, in die es angesichts der ungeheuerlichen Vorgänge einzugreifen gilt.21 Shakespeare hat dafür in A Midsummer [37] Night's Dream schon ein Paradigma geliefert, wenn die schauspielernden Handwerker ihre Zuschauer auffordern, sich nicht vor dem Löwen zu fürchten, da dieser ja kein wirklicher, sondern nur ein von Snug gespielter sei. Die Täuschung geht dann nicht zu Lasten der Fiktionalität des Textes, sondern zu Lasten der Naivität einer Einstellung, die Fiktionssignale nicht zu registrieren vermag.

Nun enthält aber der fiktionale Text sehr viele identifizierbare Realitätsfragmente, die über die Selektion der soziokulturellen Textumwelt wie auch der dem Text vorangegangenen Literatur entnommen sind. Insofern also kehrt im fiktionalen Text eine durchaus erkennbare Wirklichkeit wieder, die nun allerdings unter dem Vorzeichen des Fingiertseins steht. Folglich wird diese Welt in Klammern gesetzt, um zu bedeuten, daß die dargestellte Welt nicht eine gegebene ist, sondern nur so verstanden werden soll, als ob sie eine gegebene sei. Darin bringt sich eine wichtige Konsequenz der entblößten Fiktion zur Geltung. Im Kenntlichmachen des Fingierens wird alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-Ob. Die Einklammerung zeigt an, daß nun alle ‚natürlichen‘ Einstellungen zu dieser dargestellten Welt zu suspendieren sind. Folglich kehrt die dargestellte Welt weder um ihrer selbst willen [38] wieder, noch wird sie sich in der Bezeichnung einer Welt erschöpfen, die ihr vorgegeben wäre.

Das macht nun einen gewichtigen Unterschied zu jener Fiktion aus, die ihren Charakter verschleiert; denn dort bestehen die ‚natürlichen‘ Einstellungen fort. Ja, es mag geradezu eine Funktion der Verschleierung sein, die ‚natürlichen‘ Einstellungen unbeeinträchtigt zu lassen, damit die Fiktion für eine Realität gehalten werden kann. Im Falle der Einklammerung hingegen ist die in Klammern gesetzte Welt nicht um ihrer selbst willen Gegenstand, sondern Gegenstand einer wie immer gearteten Inszenierung oder Betrachtung. So wird zwar Wirklichkeit im fiktionalen Text wiederholt, doch durch die Einklammerung wird ihr Wiederholtwerden überragt. Darin liegt zugleich ein charakteristisches Merkmal des Als-Ob: Durch die Klammer ist immer die Gegenwart eines umfassenden Zweckes angezeigt, der seinerseits gar keine Qualität der im Text wiederholten Welt sein kann, und das nicht zuletzt deshalb, weil diese aus Segmenten der verschiedenen Umweltsysteme des Textes aufgebaut worden ist.

In diesem Zweck schattet sich die Funktion ab, um derentwillen die Fiktion ins Werk gesetzt worden ist. Folglich ist die im Text dargestellte Realität auch nicht als solche gemeint; sie ist Verweis auf etwas, das sie nicht ist, wenngleich dieses durch sie vorstellbar gemacht werden soll.

Um die sich daraus ergebenden Konsequenzen voll in den Blick zu bringen, ist noch eine Anmerkung zu dem Als-Ob notwendig. Die Partikelverbindung des Konditionalsatzes besagt, wie es Vaihinger formuliert, „dass die darin aufgestellte Bedingung eine unwirkliche oder unmögliche ist“.22 Die im fiktionalen Text auftauchende Welt so zu beurteilen, als ob sie eine solche sei, besagt darüber hinaus, daß zwar ein Vergleichsglied angezielt, [39] dieses jedoch in der Partikelverbindung des Konditionalsatzes ausgespart ist. Die im Text auftauchende Welt so zu verstehen, als ob sie eine sei, heißt, sie mit etwas in Verbindung zu bringen, das sie nicht ist. – „Somit ist dadurch die Gleichsetzung einer Sache mit den notwendigen Folgen eines unmöglichen oder unwirklichen Falles forderungsweise ausgesprochen... Somit wird hier ein unmöglicher Fall fingiert, aus ihm werden die notwendigen Konsequenzen gezogen, und mit diesen Konsequenzen, welche doch auch unmöglich sein sollten, werden Forderungen gleichgesetzt, welche aus der bestehenden Wirklichkeit selbst nicht folgen.“23 So dient der Partikelkomplex des Als-Ob dazu, „ein vorliegendes Etwas mit den Konsequenzen aus einem unwirklichen oder unmöglichen Falle gleichzusetzen“.24 Wenn der fiktionale Text die von ihm dargestellte Welt mit einem solchen ‚Unmöglichen‘ verbindet, so ist angesichts der Wohlbestimmtheit seiner Darstellung dieses ‚Unmögliche‘ ein solches, dem gerade diese Wohlbestimmtheit fehlt. Es als das Imaginäre zu bezeichnen, bietet sich schon deshalb an, weil die Akte des Fingierens auf Imaginäres bezogen sind. Demzufolge besagt das Als-Ob, daß die dargestellte Welt eigentlich keine Welt ist, sondern aus Gründen eines bestimmten Zwecks so vorgestellt werden soll, als ob sie eine sei. Denn überall, „wo nur eine solche imaginative Vergleichung oder eine Vergleichung mit etwas Imaginativem stattfindet, und diese Vergleichung nicht bloss ein leeres Spiel der Vorstellungen ist, sondern irgend einen praktischen Zweck hat, sodass also aus der Vergleichung Konsequenzen gezogen werden, ist die Partikelverbindung ‚als ob‘ an ihrem Platze, weil sie ... ein vorliegendes Etwas mit den notwendigen Folgen eines imaginativen Falles vergleicht. Es ist hierbei der Ton darauf zu legen, dass diese imaginative Tätigkeit irgend einen praktischen Nutzen, irgend einen Zweck haben soll: nur wenn dies der Fall ist, [40] werden ja die Konsequenzen aus jener imaginativen Funktion gezogen; es handelt sich doch nicht darum, ohne jeden Zweck etwas Unwirkliches als wirklich anzunehmen.“25 Wenn daher im Zweck das „Imaginative“ seine zureichende Gestalt gewinnt, so kann die dargestellte Welt des Textes noch nicht der Zweck des Textes sein, vielmehr muß sie als das wohlbestimmte Vergleichsglied die Bestimmung dafür bilden, daß die durch die Klammer angezeigte Verweisung vorstellbar werde.

Diese Bedingung wird von der dargestellten Welt des Textes insofern erfüllt, als durch sie eine doppelte Verweisung geschieht, deren man sich eingedenk bleiben muß. Die dargestellte Welt des Textes ist insofern ambivalent, als sie zumindest in der Konkretheit ihrer Darstellung eine Welt zu bezeichnen scheint, die durch sie repräsentiert ist. Nun haben die Akte der Selektion und Kombination jedoch erkennen lassen, daß die durch sie aufgebaute Welt des Textes in der Textumwelt nicht ihr Identisches hat. Daraus ergibt sich, daß die dargestellte Welt des Textes nicht eine bestehende Welt bezeichnet, weshalb ihr Bezeichnungshabitus nur noch als Bedingung eines Verweises zu funktionieren vermag. Mit dem Als-Ob ist angedeutet, in welche Richtung ein solcher Verweis erfolgt: die dargestellte Welt gilt es sich so vorzustellen, als ob sie eine Welt sei. Daraus folgt zunächst, daß die im Text dargestellte Welt sich selbst nicht meint und folglich durch ihren Verweischarakter etwas anzeigt, das sie selbst nicht ist. Hier zeigt sich wiederum der charakteristische Modus des Fiktiven, Grenzüberschreitung zu sein, wobei allerdings die Tatsache unterstrichen werden muß, daß mit dem Als-Ob eine Überschreitung dessen erfolgt, was seinerseits als dargestellte Welt des Textes aus Akten des Fingierens hervorgegangen ist. Das verdient deshalb festgehalten zu werden, weil die gestaffelten Transgressionseffekte des Fiktiven dann eine Erklärung dafür liefern, wieso [41] eine durch Akte des Fingierens ständig umformulierte Welt dem Verstehen zugänglich bleibt.

Von welcher Bedeutsamkeit der Unterschied von Bezeichnen und Verweisen der dargestellten Textwelt ist, läßt sich durch eine kritische Bemerkung Dürrenmatts über eine Inszenierung des Stückes Der Besuch der alten Dame durch Giorgio Strehler illustrieren. Dürrenmatt meint, Strehler habe eine eklatante Fehlinszenierung dadurch bewirkt, daß er die Szene am Bahnhof – wie auch alle anderen – in möglichst realistischer Detailtreue auf die Bühne zu bringen bestrebt war. Folglich, so meint Dürrenmatt, sei ein Realismus in das Stück gekommen, der es vernichten mußte. Denn er habe in sein Drama eine Reihe von Andeutungen eingebaut, die es dem Publikum immer als ein Theaterstück zu erkennen geben sollten. Mit anderen Worten: das Stück selbst war mit Fiktionssignalen durchsetzt, um die dargestellte Welt gleichzeitig im Modus des Als-Ob zu präsentieren. In dem Augenblick aber, in dem die Regie die Fiktionssignale tilgt und damit das Als-Ob eliminiert, ist sie auf dem Wege, es zur Repräsentation einer bestimmten, in der empirischen Umwelt der Theaterbesucher verifizierbaren Wirklichkeit zu machen. Schlägt das Stück durch die Inszenierung in die Bezeichnung einer solchen Wirklichkeit um, dann bleibt die Dimension des Verweisens leer. Wenn sich daraus eine Wirklichkeitsillusion ergibt, die sich dadurch erfüllt, daß die dargestellte Wirklichkeit dem Zweck des Bezeichnens einer solchen Wirklichkeit dient, dann fragt es sich, was eine solche Repräsentation soll. Denn die Rückführung der dargestellten Wirklichkeit auf die Funktion des Bezeichnens erzeugt die Vorstellung von einer eigentümlichen Redundanz, die – wenn sie nicht ihrerseits eine raffinierte Möglichkeit der Repräsentation verkörpert – die dargestellte Wirklichkeit in der Tat überflüssig machen würde. Wäre aber die Redundanz Modus einer Repräsentation, dann würde sich darin die Verweisdimension ankündigen, indem die Redundanz nicht sich selbst [42] meint, sondern Zeichen für anderes ist. Dies ist ein Darstellungsmodus, mit dem die gegenwärtige Dokumentarliteratur arbeitet.

So ist die Kritik Dürrenmatts in hohem Maße aufschlußreich, weil sie zu erkennen gibt, daß der Versuch, die Wohlbestimmtheit dargestellter Welten ihres Als-Ob Charakters zu entkleiden, zwangsläufig zum Ausblenden jenes Vergleichsgliedes führt, das mit dem Als-Ob angezeigt ist. Wenn die Rückübersetzung dargestellter Welt in realistische Anschaubarkeit die Bedingung ihrer Destruktion ist, dann heißt dies, daß sich die dargestellte Welt des Textes nicht mehr ausschließlich mimetisch verstehen läßt.

Gleichzeitig aber ist die dargestellte Textwelt ein Sachverhalt, der gerade durch die Als-Ob Kennzeichnung seine Bestimmung nicht in sich selber tragen kann, sondern diese immer nur in Beziehung zu etwas anderem finden muß. Wenn ein Regisseur wie Strehler das Bezeichnen auf Kosten des Verweisens zum Inhalt seiner Inszenierung macht, so bringt sich darin die Ambivalenz dargestellter Textwelt zum Vorschein, die als solche wohl verweist, aber zugleich das Bezeichnen nicht völlig abgestreift hat; denn sie besteht aus Materialien, die durch die Selektions- und Kombinationsakte der Textumwelt entnommen und zu einer Welt organisiert sind. Insofern ist im Text ein Element des Bezeichnens gewahrt. Wenn das Als-Ob signalisiert, daß die dargestellte Welt so zu sehen sei, als ob sie eine Welt wäre – ohne allerdings für eine solche wirklich gehalten zu werden –, dann ist es notwendig, ein bestimmtes Maß des Bezeichnens zu erhalten, damit die Welt überhaupt zu einer solchen wird, die für den intendierten Zweck so verstanden werden kann, als ob sie eine sei. Diese Bindung des Bezeichnens an das Verweisen bedeutet, daß die dargestellte Welt, sofern sie etwas bezeichnet, nur den Charakter des Analogon haben kann, durch das Welt in Form einer bestimmten Welt exemplifiziert wird.

[…] [43] Wenn daher die Textwelt unter dem Vorzeichen des Als-Ob steht, so muß zu ihr immer etwas hinzugedacht werden, das sie selbst nicht ist. Denn das Vergleichsglied des Als-Ob ist ein ‚Unmögliches‘ bzw. ‚Unwirkliches‘, das es durch die dargestellte Welt zu visieren gilt. Wenn diese aber so genommen werden soll, als ob sie eine Welt wäre, dann entpuppt sich der Verweis als die Möglichkeit ihres Wahrgenommenwerdens. Sie ist nur da, um das durch sie Bezeichnete der Betrachtung zu öffnen, die ihrerseits kein integraler Bestandteil gegebener Welt ist. Dadurch ruft das Als-Ob auch Reaktionen im Rezipienten hervor. Denn sich die Textwelt so vorzustellen, als ob sie eine wäre, treibt Einstellungen hervor, durch die das angezielte Vergleichsglied konkret und die Textwelt überschritten wird. Bleibt die affektive Reaktion von der Textwelt geprägt, so realisiert sich in der Einstellung ein Imaginäres zur Vorstellungsgestalt. Folglich initiiert das Als-Ob einen gelenkten Vorstellungsakt, der mit den Referenzen subjektiv bzw. objektiv nicht zu verrechnen ist; statt dessen geschieht eine zweifache Grenzüberschreitung: über die Textwelt hinaus und in das Diffuse des Imaginären hinein. Die Vorstellung des Subjekts erfüllt die Textwelt mit Leben und realisiert dadurch den Kontakt mit einer irrealen Welt. Reaktionen auf Welt auszulösen wäre dann die Gebrauchsfunktion, die durch das Als-Ob hergestellt wird. Dazu ist es notwendig, die Welt des Textes zu irrealisieren, um sie dadurch zum Analogon – und das heißt zur Exemplifikation – von Welt zu machen, damit ein Reaktionsverhältnis zur Welt erzeugt werden kann.

Das Analogon besitzt noch eine weitere Funktion. Als Produkt des Fingierens, das aus den Selektions- und Kombinationsakten hervorgegangen ist, hat die Textwelt in der empirischen Welt kein Identisches. Daraus entspringt die Möglichkeit, empirische Welt immer durch eine Optik zu gewärtigen, die dieser nicht eignet, wodurch sie zum Gegenstand der Betrachtung wird. Folglich kann die vom Als-Ob der Textwelt erzeugte [44] Reaktion auch der empirischen Welt gelten, die durch die Textwelt hindurch aus einer Perspektive versiert wird, die nicht eine solche der gegebenen Lebenswelt ist.

[…] [48] […] Die Akte des Fingierens, die sich im fiktionalen Text ausmachen lassen, zeichnen sich durch eine sie beherrschende Gemeinsamkeit aus: nämlich die, Akte des Überschreitens zu sein. In der Selektion sind die Umweltsysteme des Textes ebenso überschritten wie die Immanenz des Textes selbst, sofern dieser in seinem Repertoire das Überschrittensein der selektierten Umweltsysteme parat hält. In der Kombination geschieht ein Überschreiten der innertextuell hergestellten semantischen Räume. Das gilt für die Entgrenzung lexikalischer Wortbedeutungen bis zur Konstituierung des sujethaften Ereignisses, das sich in der Grenzüberschreitung der Romanhelden manifestiert. Im Als-Ob entblößt sich die Fiktion als solche und überschreitet dadurch die aus Kombination und Selektion gewonnene dargestellte Welt des Textes. Sie klammert diese Welt ein und macht dadurch zugleich deutlich, daß keine wahre Aussage über die in Klammern gesetzte Welt gemacht werden soll. Die Entblößung signalisiert im Prinzip zweierlei. Zunächst bedeutet sie für denjenigen, für den die Fiktion ins Werk gesetzt ist, daß sie als eine solche gewußt wer[49]den kann. Darüber hinaus besagt sie, daß hier nur die Annahme herrscht, eine dargestellte Welt sich so vorzustellen, als ob sie eine sei, um damit zu bekunden, daß durch sie etwas figuriert wird. Schließlich erfolgt eine letzte, vom Text ausgelöste Überschreitung im Erfahrungshaushalt des Rezipienten; denn die erzeugte Einstellungsaktivität gilt einer irrealen Welt, deren Aktualisierung eine temporäre Irrealisierung des Rezipienten zur Folge hat.

[…] [401] […] Die Akte des Fingierens verkörpern einen solchen „Impfstoff“ und bringen durch ihre Intentionalität Imaginäres im Text zu kontrollierter Entfaltung. Die Gemeinsamkeit der Akte, Grenzüberschreitung zu sein, differenziert sich in der Besonderheit ihrer jeweiligen Tendenz. In jedem Stadium widerfährt dem überschrittenen, wenngleich parat gehaltenen Bereich eine bestimmte Negativierung: in der Selektion wird die Organisation der Bezugsrealitäten durchgestrichen; in der Kombination werden Bezeichnen und Repräsentieren zur Latenz verschoben, und in der Selbstanzeige wird die dargestellte Textwelt irrealisiert.

Da immer etwas Bestimmtes durchgestrichen, latent gemacht bzw. irrealisiert wird, bewirkt die vom Fingieren ausgelöste Modifikation des Imaginären die Verwandlung von Wirklichkeiten in Möglichkeiten. Die Selektion hat Bezugsrealitäten zu ihren Vorgaben, die – zur Vergangenheit entrückt – die Motivation solcher Verschiebungen als abstrakte Möglichkeiten abschatten. Die Kombination hat konventionsstabilisierte Bezeichnungs- und Repräsentationsfunktionen zu ihren Vorgaben, die – in die Latenz gedrückt – Relationierbarkeit als Anderswerden freisetzen. Die Selbstanzeige dagegen schneidet sich von solchen Realbezügen ab und macht durch ihr Als-Ob die aus Selektion und Kombination hervorgegangene Textwelt zur reinen Möglichkeit.

[402] Diese verkörpert nun insofern eine radikale Alternative zur Bezugswelt des Textes, als sie aus deren Realität nicht ableitbar ist und gerade dadurch zum Modell für das Erzeugen von Welten wird. Denn sie ist das Analogon einer Vorstellbarkeit, und das bedeutet, zu einer Möglichkeit eine Realität hinzuzudenken. Das aber scheint dem durch Erfahrung eingeübten Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit zu widersprechen, welches uns glauben macht, daß es Möglichkeiten immer nur in Beziehung auf Wirklichkeiten – und nicht umgekehrt – gibt. Denn Möglichkeiten, so meint man, liegen den Realitäten nicht voraus. Wenn aber Realitäten ihrerseits Konstrukte sind, dann können sie nicht aus sich selbst hervorgegangen sein. Das Zusammenspiel von Fiktivem und Imaginärem bezeugt folglich, daß die Bezugsrealitäten des Textes – weil aus Möglichkeiten hervorgegangen – wieder in solche zerlegt werden, um weitere Möglichkeiten freizusetzen, die dem Hervorbringen anderer Welten dienen.

Wie aber wäre ein solches Entstehen von Möglichkeiten zu denken, und was könnte damit angezeigt sein? Zunächst gilt es festzuhalten, daß sich ein unter Formzwang stehendes Imaginäres einer letzten Faßbarkeit entzieht und folglich als ein gewisses Nichts erscheint. Dieses wird seinerseits in den Akten des Fingierens als Durchstreichen, Entgrenzen und Irrealisieren virulent, was wiederum auf eine Motivation schließen läßt, die diesen Negativierungsoperationen unterliegt. Wenn die Ordnungen von Bezugsrealitäten außer Kurs gesetzt, das Bezeichnen und Repräsentieren zur Latenz verschoben und die Textwelt zum Analogon für die Vorstellbarkeit eines Nicht-Existenten reduziert werden, dann ist ein solches Nichten immer zugleich auch ein Ermöglichen von etwas. Imaginäres wird folglich durch Fiktives zur Gegenwendigkeit von Dekomposition und Hervorbringung entfaltet. Gegenwendigkeit ist ein Terminus, den Heidegger in seine Diskussion um den „Ursprung des Kunstwerks“ eingeführt hat und der hier nur inso[403]weit von Belang ist, als „Streit“ und „Riß“ elementare Bedingungen von Hervorbringung sind. „Der Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft, sondern der Streit ist die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden.“153 Ohne eine solche Gegenwendigkeit käme Imaginäres nicht zur Erscheinung; als ein Gegenwendiges aber bezeugt es, daß Nichten und Hervorbringen zusammengehören.

So sehr Fiktives Imaginäres zu solcher Gegenwendigkeit ‚aufspaltet‘, so sehr bleibt es seinerseits auf Imaginäres angewiesen. Denn als Grenzüberschreitung ist das Fingieren reiner Bewußtseinsakt, der sich auf etwas richtet, das leer bleibt, weil Richtung nur die Bedingung für das Durchhalten der Intention schafft. Zwar ist durch den fingierenden Akt ein Rahmen gesetzt, aber die Intention des Aktes bewirkt noch nicht dessen konkrete Füllung. Bestenfalls entsteht eine Leervorstellung, die der Absättigung bedarf. Ohne das Imaginäre bliebe das Fiktive eine Leerform des Bewußtseins; ohne das Fiktive käme das Imaginäre nicht zur Gegenwendigkeit. Sofern das Fiktive Medium ist, setzt es Imaginäres zu Nichten und Ermöglichen frei, verliert aber zugleich die Kontrolle über das Ausagieren dieser Differenz. Denn die Gegenwendigkeit des Imaginären geschieht instantan, weshalb sich Dekomposition und Hervorbringung nicht als ein regulierbares Nacheinander vollziehen. Das ist nun auch ein wesentlicher Grund dafür, weshalb die dem Nichten unterliegende Motivation sich in der Vielgestaltigkeit von Möglichkeiten zeigt. Sofern die Doppelungsstruktur des Fiktiven in diesem Zusammenspiel stark bleibt, verschattet sich Abwesendes in Anwesendem, kehren sich die Rückansichten der Phänomene hervor, werden Bezeichnen und Repräsentieren zur Mehrsinnigkeit entfaltet und wird die Irrealität zu einer Wahrnehmungsillusion gemacht. Sofern die Gegenwendigkeit des Imaginären die Oberhand gewinnt, wird die Doppelungsstruktur zu Dualität, Ambivalenz und Duplizität [404] verzerrt, die ihrerseits zu einer unabsehbaren Ausdifferenzierung von Möglichkeiten führen.

Das aber heißt zugleich: diese Möglichkeiten gewinnen ihre Kontur durch genichtete Realitäten, die deswegen genichtet werden können, weil sie ihrerseits realisierte Möglichkeiten sind. Das Zusammenspiel von Fiktivem und Imaginärem erwiese sich dann als die Inszenierung eines solchen Vorgangs, der in der Literatur deshalb so paradigmatisch erfolgen kann, weil hier das Fiktive die Aktivierung des Imaginären als ein von lebensweltlicher Pragmatik entlastetes Widerspiel entfaltet.

Wozu aber bedarf es einer solchen Inszenierung? Nun, zunächst um anzuzeigen, daß es Wirklichkeit als Beschränkung des Möglichen nicht geben kann, nicht zuletzt, weil Möglichkeiten sich aus dem, was ist, nicht ableiten lassen. Zwar können Möglichkeiten zum Horizont des Wirklichen werden, doch gerade dann wird sich dieses nicht gleich bleiben. Wenn es daher kein a priori für die Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit gibt, ja, wenn die Möglichkeiten ihren Realisierungen vorausliegen, dann fragt es sich, woher sie kommen. Gordon Globus hat im Anschluß an Leibniz dazu bemerkt: „Weltmodelle werden ohne Rückgriff auf Abbilder oder Anweisungen von gegebener Welt erzeugt; sie werden formativ [d. h. in ihren Grundstrukturen selbst] geschaffen... Die jeweils aktuelle Welt wird aus diesem Plenum der possibilia erzeugt, ausgewählt durch Eingaben und Intention... Möglichkeit impliziert Existenz. Aktualität hängt von dem Prozeß des Entfaltens eingefalteter Ordnung zu expliziter Existenz ab.“ 154

[405] Demnach wäre der Mensch das Plenum seiner Möglichkeiten. Doch wenn es sich so verhielte und der Mensch alle seine Möglichkeiten in sich trüge, könnte er mit keiner von ihnen zusammenfallen, sondern würde immer dazwischenhängen. Das heißt zugleich: als er selbst vermag er sich nicht gegenwärtig zu werden, weil er – als der Urheber seiner Möglichkeiten – diesen immer schon vorausläge. Wenn er aber mit keiner seiner Möglichkeiten identisch ist, kann das Plenum der Möglichkeiten wiederum nicht reine Vorgegebenheit sein, sondern wäre nur als ein unausgesetztes Entstehen denkbar, wodurch es allererst zu einer Unterscheidung von Möglichkeiten kommen könnte. Denn von einem Plenum der Möglichkeiten ließe sich ohne die Differenzierung ihrer Vielfalt gar nicht reden.

Verhielte es sich so, dann wäre das Zusammenspiel von Fiktivem und Imaginärem als Zeichen einer anthropologischen Disponiertheit zu verstehen. Wenn sich der Mensch nur als die Entfaltung seiner selbst vor sich zu bringen vermag, so können seine Möglichkeiten nicht von vornherein eine bestimmte Kontur besitzen; denn das hieße, einer solchen Selbstentfaltung vorhandene Muster aufzuprägen. Wenn aber Profile und Unterscheidungen von Möglichkeiten nicht vorgegeben sind, dann müssen die Möglichkeiten erspielt werden, und da sie von Realitäten nicht ableitbar sind, lassen sie sich nur aus dem Zerspielen von Realitäten gewinnen. Das aber heißt dann auch, daß sich der Mensch als die Entfaltung seiner selbst niemals gegenwärtig zu werden vermag, da er sich immer nur in der Vergegenständlichung der einen von ihm realisierten Möglichkeit und folglich nur in einer jeweiligen Beschränktheit hat. Deshalb gilt es, die Ent[406]faltung seiner selbst als Spiel zu verstetigen, und das gelingt vornehmlich im ständigen Herstellen und Aufheben hergestellter Welten. Da aber das Wie eines solchen Vorgangs nicht zu einer Bestimmtheit kommen kann, läßt es sich nur in Variationen inszenieren. Das gelingt durch ein vom Fiktiven zur Gegenwendigkeit gebrachtes Imaginäres, das sich immer anders zu realisieren vermag. Inszenierung wäre dann die transzendentale Bedingung dafür, einer Sache ansichtig zu werden, die ihrer Natur nach gegenstandsunfähig ist, und sie wäre zugleich auch ein Ersatz dafür, etwas zu erfahren, wovon es kein Wissen gibt.

Eine solche Inszenierung kann daher nur Spiel sein, das sich zunächst aus dem grenzüberschreitenden Fingieren ergibt; dieses läßt im Text Referenzwelten sowie andere Texte wiederkehren, die selbst dann, wenn sie wie bloße Abbilder wirken, stets eine Wiederkehr mit Differenz sind. Folglich entsteht ein Hin und Her zwischen dem, was in den Text eingegangen ist, und der Referenzrealität, aus der es herausgebrochen wurde. Ähnliches gilt für das vom Fiktiven zur Gegenwendigkeit entfaltete Imaginäre, das sich als Durchstreichen und Hervorbringen, Entgrenzen und Kombinieren sowie als Irrealisieren und Vorstellen entwickelt, wodurch die Referenzrealitäten des Textes in das daraus entspringende Hin und Her hineingezogen werden. Diese Spielbewegung ist weder dialektisch, noch verläuft sie teleologisch, und sie läßt sich auch nicht in dem verankern, was durch sie ins Spiel gebracht worden ist. […]

[481] VI. Epilog

1. Mimesis und Performanz

Wenn das Textspiel als Transformation seiner Referenzwelten verläuft, dann entsteht etwas, das aus diesen nicht ableitbar ist. Folglich kann keine der Referenzwelten Gegenstand der Darstellung sein, so daß sich der Text nicht in der Repräsentation vorgegebener Gegenständlichkeit erschöpft. Das heißt zunächst: es gibt keine Repräsentation ohne Performanz, die in jedem Falle anderen Ursprungs ist als das zu Repräsentierende. Nun setzt Repräsentation im Sinne von Mimesis immer etwas voraus, das es im Darstellungsakt zu präsentieren gilt, und dabei stellt sich sogleich die Frage, ob diesem Darzustellenden eine von der Darstellung unabhängige Existenz zukommt. Sofern Darstellung als Mimesis verstanden wurde, ist diese Frage weitgehend bejaht worden. Angesichts eines solchen von der Poetik tradierten ‚stummen Wissens‘ wäre es gewiß unangemessen, den Mimesisgedanken durch den der Performanz rundweg ersetzen zu wollen, zumal die Aristoteles-Tradition Rezepturen für das Herstellen von Kunstwerken kennt, durch die zumindest bezeugt ist, daß Repräsentation ohne Performanz undenkbar ist.

Nun kann es hier nicht darum gehen, die Aristoteles-Tradition wieder aufzurollen, wenngleich man sich erinnern muß, warum Mimesis als Nachahmung eines Vorgegebenen durch Aristoteles zur Begrifflichkeit geronnen ist. Repräsentation als Mimesis ist von allem Anfang an ein ambivalenter Begriff gewesen, der seine schillernde Doppelheit bis heute nicht völlig verloren hat. Man muß sich Platons Abwertung der Mimesis gegenwärtig halten, um die von Aristoteles vorgenommene ‚Reparatur‘ in ihren Auswirkungen abschätzen zu können. Nachahmung bezeichnete für Platon den Defekt des phänomenalen Seins gegenüber dem idealen; [482] denn Nachahmung hieß, das Nachgeahmte eben nicht zu sein. In Timaios erfährt das Urbild-Abbild-Gefälle seine Verschärfung, indem der Demiurg nicht als Schöpfer einer Urzeugung verstanden wird, sondern nur als Handwerker, um die ‚Verlegenheit‘ zu erklären, wieso es denn überhaupt eine phänomenale Welt geben kann.

Aristoteles hat darauf geantwortet. Für ihn besteht die Kunst „darin, ‚einerseits zu vollenden, andererseits (das Naturgegebene) nachzuahmen‘. Die Doppelbestimmung hängt mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs von ‚Natur‘ als produzierendem Prinzip (natura naturans) und produzierter Gestalt (natura naturata) eng zusammen. Es läßt sich aber leicht sehen, daß in dem Element der ‚Nachahmung‘ die übergreifende Komponente liegt: denn das Aufnehmen des von der Natur Liegengelassenen fügt sich doch der Vorzeichnung der Natur, setzt bei der Entelechie des Gegebenen an und vollstreckt sie. Dieses Einspringen der ‚Kunst‘ für die Natur geht so weit, daß Aristoteles sagen kann: wer ein Haus baut, tut nur genau das, was die Natur tun würde, wenn sie Häuser sozusagen ‚wachsen‘ ließe. Natur und ‚Kunst‘ sind strukturgleich: die immanenten Wesenszüge der einen Sphäre können für die der anderen eingesetzt werden. Es ist also sachlich begründet, wenn die Tradition die aristotelische Definition auf die Form ‚ars imitatur naturam‘ verkürzt hat, wie schon Aristoteles selbst sie in Gebrauch nimmt.“1

War für Platon die Minderwertigkeit der Nachahmung insofern plausibel, als der Demiurg nur das ‚Werkmodell‘ der Erzeugung zu imitieren vermochte, so geschah die Aufwertung der Mimesis bei Aristoteles dadurch, daß für ihn die Ewigkeit der Urbilder zur Ewigkeit der Welt wurde. Damit schwindet die Exemplarität der Ideen zugunsten einer Entsprechung von Idee und Erscheinung, welche den Inbegriff für die Vollständigkeit [483] des Kosmos verkörpert, der folglich auch die Möglichkeiten mit umschließt. Denn möglich ist nur, was seiner morphé nach schon wirklich ist, weshalb die Kunst zur techne wird, um in der Nachahmung die Entelechie freizulegen. So vollbringt der ‚Künstler‘ nur, was die Natur zu leisten imstande ist, weshalb Mimesis durch die ihr eingeschriebene Wiederholung sich lediglich als die Vollendung eines noch unvollendeten Zustandes versteht. Dem ‚Künstler‘ kommen dabei nur Fertigkeiten zu, nicht aber die Fähigkeit, die Welt selbst zu entwerfen. „Wenn Aristoteles sagt, es sei Sache des Künstlers, die Naturdinge nachzuahmen, wie sie sein sollen, so bedeutet das nicht den Hinweis auf irgendeine diesen Gegenständen transzendente Norm, sondern die ‚Extrapolation‘ aus dem Werdeprozeß auf das Werdeziel... Damit es sich die ‚Kunst‘ nicht am jeweilig faktischen Zustand des Seienden genug sein läßt, sondern es auf das darin gestaltend wirksame Werdeziel... absieht, ist die generative Seite des Naturbegriffs für die Mimesis wesentlich, aber dies doch nur deshalb, weil nach und trotz der Beseitigung der Ideen eben immer noch so etwas wie ‚Idealität‘ benötigt wird, um zu verstehen, was den Menschen in seinem Werk, vor allem: was ihn im Kunstwerk bestimmt.“2 Dieses Moment der ‚Idealität‘ macht deutlich, daß bei aller Strukturgleichheit von Natur und Mimesis beide nicht identisch sind, und diese mangelnde Identität rührt daher, daß Menschenwerk – welches es durch ‚Kunst‘ zu rechtfertigen gilt – ein von Natur unterschiedenes ist. Zwar geschieht durch die techne des ‚Künstlers‘ eine Wiederholung des Seienden im Werk; indes, diese Wiederholung – so sehr sie die Natur auch dort vollendet, wo sie Unvollendetes liegengelassen hat – ist darauf bezogen, der von Platon hinterlassenen Verlegenheit zu begegnen, warum es Menschenwerk angesichts der Ewigkeit der Welt überhaupt gibt. So hat die Mimesis eine doppelte Referenz: als Nachahmung der Natur vollzieht sie das, was sich in Natur vollzieht; doch [484] das geschieht nicht um der Natur, sondern um des Menschen willen. Die Natur braucht die Mimesis nicht, und selbst wenn die techne vollkommene Extrapolation des erzeugenden Prinzips der Natur wäre, so ist sie als Extrapolation immer auch eine Differenz zur Natur. Brächte die Natur die techne selbst hervor, dann entstünde durch diese Verdoppelung Redundanz, weil die Natur die Möglichkeit ihrer Vollendung als Wirklichkeit immer schon in sich trägt und folglich nicht der techne des ‚Künstlers‘ bedarf, um zu erreichen, was sie ist.

Die techne holt lediglich die morphé aus ihrer Verborgenheit und vollendet die Natur dort, wo sich Unvollendetes zeigt, das wiederum nur ein solches für den Menschen sein kann. Die techne leistet daher keine Reparatur der Natur – was auch unnötig wäre –, sondern ist in der Nachahmung eines ihr vorgegebenen Gegenstandes dessen Vergegenständlichung. Die Nachahmung der Naturdinge, wie sie sein sollen, präsentiert sich dann als „das je faktisch noch nicht erreichte Werdeziel3, und das heißt, der Natur wird zwar nichts hinzugefügt, was nicht als Möglichkeit bereits in ihr wäre, aber die durch die techne erfolgte Extrapolation sowie die Vergegenständlichung des Nachgeahmten verkörpern performative Aktivitäten, die ihrerseits nicht Nachahmung vorgegebener Gegenstände sein können. Extrapolation und Vergegenständlichung dürfte es als Naturdinge nicht geben, denn sonst wäre Nachahmung der Natur überflüssig, während so allerdings die techne etwas vollbringt, das für die Natur selbst nicht gänzlich belanglos ist; denn als das ‚All des Wirklichen und Möglichen‘ kann sie von sich aus ihre Möglichkeiten nicht schon als realisierte präsentieren, weil diese dann bereits Wirklichkeiten wären. Extrapolation und Vergegenständlichung haben daher immer einen Doppelaspekt: Sie sind Nachahmung der Natur und Beziehung des Menschen auf die Natur zugleich, wodurch auch die Vielfalt der Werke verständlich wird, die es so nicht geben dürfte, [485] wenn dieser Beziehbarkeit in der Natur selbst eine morphé unterläge – es sei denn, es gäbe das eine Werk, das diese morphé so vollkommen präsentierte, daß die anderen als mißglückte kenntlich würden. Die vielen Werke sind unterschiedliche Vergegenständlichungen des Nachgeahmten, wobei Vergegenständlichung die Sichtbarkeit des Seinsollens erzeugt. Erzeugung aber ist ein Hervorbringen mit dem Ziel, die dem Nachgeahmten eignende ‚Idealität‘ hervorzukehren. Gewiß ist dieses Erzeugungsmoment in der klassischen Formulierung des Mimesisbegriffs noch minimalisiert; doch ohne die Vergegenständlichung des Nachgeahmten wäre Mimesis nicht denkbar. Die Minimalisierung beruht zum einen darauf, daß der Mensch in den Kosmos eingebettet ist, und zum anderen, daß der Ewigkeit der Welt nichts hinzugefügt werden kann. Sofern Performanz Erzeugung ist, bezieht sie sich auf die Übersetzungen dessen, was ist, so daß sich die Notwendigkeit der Performanz immer dort ergibt, wo es Differenzen zu überbrücken gilt.

Historisch folgt daraus, daß sich das Verhältnis von Mimesis und Performanz verändern dürfte, wenn die Geschlossenheit des Kosmos aufhört, Referenzbedingung einer aristotelisch verstandenen Mimesis zu sein. Statt das Seinsollen dessen zu vergegenständlichen, was in der ewigen Natur zwischen ihrer Genesis und ihrem Telos immer schon ist, wird in einer offenen Welt das Wozu der Nachahmung zum Problem. Die Performanz muß dann ungleich mehr als nur jene Umsetzungen leisten, ohne die allerdings auch die klassische Mimesis nicht auszukommen vermochte. Das soll nicht heißen, daß die Mimesis verschwände, obwohl es nun zu einer graduellen Umverteilung der Gewichte kommt, wenn es eine offene Welt oder gar eine sich ständig realisierende Wirklichkeit zu repräsentieren gilt. Das bezeugen prominente Repräsentationstheorien der Gegenwart, in denen der Mimesisbegriff zentral bleibt. Dabei kommt etwas zur Geltung, das sich im Prinzip schon bei Ari[486]stoteles beobachten ließ: die Performanz – obwohl unabdingbar – bleibt als Leerstelle im Mimesiskonzept zurück, da sich die Hervorbringung aus der Nachahmung nicht ableiten läßt.

So sah sich Gombrich veranlaßt, in polemischer Schärfe das Ansinnen zurückzuweisen, seine in Kunst und Illusion entwickelten Ansichten liefen auf eine Wirkungstheorie, nicht aber auf eine von ihm selbst so verstandene Repräsentationstheorie hinaus.4 Gombrich zitiert in Kunst und Illusion eine Passage aus der auf Philostratus zurückgehenden Lebensbeschreibung des Apollonius von Tyana, einem Pythagoräer, „der das Problem der Mimesis viel tiefer durchdacht hatte als Plato oder Aristoteles“.5 In der Unterhaltung mit einem ihm ergebenen Schüler entspinnt sich zwischen Apollonius und Damis der folgende Dialog: „‘Sage mir, o Damis, gibt es etwas, was man Malerei nennt?‘ ‚Gewiß doch‘, antwortet Damis. ‚Und worin besteht diese Kunst?‘ ‚Nun, in dem Mischen der Farben.‘ ‚Und warum werden die Farben gemischt?‘ ‚Um der Nachahmung willen; um das Abbild eines Hundes oder eines Pferdes oder eines Mannes zu erhalten, oder auch eines Schiffes oder was immer es sein mag.‘ ‚Malerei ist also Nachahmung, Mimesis?‘ wiederholt Apollonius. ‚Gewiß, was sonst?‘ bestätigt der willfährige Schüler. ‚Wenn Malerei nicht Nachahmung wäre, wäre es ja eine kindische Spielerei mit Farben.‘ ‚Sehr richtig‘, antwortet sein Mentor. ‚Aber was für eine Bewandtnis hat es mit den Dingen, die wir am Himmel sehen, wenn die Wolken treiben: Zentauren und gehörnte Antilopen, Wölfe und Pferde? Sind diese auch Werke der Nachahmung? Ist Gott ein Maler, der [487] sich so die Zeit vertreibt?‘ Beide stimmen überein, daß die Wolkengebilde an sich keinen Sinn besitzen, sondern ihr Entstehen allein dem Zufall verdanken, und stellen fest, daß wir erst ihnen Gestalt und Sinn unterlegen, da unserer Natur die Neigung zur Nachahmung angeboren ist. ‚Aber geht daraus nicht hervor‘, schürft Apollonius weiter, ‚daß die Kunst der Nachahmung zwiefältig ist? Besteht sie nicht auf der einen Seite in der Herstellung von Nachahmungen mit Hilfe von Hand und Geist, auf der andern jedoch in der Schaffung von Bildern mit dem Geiste allein?‘ Er legt dann dar, daß die geistige Mitwirkung des Betrachters beim Vorgang der Nachahmung eine wichtige Rolle spiele. Empfinde er ja doch dadurch ein monochromes Bild, ja ein Bronzerelief als etwas der Wirklichkeit Ähnliches und erlebe es als Form und Ausdruck. ‚Selbst wenn wir einen dieser Inder mit weißer Kreide zeichneten, würde er schwarz aussehen, denn seine flache Nase, sein vorspringender Unterkiefer und sein steifes Kraushaar würden ihn bei allen, die zu sehen verstehen, zum Schwarzen stempeln. Aus diesem Grunde behaupte ich‘, faßt Apollonius-Philostrat seine Folgerung zusammen, ‚daß alle, die ein Werk der Mal- oder Zeichenkunst betrachten, selbst die Gabe der Nachahmung besitzen müssen und daß niemand einen gemalten Hengst oder Stier verstehen könnte, der nicht wüßte, wie solche Geschöpfe wirklich aussehen.‘“6

Hier geht es nun nicht mehr um ein Freilegen der morphé oder gar um ein Vollenden dessen, was in der Natur unvollendet geblieben ist, vielmehr rücken nun die Verfahren der Mimesis in den Blick; die aristotelische techne wird selbst Gegenstand der Erörterung. Formen, so scheint es, sind weniger Konstitutionsbedingungen der Natur, sondern eher Erinnerungsbilder des Künstlers, der diese so in die Gegebenheiten hineinsieht, daß auch dem Betrachter die Natur im Sinne der gehegten Absicht erscheint. Daher sind selbst die Farben, die es zur Wiedergabe der Naturphänomene zu mischen gilt, auf die [488] im Geist abgelagerten Formen bezogen, deren Nachahmung über das Mischungsverhältnis verfügt.

Die aristotelische morphé scheint aus der Natur in den Geist des Künstlers gewandert zu sein; denn nachgeahmt wird nicht die Natur, sondern die im Geist des Malers sedimentierten Formen, die ein Erschließen der Natur erlauben. Die Mimesis erfährt dadurch einen weitreichenden Bezugswechsel, der sich aus einem veränderten Naturverständnis ergibt. Die Natur als etwas zu sehen heißt, daß sie im Gegensatz zu ihrer traditionellen Auffassung nunmehr offen geworden ist, weshalb es nicht die Sichtbarkeit des Seinsollens, sondern die der Zugänglichkeit zu verdeutlichen gilt. Natur muß auf ein Formenrepertoire zurückgebracht werden, das Künstler und Betrachter des Kunstwerks gleichermaßen teilen. Solchen Formen eignet nicht mehr die Qualität der morphé; statt dessen bilden sie eine offene Reihe, weshalb es nun weniger Gegenstände, sondern eher Wahrnehmungsbedingungen nachzuahmen gilt, damit Naturphänomene in der vom Künstler intendierten Weise gesehen werden können. Denn bereits der einfache Wahrnehmungsvorgang lehrt, daß wir Gegenstände niemals als ganze, sondern immer nur als etwas wahrzunehmen vermögen, was sich auch in der zitierten Passage zeigt, wo selbst ein monochromes Bild „als Form und Ausdruck“ gesehen wird. Daraus ergibt sich, daß eine Nachahmung vorgegebener Gegenständlichkeit als solche gar nicht möglich ist, da jeder Betrachter einen solchen Gegenstand stets als etwas anderes gewärtigen würde. Um das zu vermeiden, müssen Formen der Wahrnehmbarkeit nachgeahmt werden, die es erlauben, Naturphänomene entsprechend zu sehen, wenngleich die nachgeahmten Wahrnehmungsbedingungen wiederum nicht Gegenstand der durch das Bild beabsichtigten Mimesis sind. Denn auf die Abbildung sedimentierter Formen kommt es nicht an, und das, worauf es ankommt, läßt sich ohne Imitation von Wahrnehmungsbedingungen nicht abbilden. Folglich ist die nachge[489]ahmte Natur nur als Vorstellungsgegenstand präsent, wenngleich die Illusion herrscht, daß Natur gegenwärtig sei. Das dürfte dann auch ein Grund dafür sein, weshalb schon in der Antike bisweilen die Mimesis als die Vortäuschung echter Gegenständlichkeit verstanden wurde, wie es sich in den gemalten Trauben des Zeuxis bekundet, an denen bekanntlich die Vögel gepickt haben sollen.

Ließ sich in der Mimesiskonzeption des Aristoteles durch die notwendige Vergegenständlichung dessen, was die techne als Nachahmung vorgegebener Gegenständlichkeit zu leisten hatte, ein performativer Keim erkennen, so beginnt die Performanz prominenter zu werden, wenn es die techne selbst zu explorieren gilt. Denn die Nachahmungen der im Geist abgelagerten Gestalten dienen der Instrumentalisierung von Wahrnehmungsbedingungen, durch die hindurch der repräsentierte Gegenstand so entsteht, als ob er in dieser Weise gegeben wäre. Zwar werden die Gestalten nicht einfach auf die Natur projiziert, aber sie bilden Leitorientierungen für deren Nachahmung, die eines solchen Als-Ob deshalb bedarf, weil die Natur zunehmend erschlossen und auf die Menschenwelt übersetzt werden muß.

Was sich hier andeutet, ist eine Umbesetzung des Mimesisbegriffs, dessen Referenz nicht mehr der aristotelische Kosmos, sondern in zunehmendem Maße die Wahrnehmung wird. Deshalb paßt das Apollonius-Beispiel auch in hervorragender Weise zu Gombrichs eigenem Festhalten am Nachahmungskonzept, das jedoch vorwiegend als performativer Akt zu denken ist. Gombrichs klassische Formulierung lautet: „daß das Bilden vor dem Nachbilden kommt [‚making comes before matching‘]. Bevor der Mensch das, was er sah, nachbilden wollte, wollte er Gebilde um ihrer selbst willen machen. Die Formel gilt übrigens nicht nur für eine mythische Vorzeit... daß nämlich der Prozeß des Nachbildens ohne ein schon vorher bestehendes Gebilde nicht möglich ist, sondern immer auf dem Wechselspiel [490] von Schema und Korrektur beruht. Ohne ein solches Schema zu kennen und zu beherrschen, kann kein Künstler einen Sinneseindruck wiedergeben.“7 Die Schemata laufen der Außenwelt voraus, die sich durch die Wahrnehmung des Künstlers als Korrektur in eine solche Vorgabe einträgt. Lenkt diese den Blick auf die sichtbare Welt, so wird das Auge vom Schema, nicht aber von der Entelechie der Natur informiert, mit der Konsequenz, daß es nun das gewärtigt, was der ererbte oder konstruierte Zugriff nicht mehr zu sehen erlaubt. Daher vollzieht sich die Porträtierung der sichtbaren Welt als Kette performativer Akte. Was ehedem für Aristoteles als Vergegenständlichung nur ein untergeordnetes performatives Moment im Mimesisgedanken verkörperte – weil das, worauf es sich bezog, philosophisch immer schon gewußt wurde –, wird nun als Performanz in dem Maße zum Träger der Mimesis, in dem die Wahrnehmung als Referenz die Wißbarkeit einer nachzuahmenden Natur auch nicht mehr entfernt zu beanspruchen vermag.

Je mehr die Mimesis durch den Repräsentationsvorgang selbst fundiert wird, desto notwendiger werden performative Qualitäten zu dessen Erschließung. Die Performanz muß kompensieren, was die Mimesis durch ihre Einbettung in Weltordnungen sowie durch die Würde des großen Gegenstands an Fraglosigkeit verloren hat.

Wie aber muß man sich nun diese Performanz denken, wenn making dem matching vorangeht, um dadurch eine Korrektur in das Schema einzutragen, das seinerseits nur eine Vorbedingung der Wahrnehmbarkeit verkörpert? Sofern man diesen Vorgang als Repräsentation wahrnehmbarer Gegenständlichkeit versteht, erweist sich die Nachahmung als eine mehrgliedrige Übersetzung, die im Endeffekt durch den Betrachteranteil an der Bildvorstellung in eine Wahrnehmungsillusion mündet. Es fragt sich daher, ob es sich hier überhaupt um die [491] Nachahmung eines vorgegebenen Gegenstands handelt, oder nicht eher darum, eine Gegenstandsillusion zu erzeugen. Am Ende lag selbst der klassischen Mimesis ein solches Verfahren zugrunde, das jedoch durch die Zuordnung der Nachahmung auf den antiken Kosmos verdeckt blieb und folglich erst dann offenkundig zu werden vermochte, als die Außenstabilisierung der Mimesis geschwunden war.

Wird die Gegenstandsillusion durch making und matching sowie durch Schema und Korrektur erzeugt, dann muß sich das Augenmerk darauf richten, wie die verschiedenen Operationen ineinandergreifen. Ein Schema zu konstruieren heißt nicht, einfach ein überliefertes zu kopieren, und wenn sich in der Regel die Konstruktion auch an eine Vorgabe anlehnt, so ist deren Korrektur aus ihr selbst nicht ableitbar. Das Schema wiederum muß ein Doppeltes leisten: es muß die sichtbare Welt so vorstrukturieren, daß das von ihm nicht mehr Gedeckte durch eine ihm widerfahrende Korrektur sichtbar gemacht werden kann. Wie aber geschieht das? Nun, die Gelenke dieses mehrgliedrigen Vorgangs sind weitgehend Leerstellen, wenngleich Gombrich in der Analyse seiner Beispiele immer auf die sich vollziehende Interaktion aufmerksam macht. Interaktion aber ist schon ein Spiel des Hin und Her, das sich zwischen making und matching genauso wie zwischen Schema und Korrektur vollzieht. So nistet sich eine Spieldimension in einer gewiß noch kaum differenzierten Form in das Nachahmungskonzept ein; denn nur wenn making und matching sowie Schema und Korrektur mit- oder gegeneinander spielen, entsteht eine illusionäre Gegenständlichkeit, die sich deshalb wie ein Gegenstand ausnimmt, weil der Betrachter des Bildes durch seinen Anteil den erzeugten Gegenstand wie eine Wahrnehmung begreift. Entsteht die Gegenständlichkeit des Gemäldes aus den beschriebenen Operationen, so weiß man zwar nie genau, wie diese verlaufen; sie vollziehen sich jedoch immer als das Wechselspiel von Anpassung [492] und Aneignung, wobei sich das Schema den Wahrnehmungsbedingungen anpaßt, um sich die sichtbare Welt so aneignen zu können, daß sich diese wie ein Gegenstand ausnimmt.

Es gehört zu den Auffälligkeiten der Mimesis, daß in dem Augenblick, in dem es das zu erklären gilt, was Aristoteles als techne bezeichnet hatte, der Performanzgedanke Karriere macht, so daß am Ende die Mimesis das Objekt ihrer Nachahmung selbst erzeugt.

Die der Mimesis eignende „Illusion“, meint Paul Ricœur, „stammt angeblich von dem unmöglichen Anspruch, das Innere eines Vorstellungsbildes mit der äußeren Gegebenheit eines Realen, das von außen das Vorstellungsbild lenkt, zu einer Ganzheit oder Repräsentation zusammenzuschließen.“8 Das ist für Ricœur nun auch der Grund, weshalb die Mimesis in zunehmendem Maße unter Druck geraten ist. „Demnach sollte, wie man landläufig annimmt, Repräsentation als Verdoppelung dessen, was ist, als das Re-Präsentieren von Präsenz denunziert werden. Mit meinem Vorhaben dagegen versuche ich die Repräsentation aus der Sackgasse, in die sie verbannt worden ist, wieder zu befreien, sie in ihre eigentliche Domäne als Spiel zurückzuführen, ohne jedoch in irgendeiner Weise die Kritik abzuschwächen, von der ich eben gesprochen habe.“9

Die Mimesis gegen ihren eigenen Illusionismus sowie gegen die dekonstruktivistische Kritik stark zu machen, heißt für Ricœur, „sich aus der Geschlossenheit der Repräsentation zu befreien“10, weshalb er Mimesis als einen Prozeß zu entfalten gedenkt, „den ich spielerisch, aber dennoch allen Ernstes mimesis 1, mimesis 2, und mimesis nennen will“.11 Nun bedarf Mimesis selbstver[493]ständlich einer Vorgabe, und dazu beruft sich Ricœur auf „den zentralen Gedanken des Aristoteles, daß Dichtung Nachahmung von Handlung sei“.12 Mimesis setzt folglich ein allgemein akzeptiertes Vorverständnis dessen voraus, was eine Handlung ist, die sodann vom Autor in einen Text umgesetzt und schließlich vom Leser realisiert wird. „Es ist in der Tat der Leser – oder besser der Akt des Lesens – der letztlich die einzigartige Schaltstelle für den unaufhörlichen Übergang von mimesis 1 zu mimesis 3 durch mimesis 2 ist; das heißt: von einer präfigurierten Welt zu einer transfigurierten Welt durch die Vermittlung einer konfigurierten Welt.“13

Diese Dreistufigkeit gleicht strukturell dem von Gombrich entwickelten Mimesiskonzept, das von den ererbten Schemata des Malers über das Bild bis hin zum Betrachteranteil Repräsentation als einen Phasenablauf umschreibt. Unterschiede ergeben sich nur insoweit, als Gombrich Mimesis auf die sichtbare Welt und Ricœur sie auf die Handlung bezieht. Das könnte heißen: ein Festhalten am Mimesisgedanken führt zu einer verstärkten Partialisierung der Vorgaben, die es nun nachzuahmen gilt; denn eine wahrnehmbare Welt ist etwas anderes als eine Handlung, geschweige denn eine aristotelisch verstandene morphé. Wechsel und Spezifizierung der Vorgaben hängen aufs engste mit dem Wozu der Mimesis zusammen, die sich nach dem Wegfall ihrer traditionellen Zuordnung nicht mehr so ohne weiteres konzeptualisieren läßt. Die Nachahmung als Prozeß zu begreifen nimmt sich dann geradezu wie eine ‚Demokratisierung‘ der Mimesis aus, indem der Leser zur Schaltstelle wird, um die Prozeßphasen ihrer Vollendung zuzuführen. Es ist daher nur konsequent, wenn Ricœur am Schluß seiner Überlegung die Frage nach der Referenz aufwirft, die eine solche Nachahmung orientiert: „Können wir weiterhin das klassische Konzept der Referenz beibehalten, ... wenn wir von der transfigurie[494]renden Handlung der Mimesis sprechen? Nein, wenn wir sie im Sinne deskriptiver Referenz begreifen. Aber ja, wenn wir einräumen, daß mimesis 3 die deskriptive Referenz aufspaltet und uns nahelegt, den Begriff einer nicht-deskriptiven referentiellen Dimension zu schaffen. In einem solchen Falle müssen wir die paradoxe Idee einer produktiven Fortbildung von Referenz wagen... In diesem Verständnis ist Mimesis unseren Begriffen der Referenz, des Wirklichen und der Wahrheit voraus. So entzündet sie ein bislang unerfülltes Bedürfnis, über das Gegebene hinaus zu denken.“14

Eine Mimesis, die ihre eigene Referenz erzeugt, wird transzendental zu ihren Vorgaben. Denn sie verfügt nun darüber, was eine Handlung sei, deren ursprüngliches Vorverständnis über die konfigurative Textgestalt zur Entdeckung ihrer Polysemie transfiguriert wird. Vorgaben wären dann nur noch Anlässe, um das im Vorverständnis Verdeckte zu entfalten und sich darauf zu einigen, daß man von Gleichem ausgeht. War für Gombrich noch die Wahrnehmung Referenz der Mimesis, so gilt es für eine prozessual verstandene Mimesis, deren Referenzen immer wieder zu öffnen, um in der daraus resultierenden Dynamik eine Referentialität hervorzubringen, die es erlaubt, Handlung als solche zu vergegenwärtigen. Das ist insofern konsequent, als das Wozu der Mimesis sich nicht mehr auf die historisch verbürgten Gewißheiten berufen kann, weshalb die Mimesis im Endeffekt in das Erzeugen ihrer eigenen Referenz umschlägt. Das aber heißt auch: selbstreferentiell darf sie nicht werden, will sie nicht einem Selbstwiderspruch verfallen; denn Mimesis impliziert das Verhältnis von Vorgabe und Nachahmung, das in sich zusammenfiele, würde sich Mimesis selbst zum Gegenstand. Eine Mimesis hingegen, die ihre eigene, sich der Beschreibbarkeit entziehende Referentialität erzeugt, „ist eine Handlung über das Handeln“.15 Diese Ähnlichkeit mit ihrer [495] Vorgabe dient allerdings dazu, einen solchen Vorgang zu repräsentieren, und das heißt nichts weniger, als daß nun Mimesis selbst zum Repräsentanten der Performanz wird.

Denn Mimesis muß nun ein Doppeltes leisten: aus den Figurationen der nachgeahmten Handlung eine Referenz extrapolieren, um die Figurationen ihrerseits begreifbar zu machen. Für diesen Vorgang steht der hermeneutische Begriff der ‚Vermittlung‘16, der allerdings auch das asylum ignorantiae der Hermeneutik bildet. Der von der Mimesis bewirkte Wandel von der Präfiguration (Vorverständnis) über die Konfiguration (Text) bis hin zur Transfiguration (Leser) artikuliert zwar die Phasen eines Prozesses, nicht aber dessen Umschlagstellen. Diese bleiben leer, und das müssen sie wohl auch, weil der Statuswechsel der Figurationen – wenn überhaupt – sich nur als Spiel verstehen läßt, das die unterschiedlichen Konstellationen eines solchen Wechsels durch jeweils andere Formen ausspielen wird. Spiel entsteht ferner zwischen dem Figurationswandel und der daraus extrapolierten Referenz; denn diese ist ebensowenig vorgegeben, wie sich das Spiel der Figurationen bereits von selbst verstünde. Vollzieht sich das Spiel wechselnder Figurationen im Sinne der beschriebenen Spielformen des Textes sowie deren Kombination, so dürfte es zwischen extrapolierter Referenz und den sich wandelnden Figurationen kybernetisch verlaufen. Die Referenz entsteht aus dem feed-forward des Statuswechsels der Figurationen, die ihrerseits vom feed-back der sich bildenden Referenz gesteuert werden. Diesem performativen Ineinanderspielen verdankt sich der Sachverhalt, den es im Akt des Lesens einzulösen gilt.

Je mehr Mimesis als Verfahren analysiert wird, desto unabweisbarer drängt sich der performative Charakter [496] der Darstellung auf. Nur noch die Vorgabe bindet die Performanz mimetisch, wenngleich sich die Vorgabe bisweilen so ausnimmt, als ob sie durch Performanz erzeugt worden wäre. Von da aus ist es nur noch ein Schritt, bis sich Performanz gegen die Mimesis selbst kehrt. In Adornos Ästhetischer Theorie wird er vollzogen, ist hier allerdings nur insoweit von Interesse, als er die Relevanz des Textspiels zu situieren erlaubt.

„Nachahmung als ästhetische Kategorie ist so wenig einfach zu eliminieren wie zu akzeptieren. Kunst objektiviert den mimetischen Impuls. Sie hält ihn ebenso fest, wie sie ihn seiner Unmittelbarkeit entäußert und ihn negiert. Nachahmung von Gegenständen zieht aus solcher Dialektik der Objektivation die fatale Konsequenz. Vergegenständlichte Realität ist das Korrelat vergegenständlichter Mimesis... Mimesis selbst beugt sich der Vergegenständlichung, vergeblich hoffend, den fürs vergegenständlichte Bewußtsein entstandenen Bruch zum Objekt zu schließen. Indem das Kunstwerk sich zu einem dem Anderen, Gegenständlichen, Gleichen machen will, wird es zu dessen Ungleichem.“17 Das ist ‚subversive Mimesis‘18, durch die sich das Kunstwerk der Natur gleich macht, um ihr dadurch opponieren zu können. Zwar bindet sich die Kunst für Adorno noch an das Naturschöne – das wie ein klassischer Reflex die Ästhetische Theorie durchzieht –, aber was „an Natur erscheint, das wird durch seine Verdoppelung in der Kunst eben jenes Ansichseins beraubt, an dem die Erfahrung von Natur sich sättigt“.19 „Das Ansichsein, dem die Kunstwerke nachhängen, ist nicht Imitation eines Wirklichen sondern Vorwegnahme eines Ansichseins, das [497] noch gar nicht ist, eines Unbekannten... Sie sagen daß etwas an sich sei, prädizieren nichts darüber... Kunst möchte mit menschlichen Mitteln das Sprechen des nicht Menschlichen realisieren.“20 Das ist der Grundakkord, der in der Ästhetischen Theorie geradezu endlos variiert und zu der Formel wird: Der der Darstellung des Kunstwerks unterliegende „Impuls (ist) nicht der von Nachahmung ... sondern von Anbeginn Einspruch gegen die Verdinglichung“.21 Denn was im Kunstwerk erscheint, ist „etwas, was es nicht gibt“22, das allerdings, „weil es erscheint, auch möglich sein muß“.23 Folglich ist die Erscheinung nicht Abbild, sondern als „apparition“24 die Augenblicksspur dessen, was nicht ist. Das aber muß dem Bildcharakter der Erscheinung eingeschrieben sein, weshalb das Kunstwerk, wenn es in Sprache hineingezogen wird, der Verdinglichung des Nicht-Seienden nur dadurch zu entgehen vermag, daß es seine eigene „imagerie“25 zerstört. Denn es gilt, die in der Erscheinung liegende Illusion zu löschen, daß es das gibt, was die Erscheinung vorgaukelt, wodurch das Kunstwerk den Bruch mit der Natur in sich selbst hineinnimmt; denn nur in bestimmter Negation vermag das Kunstwerk zu demonstrieren, daß es der einzige Statthalter des Nicht-Seienden inmitten des Wirklichen ist. Der Bruch mit der Objektwelt ist als Riß im Kunstwerk gegenwärtig, das mit dem Rätsel „die Zwieschlächtigkeit des Bestimmten und Unbestimmten“ teilt.26 Der Riß indiziert, daß sich nur durch Abbildhaftes hindurch der performative Charakter der Darstellung zu entfalten vermag. Im Riß, so ließe sich in Rückwendung auf das Ricœursche Argument sagen, besitzt das Kunstwerk seine Referenz, die ihn als die Quelle der Performanz [498] erscheinen läßt. Wenn sich diese von ihrer Bindung an die Mimesis löst, dann wird das Mimetische zur Drapierung dessen, was durch den Riß als Nicht-Seiendes hindurchscheint und folglich immer wieder zerspielt werden muß, damit die Verkleidung offenkundig bleibt.

So wird der Riß zum Zeichen dessen, was seiner Natur nach unversöhnlich ist: das Seiende und das Nicht-Seiende. Doch gerade um diese Unversöhnlichkeit gegenwärtig zu machen, muß das Kunstwerk den Schein der Versöhnung erzeugen, mit der Maßgabe allerdings, diesen Schein als einen solchen zu entblößen. Dazu bedürfen jedoch zunächst Unversöhnlichkeit sowie Nicht-Seiendes – die als solche ja abwesend sind – einer bestimmten Form von Anwesenheit, die sie zwar nicht bestimmen darf, wohl aber als Unmöglichkeit und Ungreifbarkeit gegenwärtig machen muß. Denn ohne eine solche Gegenwart wäre beides weder für das Bewußtsein noch als Erfahrung verfügbar. Die Anzeige einer anwesenden Abwesenheit leistet der ästhetische Schein, der zum einen die Illusion einer Gegenwart von dem erzeugt, was nicht ist, und zum anderen als Schein durchschaubar bleiben muß, damit Nicht-Seiendes nicht zum Sein werde. Folglich entpuppt sich der Schein als eine ‚Form der Vermittlung‘ zwischen dem Bewußtsein und dem, was diesem entzogen ist. Als Medium bringt der Schein zu den für Bewußtsein und Erfahrbarkeit geltenden Erfassungsbedingungen eine ‚Gegenwart‘ zustande, die allerdings eine ‚Gegenwart‘ dessen ist, das – käme es zu realer Gegenwärtigkeit – nicht mehr das Gegenwärtigsein von Abwesendem wäre. Dem Schein muß daher ständig die Affirmation entzogen werden, weil das, was er vorspiegelt, nur dann als Abwesendes zur Gegenwart kommen kann, wenn sich der Schein als gestörte Illusion präsentiert.

Das unterscheidet ihn sowohl vom schönen Schein als auch vom sinnlichen Scheinen der Idee. Dem schönen Schein lag immer eine schlechte Wirklichkeit voraus, [499] von der er zwar abhing, die zu übersteigen aber zu seiner Bestimmung wurde. Das sinnliche Scheinen der Idee schafft dem Wahren die unmittelbare Einheit zwischen dem Begriff und seiner äußeren Erscheinung; deshalb ist im Sinne Hegels „die Idee nicht nur wahr, sondern schön“.27

Als gestörte Illusion bleibt der Schein von dem Riß durchzogen, der – im Sinne Adornos – Seiendes und Nicht-Seiendes als das Beieinander des Unversöhnlichen zeigt. Repräsentiert der inauthentische Schein die Unversöhnlichkeit als Kennzeichen des Wirklichen, so gilt es doch zugleich, die Abbildhaftigkeit aller Repräsentation wieder aufzuheben, um vorstellbar zu machen, was sich der Mimesis entzieht. Im Horizont der Adornoschen Theorie spielt folglich die Performanz gegen die Mimesis. Das geschieht dort agonal, wo sich das Kunstwerk von dem „sich selbst einem Anderen Gleichmachen“28 beherrscht sieht, mit der Maßgabe allerdings, dann dieser Verdinglichung zu opponieren.29 Das geschieht dort als Maskierung, wo in der Nachahmung des Naturschönen diesem das Ansichsein entrissen werden muß, um es als „imagerie“ zu verbildlichen. Und das geschieht dort karnevalistisch, wo es die „imagerie“ zur „Explosion“30 zu bringen gilt, damit das Versprochene nicht mit der Bildhaftigkeit seiner Vorstellung verwechselt werde.

Wenn in diesem Spiel die Performanz die Oberhand behält, so deshalb, weil es hier um die Vergegenwärtigung eines seiner Natur nach Nicht-Erscheinenden im Erscheinenden geht, dessen Gegenstandsunfähigkeit niemals Vorgabe einer Nachahmung werden kann. Aber auch die Mimesis kann dem Zusammenspiel mit Performanz nicht entsagen, da allein schon die Vergegenwär[500]tigung vorgegebener Objekte deren Modifikation beinhaltet. Die Performanz wird wachsen, je unbestimmter die Referenz der Repräsentation wird, und wenn heute vom „Ende der Repräsentation“31 die Rede ist, so bleibt zu überlegen, ob damit lediglich eine historische Zustandsbeschreibung oder nicht eher die Unzulänglichkeit gemeint ist, durch den Repräsentationsbegriff das fassen zu können, was in Kunst und Literatur geschieht.

Was sich in den Mimesis-Theorien als Differenz zwischen Vorgabe und Nachahmung höhlt, wird dort zum Riß, wo die Performanz32 dominiert. Blieb in den Mimesis-Theorien die Differenz eine Leerstelle, die – weil sie Vorgabe und Nachahmung trennte – keiner der Positionen in diesem durch sie begründeten Verhältnis zugeordnet werden konnte, so ist der Riß als die Gegenläufigkeit von Unvereinbarem Spielantrieb schlechthin, in dessen Entfaltung sich nichts gleich bleibt.

Das kann jedoch nicht bedeuten, daß der Riß als Riß erscheint. Daher hat die Differenz auch keine Gegen[501]wart, sondern ist die Ermöglichung von Unterscheidungen dessen, was durch sie zur Position wird. Indem sie so die Positionen im literarischen Text stabilisiert, entfalten sich Verhältnisse, weil die Positionen unterschiedlichen Zeichencharakter haben und daher verschiedene Verweissysteme im Text etablieren, die angesichts ihrer Verschiedenheit in Bewegung geraten. Damit löst die Differenz Antriebe zu ihrer Aufhebung aus, die nicht aus ihr, sondern aus dem kommen, was sie different gemacht hat. Denn von sich aus eignet den Positionen des Textes keine Bestimmung, die sie allererst dadurch gewinnen, daß sie voneinander unterschieden werden. Deshalb vermag nur das Spiel die geschiedenen Positionen unter Aufrechterhaltung ihrer Verschiedenheit in die wechselnde Vielfalt möglicher Beziehungen zu bringen. Das Spiel ist die einzige Präsenz, die sich selbst entspringt, weshalb es auch verlischt, wenn es zu Ende gespielt wird.

Das Spiel macht die Differenz insofern operativ, als der Versuch, diese zu überspielen, zu deren Austragung führt. Folglich sind dann die Textpositionen nicht mehr ausschließlich als Repräsentanten ihrer jeweiligen Verweissysteme gegenwärtig – zu denen sie die Differenz geschieden hat –, sondern in wechselnder Aspekt- und Beziehungshaftigkeit, wodurch das Spiel die Differenz noch einmal in die Positionen selbst hineintreibt, die dadurch als ständiges Umschlagen zwischen anwesenden und abwesenden Aspekten entfaltet werden. Erscheinen die Positionen als wechselnde Aspekthaftigkeit, dann treibt das Spiel hervor, was in ihrer jeweiligen Repräsentation verborgen liegt. Was dadurch zum Vorschein kommt, wird seine Rückwirkung auf die Repräsentation nicht verfehlen. Spiel wird zum Modus eines Entdeckens, verändert sich aber seinerseits durch das, was es in Bewegung gebracht hat, so daß im Textspiel die Spielformen selbst in einen kaleidoskopartigen Wechsel geraten zwischen dem, was sie sind, und dem, was durch dieses Sein verdeckt wird.

[502] Darstellung erwiese sich dann als eine Dimension, in der das zur Äquivalenz kommt, was in solchen Doppelungen auseinandergespannt ist. Da diese vom Spiel bewirkt werden, bildet Spiel die Infrastruktur der Darstellung. Denn Darstellung ist eine Figuration dessen, was sich im Spiel als die Verbindung des Gegenläufigen gezeigt hat. Die Figuration ist daher weder das Bild einer nachgeahmten Gegenständlichkeit noch reine Erfindung eines Sachverhalts, da sie auf Gegebenheiten aufruht, mit denen allerdings im Spiel etwas geschieht. So wenig diese Figuration in einer bestimmten Position des Textes gründen kann, dessen Repräsentation sie dann wäre, so wenig ist sie strukturlos. Dafür sorgt das Spiel sowohl durch die Form seiner Anlage als auch durch sein Gespieltwerden. Die Figuration wird folglich die Gegebenheiten aller Positionen des Textes sowie deren wechselseitiges Überspieltwerden gleichermaßen umfassen, wodurch Darstellung als Performanz Geschehenscharakter gewinnt.

Ist Darstellung eine durch Spiel gelenkte Performanz, so fragt es sich, wie die von ihr hervorgebrachte Figuration zu qualifizieren sei. Was der Darstellung vorgegeben ist, wird verarbeitet und vermag daher nicht konstitutive Bedingung der Figuration zu sein. Als Produkt einer solchen durch Spiel bewirkten Verarbeitung besitzt die Figuration keine Gegenstandsqualität, wenngleich sie dadurch nicht schon reine Einbildung ist. In einem von Husserl gemeinten Sinne ließe sie sich als Phantasma beschreiben: „Das Phantasma ... gibt sich als nichtgegenwärtig, es wehrt sich gegen die Zumutung, für gegenwärtig genommen zu werden, es führt von vornherein den Charakter der Irrealität mit sich, es hat primär die Funktion, für etwas anderes zu gelten. Erst die indirekte Reflexion verleiht ihm eine akquirierte Gegenwart.“33 Das Phantasma besitzt keine Materialität, [503] wenngleich es Form hat, die es zum Träger dessen macht, was es selbst nicht sein kann. Folglich ist es weder Abbild noch Halluzination, obwohl es die Aufhebung der im Spiel ausgetragenen Doppelungen zu sein scheint. Wenn aber Darstellung als die Überbrückung dessen zu verstehen sei, was durch Differenz separiert wurde, so fragt es sich, ob die Differenz überhaupt zu beseitigen ist. Entspringt Darstellung der Aufhebung der Differenz, die sich immer nur in Spielmöglichkeiten zeigt, so wird in ihr etwas ‚aufgehoben‘, was seiner Natur nach ‚nicht seiend‘ ist. Dieser Sachverhalt ist durch Darstellung nicht zu verdecken, vielmehr wird er in diese eingehen, weshalb die von Darstellung hervorgebrachte Figuration ein Phantasma ist. Dem Phantasma bleibt die Doppelheit eingeschrieben, gleichzeitig gegenwärtig zu sein und nicht für Gegenwart gehalten zu werden, etwas zu sein und es selbst nicht zu sein, so daß es zum Medium für das Erscheinen dessen wird, was nicht ist.

Im Phantasma bezeugt sich der Widerstand, den die Differenz gegen ihre Mediatisierung setzt, und deshalb wird der in der Figuration vorgestellten Erschlossenheit die Affirmation entzogen. Depotenziert die Differenz die Figuration der Darstellung zum Phantasma, so bedarf sie dieses Phantasmas zu ihrer Manifestation. Wie anders sollte sich sonst Differenz als ‚nicht-seiend‘ in dem zur Geltung bringen, was ist?

Dieser Sachverhalt wird dann zur Bedingung der Rezeption, bzw. diese bezeugt durch ihre Operationen, daß die Figuration als Produkt der Darstellung ein Phantasma ist. Wenn Darstellung einer Sache gilt, die keine gegenständliche Qualität besitzt, dann wird die Figuration zur Bedingung für das Erzeugen eines Vorstellungsgegenstands. Damit aber setzt die Semantisierung der Figuration ein, wodurch dem Phantasma eine situationspragmatische Realdeckung gegeben wird. Das geschieht bald durch ein Hineinsehen in das Phantasma von etwas, das es nicht sein kann, weil es Erscheinung [504] dessen ist, was nicht ist, und bald durch ein Symbolisieren und Analogisieren, die sich wechselweise darin unterstützen, dem Phantasma die offensichtlich ungreifbare Repräsentation zu restituieren. Das aber heißt, Rezeption ist darauf bedacht, eine nicht wahrnehmbare – wenngleich aus Gewohnheit vermutete – Gegenständlichkeit zu entdecken. Ist dem Phantasma durch seinen Status die Differenz eingeschrieben, so ist die Semantisierungsbewegung in der Rezeption – wie immer sie im einzelnen auch verlaufen mag – Aufheben der Differenz. Wenn aber die Semantisierung von Darstellung dem Aufheben der Differenz entspringt, dann kann die Differenz selbst nicht schon semantisch sein; denn die Semantik ist nicht ihr eigener Grund. Doch gerade dadurch wiederholt sich der performative Charakter der Darstellung im performativen Akt der Vorstellung, und es ist diese von der Darstellung als Figuration angestoßene Wiederholung, die den Transfer zwischen dem literarischen Text und seiner Einlösung im Vorstellungsbewußtsein des Rezipienten sichert. Nun scheint die Differenz endgültig besetzt zu sein; das Spiel ist aus. Aber da das Spiel vom gleichen Rezipienten sogleich erneut gespielt werden kann, wird zwar die Rezeptionsgestalt nicht zum Phantasma, wohl aber zur Partialität werden. Denn das, was nicht ist, stiftet durch sein phantasmatisches Erscheinen in der auf Finalität bedachten Rezeption andersartige Wiederholbarkeit. […]

6 Vgl. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, übers. von Max Looser, Frankfurt/M. 1984, pp. 24-31 u. 125f.

7 Dieser Terminus stammt von D. W. Winnicott, Playing and Reality, London 1971, pp.11-14.

8 T. S. Eliot, Collected Poems 1909-1935, London 151954, pp. 13f.

9 Vgl. dazu Ju. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. von Rolf-Dietrich Keil, München 1972, pp. 342 ff.

10 Nelson Goodman, Ways of Worldmaking, Hassocks 1978, p. 102; dt.: Weisen der Welterzeugung (s. Fn. 6).

19 Vgl. dazu Rainer Warning, „Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion“, in: Funktionen des Fiktiven (Poetik und Hermeneutik X), Hg. Dieter Henrich und Wolfgang Iser, München 1983, pp. 183-206.

20 Vgl. dazu u.a. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt/M. 51975, pp. 205-16.

21 Vgl. Henry Fielding, The History of Tom Jones, XVI, 5, London (Everyman’s Library II) 1957, pp. 307-11. Floyd Merrell, Pararealities: The Nature of our Fictions and How we Know Them (Purdue University Monographs in Romance Languages 12), Amsterdam u. Philadelphia 1983, pp. 25 f., analysiert die Grundbefindlichkeit, die in einer solchen Situation entsteht, wie folgt: „Consider a frightened young boy in the movie theater. At a particular point in the action when a monster suddenly appears on the screen, suppose the boy abruptly contorts his face, grips the arm of his seat more tightly, and lets out a scream. This appears to be an automatic physiological response. It seems that the boy’s subjective self is somehow part of the fictional construct on the screen in such a way that there is a direct linkage between the sense data reaching him and his inner imaginary world – the conceived/perceived fiction. The fictional world is all make-believe, of course, and the young man is even tacitly aware of the fact. Yet he appears, at the instant when he screams, to be imagining himself ‘inside’ the fictional construct and, since that construct is part of his sense data from ‘outside’, he projects it into his ‘real world’ experiences. Consequently, it becomes as if his oscillations between fiction and ‘real world’ were, so to speak, ‘short circuited’ such that he remained for a split second exclusively ‘inside’ the fictional frame: it became his one and only ‘real world.’”

22 Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 81922 p. 585.

23 Ibid., pp. 585f.

24 Ibid., p. 591.

25 Ibid., p. 589.

153 Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt/M. 1950, p. 51.

154 Gordon Globus, Dream Life, Wake Life. The Human Condition through Dreams, Albany 1987, pp. 135 f. Der wahrhaft aufregende Vorschlag von Globus besteht darin, daß er Möglichkeiten nicht von Realitäten ableitet, sondern die Möglichkeiten – im Blick auf Leibniz – den Realitäten vorgeordnet sieht. Als Naturwissenschaftler gibt er sich jedoch mit den Aussagen des Philosophen nicht zufrieden, weshalb er in einer Analyse des menschlichen Immunsystems zu zeigen versucht, inwieweit dieses eine vorprogrammierte Möglichkeitsstruktur besitzt, die der Realität seines Wirksamwerdens vorausliegt. „Over the entire species, the immune Systems generate the set of all possible antibody antiworlds and worlds... The monadic immune System utilizes its own resources to create de novo by selective amplification its antiworld and world models. Its core processes are specifying, matching and producing.” (Ibid., 127 f.)

1 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, pp. 55 f.

2 Ibid., p. 73.

3 Ibid.

4 Vgl. dazu Murray Krieger, „Ambiguities of Representation and Illusion: An E. H. Gombrich Retrospective“, in: Critical Inquiry 11 (1984), pp. 181-94; E. H. Gombrich, „Representation and Misrepresentation“, in: Critical Inquiry 11 (1984), pp. 195-201; Murray Krieger, „Optics and Aesthetic Perception: A Rebuttal“, in: Critical Inquiry 12 (1985), pp. 502-08.

5 E. H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, übers. von L. Gombrich, Köln 1967, p. 209.

6 Ibid. pp. 209 f.

7 Ibid., p. 142.

8 Paul Ricœur, „Mimesis and Representation”, in: Annals of Scholarship. Metastudies of the Humanities and Social Sciences 2 (1981), p. 15.

9 Ibid.

10 Ibid.

11 Ibid., p. 17.

12 Ibid., p. 18.

13 Ibid., p. 28.

14 Ibid., pp. 29-31.

15 Ibid., p. 28.

16 Vgl. ibid., p. 19, wo Ricœur ausdrücklich feststellt: „To use a phrase from Clifford Geertz, human action is always symbolically mediated.”

17 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften 7), Frankfurt/M. 1970, p. 424.

18 Vgl. Michael Cahn, „Subversive Mimesis: T. W. Adorno and the Modern Impasse of Critique”, in: Mimesis in Contemporary Thought: An Interdisciplinary Approach I. The Literary and Philosophical Debate, Hg. Mihai Spariosu, Philadelphia u. Amsterdam 1984, pp. 27-64.

19 Adorno, p. 106.

20 Ibid., p. 121.

21 Ibid., p. 482.

22 Ibid., p. 127.

23 Ibid., p. 128.

24 Ibid., p. 130.

25 Ibid., p. 131.

26 Ibid., p. 188.

27 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Hg. Friedrich Bassenge, Berlin 1955, p. 146.

28 Adorno, p. 487.

29 Vgl. u. a. ibid., p. 305.

30 Ibid., p. 131.

31 Vgl. dazu Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Koppen, Frankfurt/M. 1971, pp. 269-306; Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt/M. 1972, pp. 351-79, sowie Gabriele Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität. Entwurf einer Psychoästhetik des modernen Theaters, Stuttgart 1981, pp. 4-34, die diesen Sachverhalt in eine historische und systematische Perspektive bringt. Manifestartig stellt Ian Hunter, „After representation: recent discussions of the relation between language and literature”, in: Ideological Representation and Power in Social Relations: Literary and Social Theory, Hg. Mike Gane, London u. New York 1989, pp. 167-97, das Ende der Repräsentation heraus.

32 Zu den anthropologischen Implikationen vgl. Victor Turner, The Anthropology of Performance, New York 1987, der den ethnographischen Hintergrund der Performanz durch die kulturspezifische narrative Paradigmatik detailliert, bes. pp. 33-71; dazu ferner Victor Turner, „Are there Universals of Performance?, with an introduction by Barbara Babcock, ‘The Arts and all the things common: Victor Turner's literary anthropology’”, in: Comparative Criticism 9 (1987), pp. 35-58.

33 Edmund Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung (Gesammelte Werke XXIII), Hg. Eduard Marbach, Den Haag 1980, pp. 80f.

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Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, 1991

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