Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Sprachen der Kunst, 1968

Nelson Goodman

Quelle

Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übersetzt von Bernd Philippi. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 17-21, 42-47. ISBN: 978-3-518-28904-4.

Erstausgabe

Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols. Based on his 1960-61 John Locke lectures. Indianapolis: Bobbs-Merrill 1968.

Genre

Vortrag

Medium

Kunst, Bild

[17] […] Um ein getreues Bild herzustellen, muß man dem Kopieren des Gegenstandes, so wie er ist, möglichst nahekommen.“ Diese einfältige Anweisung verwirrt mich; denn der Gegenstand vor mir ist ein Mann, ein Schwärm von Atomen, ein Zellkomplex, ein [18] Fiedler, ein Freund, ein Verrückter und vieles mehr. Wenn keines davon für sich genommen den Gegenstand, so wie er ist, konstituiert, was sonst könnte dies leisten? Sind dies alles Weisen, in denen der Gegenstand ist, dann stellt keine die Weise dar, in der der Gegenstand ist.4 Ich kann sie nicht alle zugleich kopieren; und je besser es mir gelingen würde, desto weniger wäre das Ergebnis ein realistisches Bild.

Was ich also kopieren soll, scheint einer dieser Aspekte zu sein, eine dieser Weisen, wie der Gegenstand ist oder aussieht. Aber natürlich nicht irgendeine beliebige – zum Beispiel nicht den Herzog von Wellington, wie er für einen Betrunkenen durch einen Regentropfen aussieht. Vermutlich eher die Weise, wie der Gegenstand sich für den Normalsichtigen aus angemessener Entfernung, günstigem Blickwinkel, bei gutem Licht, ohne Hilfsmittel darbietet, nicht beeinflußt durch Gefühle, Abneigungen und Interessen und nicht gedanklich und interpretativ ausgeschmückt. Kurz, der Gegenstand soll so kopiert werden, wie man ihn unter aseptischen Bedingungen mit dem freien und unschuldigen Auge sieht.

[19] Der Haken dabei ist, daß es, wie Ernst Gombrich nachdrücklich betont, das unschuldige Auge nicht gibt.5 Das Auge beginnt immer schon erfahren seine Arbeit, es wird von seiner eigenen Vergangenheit und von alten und neuen Einflüsterungen des Ohrs, der Nase, der Zunge, der Finger, des Herzens und des Gehirns beherrscht. Es funktioniert nicht allein und als Instrument aus eigener Kraft, sondern als pflichtbewußtes Glied eines komplexen und kapriziösen Organismus. Nicht nur wie, sondern auch was es sieht, wird durch Bedürfnis und Vorurteil reguliert.6 Es wählt aus, verwirft, organisiert, unterscheidet, assoziiert, klassifiziert, konstruiert. Eher erfaßt und erzeugt es, als daß es etwas widerspiegelt; und was es erfaßt und erzeugt, sieht es nicht entblößt, als etwas ohne Attribute, sondern als Dinge, als Nahrung, als Leute, als Feinde, als Sterne, als Waffen. Nichts wird entblößt gesehen oder bloß gesehen.

Die Mythen vom unschuldigen Auge und vom absolut Gegebenen sind üble Spießgesellen. Beide entspringen sie der Vorstellung, die sie auch begünstigen, daß nämlich Erkennen ein Verarbeiten von durch die Sinne geliefertem Rohmaterial sei und daß dieses Rohmaterial sich entweder mittels Purifikationsriten oder mittels methodischen Entinterpretierens aufdecken ließe.

[20] Aber Rezeption und Interpretation lassen sich als Vorgänge nicht trennen; sie sind vollständig voneinander abhängig. Das Kantische Diktum hallt hier nach: Das unschuldige Auge ist blind und der jungfräuliche Geist ist leer. Ferner läßt sich am fertigen Produkt nicht unterscheiden, was rezipiert und was damit gemacht worden ist. Inhalt läßt sich nicht dadurch freilegen, daß man Kommentarschichten abschält.7

Dennoch tut ein Künstler häufig gut daran, sich um die Unschuld des Auges zu bemühen. Diese Anstrengung bewahrt ihn bisweilen vor den ausgetretenen Pfaden alltäglichen Sehens und führt zu neuen Einsichten. Die entgegengesetzte Anstrengung, eine ganz persönliche Lesart voll zu entfalten, kann ebenfalls belebend wirken – und zwar aus dem gleichen Grund. Doch beide, das neutralste wie das parteiischste Auge, haben sich lediglich in verschiedener Weise überentwickelt. Das asketischste und das verschwenderischste Sehen unterscheiden sich – wie das nüchterne Porträt und die sarkastische Karikatur – nicht darin, wieviel, sondern nur darin, wie sie interpretieren.

Die Abbildtheorie der Repräsentation wird also schon zu Beginn durch ihr Unvermögen behindert, zu spezifizieren, was kopiert werden soll. Nicht ein Gegenstand in der Weise, wie er ist, noch in allen Weisen, noch in der Weise, wie er für das geistlose Auge aussieht. Darüber hinaus ist gerade an der Vorstellung etwas verkehrt, irgendeine der Weisen, in der ein Gegenstand ist, irgendeinen Aspekt von ihm, zu kopieren. Denn ein Aspekt ist nicht nur der Gegenstand-aus-einer-gegebenen-Entfernung-und-einem-Blickwinkel-und-in-gegebener-Beleuchtung; er ist der Gegenstand, wie wir ihn betrachten oder begreifen, eine Version oder ein Konstrukt des Gegenstandes. Wenn wir einen Gegenstand repräsentieren, dann kopieren wir nicht solch ein Konstrukt oder eine Interpretation – wir stellen sie her.8

[21] Mit anderen Worten, nichts wird jemals entweder seiner Eigenschaften völlig entkleidet oder in der Fülle seiner Eigenschaften repräsentiert. Ein Bild repräsentiert niemals bloß x, sondern repräsentiert vielmehr x als einen Mann oder repräsentiert x als einen Berg oder repräsentiert die Tatsache, daß x eine Melone ist. Was damit gemeint sein könnte, daß man eine Tatsache kopiert, wäre auch dann nur schwer zu begreifen, wenn es solche Dinge wie Tatsachen gäbe; mich zu bitten, x als ein Soundso zu kopieren, ist ein wenig so, als würde man mich bitten, etwas als ein Geschenk zu verkaufen; und davon zu reden, daß man etwas so kopiert, daß es ein Mann ist, ist barer Unsinn. Wir werden uns bald eingehender damit zu beschäftigen haben; aber wir brauchen uns wohl kaum eingehender damit zu beschäftigen, um einsehen zu können, wie wenig Repräsentation mit Nachahmung zu tun hat.

Die Argumente für die Relativität des Sehens und der Repräsentation sind anderswo so überzeugend vorgetragen worden, daß ich der Notwendigkeit enthoben bin, hier ausführlich darüber zu handeln. Insbesondere Gombrich hat erdrückende Belege zusammengetragen, um zu zeigen, wie sehr die Art und Weise, in der wir sehen und abbilden, von Erfahrung, Praxis, Interessen und Einstellungen abhängt und sich mit ihnen verändert.

[…] [42] […] Bei der Repräsentation muß der Künstler sich alter Gewohnheiten bedienen, wenn er neue Gegenstände und Verknüpfungen hervorbringen möchte. Wenn sein Bild so gesehen wird, daß es fast, aber nicht ganz auf die gewöhnliche Ausstattung der alltäglichen Welt Bezug nimmt, oder wenn es die Zuordnung zu einer gebräuchlichen Art von Bild fordert, sich ihr aber auch widersetzt, dann kann es vernachlässigte Ähnlichkeiten oder Unterschiede zutage fördern, ungewöhnliche Verbindungen festigen und in gewissem Ausmaß unsere Welt neu erzeugen. Und wenn die Botschaft des Bildes nicht nur mit Erfolg erzeugt, sondern auch gut aufgenommen wird, wenn die von ihm direkt und indirekt bewirken Neuorientierungen fesselnd und folgenreich sind, dann leistet das Bild – einem experimentum crucis gleich – einen echten Beitrag zum Wissen. Auf die Klage hin, daß sein Porträt Gertrude Stein ihr nicht ähnlich sehe, soll Picasso geantwortet haben: „Macht nichts; es wird.“*

Kurz, wirkungsvolle Repräsentation und Beschreibung erfordern Erfindung. Sie sind kreativ. Sie beeinflussen einander; und sie formen, verbinden und unterscheiden Gegenstände. Daß die Natur die Kunst nachahmt, ist ein allzu zaghaftes Diktum. Die Natur ist ein Produkt aus Kunst und Diskurs.

8. Realismus

Dies läßt die untergeordnete Frage unbeantwortet, was Realismus der Repräsentation konstituiert. Nach dem Vorangegangenen sicherlich nicht irgendeine Art von Ähnlichkeit mit der Realität. Und doch vergleichen wir ja Repräsentationen im Hinblick auf ihren Realismus oder Naturalismus oder ihre Treue. Wenn Ähnlichkeit nicht das Kriterium ist, was dann?

[43] Eine populäre Antwort ist die, daß der Test für Treue in der Täuschung besteht, daß ein Bild gerade in dem Ausmaß realistisch ist, in dem es eine gelungene Illusion ist, die den Betrachter zu der Annahme verleitet, daß das Bild ist, was es repräsentiert, oder daß es dessen Eigenschaften besitzt. Der vorgeschlagene Maßstab für Realismus besteht mit anderen Worten in der Wahrscheinlichkeit der Verwechslung von Repräsentation und Repräsentiertem. Dies ist ein gewisser Fortschritt gegenüber der Abbildtheorie; denn wichtig ist hier nicht, wie genau das Bild einen Gegenstand dupliziert, sondern inwieweit Bild und Gegenstand unter jeweils angemessenen Beobachtungsbedingungen zu denselben Reaktionen und Erwartungen führen. Ferner wird die Theorie nicht unmittelbar durch die Tatsache erschüttert, daß fiktive Repräsentationen sich in ihrem Grad von Realismus unterscheiden; denn obwohl es keine Kentauren gibt, könnte ein realistisches Bild mich durch Täuschung dazu bringen, es für einen Kentauren zu halten.

Es gibt jedoch Schwierigkeiten. Was uns täuscht, hängt davon ab, was man beobachtet, und was man beobachtet, variiert mit Interessen und Gewohnheiten. Wenn die Wahrscheinlichkeit der Verwechslung ist, dann haben wir keine Repräsentation mehr – wir haben Identität. Ferner steigt selbst bei einem unter normalen Galeriebedingungen betrachteten tückischen Trompe-l'œil-Gemälde die Wahrscheinlichkeit selten merklich über Null an. Denn ein Bild als ein Bild zu sehen schließt aus, es fälschlich für etwas anderes zu halten; und die angemessenen Beobachtungsbedingungen (z.B. gerahmt, vor einem einheitlichen Hintergrund usw.) sind darauf angelegt, Täuschung zu vereiteln. Täuschung bedient sich solcher Tricks wie einer suggestiven Szenerie oder eines Gucklochs, das Rahmen und Hintergrund ausblendet. Und unter solch unüblichen Bedingungen ist Täuschung kein Test für Realismus; denn mit hinreichender Manipulation kann selbst das unrealistischste Bild täuschen. Täuschung gilt weniger als Maßstab für Realismus denn als Anzeichen für Zauberkunst; sie ist eine höchst untypische Panne. Wenn ich ein sehr realistisches Bild anschaue, gehe ich doch selten davon aus, daß ich buchstäblich in die Ferne greifen, die Tomate schneiden oder die Trommel schlagen kann. Vielmehr erkenne ich die Bilder als Zeichen für die repräsentierten Gegenstände und Charakteristika – Zeichen, die [44] sofort und unmißverständlich funktionieren, ohne daß sie mit dem von ihnen Denotierten verwechselt werden. Natürlich können wir bisweilen dort, wo Täuschung vorkommt – etwa durch ein gemaltes Fenster in einer Wandmalerei – das Bild in der Tat realistisch nennen; aber solche Fälle geben keine Grundlage dafür ab, Bilder allgemein in mehr oder weniger realistische zu ordnen.

Gedanken in dieser Richtung haben zu der Annahme geführt, das realistischste Bild sei jenes, das den größten Betrag an sachdienlicher Information liefert. Aber diese Hypothese läßt sich schnell und vollständig widerlegen. Nehmen wir ein realistisches Bild, das in normaler Perspektive und mit üblichen Farben gemalt ist, und ein zweites Bild, das dem ersten genau gleicht außer darin, daß die Perspektive umgekehrt und jede Farbe durch ihre Komplementärfarbe ersetzt ist. Das zweite Bild liefert, wenn man es angemessen interpretiert, genau dieselbe Information wie das erste. Und es sind noch beliebig viele andere drastische, aber informationsbewahrende Transformationen möglich. Offenbar können realistische und unrealistische Bilder gleich informativ sein; der Informationsertrag ist kein Test für Realismus.

Bisher brauchten wir nicht zwischen Treue und Realismus zu unterscheiden. Für das eine wie für das andere haben sich die früher untersuchten Kriterien als unbefriedigend erwiesen. Wir können sie jedoch nicht mehr gleichsetzen. Die beiden soeben beschriebenen Bilder sind gleich korrekt, gleich getreu dem gegenüber, was sie repräsentieren, sie liefern dieselbe und daher auch gleich wahre Information; und doch sind sie nicht gleich realistisch oder buchstäblich. Soll ein Bild getreu sein, so bedeutet das für den repräsentierten Gegenstand lediglich, daß er die Eigenschaften hat, die das Bild ihm in Wirklichkeit zuschreibt. Aber eine solche Treue oder Korrektheit oder Wahrheit stellt keine hinreichende Bedingung für Buchstäblichkeit oder Realismus dar.

Der aufgeweckte Absolutist wird einwenden, daß wir für das zweite Bild, nicht aber für das erste, einen Schlüssel brauchen. Der Unterschied besteht aber eher darin, daß der Schlüssel für das erste zur Verfügung steht. Um das zweite Bild richtig lesen zu können, müssen wir Interpretationsregeln herausfinden und sie bewußt anwenden. Das erste lesen wir nahezu automatisch und [45] gewohnheitsmäßig; die Praxis hat die Symbole so transparent werden lassen, daß wir uns einer Anstrengung oder irgendwelcher Alternativen oder der Tatsache, daß wir interpretieren, überhaupt nicht bewußt sind.28 Genau hier liegt, denke ich, der Prüfstein für Realismus: nicht in der Quantität der Information, sondern in der Leichtigkeit, mit der sie fließt. Und dies hängt davon ab, wie stereotyp der Modus der Repräsentation ist, wie gebräuchlich die Etiketten und ihre Verwendungen geworden sind.

Realismus ist relativ; er wird durch das Repräsentationssystem festgelegt, das für eine gegebene Kultur oder Person zu einer gegebenen Zeit die Norm ist. Neuere, ältere oder fremde Systeme hält man für unnatürlich oder ungeschickt. Etwas auf einfache Weise zu repräsentieren ist für einen Ägypter der fünften Dynastie nicht dasselbe wie für einen Japaner des 18. Jahrhunderts; und für einen Engländer des frühen 20. Jahrhunderts ist es wieder etwas ganz anderes als für die beiden ersteren. Jeder müßte bis zu einem gewissen Grade lernen, wie man ein Bild in jedem der anderen Stile liest. Diese Relativität wird durch unsere Neigung verschleiert, einen Bezugsrahmen dann nicht zu spezifizieren, wenn es unser eigener ist. „Realismus“ wird daher oft als Name für einen bestimmten Stil oder ein bestimmtes Repräsentationssystem verwendet. Genauso wie wir auf diesem Planeten gewöhnlich Objekte für fixiert halten, wenn sie in einer konstanten Position relativ zur Erde sind, so halten wir in dieser Epoche und an diesem Ort gewöhnlich Gemälde für buchstäblich oder realistisch, wenn sie einen traditionellen europäischen Stil der Repräsentation haben.29 Aber eine derart egozentrische Ellipse [46] darf uns nicht zu der Folgerung verleiten, daß diese Objekte (oder irgendwelche anderen) absolut fixiert oder daß solche Bilder (oder irgendwelche anderen) absolut realistisch sind. Normenwechsel kann ziemlich rasch vor sich gehen. Gerade die Effektivität, die eine umsichtige Abkehr von einem traditionellen Repräsentationssystem begleiten kann, veranlaßt uns manchmal dazu, zumindest vorübergehend den neueren Modus zur Norm zu erklären. Wir sprechen dann davon, daß ein Künstler einen neuen Grad des Realismus erreicht oder neue Mittel zur realistischen Wiedergabe (etwa) von Licht oder Bewegung gefunden hat. Hier geschieht etwas ähnliches wie die „Entdeckung“, daß nicht die Erde, sondern die Sonne „wirklich stillsteht“. Die Vorzüge eines neuen Bezugsrahmens begünstigen zum Teil wegen seiner Neuheit in gewissen Fällen seine Einsetzung anstelle des herkömmlichen. Ob ein Objekt „wirklich fixiert“ oder ein Bild realistisch ist, hängt nichtsdestoweniger jederzeit ganz und gar davon ab, welcher Rahmen oder Modus gerade die Norm ist. Realismus ist keine Frage irgendeiner konstanten oder absoluten Beziehung zwischen einem Bild und seinem Gegenstand, sondern eine Frage der Beziehung zwischen dem im Bild verwendeten Repräsentationssystem und dem Standardsystem. Meist wird natürlich das traditionelle System als Standard genommen; und das buchstäbliche oder realistische oder naturalistische Repräsentationssystem ist schlicht das herkömmliche. Realistische Repräsentation hängt, kurz gesagt, nicht von Imitation oder Illusion oder Information, sondern von Impfung ab. Fast jedes Bild kann fast alles repräsentieren; d.h., sind Bild und Gegenstand gegeben, dann gibt es normalerweise ein Repräsentationssystem, einen Korrelationsplan, nach dem das Bild den Gegenstand repräsentiert.30 Wie korrekt das Bild nach diesem System ist, richtet sich danach, wie genau die Information über den Gegenstand ist, die man erhält, wenn man das Bild system[47]gemäß liest. Aber wie buchstäblich oder realistisch das Bild ist, richtet sich danach, wie sehr das System zum Standard geworden ist. Wenn Repräsentation eine Frage der Wahl ist und Korrektheit eine Frage der Information, dann ist Realismus eine Frage der Gewohnheit.

Unter diesen Bedingungen wird unsere Sucht, Ähnlichkeit für den Maßstab von Realismus zu halten, trotz überwältigender Gegenbeweise leicht verständlich. Repräsentationale Gewohnheiten, die für Realismus bestimmend sind, führen auch dazu, Ähnlichkeit zu erzeugen. Daß ein Bild wie die Natur aussieht, bedeutet oft nur, daß es so aussieht, wie die Natur gewöhnlich gemalt wird. Außerdem, was mich dazu verleiten will anzunehmen, ich hätte einen Gegenstand einer bestimmten Art vor mir, hängt davon ab, was ich an solchen Gegenständen beachtet habe, und dies wiederum wird von der Art und Weise beeinflußt, wie ich sie gewöhnlich abgebildet sehe. Ähnlichkeit und die Fähigkeit zu täuschen, die bei weitem keine konstanten und unabhängigen Quellen und Kriterien repräsentationaler Praxis darstellen, sind bis zu einem gewissen Grade deren Produkte.31

4 In „The Way the World Is“, Review of Metapbysiscs [sic], 14 (1960) (abgedruckt in Problems and Projects, fortan zitiert als PP, S. 24-32) habe ich behauptet, daß die Welt auf so viele Weisen ist, als man sie korrekt beschreiben, sehen, bildlich darstellen usw. kann, und daß es so etwas wie die Weise, in der die Welt ist, nicht gibt. Ryle vertritt in etwa eine ähnliche Position (Dilemmas, Cambridge 1954, S. 75-77; dt. Begriffskonflikte, Göttingen 1970), wenn er die Beziehung zwischen einem Tisch als einem wahrgenommenen soliden Gegenstand und dem Tisch als einem Schwärm von Atomen mit der Beziehung zwischen einer Collegebibliothek aus der Sicht des Katalogs und aus der Sicht des Buchhalters vergleicht. Es ist vorgeschlagen worden, man könne zu der Weise, wie die Welt ist, gelangen, indem man all die verschiedenen Weisen miteinander verbindet. Dabei wird die Tatsache übersehen, daß die Verbindung selbst für bestimmte Systeme charakteristisch ist; zum Beispiel lassen sich ein Textabschnitt und ein Bild nicht miteinander verbinden. Und jeder Versuch der Kombination aller Weisen wäre selbst nur eine – und eine besonders ungenießbare dazu – der Weisen, in der die Welt ist. Was aber ist die Welt, die auf so vielfache Weise ist? Spricht man von Weisen, in denen die Welt ist, oder von Weisen der Beschreibung oder bildlichen Darstellung der Welt, dann spricht man von Welt-Beschreibungen oder Welt-Darstellungen, und damit setzt man nicht voraus, daß es ein einzelnes Ding oder überhaupt irgend etwas gibt, das beschrieben oder bildlich dargestellt wird. Natürlich setzt auch nichts hiervon voraus, daß nichts beschrieben oder bildlich dargestellt wird. Weiteres siehe unter Abschnitt 5 und Fußnote 19 unten.

5 In Art and Illusion, New York: Pantheon Books 1960; dt. Kunst und Illusion, Stuttgart und Zürich 1978, und anderswo. Zur allgemeinen Frage der Relativität des Sehens siehe auch die Arbeiten von R. L. Gregory, Eye and Brain, New York: McGraw-Hill Co., 1966; dt. Auge und Gehirn, Frankfurt/M. 1972, und Marshall H. Segall, Donald Campbell und Melville J. Herskovits, The Influence of Culture on Visual Perception, Indianapolis und New York: The Bobbs-Merrill Co., Inc., 1966.

6 Beispiele psychologischer Forschung zu diesem Punkt finden sich bei Jerome S. Bruner, „On Perceptual Readiness“, Psychological Review 64 (1957), S. 123-152, und in anderen dort zitierten Artikeln; ebenso William P. Brown, „Conceptions of Perceptual Defense“, British Journal of Psychology, Monograph Supplement XXXV (Cambridge, England: Cambridge University Press 1961).

7 Der Begriff des epistemologischen Primats des absolut Gegebenen ist leer und die Suche nach ihm vergeblich; siehe hierzu mein Structure of Appearance (2nd edition; Indianapolis und New York: The Bobbs-Merrill Co., Inc., 1966 – fortan zitiert als SA), S. 132-145, und „Sense and Certainty“, Philosophical Review, 61 (1952), S. 160-167 (abgedruckt in PP, 60-68).

8 Und dies trifft nicht weniger zu, wenn wir anstelle des Stiftes oder Pinsels als Instrument eine Kamera benutzen. Die Wahl des Instruments und seine Handhabung sind an dem Konstrukt beteiligt. Das Werk eines Fotografen kann wie das eines Malers einen persönlichen Stil aufweisen. Hinsichtlich der ‚Korrekturen‘, die für manche Kameras eingerichtet sind, siehe Abschnitt 3 unten.

* Gertrude Stein überliefert die Begebenheit in Autobiographie von Alice B. Toklas: „Nach einem Weilchen sagte ich leise zu Picasso, daß mir sein Bildnis von Gertrude Stein gut gefiele. Ja, sagte er, alle sagen, sie sehe nicht so aus, aber das ist völlig einerlei, denn mal wird sie so aussehen.“ (A. d. Ü.)

28 Vgl. Descartes, Meditations on the First Philosophy, übers, von E.S. Haldane und G.R.T. Ross, New York: Dover Publications, Inc., 1955, Bd. 1, S. 155 (dt. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1993); auch Berkeley, „Essays Towards a New Theory of Vision“, in Works on Vision, ed. C.M. Turbayne, New York: The Bobbs-Merrill Co., Inc., 1963, S. 42 (dt. Versuch über eine neue Theorie des Sehens, Hamburg 1989).

29 Oder konventionellen; aber „konventionell“ ist ein gefährlich mehrdeutiger Ausdruck: Man denke etwa an den Gegensatz zwischen „sehr konventionell“ (als „ganz gewöhnlich“) und „hoch konventionell“ oder „hoch konventionalisiert“ (als „sehr künstlich“).

30 Es gibt in der Tat viele solcher Systeme. Ein Bild, das in einem (unvertrauten) System eine korrekte, aber höchst unrealistische Repräsentation eines Gegenstandes ist, kann in einem anderen (dem Standard-) System eine realistische, aber sehr inkorrekte Repräsentation desselben Gegenstandes sein. Nur wenn man im Standardsystem genaue Information erhält, repräsentiert das Bild den Gegenstand sowohl korrekt als auch buchstäblich.

31 Weder hier noch anderswo habe ich behauptet, es gebe keine konstante Ähnlichkeitsbeziehung; obwohl ungenau und fehlbar, sind Urteile über Ähnlichkeit in ausgewählten und vertrauten Hinsichten doch ebenso objektiv und kategorisch wie irgendwelche anderen, die wir bei der Beschreibung der Welt fällen. Aber Urteile über komplexe umfassende Ähnlichkeit sind etwas anderes. Zunächst einmal hängen sie von den Aspekten oder Faktoren ab, unter denen die betreffenden Gegenstände verglichen werden; und das hängt sehr von der konzeptuellen und perzeptuellen Gewohnheit ab. Zum zweiten entsprechen sich, selbst wenn man die Faktoren festgelegt hat, Ähnlichkeiten entlang den verschiedenen Achsen nicht unmittelbar, und der Grad der Gesamtähnlichkeit wird davon abhängen, in welcher Weise die verschiedenen Faktoren gewichtet werden. Normalerweise hat zum Beispiel Nähe bezüglich der geographischen Lage wenig zu tun mit unserem Urteil über die Ähnlichkeit zwischen Gebäuden, aber sie hat viel zu tun mit unserem Urteil über die Ähnlichkeit zwischen Bauplätzen. Die Beurteilung der Gesamtähnlichkeit unterliegt einer Unmenge von Einflüssen, und unsere repräsentationalen Gewohnheiten sind nicht die geringsten unter ihnen. Mit einem Wort: Ich habe zu zeigen versucht, daß, insofern Ähnlichkeit eine konstante und objektive Beziehung ist, Ähnlichkeit zwischen einem Bild und dem, was es repräsentiert, nicht mit Realismus zusammenfällt; und daß, insofern Ähnlichkeit mit Realismus zusammenfällt, die Kriterien der Ähnlichkeit mit den Veränderungen in der repräsentierenden Praxis variieren.

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