Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Statement, 1943

Adolph Gottlieb, Mark Rothko, Barnett Newman

Quelle

Adolph Gottlieb/Mark Rothko/Barnett Newman: "Statement", in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Für die deutsche Ausgabe ergänzt von Sebastian Zeidler. Bd. II. 1940 – 1991. Übersetzt von Jürgen Blasius u.a. Ostfildern-Ruit: Verlag Gerd Hatje 1998, S. 688-689. ISBN 3-7757-0739-5.

Erstausgabe

"Statement", in: New York Times (13. 6. 1943), S. X9.

Genre

Zeitungsartikel, Brief

Medium

Kunst

[688] […] Für den bildenden Künstler ist die Arbeit des Kritikerverstandes eines der Lebensrätsel. Darum wohl ist die Klage der Künstler, sie würden zumal von den Kritikern mißverstanden, ein derart penetranter Gemeinplatz geworden. Da ist es schon ein Ereignis, wenn das Blatt sich wendet und der Kritiker in aller Ruhe, aber doch öffentlich, seine „Verwirrung“, seine „Ratlosigkeit“ angesichts unserer Bilder auf der Federation-Ausstellung eingesteht. Wir begrüßen diese aufrichtige, ja herzliche Reaktion auf unsere „dunklen“ Gemälde, die schließlich in anderen Organen der Kunstkritik ein hysterisches Tohuwabohu angerichtet haben.

[…] Wir beabsichtigen nicht, unsere Bilder zu verteidigen. Sie sind ihre eigene Verteidigung. Wir halten sie für klare Stellungnahmen. Daß es Ihnen nicht gelungen ist, sie leichthin abzutun oder lächerlich zu machen, ist der glaubhafte Beweis, daß sie eine gehörige Portion kommunikativer Kraft besitzen.

Nicht aus dem Grunde weigern wir uns also, sie zu verteidigen, weil wir das nicht könnten. Es wäre ein leichtes, den Verwirrten zu erklären, daß etwa The Rape of Persephone ein poetischer Ausdruck des Wesens dieses Mythos ist: die Darstellung des mythischen Motivs von Saat und Erde in seiner ganzen Unmenschlichkeit; die Wirkmacht elementarer Wahrheiten. Sollen wir etwa diesen abstrakten Begriff und seine komplexe Gefühlslage Ihrer Ansicht nach lieber durch ein lieblich tänzelndes Kinderpaar darstellen? Genauso leicht wäre es, The Syrian Bull als Neuinterpretation eines archaischen Bildes zu erklären, die bewußt beispiellose Verzerrungen vornimmt. Da die Kunst zeitlos ist, hat die bedeutsame Wiedergabe eines Symbols, wie archaisch es auch sei, heute dieselbe Gültigkeit, die das ursprüngliche einst besaß. Oder ist das 3000 Jahre alte Symbol etwa wahrer?

[…] Ein simples Thesenpapier bringt nur die Einfältigen weiter. Kein derartiges Programm könnte je unsere Bilder erklären. Diese Erklärung muß aus einer tief empfunde[689]nen Erfahrung erwachsen, die sich in der Auseinandersetzung zwischen Bild und Betrachter ereignet. Unserer Meinung nach geht es nicht um eine „Erklärung“ der Bilder, sondern darum, ob ihre wesentlichen Ideen Bedeutsamkeit besitzen oder nicht. Wir glauben, daß unsere Bilder unsere ästhetischen Überzeugungen anschaulich machen; deshalb seien hier einige genannt:

1. Kunst ist für uns eine abenteuerliche Reise in eine unbekannte Welt, die nur von denjenigen erforscht werden kann, die bereit sind, die Risiken auf sich zu nehmen.

2. Diese Welt der Einbildungskraft ist einerseits frei von Hirngespinsten, andererseits der eingeschworene Feind des gesunden Menschenverstands.

3. Es ist unsere Aufgabe als Künstler, die Betrachter dahin zu bringen, die Welt mit unseren Augen zu sehen – nicht mit ihren.

4. Wir bevorzugen den einfachen Ausdruck des komplexen Gedankens. Wir sind für die große Form, weil sie die Kraft der Eindeutigkeit besitzt. Wir wollen wieder mit allem Nachdruck auf die Existenz der Bildebene aufmerksam machen. Wir sind für flache Formen, weil sie die Illusion zerstören und die Wahrheit enthüllen.

5. Unter Malern gilt es weithin als ausgemacht, daß es nicht darauf ankomme, was gemalt wird, solange es nur gut gemalt ist. Das ist Akademismus in Reinkultur. Gute Malerei, die von nichts handelt, gibt es nicht. Wir bestehen darauf, daß der Bildgegenstand von entscheidender Bedeutung ist und daß nur zeitlose und tragische Bildthemen Wert besitzen. Deswegen bekräftigen wir unsere geistige Verwandtschaft mit der primitiven und archaischen Kunst.

Da unser Werk diese Überzeugungen verkörpert, muß es zwangsläufig diejenigen beleidigen, die geistig auf andere Dinge eingestellt sind: Innenarchitektur, Bilder fürs traute Heim, Bilder, die über den Kamin gehängt werden, American-scene-Bilder, Bilder mit sozialem Inhalt, künstlerische Reinheit, preisgekrönte Brotarbeiten, die National Academy, die Whitney Academy, die Corn Belt Academy, Hinterwäldlerkunst, banalen Quatsch usw.

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Adolph Gottlieb, Mark Rothko, Barnett Newman: Statement, 1943

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