Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, 1959

Ernst H. Gombrich

Quelle

Ernst Hans Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Deutsche Übersetzung von Lisbeth Gombrich. Berlin: Phaidon 2010, S. 4-7, 9-12, 23, 24, 44, 46, 47, 75-78, 209, 215-221, 251-255, 258-268, 271-276, 304-307, 329. ISBN: 978-0-7148-9317-4.

Erstausgabe

Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation. London: Phaidon 1959.

Genre

Buch

Medium

Kunst, Bild

[4] […] Früher einmal gehörten Methoden der Darstellung in den Wirkungskreis des Kunstkritikers. Da er gewöhnt war, zeitgenössische Werke vor allem nach der Naturtreue der Darstellung zu beurteilen, zweifelte er nicht daran, daß diese Fertigkeit sich von unbeholfenen Anfängen bis zur Erreichung völliger Illusion entwickelt habe. Darnach seien die Methoden der alten Ägypter eben kindlich gewesen, weil die alten Ägypter es nicht anders gekonnt hätten. Man könne ihre Darstellungsweise vielleicht entschuldigen, aber niemals gutheißen. Der großen künstlerischen Revolution, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ganz Europa erfaßte, verdanken wir es als bleibenden Gewinn, daß wir diese Art der Ästhetik losgeworden sind. Heute gehört zu den ersten Vorurteilen, die Lehrer der Kunstbetrachtung zu bekämpfen suchen, der Glaube, daß künstlerischer Wert mit photographischer Treue identisch sei. Oft trachtet man, den Schüler durch eine Gegenüberstellung von Kunstwerken mit Ansichtskarten und Pin-up-girls die schöpferischen Gestaltungen großer Meister sehen zu lehren. Mit anderen Worten: Die Ästhetik hat es aufgegeben, sich mit dem Problem der überzeugenden Darstellung, das heißt mit dem Problem der Illusion in der Kunst, zu befassen. In gewisser Hinsicht ist dies bestimmt eine Befreiung und niemand würde wünschen, in die alte Verwirrung zurückzuverfallen. Jedoch hat die Tatsache, daß die Kunsthistoriker es gleichzeitig ablehnten, sich mit diesem ewigen Problem zu befassen, geradezu zu seiner Verweisung, seiner Vernachlässigung geführt. Es entstand der Eindruck, daß Illusion, als vom künstlerischen Standpunkt irrelevant, auch psychologisch etwas sehr Einfaches sein müsse.

[…] [5] […] Kunstwerke sind keine Spiegelbilder, aber sie haben mit ihnen jene rätselhafte Magie der Transformation gemein, die so schwer in Worten einzufangen ist. Ein Meister der Introspektion, Kenneth Clark, hat vor kurzem äußerst lebendig geschildert, wie er sich bei dem Versuch, eine Illusion zu ‚erhaschen‘, geschlagen geben mußte. Er betrachtete ein Meisterwerk des Velazquez [sic] und wollte erkennen, was eigentlich vor sich gehe, wenn die Pinselstriche und Farbflecke auf der Leinwand sich in eine verklärte Realität verwandeln, sobald man einige Schritte zurücktritt. Aber vergeblich. Sooft er sich auch vorwärts und rückwärts bewegte, gelang es ihm doch nie, beide Betrachtungsweisen gleichzeitig festzuhalten, und die Antwort auf die Frage, wie Velazquez das gemacht habe, entglitt ihm immer wieder. Im Beispiel Kenneth Clarks sind die Fragenkomplexe der Ästhetik und der Psychologie aufs innigste verflochten; in den Beispielen, die aus Psychologielehrbüchern kommen, sind sie es natürlich nicht. In diesem Buch erschien es mir oft von Vorteil, die Diskussion visueller Effekte von der Diskussion der Kunstwerke zu trennen. Ich bin mir bewußt, daß ich dadurch manchmal Gefahr laufe, vielleicht den Eindruck einer gewissen Ehrfurchtslosigkeit zu erwecken. Ich hoffe aber, es wird sich herausstellen, daß mir nichts ferner liegt. Abbilden muß nicht immer Kunst sein. Das macht aber das Problem der Darstellung nicht weniger rätselhaft. Ich erinnere mich genau, wie mir zum erstenmal die ganze Macht und Magie des ‚Bildnismachens‘ aufging – nicht etwa durch Velazquez, sondern durch ein einfaches kleines Zeichenspiel in meiner Schulfibel. Es gab da einen kleinen Vers, der das Kind anleitete, zuerst einmal einen Kreis zu zeichnen. Das war ein Laib Brot (in meiner Vaterstadt Wien sind die Laibe rund). Ein oben angesetzter Halbkreis verwandelte den Laib Brot in eine Einkaufstasche. Zwei kleine Zacken am Henkel der Einkaufstasche – und sie schrumpfte zu einer Geldbörse zusammen. ‚Und setzt man einen Schwanz [6] daran, eine Katze wird es dann.‘ Was mich damals so verwunderte, als ich das Spiel lernte, war das Zwanghafte, das diesen Verwandlungen innewohnte. Der Schweif vernichtete die Börse und erschuf die Katze. Es ist unmöglich, beide gleichzeitig zu sehen. Wie können wir, die wir noch recht weit entfernt davon sind, diesen Vorgang ganz zu verstehen, dann hoffen, dem Geheimnis eines Velazquez auf den Grund zu kommen?

[…] Wenn wir uns jedoch mit den Meistern vergangener Epochen beschäftigen, die sowohl große Künstler als auch große Illusionisten waren, ist es nicht immer möglich, das Studium des Kunstwerks als solches und das Studium der Illusion auseinanderzuhalten. Um so wichtiger ist es mir, so klar, als mir irgend möglich ist, zu betonen und herauszustellen, daß dieses Buch nicht die Absicht hat, offen oder verdeckt für die Anwendung illusionistischer Methoden in der heutigen Malerei einzutreten. Es ist mir ganz besonders darum zu tun, einem derartigen Mißverständnis zwischen mir und meinen Lesern und Kritikern von allem Anfang an einen Riegel vorzuschieben, weil ich tatsächlich gewissen Theorien der ungegenständlichen Kunst recht kritisch gegenüberstehe und weil ich auf manche dieser Streitfragen von Zeit zu Zeit Bezug nehme, wo sie mir zum Gegenstand zu gehören scheinen. Man würde total mißverstehen, worauf es mir in diesem Buche ankommt, wollte man es in einem solchen Sinn auffassen.

Es liegt mir völlig fern, zu leugnen, daß die Entdeckungen und Darstellungseffekte, die den Stolz früherer Künstlergenerationen ausgemacht haben, heute trivial geworden sind. Aber ich glaube, daß wir in Gefahr sind, den Kontakt mit den großen Meistern der Vergangenheit zu verlieren, wenn wir die moderne Lehrmeinung unterschreiben, diese Dinge hätten nie etwas mit Kunst zu tun gehabt. Gerade die Frage, warum die Darstellung der Natur heute als etwas Alltägliches betrachtet werden kann, sollte die Historiker höchlichst interessieren. In keiner anderen Zeit waren wohl Bilder jeder Art so wohlfeil, in jedem Sinne des Wortes, wie in der heutigen. Auf allen Seiten sind wir umgeben von Plakaten und Anzeigen, die auf uns einstürmen, von illustrierten Zeitungen und amerikanischen Comics, die unsere Aufmerksamkeit erheischen. Wir sehen gewisse Aspekte der Wirklichkeit im Fernsehapparat und im Kino, [7] andere wieder auf Briefmarken und auf allerhand Verpackungen dargestellt. Die Malerei wird nicht nur in der Schule gelehrt, sie wird auch als Therapie und Freizeitbeschäftigung ausgeübt, und mancher blutige Dilettant beherrscht heute Kunstgriffe, die einem Giotto wie Zauberei erschienen wären. Vielleicht hätten sogar die primitiven farbigen Darstellungen, die manche Lebensmittelverpackungen verzieren, die Zeitgenossen des Giotto in höchstes Staunen versetzt. Möglich, daß es Leute gibt, die daraus den Schluß ziehen, ein solcher Karton sei einem Giotto überlegen. Ich gehöre jedenfalls nicht zu ihnen. Aber ich glaube, daß der Siegeszug der Darstellungsfertigkeit sowohl den Historiker als auch den Kritiker vor neue Probleme stellt.

Die alten Griechen sagten, das Staunen sei der Anfang der Erkenntnis, und wir seien, wenn wir zu staunen aufhören, in Gefahr, unser Wissen einzubüßen. Die Hauptaufgabe, die ich mir in den folgenden Kapiteln gestellt habe, ist, uns wieder staunen zu machen über die Fähigkeit des Menschen, durch Formen, Linien, Schattierungen und Farben die geheimnisvollen Phantome der sichtbaren Welt heraufzubeschwören, die wir Bilder nennen. ‚Sollten wir nicht sagen‘, fragt Plato im Sophist, ‚daß wir ein Haus mittels der Baukunst herstellen und daß wir mittels der Malerei ein anderes Haus herstellen, eine Art künstlichen Traum für Wachende?‘ Ich kenne keine bessere Beschreibung als diese, um uns von neuem die Kunst des Staunens zu lehren.

[…] [9] […] Sind Maler imstande, die Wirklichkeit nachzuahmen, weil sie ‚mehr sehen‘ als unsereiner, oder sehen sie mehr, weil sie die Kunst der Nachahmung erlernt haben? Beide Ansichten finden bis zu einem gewissen Grade eine Stütze in den Erfahrungen des täglichen Lebens. Alle Künstler bestätigen, daß sie durch intensives Betrachten der Natur lernen. Aber es ist ebenso sicher, daß noch niemand durch intensives Betrachten der Natur allein zum Maler wurde. Im Altertum war die Errungenschaft der Illusion in der bildenden Kunst noch so neu, daß der Begriff der Nachahmung, der mimesis‘, zwangsläufig im Mittelpunkt aller Diskussion über Malerei und Bildhauerei stehen mußte. Ja, man kann geradezu behaupten, daß der Fortschritt der Kunst in der Erreichung dieses Zieles für das Altertum dasselbe bedeutete wie für uns der Fortschritt der Technik, d. h. den Inbegriff des Fortschritts an sich. So kommt es, daß Plinius die Geschichte der bildenden Kunst als eine Geschichte von Erfindungen darstellt, in der bestimmte Errungenschaften in der Wiedergabe der Natur bestimmten Künstlern zugeschrieben werden: Der Maler Polygnot war der erste, der Menschen mit offenem Mund und Zähnen darstellte: der Bildhauer Pythagoras der erste, der Adern und Muskeln wiedergab, der Maler Nikias malte als erster Licht und Schatten. In der Renaissance war es Vasari, der dieselbe Methode auf die Geschichte der Kunst Italiens vom dreizehnten zum sechzehnten Jahrhundert anwandte. Er unterläßt es niemals, Künstlern seine Anerkennung zu zollen, die so betrachtet einen Beitrag geleistet hatten zur Erreichung des erstrebten Zieles der naturgetreuen Darstellung. ‚Die Kunst erhob sich von kleinen Anfängen zum Gipfel der Vollendung‘, weil Naturgenies wie Giotto den Weg bahnten und andere in den Stand setzten, auf ihren Errungenschaften weiterzubauen. So lesen wir zum Beispiel von dem rätselhaften Maler Stefano, von dem sonst nichts bekannt ist: ‚Obwohl seine Verkürzungen noch recht fehlerhaft sind, was in der Schwierigkeit der Ausführung begründet ist, so verdient er doch, da er als erster diese Schwierigkeiten zu erforschen begann, viel größeren Ruhm als andere, die sie nach ihm in klarerer, mehr den Regeln entsprechender Manier behandelten.‘ Mit anderen Worten, Vasari betrachtete die Erarbeitung der Mittel der naturgetreuen Darstellung als ein so schwieriges Kollektivunternehmen, daß eine gewisse Arbeitsteilung unvermeidlich war. So erzählt er zum Beispiel von Taddeo Gaddi: ‚Taddeo wandte immer Giottos Manier an, jedoch ohne sie wesentlich zu verbessern, außer was das Kolorit anlangt, das er fri[10]scher und lebhafter machte. Giotto hatte seinerseits soviel Aufmerksamkeit der Verbesserung anderer Aspekte und der Überwindung anderer Schwierigkeiten seiner Kunst gewidmet, daß seine Farbgebung zwar angemessen war, aber auch nicht mehr. Dem Taddeo, der das, was Giotto leicht gemacht hatte, gesehen und gelernt hatte, blieb so die Zeit, auch selbst durch die Verbesserung des Kolorits etwas Eigenes beizutragen.‘

Ich hoffe im weiteren Verlauf dieses Buches zeigen zu können, daß diese Auffassung keineswegs so naiv ist, wie man sie manchmal hinstellt. Sie erscheint nur dadurch naiv, daß auch Vasari nicht imstande war, die Idee der Erfindung und die Idee der Nachahmung der Natur auseinanderzuhalten. Diese Unsicherheit kommt beinahe unverhüllt zum Vorschein, wo Vasari von Masaccio spricht, dem er die Entdeckung zuschreibt, daß ‚die Malerei nichts anderes sei als ganz einfach die Wiedergabe aller Gegenstände der Natur durch Linien und Farben so, wie die Natur selbst sie hervorbringt‘. Masaccio, so wird uns zum Beispiel erzählt, ‚liebte es, Gewänder mit wenig Falten und einem natürlichen Wurf darzustellen so, wie sie im wirklichen Leben sind, und das war von so großem Nutzen für die Künstler, daß er dafür genausoviel Lob verdient, als ob er es erfunden hätte‘.

Hier muß sich der Leser fragen, worin denn eigentlich die Schwierigkeit dieses ‚einfachen Abbildens‘ gelegen haben möge und was die Künstler vor Masaccio wohl daran gehindert habe, selbst den Faltenwurf eines Gewandes genau zu beobachten. Es brauchte ziemlich lange, bis diese Frage bewußt formuliert werden konnte. Ihre Formulierung ist, ebenso wie die ersten Versuche zu ihrer Beantwortung, noch eng mit der akademischen Tradition des Kunstunterrichts verknüpft. Die Frage nämlich, was eigentlich vor sich gehe, wenn wir einen Gegenstand der Natur betrachten – also die Fragestellung der Wahrnehmungspsychologie –, wurde vom Kunstunterricht her in die Diskussion des Stilproblems hineingetragen. Denn dort war sie damals wie heute ein praktisches Problem. Der akademische Lehrer, der von seinen Schülern Naturwahrheit verlangte, fand, daß es diesen nicht nur schwerfiel, das Modell zu zeichnen, sondern auch, es richtig zu sehen. In diesem Zusammenhang bemerkte Jonathan Richardson am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts: ‚Es steht fest, daß niemand sieht, wie Dinge wirklich sind, es sei denn, er weiß, wie sie sein sollen. Daß dem so ist, wird uns sofort klar, wenn wir etwa eine Aktzeichnung betrachten, deren Autor weder von Aufbau und Zusammenhang des Knochengerüsts noch von Anatomie eine Ahnung hat, und sie mit einer anderen Zeichnung nach demselben Modell vergleichen, die von jemand herrührt, der diese Dinge gründlich versteht. Beide sehen dieselbe Gestalt, aber mit anderen Augen.‘ Von diesen Beobachtungen war es nur ein kurzer Schritt zu der Vorstellung, daß Stilwandlungen, wie sie Vasari beschrieben hatte, nicht nur auf Fortschritte im technischen Können, sondern ebensosehr auf Veränderungen in der Art des Sehens zurückzuführen seien. Auch dieser Schritt war schon im achtzehnten Jahrhundert getan worden, und zwar charakteristischerweise von James Barry, einem Akademieprofessor, in einem Vortrag vor der Royal Academy in London. Er suchte nach einer Erklärung für die ihn sonderbar anmutende Behauptung Vasaris, daß die Madonna Rucellai des Cimabue (die heute gewöhnlich dem Duccio zugeschrieben wird) im dreizehnten Jahrhundert als ein Meisterwerk gepriesen wurde. ‚Die großen Schwächen dieses Werks‘, meinte Barry, ‚werden vielleicht manche zu dem Schluß verleiten, daß das Bild unmöglich auf Naturbeobachtung gegründet gewesen sein könne. Aber die Nachahmungen der frühen Kunst sind wie die von Kindern. Selbst von dem, was vor unseren Augen steht, können wir nichts wahrnehmen, es sei denn, wir kennen es schon und suchen darnach. Die zahllosen Unterschiede, die wir zwischen Werken aus den Zeitaltern der Unwissenheit und [11] denen aus aufgeklärten Zeitaltern feststellen können, zeigen, wie sehr die Ausweitung oder Einengung der Sphäre unseres Blickes von anderen Umständen abhängt als von dem, was unser natürliches optisches Organ uns wiedergibt. So kam es, daß die Leute damals eben nicht mehr sahen, weil sie nicht mehr wußten, und eben deshalb das Werk bewundern konnten.‘

Der Aufschwung der Naturwissenschaften und das neuerwachte Interesse an Naturbeobachtung brachte es mit sich, daß auch die Künstler am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts den Problemen des Sehens große Aufmerksamkeit zuwandten. ‚Die Kunst, die Natur zu sehen‘, sagte Constable in einem seiner epigrammatischen Aussprüche, ‚muß fast ebenso gelernt sein, wie die Kunst, ägyptische Hieroglyphen zu lesen.‘ Was dieser Bemerkung eine neue, schär[12]fere Note gibt, ist die Tatsache, daß sie mehr ans Publikum als an die Künstler gerichtet ist. Constable will damit sagen, daß das Publikum kein Recht habe, über die Naturwahrheit von Bildern zu urteilen, weil sein Blick durch Unkenntnis und Vorurteil getrübt sei. Dieselbe Überzeugung veranlaßte Ruskin im Jahre 1834, sein Werk Modern Painters (Die moderne Malerei) zur Verteidigung Turners zu veröffentlichen. Das groß angelegte, mit Feuer und Beredsamkeit geschriebene Werk ist vielleicht das letzte in einer langen Reihe, die, mit Plinius und Vasari beginnend, in der Geschichte der Kunst die Geschichte des Fortschritts zur objektiven Naturwiedergabe sieht. Für Ruskin ist Turner besser als Claude Lorrain oder Canaletto, weil er nachweisbar mehr über die Naturerscheinung weiß als seine Vorgänger. Nur könne diese Naturwahrheit eben nicht vom ungeschulten Auge wahrgenommen werden. Doch möge der Kritiker, der sie anzweifle, selbst die Struktur von Wolken und Wellen, von Felsen und Pflanzen untersuchen. Er werde zugeben müssen, daß Turner immer im Recht sei. In dieser Weise wird hier der Fortschritt der Kunst zum Sieg über die Vorurteile der Tradition. Er ist langsam, weil es uns allen eben sehr schwer fällt, das, was wir wirklich sehen, von dem zu sondern, was wir bloß wissen, und so zurückzufinden zur Unschuld des Auges – ein Ausdruck, der von ihm in die Diskussion eingeführt wurde.

Ohne es zu ahnen, legte Ruskin hier die Mine, welche später das ganze akademische Lehrgebäude in die Luft sprengen sollte. Denn während für Barry das, ‚was unser natürliches optisches Organ uns wiedergibt‘, nicht imstande war, etwas Besseres hervorzubringen als eben die Madonna Rucellai, galt es für Ruskin und seine Anhänger als das höchste Ziel des Malers, eben diese unverdorbene Wahrheit des natürlichen Auges wiederzufinden. Die Entdeckungen der Impressionisten und die erhitzten Debatten, die sie auslösten, steigerten noch das Interesse der Künstler und Kunstkritiker an den Geheimnissen der Wahrnehmungslehre. Hatten die Impressionisten wirklich ein Recht zu der Behauptung, daß sie die Welt so sähen, wie sie sie malten, und daß sie ‚das Bild auf der Netzhaut‘ wiedergäben? War hier das Ziel, auf das die Geschichte der Kunst durch die Jahrtausende zugesteuert hatte? Würde die Wahrnehmungspsychologie die Probleme der Künstler endgültig lösen?

[...] [23] […] Daß ich bei einer Untersuchung des Problems der Illusion einer Theorie der Wahrnehmung nicht entraten konnte, ist wohl selbstverständlich. Und hier erschien nur eben das Denken in jenen Kategorien, die ich oben kurz diskutiert habe, den größten Erfolg zu versprechen, das heißt, das Arbeiten mit den Ideen des Ordnens, Klassenbildens usw. erschien mir fruchtbarer als ein Operieren mit der Idee der Assoziation, die lange auf diesem Gebiet die herrschende war. Diese Anschauungsweise, die letzten Endes auf Kant zurückgeht, hat F. A. Hayek in seinem Werk The Sensory Order (Die Welt der Sinne) am konsequentesten durchgeführt. Aber ich persönlich habe am meisten von Popper gelernt und speziell von seiner Betonung der Bedeutung, die der Erwartung und ihrer Überprüfung bei der Erwerbung neuer Kenntnisse zukommt. In der Psychologie ging diese Auffassung in die Theorie von Bruner und Postman ein, wonach „alle kognitiven Prozesse, gleichgültig ob in der Form des Denkens, Wahrnehmens oder Erinnerns, ‚Hypothesen‘ darstellen, die vom Organismus aufgestellt werden. Sie verlangen nach ‚Antworten‘ in der Form weiterer Erlebnisse, welche die ursprünglichen Annahmen entweder bestätigen oder widerlegen.“

[24] Wie Popper gezeigt hat, liegt es in der inneren Logik einer solchen Situation, daß jede Bestätigung einer Hypothese immer nur ‚bis auf Widerruf‘ gültig sein kann, während jede Widerlegung endgültig sein muß. Und daraus folgt, daß zwischen Wahrnehmung und Illusion keine scharte Trennung möglich ist. Die Wahrnehmung (bezeichnenderweise weist schon das Wort daraufhin, daß es sich um ein Unterscheiden von Wahr und Falsch handelt) wendet alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel an, um schädliche Illusionen auszumerzen, aber hie und da gelingt es ihr nicht, eine falsche Hypothese zu widerlegen – zum Beispiel, wenn sie einem illusionistischen Kunstwerk gegenübersteht.

Ich bin der festen Überzeugung, daß eine derartige Theorie der Wahrnehmung auch auf anderen Gebieten fruchtbringend sein wird, aber ich habe mich bemüht, das Theoretische möglichst im Hintergrund zu halten. Denn schließlich ist mein Hauptgegenstand die Analyse der Kunst des Bildermachens und damit eine Untersuchung der Art und Weise, in der die Maler vergangener Zeiten etwas von diesen höchst merkwürdigen Gesetzen des Sehens im Zuge ihrer praktischen Arbeit des Bildermachens entdeckten und anwenden lernten.

Um wieder auf Alains junge Ägypter zurückzukommen: Was sie zu lernen hätten, um eine Illusion der Realität hervorbringen zu können, wäre nicht, ‚einfach nachzuahmen, was sie sehen‘, sondern jene vieldeutigen Zeichen, auf die wir bei stationärer Betrachtung allein angewiesen sind, so lange zu manipulieren und zu verschieben, bis sich ihr Bild nicht mehr von der Realität unterscheidet. Oder anders ausgedrückt: Statt des Vexierspiels ‚Ente oder Kaninchen‘ müßten sie ein neues Spiel erfinden, das SpielBild oder Wirklichkeit‘, bei dem es darauf ankommt, mit Pinsel und Farben nach Möglichkeit – also zum mindesten von weitem – das Gemälde in Natur zu verwandeln. Ganz abgesehen davon, wie man dieses Spiel als Kunst einschätzt, steht doch das eine fest: Es konnte nur mit unendlich viel Geduld nach zahllosen Versuchen und Fehlschlägen gemeistert werden. So verdient die Geschichte der illusionistischen Darstellung in der Kunst unser Interesse vom Standpunkt eines Jahrhunderte dauernden großartigen Experiments auf dem Gebiete der Wahrnehmungslehre, selbst wenn die heutige Zeit sich von dieser Form der Darstellung zugunsten anderer Ausdrucksmöglichkeiten weitgehend abgewandt hat.

[...] [44] […] Nur sollten wir Constables Behauptung doch vielleicht in einem Punkte ein wenig revidieren: Was der Maler zu ergründen strebt, ist nicht so sehr die Natur der uns umgebenden wirklichen Welt als vielmehr unsere Reaktionen auf diese physischen Gegebenheiten. Das heißt, es geht ihm nicht wie dem Physiker um die Kausalzusammenhänge in der Natur, sondern um die Wirkungen auf unsere Sinne. Sein Problem ist ein psychologisches: ein Bild zustande zu bringen, das naturwahr wirkt, obwohl nicht ein einziger Ton mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die wissenschaftliche Erforschung der Phänomene, die diesem Problem zugrunde liegen, hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, obwohl niemand behauptet, sie ganz zu [46] verstehen. Der Schlüssel zu dem Paradox liegt in einer Eigenheit unserer Psyche: der Fähigkeit nämlich, nicht so sehr einzelne Elemente als Beziehungen zwischen Elementen aufzufassen.

III

Natürlich hat uns die Natur mit dieser Fähigkeit nicht deshalb ausgestattet, damit wir Kunstwerke zu schaffen und aufzufassen imstande seien. Ohne dieses Ansprechen auf Verhältnisse und auf die Beziehungen von Dingen zueinander könnten wir, so scheint es, uns überhaupt nicht in der Welt zurechtfinden. So, wie eine Melodie für uns dieselbe bleibt, gleichgültig ob sie tief oder hoch, laut oder leise gespielt wird, so reagieren wir auch bei Lichteffekten nicht so sehr auf die tatsächliche Menge meßbaren Lichts, das von einem Körper reflektiert wird, als vielmehr auf Helligkeitsintervalle oder Helligkeitsstufen. Und wenn ich ‚wir‘ sage, meine ich nicht nur ‚wir Menschen‘, sondern ebenso etwa frisch ausgekrochene Küken und andere Lebewesen, die die Psychologen durch geschickt ausgedachte Versuchsanordnungen dazu bringen können, ihre Fragen zu beantworten. In einem klassisch gewordenen Experiment gewöhnte Wolfgang Köhler seine Hühnchen, ihr Futter immer auf der helleren von zwei bestimmten grauen Pappscheiben zu erwarten. Er nahm dann die dunklere der beiden Scheiben weg und ersetzte sie durch eine, die noch heller war als die hellere des ursprünglichen Paares. Die armen Hühnchen suchten nun ihr Futter nicht auf der Scheibe, auf der es ihnen immer geboten worden war, sondern auf der helleren der beiden, die sie jetzt vor sich hatten. Das heißt, sie ließen sich von relativen Helligkeitswerten leiten und reagierten nicht auf bestimmte, absolute Farbreize. Es würde allerdings recht schlimm um sie bestellt sein, wenn ihr kleines Vogelgehirn nicht so eingerichtet wäre. Das Erinnerungsbild an einen bestimmten Farbwert würde ihnen kaum je dazu verholfen haben, die richtige Scheibe wiederzuerkennen. Eine Wolke, die über die Sonne zöge, würde ja den Helligkeitswert sofort verändern, vielleicht sogar schon eine Änderung in der Kopfstellung oder in der Beobachtungsrichtung. Wenn das, was wir als dingliche Identität erleben, nicht in einer festen Beziehung zwischen Ding und Umwelt verankert wäre, würde es in einem chaotischen Wirbel wechselnder Eindrücke hoffnungslos untergehen.

Unsere Netzhaut (und ebenso die der Hühner) wird jeden Augenblick von einer Unzahl tanzender, vibrierender Lichtpunkte getroffen, die die lichtempfindlichen Stäbchen und Zäpfchen reizen, so daß diese dann ihrerseits das Gehirn mit ihren vielfältigen Signalen bombardieren. Und doch ist die Welt, die wir sehen, im großen und ganzen eine beständige, stabile Welt. Es ist durchaus nicht leicht, sich klarzumachen, wie ungeheuer groß der Unterschied ist, der zwischen unseren optischen Sinnesempfindungen und unserem visuellen Erleben besteht, und man benötigt dazu eigentlich ziemlich komplizierte Versuchsanlagen. Immerhin: Man stelle sich irgendein Objekt vor, sagen wir ein Buch oder ein Blatt Papier. Wenn wir unseren Blick darüberstreichen lassen, projiziert es auf jede unserer beiden Netzhäute eine ständig wechselnde Vielfalt von bewegten, flimmernden Lichteindrücken verschiedenster Wellenlängen und Intensitäten. Die Summe und Anordnung dieser Lichtempfindungen wird sich selten, wenn je, genau wiederholen, denn unser Blickwinkel, die Beleuchtung, die Öffnung unserer Pupille – all das verändert sich unaufhörlich. Ein Blatt Papier, das dem Fenster zugekehrt ist, reflektiert ein Vielfaches des weißen Lichts, welches es in einer dem Fenster abgewandten Stellung zurückwirft. Gewiß erscheinen uns diese beiden Helligkeiten nicht gleich groß. Wenn wir keinen Unterschied sähen, könnten wir uns kein Urteil über den Grad der Beleuchtung bilden. Aber wir können uns der objektiven Größe dieses Unterschieds nur mit Hilfe eines Apparats bewußt werden, den die Psychologen zu diesem Zweck konstruiert haben und den [47] man als Reduktionsschirm bezeichnet. Es handelt sich dabei im wesentlichen um einen Schirm mit einem Loch, durch das man einen farbigen Funkt wahrnehmen kann, jedoch so, daß er von jeder Beziehung zu seiner Umgebung abgeblendet ist. Die Beobachtungen, die die Versuchspersonen an diesem Zauberkasten machen, setzen sie meist in höchstes Erstaunen. Ein weißes Taschentuch im Schatten kann objektiv dunkler sein als ein Stück Kohle in heller Sonne. Im gewöhnlichen Leben kommen wir ja nur selten in die Gefahr, diese beiden Dinge miteinander zu verwechseln, weil die Kohle in der Regel der dunkelste Gegenstand in unserem Blickfeld sein wird und das weiße Taschentuch das hellste, und weil es bei unserem Erleben auf relative und nicht auf absolute Helligkeit ankommt. Die Verschlüsselung, von der Sir Winston Churchill spricht, beginnt also schon auf dem Weg von der Netzhaut zu unserem Bewußtsein. Die Psychologie hat für diese verhältnismäßige Unempfindlichkeit gegen den schwindelerregenden Wechsel im Aussehen der Dinge den Ausdruck Dingkonstanz geprägt. Uns scheint die Farbe, Form und Helligkeit von Dingen im großen und ganzen konstant zu sein, obwohl wir natürlich Veränderungen im Zusammenhang mit Entfernung, Beleuchtung, Gesichtswinkel und dergleichen wahrnehmen. Unser Zimmer bleibt sich gleich von morgens bis abends, und die Gegenstände darin behalten ihre vertraute Form und Farbe. Nur bei bestimmten Gelegenheiten, wie etwa bei gewissen Aufgaben, bei denen wir auf derartige Dinge achten müssen, spüren wir etwas von der bestehenden Unsicherheit. Wir würden niemals die Farbe eines Stoffes bei künstlichem Licht beurteilen wollen, und wir treten in die Mitte des Zimmers, um festzustellen, ob ein Bild geradehängt. Sonst haben wir eine ganz erstaunliche Fähigkeit, Verschiebungen zu berücksichtigen und dadurch die Verhältnisse richtig einzuschätzen. Jeder hat wohl schon erlebt, daß er im Kino Plätze ganz vorn an der Seite angewiesen bekam. Zuerst sieht man dort alles derart verzerrt und unwirklich, daß man versucht ist, auf und davon zu gehen. Aber nach ein paar Minuten hat man sich auf die ungeschickte Lage eingestellt, man merkt die Verzerrung nicht mehr, sondern sieht die Gestalten auf der Leinwand wieder richtig. Mit den Farben ist es nun auch ganz ähnlich wie mit den Formen. Eine schwache Beleuchtung stört zunächst, aber sobald sich unser Auge physiologisch adaptiert hat, erleben wir wieder dieselben gegenseitigen Verhältnisse der Farben und Helligkeiten wie bei normalem Licht, und die Welt nimmt wieder ihr altes Gesicht an.

Ohne diese Fähigkeit, die wir mit den Tieren gemein haben, die Identität von Objekten trotz aller Veränderungen in der Erscheinung festzuhalten, uns immer wieder auf veränderte Umweltbedingungen einstellen zu können und die Welt als ein feststehendes Bezugssystem zu erleben, könnte es keine bildende Kunst geben. Beim Betrachten von Bildern gellt es uns zuerst ähnlich wie dem Taucher, der Farben, Formen und Gegenstände erfaßt, obwohl er sie durch ein fremdartiges Medium sieht. Das ist nicht etwa ein weither geholter Vergleich. Die psychologischen Vorgänge, die da mitspielen, sind nahe verwandt. Jedesmal, wenn wir uns in einer ungewohnten optischen Situation befinden, erleben wir zuerst einen Schock, der aber nur kurz anhält und bald in einen Zustand der Anpassung übergeht. Der Mechanismus für diese Anpassung scheint uns angeboren zu sein.

[...] [75] […] Denn im ersten Fall hat man es nur mit gelungenen Versuchen zu tun, im zweiten Fall auch mit mißglückten. Ja, das Vorkommen solcher ‚Versager‘ legt die Vermutung nahe, daß sich die Fähigkeit der bildenden Kunst, die sichtbare Welt richtig wiederzugeben, vielleicht doch nicht auf allen Fronten so gleichmäßig entwickelt hat, wie wir bisher vielleicht etwas vorschnell anzunehmen gewohnt waren. Wissen wir doch alle, daß es Spezialisten gegeben hat – man denke an Claude Lorrain, den Meister der Landschaftsmalerei, dessen Figuren schwach sind, oder an Frans Hals, der fast ausschließlich Porträts malte. Wäre es nicht denkbar, daß diese Vorliebe für ein bestimmtes Genre nicht nur vom Wollen, sondern ganz einfach auch vom Können dieser Künstler diktiert wurde? Und ist nicht überhaupt aller Naturalismus früherer Epochen selektiv?

Von der Richtigkeit dieser letzten Behauptung können wir uns durch ein etwas philiströses Experiment überzeugen. Es genügt, mit irgendeiner beliebigen illustrierten Wochenschrift in der Hand durch eine Gemäldegalerie zu wandern und zu untersuchen, wie viele der Gebärden und Typen, die auf den Photographien von Straßenszenen und dergleichen zu sehen sind, sich auf den alten Bildern wiederfinden. Wir werden dann bemerken, daß sogar die Genrebilder der alten Holländer, die doch das Leben in all seiner Mannigfaltigkeit und Fülle widerzuspiegeln scheinen, aus einer recht beschränkten Anzahl von Typen und Gebärden aufgebaut sind, ähnlich wie der scheinbare Realismus des Schelmenromans oder der Barockkomödie Typen darstellt und abwandelt, die man Jahrhunderte zurückverfolgen kann. Ja, man könnte so weit gehen zu behaupten: Es gibt keinen unmittelbaren ‚neutralen‘ Naturalismus. Wie der Schriftsteller, so bedarf auch der bildende Künstler eines bestimmten Vokabulars, eines Formenschatzes, bevor er darangehen kann, die Wirklichkeit nachzuahmen.

[76] VI

All dies führt uns nun zu dem Schluß, daß der Ausdruck ‚die Sprache der Kunst‘ mehr besagt als eine bloße Metapher, das heißt, daß man, auch wenn man die Welt in Bildern und nicht in Worten beschreiben will, dazu eines gutentwickelten, vorgegebenen Systems bedarf. Diese Schlußfolgerung scheint freilich recht im Widerspruch zu stehen zu der traditionellen Unterscheidung zwischen der Sprache, welche aus konventionellen Zeichen bestehe, und der Malerei, die natürliche Zeichen verwende, um die Natur nachzuahmen. Diese Unterscheidung, die im 18. Jahrhundert viel diskutiert wurde, ist zweifellos bestechend, aber sie birgt doch gewisse Schwierigkeiten. Will man daraus folgern, daß diese natürlichen Zeichen einfach nach der Natur kopiert werden können, dann wird die Geschichte der Kunst vollends zu einem Rätsel. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist es überdies immer klarer geworden, daß die Kunst der Primitiven und der Kinder eine Symbolsprache verwendet und nicht ‚natürliche Zeichen‘. Das hat man durch die Annahme zu erklären gesucht, dies sei eben eine besondere Art von Kunst, die nicht auf dem Gesehenen, sondern auf dem Gewußten aufbaue, eine Kunst also, die mit ‚Vorstellungsbildern‘ operiere. Das Kind – so meinte man – sehe sich die Dinge seiner Umgebung, etwa die Bäume, gar nicht an. Es begnüge sich vielmehr mit dem ‚begrifflichen Schema‘ eines Baumes, das keiner möglichen Realität entspreche, da ihm die Attribute bestimmter Baumarten, sagen wir der Eiche oder der Buche, völlig fehlten und natürlich noch mehr die charakteristische Gestalt bestimmter, individueller Bäume. Diese Methode des Konstruierens im Gegensatz zu der des Nachahmens sei in einer besonderen Mentalität der Kinder und Primitiven begründet, die in ihrer eigenen Welt lebten.

Heute haben wir eingesehen, daß diese Unterscheidung künstlich ist. Gustaf Britsch und Rudolf Arnheim haben gezeigt, daß zwischen der vereinfachten Vorstellungswelt des Kindes und der um vieles komplizierteren, die in naturalistischen Darstellungen zum Ausdruck kommt, kein prinzipieller Unterschied besteht. Alle Kunst geht vom Geiste des Menschen aus, von seinen Reaktionen auf die äußere Welt und nicht von der sichtbaren Welt selbst. Gerade die Tatsache, daß alle Kunst in diesem Sinn auf Vorstellungen beruht, erklärt es, daß wir alle Darstellungen an ihrem Stil erkennen können.

Ohne einen Ausgangspunkt, ohne ein schon vorgegebenes Schema, könnten wir niemals die Fülle der Erscheinungen meistern, ohne Kategorien könnten wir unmöglich Ordnung in unsere Eindrücke bringen. Sonderbarerweise hat es sich aber gezeigt, daß es nicht sehr wichtig ist, wie diese ersten Kategorien aussehen. Sie können später ohne Schwierigkeiten unseren Bedürfnissen angepaßt werden. Wenn nur das Schema nicht starr wird und elastisch bleibt, kann eine gewisse anfängliche Vagheit eher von Vorteil sein. Freilich, ein völlig fließendes System könnte seinen Zweck nicht mehr erfüllen. Es könnte keine Fakten registrieren, weil es keine Rubriken hätte. Aber mit welchen Rubriken wir die Registratur beginnen, darauf kommt es eigentlich nicht sehr an.

Den Prozeß des Lernens, der Anpassung durch ‚trial and error‘, das heißt durch Versuch und Fehlschlag, oder vielleicht besser durch ein halb planloses, halb gezieltes, tastendes ‚Herumprobieren‘, kann man ganz gut mit dem beliebten Gesellschaftsspiel vergleichen, in dem ein Gegenstand nach seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer beliebigen Anzahl von Klassen zu erraten ist. Die Klassen, mit denen da operiert wird und die üblicherweise mit ‚Tierreich, Pflanzenreich oder Mineralreich?‘ zu beginnen pflegen, sind weder wissenschaftlich genau noch besonders zweckentsprechend, aber im allgemeinen genügen sie vollauf, den gesuchten Begriff einzuengen und schließlich zu individualisieren, indem er schrittweise dem Alternativtest: Ja oder nein? unterworfen wird. Dieses Gesellschaftsspiel ist in letzter Zeit vielfach dazu verwendet worden, den Prozeß zu veranschaulichen, durch den wir uns der unendlichen Kompliziertheit unserer Umwelt anzu[77]passen suchen. Denn es illustriert, wenn auch in ziemlich grober Vereinfachung, die Art und Weise, in der nicht nur Lebewesen durch das Gelingen oder Mißlingen von – anfangs willkürlichen – Versuchshandlungen zu ‚lernen‘ imstande sind, sondern gewissermaßen auch moderne Automaten. Die Ingenieure, deren Aufgabe es ist, Maschinen zu bauen, die sich in geradezu phantastischer Weise selbst regulieren, haben erkannt, wie wichtig es ist, diesen Maschinen eine Art von Initiative einzubauen. Die erste Bewegung, die eine solche Maschine macht, wird wahrscheinlich eine willkürliche sein – ja, eine willkürliche sein müssen –, gleichsam ein Schritt ins Ungewisse. Vorausgesetzt aber, daß die Maschine so konstruiert ist, daß sie automatisch auf Erfolg oder Mißerfolg reagiert, wird sie immer weniger oft falsche Bewegungen machen und die richtigen immer öfter wiederholen. Einer der Pioniere auf diesem interessanten Gebiet der Psychologie hat kürzlich den Prozeß von ursprünglichem Schema und allmählicher Verbesserung sehr treffend beschrieben. Er nennt Lernen: ‚ein baumförmig verästeltes, gestaffeltes Erraten der Umweltfaktoren‘. ‚Baumförmig verästelt‘ besagt hier wohl soviel wie die fortschreitende Bildung von Klassen und Unterklassen, wie wir sie etwa einer diagrammatischen Beschreibung unseres Gesellschaftsspiels zugrunde legen würden.

Wir sind scheinbar recht weit von der Diskussion des Abbildens abgekommen. Aber es ist durchaus sinnvoll, ein Porträt als das Schema eines Kopfes zu betrachten, das durch die individuellen Züge, über die wir eine Aussage zu machen wünschen, abgewandelt wird. Soviel ich weiß, verwendet die amerikanische Polizei manchmal Zeichner, um Zeugen bei der Identifizierung von Verbrechern behilflich zu sein. Von einer willkürlich gewählten, schematischen Darstellung eines Gesichts ausgehend, lassen sie sich von den Zeugen leiten, die auf gewisse, nach einem bestimmten Plan vorgeschlagene Abänderungen der einzelnen Züge so lange mit ja oder nein zu antworten haben, bis das Gesicht genügend Individualität angenommen hat, um eine Suche im Verbrecheralbum möglich zu machen. Diese Methode des ferngesteuerten Porträtierens ist wohl etwas sehr schematisch, aber als Parabel dürfte sie dennoch ihren Zweck erfüllen. Sie erinnert uns nochmals daran, daß am Ausgangspunkt jeder bildlichen Darstellung nicht etwa ein Wissen steht, sondern vielmehr eine auf Tradition und Gewohnheit aufbauende Vermutung.

Müssen wir also aus alledem schließen, daß es eine objektive Ähnlichkeit nicht gibt? Daß es nicht sinnvoll ist, zu fragen, ob Chiang Yees Ansicht von Derwentwater richtiger oder weniger richtig ist als die Lithographie aus dem 19. Jahrhundert, in der die Formeln der klassischen Landschaftsmalerei derselben Aufgabe dienstbar gemacht werden? Dieser Standpunkt hat gewiß etwas Bestechendes, und er ist besonders verlockend für Lehrer der Kunstbetrachtung, weil er dem Laien begreiflich macht, wie sehr das, was man Sehen nennt, durch Gewohnheit und Erwartungsvorstellungen bedingt ist. Um so wichtiger ist es aber, sich klarzumachen, was es mit diesem Relativismus wirklich für eine Bewandtnis hat. Er gründet sich, glaube ich, auf dieselbe logische Verwechslung von Bild, Wort und Aussage, die uns weiter oben schon begegnet ist, nämlich als wir feststellten, daß Bilder, im Gegensatz zu dem sie begleitenden Text, weder wahr noch falsch sein können.

Wenn wir annehmen, daß alle Kunst begrifflich ist, dann ist die Sache verhältnismäßig einfach. Denn Begriffe können ebensowenig wahr oder falsch sein wie Bilder. Sie können sich nur besser oder schlechter zur Abfassung von Beschreibungen eignen. Die Wörter einer Sprache ebenso wie die Formeln eines Kunststils pflanzen einige Wegweiser in der Erscheinungen Flucht, mit deren Hilfe wir unseren Sprachgenossen, beziehungsweise Mitspielern im Frage-und-Antwort-Spiel, die Richtung weisen können. Wo es um ähnliche Zwecke geht, werden auch die Wegweiser an ähnlichen Stellen stehen. Meist kann man im Englischen, Deutschen, Französischen und Lateinischen Bezeichnungen finden, die sich decken, und dadurch hat die Vorstellung Wurzel gefaßt, daß Begriffe unabhängig von der Sprache als Bausteine der Wirklichkeit Gültig[78]keit besitzen. Wie aber, wenn diese Übereinstimmung fehlt? Im Englischen unterscheidet man zum Beispiel zwischen watch und clock, also zwischen Taschen- beziehungsweise Armbanduhr und allen andern Uhren (Stehuhren, Turmuhren usw.), während das Deutsche alle diese Gegenstände unter der Bezeichnung Uhr subsumiert. Nehmen wir an, wir wollten den Satz ‚Meine Tante hat eine Uhr‘, wie er in jedem Lehrbuch vorkommen könnte, ins Englische übersetzen. Wir werden uns entscheiden müssen, ob wir ‚Taschenuhr‘ oder ‚Stehuhr‘ sagen wollen. Als Aussage über einen Tatbestand könnte eine der beiden Übersetzungen natürlich falsch sein. Wollten wir den Satz ins Schwedische übersetzen, hätten wir eine weitere Schwierigkeit: Denn im Schwedischen gibt es da eine neuerliche Begriffsverzweigung, indem man zwischen der Schwester des Vaters, der Schwester der Mutter und allen übrigen Tanten unterscheidet. Wollten wir daher ‚die Uhr meiner Tante‘ im Frage-und-Antwort-Spiel auf Schwedisch erraten, müßten wir noch weitere Fragen stellen, um der Sache auf den Grund zu kommen.

Dieses einfache Beispiel zeigt recht deutlich, was vor kurzem Benjamin Lee Whorf so klar herausgestellt hat: daß nämlich die Sprache nicht bestehende Dinge oder Zusammenhänge benennt, sondern vielmehr die Welt, in der wir leben, für uns gliedert. Wir glauben nun annehmen zu können, daß die Bildzeichen, deren sich die Kunst bedient, dasselbe tun. Gleichwohl dürfen aber die Unterschiede zwischen verschiedenen Stilen oder Sprachen keineswegs so aufgefaßt werden, als stünden sie richtigen Darstellungen oder korrekten Übersetzungen im Wege. Es ist durchaus möglich, die Welt von ganz verschiedenen Seiten zu betrachten und dennoch inhaltlich identische Aussagen über sie zu machen. Vom Standpunkt des Inhalts bereitet das Problem der Abbildung wohl keine Schwierigkeit. Die Behauptung, eine Zeichnung sei eine richtige Ansicht von Tivoli, will natürlich nicht besagen, daß Tivoli von dünnen schwarzen Linien eingeschlossen sei. Der Sinn dieser Behauptung ist vielmehr, daß die, die sich auf das angewandte Symbolsystem verstehen, von der Zeichnung keine falsche Information erhalten werden, gleichgültig ob nun die Konturen in ein paar kühnen Strichen wiedergegeben sind oder ob jeder Grashalm darauf dargestellt ist, wie Richters Freunde es wollten. Eine Abbildung wäre dann vollständig und getreu zu nennen, wenn sie das gleiche Ausmaß an korrekter Information über das Motiv vermittelt, das unser Auge von derselben Stelle aus empfangen würde.

Stile unterscheiden sich genau wie Sprachen in der Anordnung und Gliederung des Materials und in der Anzahl der Fragen, die sie dem Künstler zu stellen ermöglichen; aber die Information, die uns die sichtbare Welt sendet, ist so komplex, daß kein Bild sie jemals zur Gänze wiedergeben kann. Wenn keine zwei Abbildungen desselben Motivs identisch sind, so liegt das nicht an der Subjektivität des Sehens, sondern an der Fülle der Gesichtseindrücke. Dort, wo der Künstler ein Kunstprodukt zu kopieren hat, ist er selbstverständlich imstande, ein Faksimile herzustellen, das sich in nichts vom Original unterscheidet. Banknotenfälscher verstehen es nur allzugut, die Beschränkungen, die ihnen der Zeitstil auferlegt, und ebenso ihre Persönlichkeit vollständig auszuschalten.

Uns kommt es bei alledem vor allem immer wieder darauf an, festzuhalten, daß ein getreues Abbild wie eine gute Landkarte den Endpunkt eines sorgfältigen Prozesses darstellt, einer langen Folge von Korrekturen und Modifikationen eines ursprünglichen Schemas. Nicht einen getreuen Bericht über ein visuelles Erlebnis, sondern ein konstruiertes Modell, das die wesentlichen Beziehungen getreu wiedergibt.

[…] [209] […] In der Tat kann man es als die herrschende Meinung in der heutigen Kunstwissenschaft bezeichnen, daß die wissenschaftliche Perspektive, die einst in der Renaissance entwickelt und seitdem an Kunstschulen gelehrt wurde, keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat. Ich gehöre zu den wenigen Gegnern dieser Meinung und will versuchen, sie in dem folgenden Abschnitt zu entkräften. Es scheint mir, daß das Gerücht, irgend etwas sei mit der Perspektive nicht in Ordnung, auf Diskussionen in der Erkenntnistheorie, der Naturwissenschaft und der Wahrnehmungspsychologie zurückzuführen ist, die strenggenommen mit der Sache nichts zu tun haben. Im deutschen Kulturbereich war es vielleicht vor allem Kants Lehre, daß der Raum eine ‚Anschauungsform‘ sei, die dahin ausgelegt wurde, der Raumbegriff sei rein subjektiv oder bloß historisch bedingt. So postulierte Spengler etwas, daß jede Kultur ihren eigenen Raumbegriff habe, und die Kunstwissenschaft folgte ihm darin, den Begriff des ‚meßbaren Raumes‘, auf dem die Perspektive angeblich beruht, erst dem ‚Menschen der Renaissance‘ zuzuschreiben. Die Entdeckungen Einsteins schienen diese Auffassung zu bestätigen; auch Tatsachen aus der Wahrnehmungspsychologie, wie etwa die Diskrepanz des Tastraumes und Sehraumes, die Krümmung der Netzhaut oder die Beeinflussung des Raumerlebnisses durch Rauschgifte, ließen sich in dieser Hinsicht auslegen. Unter dem Eindruck dieser Erkenntnisse hat Erwin Panofsky in einem brillanten und mit Recht berühmten Aufsatz die Perspektive als ‚symbolische Form‘ behandelt, ein Ausdruck, der aus der Erkenntnislehre des Neukantianers Ernst Cassirer entlehnt ist. Die subtilen Argumente dieser Arbeit kamen in der vergröberten Form in Umlauf, es sei nun erwiesen, daß die Perspektive eben ein willkürliches System sei wie etwa die Grammatik unserer Sprachen und daß sie darum auch keinen Anspruch machen sollte, die Welt in irgendeinem Sinne ‚richtig‘ so darzustellen, wie sie sich eben unserem Auge darbietet. Auf diese theoretische Meinung bezieht sich z.B. Sir Herbert Read, wenn er schreibt, daß die wissenschaftliche Perspektive, wie sie im fünfzehnten Jahrhundert erarbeitet wurde, nur eine Möglichkeit der Raumdarstellung unter vielen vorstelle, die keinerlei absolute Geltung habe.

[…] [215] […] Mehr behauptet die Perspektive auch nicht zu leisten. Da sie sich von unserer Unfähigkeit, um die Ecke zu sehen, ableitet, ist ein perspektivisches Bild natürlich nie so sehr vom Betrachter unabhängig wie ein dreidimensionales Modell. Und da wir, wenn wir mit beiden Augen schauen, dank ihrer Entfernung voneinander sogar ein wenig um die Ecke sehen können, muß ein Bild, das genaugenommen für ein Guckloch bestimmt ist, immer irgendwie fremdartig wirken, wenn wir es normal mit beiden Augen betrachten. Nun gar zu erwarten, daß es seine Illusion beibehält, wenn es an einer Wand hängt und von den verschiedensten Stellen eines Zimmers aus gesehen werden kann, ist wirklich zu viel verlangt. Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Forderung der alte Wunschtraum des Pygmalion, ein Bild solle nicht nur ein farbiger Abglanz sein, sondern eine eigene, vom Beschauer unabhängige Welt.

Es könnte sein, daß eine solche nicht klar bewußte Idee der Vorstellung zugrunde liegt, die Perspektive sei nur eine Konvention und stelle die Welt nicht so dar, wie sie ‚wirklich‘ aussehe. Vielleicht war aber noch ein anderer Wunsch der Vater des Gedankens: der Wunsch nämlich, dem Philister, der darauf besteht, daß Bilder ‚richtig‘ sein sollen, eines auszuwischen. Außerdem konnten sich die Verfechter dieser Ansicht darauf berufen, daß die theoretische Perspektive in gewis[216]sen Situationen tatsächlich zu paradoxen Resultaten führt. Eine solche Situation wurde von Piero della Francesca und Leonardo diskutiert. Sie wiesen nach, daß bei einer perspektivischen Darstellung einer Säulenreihe in Frontalansicht die Säulen an der Seite breiter ausfallen als die in der Mitte. Die Erklärung für dieses Paradox ist jedoch nicht etwa ein Fehler in den Gesetzen der Perspektive, sondern nur ein überraschendes Resultat der geometrischen Projektion. Säulen haben selbstverständlich nicht nur eine Breite, sondern auch eine Tiefe, und aus ihrer Tiefendimension ergibt sich diese scheinbare Abweichung von der Norm. Vielleicht kann man die Sache leichter verstehen, wenn man sich statt der Säulen quadratische Pfeiler vorstellt, die man sich überdies vorne rot und an den Seiten grün angestrichen denken möge. Nach den Gesetzen der Perspektive werden nun die gleich breiten roten Vorderseiten der Pfeiler als gleich breite rote Rechtecke auf der Projektionsfläche erscheinen. Während jedoch der Mittelpfeiler – der gerade vor dem Beschauer steht – keine grünen Seitenflächen zeigen wird, werden bei den anderen immer größere grüne Flächen sichtbar werden, je weiter ab sie sich vom Zentrum befinden. Diese Seitenflächen sind es, die bewirken, daß die Pfeiler immer mehr Raum auf dem Bild einnehmen, je weiter sie von der Mitte entfernt sind. Bei runden Säulen ist die Sache aber noch ein wenig komplizierter. Wie aus dem Diagramm, das genau nach den Gesetzen der darstellenden Geometrie gezeichnet ist, ersichtlich ist, sieht man mit einem Auge niemals die volle Breite einer Säule, weil die Berührungspunkte der Tangenten, die vom Augenpunkte an den Säulen entlang gezogen werden, näher aneinander zu liegen kommen, wenn die Entfernung des Beschauers von der Säule kleiner wird. Daher sehen wir ein klein wenig mehr von einer Säule, die weiter weg von uns ist. Ich muß zugeben, daß die ganze Sache ein wenig verwirrend ist; der Leser möge sich aber damit trösten, daß sehr viele, die über Perspektive geschrieben haben, meiner Überzeugung nach sich ebensowenig ausgekannt haben – ich selbst natürlich nicht ausgenommen. Ich glaube aber, daß im Grunde dieses Paradox der Säulen eine verhältnismäßige einfache Erklärung hat: Es kommt nämlich daher, daß der Beschauer Schwierigkeiten hat, die Projektion eines Gegenstandes richtig zu deuten, der sich in die Tiefe erstreckt, ohne daß die Richtung der Ausdehnung durch irgendwelche Anzeichen erkennbar wird, wie das bei Säulen oder Kugeln der Fall ist, deren charakteristische Eigenschaft es ist, von jedem Punkt aus gleich auszusehen. Diese besondere Form von Unbestimmtheit scheint es zu sein, die es dem Maler schwer macht, eine richtige und überzeugend wirkende Lösung für die Darstellung solcher Formen zu finden.

[217] So haben wir es hier wirklich mit jener berühmten Ausnahme zu tun, die die Regel bestätigt, die Regel nämlich, daß die perspektivische Darstellung dem, was von einem bestimmten, fixen Punkt aus gesehen wird, genau entspricht. Ein anderer Einwand, der oft gemacht wird, ist schwieriger zu widerlegen; der Einwand nämlich, daß die Behauptung, eine maßgetreue Zeichnung der Fassade eines großen Palastes oder dergleichen sei eine getreue Wiedergabe, mit dem perspektivischen Gesetz in Widerspruch stehe, wonach gleich große Dinge um so kleiner erscheinen, je weiter weg sie sind. Denn selbstverständlich sind die Fenster in den Seitenflügeln weiter vom Beschauer entfernt als die im Zentrum. Und ebenso müßte auch die Höhe der Fassade nach beiden Seiten hin abzunehmen scheinen. Müsse also nicht ein richtiges Bild einer solchen Fassade aus sanft gekrümmten, aufeinander nach den Seiten hin zulaufenden Linien bestehen? Gewöhnlich wird dagegen geltend gemacht, daß wir ja Bild und Fassade im gleichen Winkel sähen, und wenn die Fassade verkürzt und vielleicht gekrümmt erscheine, so ergehe es dem Bild genauso, und daher sähen beide dann wieder gleich aus. Und so sei es möglich, daß ein Guckkastenbild richtig aussehen könne, obwohl unser visuelles Erleben irgendwie anders sei, eine Art gekrümmte, nichteuklidische Welt wie Einsteins Universum.

Aber auch dieses Gegenargument ist ziemlich unrealistisch, denn es vergißt, daß ein Maler, der vor jener langgestreckten Fassade säße und geradeaus auf ihre Mitte hin blickte, von den Flügeln überhaupt nur sehr wenig sehen würde, da ja das Blickfeld, in dem wir klar sehen, äußerst eng ist. Er würde daher den Kopf hin und her bewegen, und dadurch würde sofort eine ganz neue Situation entstehen; denn sobald er sich nach rechts wendete, würde die Fassade nach der einen Richtung zu konvergieren scheinen, und wenn er sich nach links drehte, nach der andern. Wenn er den Prospekt malen wollte, würde er ganz unwillkürlich seine Staffelei so aufstellen, daß sie mit der Fassade einen Winkel bildet, und in dieser Stellung verlangen die Regeln der Perspektive selbstverständlich konvergierende Linien. Oder, anders ausgedrückt, er würde, wenn er sich von einer Seite zur andern wendet, eine rasche Abfolge von Aspekten erleben, die sich mit ihm herumschwingen. Was wir ‚Erscheinung‘ nennen, ist immer aus einer solchen Folge von Aspekten zusammengesetzt, ist also gleichsam eine Melodie von Aspekten, die uns ermöglicht, Entfernung und Größe richtig einzuschätzen; es ist selbstverständlich, daß eine Filmkamera eine solche ‚Melodie‘ einfangen kann, aber nicht ein Maler mit seiner Leinwand. Wenn ein Maler das Gefühl hat, eine Kurve würde dieses Schwingen der Linien besser wiedergeben als eine einfache Projektion, so kann man das sehr gut verstehen, aber eine solche Kurve ist ein Kompromiß, das nicht einen Aspekt schildert, sondern mehrere. Kein einziges System kann den Anspruch erheben, daß es die Welt so darstellt ‚wie sie uns erscheint‘, aber die orthodoxe Perspektive beruht immerhin auf faßbaren, meßbaren Beziehungen. Vorausgesetzt, daß unsere Drahtgeflechte oder Gitter zueinander parallel sind, werden solche, die gleiche Anordnung und Verhältnisse haben (d. h. im mathematischen Sinne ähnlich sind), sich von einem Punkte aus decken. Genaugenommen ist es dann mehr oder minder uns überlassen, welche von derartigen ähnlichen Figuren, die in fallender Größe angeordnet sind, wir als Original betrachten und welche als Nachbildungen, obwohl wir in Wirklichkeit immer das Entfernteste als das ‚Motiv‘ zu betrachten gewohnt sind und alle anderen als Darstellungen von einem bestimmten Punkte aus.

Es muß immer wieder betont werden, daß die Perspektive eine Gleichung anstrebt: Das Bild soll aussehen wie der abgebildete Gegenstand und der abgebildete Gegenstand wie das Bild. Wenn sie dieses Versprechen eingelöst hat, verbeugt sie sich vor dem Publikum und tritt ab. Sie macht keinerlei Anspruch darauf, uns zeigen zu können, wie uns die Dinge erscheinen. Es wäre auch wie gesagt nicht leicht zu definieren, was ein solcher Anspruch bedeuten könnte. Wenn zwei [218] Gitter tatsächlich von einer bestimmten Stelle aus nicht unterschieden werden können, so gilt das eben auch für alle übrigen, die die gleichen Bedingungen erfüllen. Wenn eines geradlinig ist, werden es auch alle anderen sein. Nirgends in dieser Anordnung findet sich ein letztes Gitter, das uns zeigt, wie alle anderen Gitter uns ‚erscheinen‘.

Man könnte versucht sein, dieses letzte Gitter mit dem Bild auf der Netzhaut zu identifizieren, und die Tatsache, daß dort die Linien krumm sind, weil die Netzhaut gewölbt ist, ist auch in diesem Zusammenhang geltend gemacht worden. Aber hier mahnt uns die Psychologie immer mehr zur Vorsicht. Wir können ja unsere Netzhaut nicht sehen.

V

Aus diesem Grunde, glaube ich, hat sich die Wahrnehmungspsychologie und sogar die phänomenologische Introspektion mitunter als irreführend für die Kunstwissenschaft erwiesen. Zwar ist es z.B. richtig, daß ein gespannter Faden, den wir nahe an die Augen halten, uns gekrümmt ‚erscheint‘; aber der einzige Sinn, den dieser Satz wie jede andere Beschreibung einer Illusion haben kann, ist sein buchstäblicher Sinn, daß der gespannte Faden wie ein krummer Faden aussieht. Bei zu geringer Entfernung vom Auge unterlaufen uns solche Fehler. Aber die Behauptung, daß alle geraden Linien in unserem Gesichtsfeld gekrümmt erscheinen, ist schon viel fragwürdiger. Denn daraus würde folgen, daß alle geraden Fäden wie krumme Fäden aussehen, und das ist doch bestimmt nicht der Fall. Es ist vielleicht nicht ohne Bedeutung, daß diese ganze Idee einer gekrümmten Welt von der Architektur ihren Ausgang nahm und nicht von der Malerei. Man behauptet, die Griechen hätten die sogenannten ‚Curvaturen‘ und Abweichungen von der Geradlinigkeit in ihren Tempeln eingeführt, um die Verzerrungen auszugleichen, die unserem Sehen immanent sind. Aber da wir den Unterschied zwischen einem krummlinigen und einem geradlinigen Gebäude sehr wohl sehen, ist dieses Argument hinfällig. Jedenfalls würde es den Maler nichts angehen, denn wenn er die Krümmungen malen würde, würden sie uns nur noch gekrümmter erscheinen.

Leonardo nannte den Spiegel den Lehrmeister des Malers, und ein Spiegel kann uns in der Tat dazu verhelfen, in diese vieldiskutierte Frage Klarheit zu bringen. Wenn man einen normalen, rechteckigen Taschenspiegel so hält, daß eine der geraden Begrenzungslinien irgendeines Gebäudes, gleichgültig ob Wand oder Dach, ganz nahe am Rande des Spiegels reflektiert wird, kann man die beiden Linien – die Kante des Spiegels und die Wand bzw. die Dachlinie – leicht in Parallele bringen, und dabei wird sich herausstellen, daß die Linie des Gebäudes genau der Kante des Spiegels folgt. Natürlich kann man dann sagen, wir sähen eben beide gleich gekrümmt, aber unsere bisherigen Untersuchungen haben uns gelehrt, daß damit eigentlich nichts gesagt ist. Vom Gesichtspunkt unseres Erlebens aus ist Wahrnehmung definiert worden als ‚ein Erkennen von Unterschieden, Beziehungen, Anordnungen und Bedeutungen‘. Die Theorie, daß unsere subjektive Welt gekrümmt sei und auch so dargestellt werden sollte, ist nicht viel sinnvoller als die alte Behauptung, daß wir ‚in Wirklichkeit‘ alles doppelt und auf dem Kopf stehend sähen, weil wir zwei Augen haben und die Pupille jedes Bild umdreht.

VI

Hier, fürchte ich, wird so mancher Leser von einem leichten Schwindelgefühl überfallen werden. Und in der Tat nähern wir uns bedenklich jenem bodenlosen Abgrund, in dem alle psychologischen und philosophischen Spekulationen über das Wesen der Realität zu versinken drohen. Aber wenn wir uns fest am Geländer der Tatsache anhalten, daß wir eine ganz bestimmte Frage lösen wollen – [219] den Anteil des Betrachters beim Deuten und Verstehen bildlicher Darstellungen –, dürfen wir uns vielleicht doch noch ein Stück weiter an den Rand des Abgrunds vorwagen.

Unser Exkurs über Perspektive hatte den Zweck, gewisse Scheinprobleme von dem Problem der Mehrdeutigkeit zu sondern. An den Experimenten von Arnes konnten wir sehen, daß die Perspektive ‚funktionierte‘, aber daß sie nicht imstande ist zu erklären, warum wir aus einer unendlichen Zahl möglicher Konfigurationen eine bestimmte als die ‚wirkliche‘ auswählen, d.h. sehen.

Das bekannteste Beispiel des Problems, um das es sich hier handelt, ist die Relation von Größe und Distanz, d.h. die Unmöglichkeit, die Größe eines Gegenstandes auszunehmen, wenn wir seine Entfernung nicht kennen (und keinen Vergleichsmaßstab besitzen), oder umgekehrt, seine Entfernung zu schätzen, wenn uns seine Größe unbekannt ist. Dieses Phänomen, von dem wir auch schon weiter oben gesprochen haben, war schon den Griechen und Arabern bekannt und ist gewiß ursprünglich des öfteren von Seefahrern und Jägern unabhängig entdeckt worden. Vor nicht sehr langer Zeit wurde es uns in aktueller, um nicht zu sagen sensationeller Weise zum Bewußtsein gebracht, als eine Gruppe von Tiefseeforschern, die in einem Bathyscaphe in bisher unerforschte Meerestiefen hinuntergetaucht waren, sich außerstande erklärten, etwas über die Größe der Geschöpfe auszusagen, die sie unten beobachtet hatten.

Ames untersuchte dieses Zusammenwirken von Wissen und Entfernungsschätzen, indem er seinen Versuchspersonen durch ein Guckloch vergrößerte und verkleinerte Abbilder alltäglicher Gegenstände, wie Armbanduhren oder Spielkarten, zeigte. Die erwarteten Reaktionen stellten sich ein: Eine große Uhr wurde für eine normal große in geringer Entfernung gehalten, und eine sehr kleine hielt man für weiter entfernt, als sie tatsächlich war. Das Interessante an dem Experiment war nicht, daß man sich so leicht täuscht, sondern daß auch das Wissen um die Unsicherheit die Versuchspersonen nicht daran hinderte, eine Schätzung zu machen. Wenn man durch solch ein Guckloch schaut, unterliegt man der Gewohnheit, ja dem Zwang, sich ein Urteil zu bilden, selbst wenn alle Anhaltspunkte fehlen. Wir werden immer einen Gegenstand einer gewissen Größe in einer gewissen Entfernung sehen, niemals aber einen Gegenstand, dessen Größe und Entfernung unsicher sind. Wir können höchstens von einer Lesart zu einer andern hinüberwechseln und verschiedene Deutungen ausprobieren, aber auch dieses Experiment bestätigt, was wir schon im letzten Kapitel festgelegt haben, daß man Mehrdeutigkeit an sich nicht sehen kann. Die Schüler von Ames bezeichnen dieses Phänomen als das ‚Dies-Dort‘-Erlebnis: Wahrnehmen beinhaltet ein Urteil über Gegenstand und Ort, und zwar auch dann, wenn wir uns irgendeiner abstrakten Gestalt gegenübersehen und keinerlei Anhaltspunkte aus der Erfahrung geboten ist. Wenn man uns zum Beispiel eine runde Scheibe zeigt, sind wir uns verstandesmäßig durchaus klar darüber, daß sie ziemlich groß und ziemlich weit weg, oder ziemlich nahe und sehr klein sein mag. Wir werden wahrscheinlich auch wissen, daß es sich um eine gegen das Gesichtsfeld geneigte Ellipse oder sonst irgendeine Gestalt handeln kann. Aber sehen können wir diese verschiedenen Eventualitäten nicht. Die Scheibe wird uns immer als ein Gegenstand von bestimmter Größe und Form in einer bestimmten Entfernung erscheinen, selbst wenn wir als geschulte Wahrnehmungspsychologen genau wissen, daß sie anderen Versuchspersonen wahrscheinlich ganz anders erscheinen wird.

Nur wenn man dieses Phänomen an sich selbst erlebt hat, kann man voll begreifen, daß die Unterscheidung zwischen dem wirklichen Objekt und seiner Erscheinung selbst etwas Künstliches ist. Die phänomenologische Schule der Philosophie und die Theorie der Sinnenreize der Psychologie nehmen an, daß die ‚Erscheinung‘ der Scheibe, die Reizkonfiguration das einzige sei, was wir wirklich erleben, während alles andere auf Schlüssen und Deutungen beruhe. Das klingt [220] zwar recht plausibel, stimmt aber doch mit unserem visuellen Erlebnis einfach nicht überein. Es ist eben nicht so, daß wir zuerst farbige Flecke sehen und sodann an ihre Deutung schreiten. Die Wahrnehmung selbst hat sozusagen Urteilscharakter, sie besteht aus Subjekt und Prädikat. Sehen heißt immer, etwas im Raum sehen. Selbst wo die Netzhaut aus irgendeinem Grund allein (ohne unmittelbaren äußeren Reiz) in Aktion tritt, wie bei Nachbildern und dergleichen, projizieren wir die farbigen Flecken in den Raum, wir haben sie vor den Augen, nicht im Auge.

Wir werden später sehen, daß dieses [sic] Tatsache wenigstens zum Teil die Schwierigkeit erklärt, ‚die Erscheinung‘ von Dingen auf die Leinwand zu bannen. In dieser allgemeinen Form ist das nämlich eine sinnlose Forderung. Der Maler kann nicht mehr tun, als seine Staffelei aufstellen und trachten, das Bild auf der Leinwand einem bestimmten Gegenstand in einer bestimmten Entfernung gleichzumachen, wobei er sich darüber im klaren ist – ohne sich allerdings darüber den Kopf zu zerbrechen –, daß das, was er malt, auch wie eine unendliche Anzahl nichtexistierender Objekte aussehen wird. Gerade das erklärt auch, daß er immer einen Ausgangspunkt braucht, von dem aus er darangehen kann, eine Übereinstimmung herzustellen, ein vorgegebenes Grundgerüst, mit dem er den Gegenstand vergleichen kann und das er dann im Sinne der zu lösenden Gleichung abändert und dem darzustellenden Gegenstand annähert. Die Behauptung: ‚Von dem Punkte, an dem ich stehe, sieht dieses Bild hier genauso aus wie das Schloß dort‘, ist sinnvoll und kann sogar unter Umständen unter Beweis gestellt werden. Die allgemeine Behauptung: ‚Das Bild stellt die Welt dar, wie sie mir erscheint‘, mag ehrlich sein und ist es sicher auch oft; aber nichtsdestoweniger ist sie nicht sinnvoll. Man kommt damit nicht viel weiter als mit der berühmten Streitfrage, ob [221] der Mond so groß ist wie ein Zehnpfennigstück oder wie ein Silbertaler. Die Unmöglichkeit, diese Frage zu beantworten, hat allerdings noch nie ein Kind daran gehindert, den Mond zu zeichnen. Und vorausgesetzt, daß er innerhalb der Welt des Bildes erkennbar ist, entsteht auch tatsächlich kein Problem. Es genügt, daß der Zusammenhang mit anderen dargestellten Dingen eng genug ist, den Beschauer an den Mond als an die nächstliegende Lösung denken zu lassen.

[...] [251] […] III

Aber obwohl wir Berkeley ziemlich weit folgen können, müssen wir doch bezweifeln, daß jener rein rezeptive Zustand eines unbeschriebenen Blattes für die menschliche Psyche überhaupt möglich ist. In Wirklichkeit wird ja jeder visuelle Eindruck sofort irgendwie eingereiht, klassifiziert und mit anderen Inhalten zu Gruppen vereinigt, selbst wenn es sich um Tintenkleckse und Fingerabdrücke handelt. Roger Fry und die Impressionisten selbst machten viel Wesens davon, wie schwierig es doch sei, zu entdecken, wie die Dinge für ein unbefangenes Auge aussähen, weil das, was sie ‚die Gewohnheit des begrifflichen Denkens‘ nannten oder auch des Denkens in bildlichen Vorstellungen, die es zu überwinden gelte, eine Lebensnotwendigkeit sei. Aber wenn dem so ist – und wir sind die letzten, die es bezweifeln –, wenn tatsächlich das Begriffliche, Vorstellungsmäßige notwendigerweise alle unsere Lebensäußerungen durchdringt, dann ist die Unbefangenheit des Auges eine unmögliche Forderung. Denn da es geradezu in der Natur eines jeden Lebewesens liegt, sich seine Umwelt zu gestalten, alle von außen an es herankommenden Nachrichten zu sichten, zu prüfen und vor allem darnach einzuteilen, ob sie seinen auf Furcht und Hoffnung beruhenden Erwartungen und Vermutungen entsprechen oder nicht, kann das Auge seiner biologischen Funktion nach niemals ‚unbefangen‘ sein. Die Unschuld des Auges ist eine Fabel. Ein Blinder, der plötzlich sehen würde, würde die Welt nicht als ein Gemälde von Turner oder von Monet sehen. Schon Berkeley wußte, daß sein erster Eindruck ein schmerzhaftes Chaos sein würde und daß er nur mit Mühe würde lernen können, Ordnung und Sinn in seine visuellen Erlebnisse zu bringen. Es ist bekannt, daß viele dieser Unglücklichen es niemals erlernen. Unser Organismus reagiert als Ganzes auf die Lichtreize, die auf die Rückwand unserer Augen auftreffen. Aber auch die Netzhaut selbst würde kürzlich von J.J. Gibson als ein Organ bezeichnet, das nicht auf individuelle Lichtreize anspricht, wie Berkeley angenommen hatte, sondern auf ihre Relationen und Wirkungsskalen. Wir haben ja schon früher gesehen, daß neugeborene Küchlein [sic] ihre Eindrücke in dieser Weise ordnen. Überhaupt mußte unter dem Einfluß eines überwältigenden Beweis[252]materials, das in Experimenten mit Menschen und Tieren gewonnen wurde, die ganze Unterscheidung von Sinnesempfindung und Wahrnehmung, die so einleuchtend schien, fallengelassen werden. Niemals hat jemand je eine rein visuelle Sinnesempfindung gesehen, selbst die Impressionisten nicht, die sich die größte Mühe gaben, sie zu erhaschen.

Hier sind wir scheinbar an einem toten Punkt angelangt. Auf der einen Seite entspricht die Darstellung, die Roger Fry und Ruskin von der Geschichte der Malerei gegeben haben, einigermaßen den Tatsachen: Die Fortschritte in der naturgetreuen Wiedergabe scheinen tatsächlich mit einer Unterdrückung begrifflichen Wissens und vorgegebener Vorstellungsbilder verbunden gewesen zu sein. Auf der anderen Seite haben wir jedoch soeben festgestellt, daß eine solche Unterdrückung nicht möglich ist. Dieser Widerspruch hat einige Verwirrung in der Kunstwissenschaft gestiftet. Am einfachsten konnte man um die Schwierigkeit herumkommen, wenn man die hergebrachten Interpretationen des geschichtlichen Ablaufs einfach ableugnete. Wenn es ein unbefangenes Auge nicht gibt und nicht geben kann, dann muß eben Roger Frys Schilderung der Entwicklung, die zur Entdeckung der Erscheinung durch das unbefangene Auge führte, ganz einfach falsch sein. Die Reaktion gegen den Impressionismus, die im zwanzigsten Jahrhundert einsetzte, verlieh einer solchen Erklärung eine besondere Überzeugungskraft. Hier hatte man ein neues gewichtiges Argument an der Hand, mit dem man den Philister einschüchtern konnte, der hartnäckig darauf bestand, daß Bilder so aussehen sollten wie die Wirklichkeit. Eine solche Forderung sei unsinnig. Wenn Sehen gleichbedeutend ist mit Deuten, dann sind, so argumentierte man, alle Deutungssysteme gleichberechtigt.

Ich habe selbst in meinen bisherigen Ausführungen des öfteren Gelegenheit gehabt, das konventionelle Element in vielen Stilen und Darstellungsweisen zu betonen. Aber gerade aus diesem Grunde kann ich mich mit diesem scheinbaren Ausweg aus der Sackgasse nicht zufriedengeben. Denn klarerweise ist diese Ansicht ebenfalls ein Unsinn. Selbst zugegeben, daß Constables Darstellung von Wivenhoe Park keine bloße Abschrift der Natur ist, sondern eine Übersetzung aus Licht in Ölfarbe, bleibt es dennoch wahr, daß sie dem Motiv viel ähnlicher ist als die naive Darstellung des Kindes. Ich habe auch versucht, etwas ausführlicher darzulegen, was mit einer solchen Feststellung gemeint ist. Ich glaube, sie will besagen, daß wir Gemälde wie die Constables im Sinne einer möglichen Welt deuten können, ja, geradezu deuten müssen. Und vorausgesetzt, daß wir keinen Grund haben, an der Bezeichnung des Bildes zu zweifeln, werden wir überzeugt sein, daß eine solche Interpretation uns eine ganze Menge über die Aussicht mitteilen kann, die wir gehabt hätten, wenn wir an einem Sommertage des Jahres 1816 neben Constable gestanden hätten, als er den Landsitz malte. Natürlich hätten sowohl er wie wir noch viel mehr gesehen, als sich in das Kryptogramm der Pigmente übertragen läßt. Aber diejenigen, die den Code kennen, können bei einem solchen Bild wenigstens sicher sein, daß sie keine falschen Informationen erhalten. Ich bin mir bewußt, daß eine Formulierung, wie ich sie eben skizziert habe, auf viele zu kalt, zu pedantisch und nüchtern wirken wird. Aber sie hat einen großen methodischen Vorteil: Wir kommen auf diese Weise um das Bild auf Constables Netzhaut herum und befreien uns von der Idee der ‚Erscheinung‘, diesem Irrlicht, das die Diskussionen der Ästhetik auf solch schwankenden Grund geführt hat.

IV

Wenn uns in einer Diskussion die Argumente verworren und verwirrend erscheinen, tun wir meist gut daran, die verfilzten Fäden so gut es geht zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, um womöglich auf diese Weise herauszufinden, wie die Mißverständnisse zustande kamen. Das [253] theoretische Rüstzeug des Illusionismus in der Malerei wurde in der Zeit der Renaissance von den Vorkämpfern der Perspektive geschaffen. Alberti war der erste gewesen, der ein Bild als ein Fenster betrachtet wissen wollte, durch das man in die Außenwelt blickt, und Leonardo war es, der diesen Gedanken schärfer faßte, indem er sagte: ‚Perspektive ist nichts anderes als der Anblick eines Raumes durch eine durchsichtige Glasscheibe, auf deren Oberfläche dann die Konturen der Gegenstände, die hinter der Scheibe sind, nachzuziehen sind.‘

Wenn wir diese Definition akzeptieren und uns vorstellen, daß wir Wivenhoe Park von der Stelle aus, auf der Constable gestanden hatte, durch eine Glasscheibe betrachten und die Konturen der Szene im Geiste auf der Scheibe nachziehen, werden wir nicht daran zweifeln, daß das so erhaltene Abbild dem Gemälde Constables viel ähnlicher wäre als der Kopie des Kindes. Wenn jemand aber einen Schritt weiter ginge und nun behaupten wollte, daß dieses Abbild identisch sei mit dem, was wir ‚da draußen‘ im Park sehen, müßte ich doch sehr zur Vorsicht mahnen. Die Folgerung erscheint ganz harmlos; aber diejenigen, die sich an das Experiment mit dem Spiegel erinnern, das ich in der Einleitung anregte, werden auf Überraschungen gefaßt sein. Eine Wiederholung von Leonardos Experiment wird noch sonderbarere Tatsachen zum Vorschein bringen. Das erste, was einem dabei auffallen wird (immer vorausgesetzt, daß man nicht malen oder zeichnen gelernt hat), ist, daß ein Haus in der Ferne auf der Glasscheibe ganz erstaunlich wenig Raum einnimmt. Natürlich wissen wir alle, daß Dinge, die weit weg sind, ‚klein aussehen‘, aber wir geben uns selten Rechenschaft über die tatsächlichen Größenverhältnisse von Dingen verschiedenen Abstands, wenn sie auf eine ebene Fläche projiziert werden. Dadurch, daß es unsere Aufmerksamkeit auf diese relativen Größen richtet, hebt das Fensterexperiment jene Dingkonstanz auf, die es uns ermöglicht, die Welt als beständig zu erleben. Wir haben von diesen Phänomenen der Dingkonstanz schon früher einmal gesprochen. Damals betonten wir ihre positive Bedeutung für die darstellende Kunst. Wir stellten fest, daß man das Ausmaß von Helligkeitsunterschieden niemals mit solch konventionellen Mitteln wie Öl oder Tempera darstellen könnte, wenn uns nicht ein psychologischer Mechanismus angeboren wäre, der die Wirkung solcher Unterschiede enorm verkleinert. Ohne diesen stabilisierenden Mechanismus würden wir einen Menschen, der auf uns zugeht, nach ein paar Schritten doppelt so groß sehen wie vorher, und wenn er uns seine Hand zum Gruße reichte, würde sie riesengroß in unserem Gesichtsfeld erscheinen. Uns allen ist bekannt, wie unerwartet solche perspektivischen Effekte auf Photographien aussehen. Und doch bestätigt sie der Spiegel oder die Fensterzeichnung. Es ist durchaus verständlich, daß unter dem ersten Eindruck dieser Entdeckungen die Maler überzeugt waren, sie hätten jetzt endlich ein Mittel an der Hand, klar zu demonstrieren, was wir ‚wirklich sehen‘, und es von dem zu unterscheiden; von dem wir ‚wissen, daß es da draußen existiert‘. Sie identifizierten wie auch Ruskin das flache Bild auf der Fensterscheibe mit dem [254] Flächenmuster aus Farbflecken, die wir nach ihrer Ansicht allein durch unser ‚unbefangenes Auge‘ aufnehmen. Aber wenn wir uns die Sache recht überlegen, werden wir finden, daß diese Identifikation ganz und gar nicht zu Recht bestehen kann. Denn, während es zweifellos richtig ist, daß die Projektion eines fernen Hauses auf unserer Glasscheibe nur ein ganz kleiner Fleck ist, so ist es nachweislich falsch, zu glauben, daß wir deshalb ein fernes Haus ‚in Wirklichkeit‘ auch nur als kleinen Fleck ‚sehen‘. Eine solche Annahme schließt nämlich die Annahme einer bestimmten Größe und Lokalisierung in sich, während das ‚unschuldige Auge‘ beinahe definitionsgemäß außerstande ist, Größe wahrzunehmen. Ein Blick durch ein wirkliches Fenster wird diesen entscheidenden Punkt klären. Die Größe der Fläche, die ‚das Haus gegenüber‘ auf der Fensterscheibe einnimmt, wird nicht nur davon abhängen, wie weit es vom Beschauer entfernt ist, sondern ebenso von der Entfernung des Beschauers vom Fenster. Und während das Aussehen des Hauses, durchs Fenster gesehen, ziemlich gleich bleibt, ob wir nun ein wenig vor- oder zurücktreten, verändert sich die Projektion dadurch ganz gewaltig. Sie wird kleiner, wenn wir uns dem Fenster nähern, und größer, wenn wir uns entfernen (nicht aber umgekehrt, wie man vielleicht zuerst glauben könnte). Die Antwort auf die Frage, welche dieser Projektionen uns also zeigt, was wir ‚wirklich sehen‘, lautet schlicht: ‚Gar keine‘, denn wir sehen immer durchs Fenster in die Weite. Wir sehen ein Haus und nicht einen Fleck – obwohl es umgekehrt durchaus möglich wäre, daß das, was wir für ein Haus in der Ferne halten, in Wirklichkeit ein Fleck auf der Fensterscheibe ist. ‚Sehen‘ beinhaltet immer gleichzeitig eine Annahme über das Objekt und seinen Ort, was Ames das Dies-und-dort-Erlebnis nannte. Einen ‚feinen‘ Farbfleck ohne Ausdehnung und Ort kann man bestimmt nicht malen. Ich bezweifle sehr, daß man ihn denken kann.

Diese Unmöglichkeit ist darin begründet, daß der Raum eben im Kantischen Sinne eine Anschauungsform ist, ohne die wir nicht auskommen. Wie immer man zu der Kantischen Metaphysik stehen mag, so läßt es sich doch leicht experimentell beweisen, daß jede Vorstellung irgendwie im Raume lokalisiert wird. Selbst die farbigen Nachbilder, die uns etwa ‚vor den Augen tanzen‘, wenn wir in ein starkes Licht geblickt haben, werden so lokalisiert vorgestellt. Es läßt sich das daran beweisen, daß auch sie ihre scheinbare Größe mit der scheinbaren Distanz verändern. Wer sie gegen eine nahe Wand sieht, sieht sie kleiner, als wer sie in die Ferne projiziert.

Eigentlich hätte seit Kant und seit der experimentellen Bestätigung seiner Lehre von der Anschauungsform des Raumes niemand mehr die alte Behauptung wiederholen dürfen, daß wir die Welt ‚in Wirklichkeit‘ als bunte Fläche wahrnehmen. Auch eine bunte Fläche müßte uns ja irgendwo ‚vor den Augen‘ erscheinen, auch ihren farbigen Flecken müßten wir eine Distanz und damit eine Größe zuschreiben. Wir kommen um das Raumerlebnis eben nicht herum, und da ist es wohl einfacher und richtiger, gleich zu sagen, daß jeder der Farbreize nach außen in den Raum hin projiziert wird. Wohin er projiziert wird, hängt von unserer Deutung der Gesamtlage ab.

Alles Denken ist Ordnen, Sortieren und Klassifizieren. Alle Wahrnehmungen beziehen sich auf Erwartungen und sind daher Vergleiche. Wenn wir sagen, daß von einem Flugzeug aus Häuser wie Spielzeug aussehen oder Menschen wie Ameisen, meinen wir, denke ich, daß uns die Ähnlichkeit zwischen dem ungewohnten Anblick eines aus großer Entfernung von oben gesehenen Hauses und dem vertrauten Anblick von Nürnberger Spielzeughäusern auf dem Fußboden des Kinderzimmers überrascht. Wir haben das Gefühl, nur unser Wissen hindere uns daran, die beiden zu verwechseln. Durch die ungewohnte Situation sind wir in unseren durch Erfahrung bewährten Methoden, uns über Größe und Distanz eines Gegenstandes eine [255] Meinung zu bilden und diese Meinung zu überprüfen, gestört, und dieses etwas unheimliche Erlebnis beschreiben wir, indem wir andeuten, was für Annahmen uns vorübergehend in den Sinn kamen. Aber ich muß nochmals betonen, daß objektiv die Behauptung, ein Mensch sehe so groß aus wie eine Ameise, sinnlos ist, einfach weil eine Ameise, die über mein Kopfpolster krabbelt, im Vergleich zu einem Mann, der weit weg ist, riesenhaft aussieht. Wie Professor Boring es ausdrückt: ‚Die scheinbare Größe ist ebenso relativ wie die physische. Beide haben keine andere Bedeutung als die eines Verhältnisses zwischen Gegenständen.‘

[…] [258] […] VII

Aber, wird der Leser fragen, ist das nicht eben die Einstellung, die Ruskin vom Maler fordert, allerdings nicht vor einem Bild, sondern vor einem Stück Natur, das sein Motiv darstellt? Daß er es allen Sinnes entkleiden solle, um es zu sehen, wie es wirklich ist? In gewissem Sinne stimme ich ihm zu. Nur – und das ist wesentlich – kann dieser Prozeß niemals ‚unschuldig‘ oder passiv sein. Aus Ruskins eigener Beschreibung geht schon hervor, daß ein Maler dieses Kunststück, die Welt zu betrachten, ohne ihren Sinn aufzunehmen, nur dadurch zuwege bringen kann, daß er eine Deutung durch eine andere vertreibt. Diese Alternativdeutung erscheint so selbstverständlich, daß sie sich der Beschreibung des Vorgangs leicht entzieht. Er sieht nämlich die Wiese nicht mit unschuldigen Kinderaugen als bloße Lichtflecken, sondern mit Maleraugen als Palettenfarben, Grün und Schwefelgelb.

Für sich allein betrachtet, mag manchem die geänderte Formulierung, die ich hier vorschlage, vielleicht als übertriebene Haarspalterei erscheinen. Ist es nicht eine Selbstverständlichkeit, daß ein Maler die Natur in Malerfarben interpretieren muß? Wie könnte er sie denn sonst auf die Leinwand bannen? Aber wenn ich darauf bestehe, daß er auch lernen muß, sie als Malerfarben zu sehen, so tue ich das, weil man gerade daraus gewisse Folgerungen ableiten kann, die geeignet sind, die ganze Geschichte visueller Entdeckungen in ein neues Licht zu rücken.

Ich darf hier vielleicht an ein Erlebnis erinnern, das Besuchern von Museen und Bildergalerien nicht unbekannt sein kann. Wenn man nach einem solchen Besuch wieder auf die Straße tritt, geschieht es nicht selten, daß einem die sonst recht alltägliche Umgebung völlig verwandelt, ja wie verklärt erscheint. Nachdem wir uns so lange damit beschäftigt haben, in Bildern die Welt zu erblicken, sehen wir nun plötzlich die wirkliche Welt als ein Bild. Für einen kurzen Augenblick betrachten wir sie mit den Augen eines Malers oder, genauer ausgedrückt, mit der psychologischen Einstellung eines Malers, der sein Motiv daraufhin studiert, welche Züge er mit seinen Farben auf der Leinwand aufbauen kann.

Eine berühmte Darstellung dieses Erlebnisses findet sich im achten Buch des zweiten Teiles von Dichtung und Wahrheit: ‚Als ich bei meinem Schuster wieder eintrat, um das Mittagsmahl zu genießen, traute ich meinen Augen kaum: denn ich glaubte, ein Bild von Ostade vor mir zu sehen, so vollkommen, daß man es nur auf die Galerie hätte hängen dürfen. Stellung der [259] Gegenstände, Licht, Schatten, bräunlicher Teint des Ganzen, magische Haltung, alles, was man in jenen Bildern bewundert, sehe ich hier in der Wirklichkeit. Es war das erste Mal, daß ich auf einen so hohen Grad der Gabe gewahr wurde, die ich nachher mit mehrerem Bewußtsein übte, die Natur nämlich mit den Augen dieses oder jenes Künstlers zu sehen ... diese Fähigkeit hat mir viel Genuß gewährt.‘

Mit Recht lehrt man die Kunstschüler, den Malerblick zu üben, und besteht darauf, daß sie gegen ihre Kenntnis der alltäglichen Bedeutung von Dingen ankämpfen und die Welt als eine Projektion von Formen und Farben auf eine gedachte Fläche sehen lernen. Denn wir haben ja eingesehen, daß man sich vom Zwang der Dingkonstanz nur befreien kann, wenn man vermeidet, auf die Bedeutung dessen zu achten, was man sieht. Dürers Holzschnitt eines Malers vor seinem Netzrahmen illustriert besonders anschaulich, um nicht zu sagen drastisch, die Notwendigkeit, sich beim Abzeichnen völlig vom gewöhnlichen Sinn des Motivs zu emanzipieren und ihm einen ganz andersartigen, formalen Sinn zu unterlegen. Aber auch die ägyptischen Jünglinge in Alains komischer Phantasie, die mit dem Pinsel in der ausgestreckten Hand die Dimensionen ihres Modells messen, tun nichts anderes.

Abgesehen von diesen ziemlich mechanischen Hilfsmitteln der unvoreingenommenen Beobachtung, verstehen sich aber alle Maler auf subtilere psychologische Methoden, Form und Relationen ‚rein‘ zu isolieren. Dazu gehört das halb geschlossene Auge oder die Konzentration auf die Figuren, die der ausgesparte Hintergrund zwischen den Gegenständen bildet – etwas, was unter anderem der englische Maler Sickert seinen Schülern empfahl. Denn diese negativen Konfigurationen, die selbst sinnfrei sind, eignen sich besonders gut dazu, das erste vorläufige Schema zu korrigieren.

Der vielzitierte Rat Cézannes an Bernard, er möge in der Natur einfache, wohlbekannte geometrische Figuren zu sehen suchen, also etwa Zylinder, Kegel und Kugeln, gehört ebenfalls ganz hierher und verfolgt denselben Zweck einer neuen, vom Sinn unabhängigen Klassifikation. Cézanne hat bestimmt nicht das Geringste mit Kubismus zu tun, sondern reflektiert vielmehr die Lehrmethoden, die in französischen Kunstschulen üblich waren, als er jung war, und die er an seinen jungen Freund und Bewunderer weitergeben wollte.

Der Kunstunterricht hält sich, ebenso wie die meisten Lehrbücher der Malerei, noch heute an eine vereinfachte, dem gesunden Menschenverstand gemäße Version der bisher in der philosophischen Tradition des Abendlandes üblichen Unterscheidungen: Für sie besteht die Welt aus Stoffen, die teils beständige, teils vorübergehende sichtbare Eigenschaften besitzen. [260] Buchenblätter ‚sind‘ klein, elliptisch und leuchtend grün, aber ferne Berge ‚sehen blau aus‘. Und die Aufgabe des Künstlers wird darin gesehen, die Erscheinung der Dinge in diese einzelnen, mehr oder weniger permanenten optischen Eigenschaften aufzulösen und für so viele als möglich eine Entsprechung auf seiner Palette zu finden.

Für diese Betrachtungsweise besteht zwischen dem Malen einer Landschaft nach der Natur und dem Kopieren eines Bildes kein wesentlicher Unterschied in der Methode. Bei beiden Tätigkeiten handelt es sich darum, Schritt für Schritt im kleinsten Maßstab Farbentsprechungen zu finden und sie dem Motiv gemäß anzuordnen, so wie ein Mosaikkünstler aus seinem Vorrat von Steinchen sorgfältig eines nach dem andern so auswählt, daß sie den Schattierungen auf seiner Vorlage möglichst gleichen.

VIII

Die genaue Kopie oder das Faksimile haben jedoch ähnlich wie die Photographie in der ästhetischen Literatur hauptsächlich dazu gedient, dem Schöpferischen im Kunstwerk als Folie zu dienen. Nun kann man ohne weiteres zugeben, daß die Herstellung von ununterscheidbaren Duplikaten für die Fälscher von Banknoten (oder auch Gemälden) von größerem Interesse ist als für schaffende Künstler, und doch daran festhalten, daß, wie ich gezeigt zu haben hoffe, die Schaffung eines getreuen Abbildes, was immer sein sonstiger Wert sein mag, als psychologische Leistung ganz und gar nicht einfach ist. In einem früheren Kapitel sahen wir, wie der Kopist auf dem Wege von Schema und Korrektur an seine Aufgabe heranging, um durch allmähliche Anpassungen schließlich eine Übereinstimmung mit dem Motiv herbeizuführen. Gegenwärtig stellt sich uns nun die Frage, wozu all diese Schemata nötig sind, wenn der Künstler nichts anderes zu tun hat, als zuerst auf einer kleinen Teilfläche, dann auf der nächsten, den genauen Gegenwert dessen, was er sieht, sorgfältig einzutragen. Der Grund dafür liegt, glaube ich, darin, daß einem solchen mosaikartigen Vorgehen noch ganz andere Schwierigkeiten entgegenstehen als nur das Ausschalten aller Sinnbeziehungen. Selbst reine, das heißt bedeutungsfreie Formen und Figuren bringen es zuwege, sich vor unseren Augen in der erstaunlichsten Weise zu verändern, als ob das Auge selbst, unabhängig von unserem Geist, ihnen eine Bedeutung verliehe. Gewisse Zusammenstellungen von Formen und Farben spielen die sonderbarsten Stückchen, die man unter dem Namen ‚optische Täuschungen‘ zusammenfaßt.

Parallele Linien, die durch Schraffuren in verschiedener Richtung durchkreuzt werden, sehen aus, als strebten sie auseinander. Eine vertikale Linie sieht länger aus als eine horizontale gleicher Länge. Bis vor kurzem hielt man diese Illusionen, die man in den Lehrbüchern der Psychologie immer wieder antrifft, für bloße Ausnahmen, leichte Störungen in unserem Apperzeptionsapparat. Heute bringt man ihnen viel mehr Interesse und Respekt entgegen, denn wir wissen jetzt, daß sie nicht eine Ausnahme demonstrieren, sondern die Regel selbst. ‚Genaugenommen hat der Begriff der Illusion keinen Platz in der Psychologie‘, schreibt Pro[261]fessor Edwin Boring. ‚Denn keines unserer Erlebnisse ist eine Kopie der Realität.‘ Daher kommt es, daß diejenigen, die solche Kopien herzustellen beabsichtigen, sich nicht allein auf ihre visuellen Erlebnisse verlassen dürfen.

Das verblüffendste Beispiel solcher Diskrepanzen ist die gegenseitige Beeinflussung von Farben, deren überraschendste zuerst von v. Bezold beschrieben wurde [VI]. Die Abbildung verwendet nur einen roten und einen blauen Ton. Aber je nach Farbe und Art des eingezeichneten Musters verändert sich für uns die Grundfarbe, und obwohl kein Zweifel besteht, daß dieses Phänomen auf wechselseitiger Induktion beruht, kann es bis heute noch nicht wirklich erklärt werden. Eines scheint jedenfalls festzustehen: Wir sehen den Grund nicht für sich allein, sondern wir sehen offenbar das Ornament als ein Ganzes und schreiben unseren Gesamteindruck der Helligkeit oder Dunkelheit beiden Komponenten zu. Die einzige Möglichkeit uns zu überzeugen, daß es nur die weißen Linien sind, die den Grund heller erscheinen lassen und umgekehrt die schwarzen Zeichnungen, die einen Schatten auf ihn werfen, besteht darin, mit den Augen die schmalen durchgehenden Streifen verfolgen, die von den helleren zu den dunkleren Teilen führen. Dabei stellt man fest, daß ihre Farbe sich nicht ändert.

Dieses Beispiel ist besonders instruktiv, denn es zeigt sowohl, was man durch künstliches Isolieren und Vergleichen erreichen kann, als auch, wo die Grenzen dieser Methode liegen. Durch ein solches Nebeneinanderhalten können wir mit dem Verstand die Farbe als ein bestimmtes Rot erkennen und identifizieren. Aber selbst diese Identifizierung wird uns nicht davon zu überzeugen vermögen, daß die Sinnesqualitäten der beiden Flächen die gleichen sind. Sie sind es auch nicht. Wir sehen tatsächlich auf der einen Seite ein helles Rot, auf der anderen ein dunkles. Wenn etwas Derartiges in einem Motiv vorkäme, das wir zu malen hätten, könnten wir nicht anders vorgehen, als daß wir erst ein helles Rot für die eine Stelle nähmen und ein dunkleres für die andere und dann diese Töne entsprechend abänderten, sobald wir den Effekt der aufgesetzten hellen oder dunklen Linien beobachtet hätten. Das heißt, wir könnten die richtige Schattierung nur auf dem Wege des Experimentierens finden und das wohl auch nur dann, wenn wir auf eine lange Erfahrung auf dem Gebiete des Kolorits zurückblicken könnten.

Niemand wußte das besser als Ruskin, der Verfechter der Theorie von der Unschuld des Auges. Ich kenne keine bessere Analyse aller damit zusammenhängenden Probleme vom Standpunkt des Malers als eine andere Stelle aus der schon zitierten Einführung in die Malerei: ‚Während Form absolut ist, so daß man sofort, wenn man eine Linie gezogen hat, weiß, ob sie richtig oder falsch ist, ist Farbe ganz und gar relativ. Jeder Ton in deinem Bild wird durch jeden Pinselstrich, den du, auch an ganz anderer Stelle, hinzufügst, abgeändert, so daß, was vor einer Minute warm war, kalt wird, wenn du an einer anderen Stelle eine wärmere Farbe aufgetragen hast, und was mit einander harmonierte, als du es maltest, wird zur Dissonanz, sobald du andere Farben danebensetztest; so daß jeder Pinselstrich nicht im Hinblick auf den augenblicklichen Effekt, sondern auf seinen zukünftigen Effekt hin beurteilt werden muß und man im vorhinein bedenken muß, wie das, was später dazukommt, darauf einwirken wird. Da dem so ist, wirst du leicht begreifen, daß nur die Hingabe eines ganzen Lebens, verbunden mit einer genialen Begabung, einen großen Koloristen hervorbringt.‘

Indem Ruskin von dem Nachbildner der Natur verlangt, daß er die gegenseitige Wechselwirkung aller Elemente gleichzeitig in seinem Geiste gegenwärtig habe, hat er, ohne sich dessen bewußt zu sein, seine eigene Theorie des unschuldigen Auges entscheidend modifiziert. Denn dieses geistige Balancieren verlangt, daß man weiß, wie die Farben sich gegenseitig [262] beeinflussen, und bereit ist, eine Farbe zu verwenden, die, für sich allein genommen, dem darzustellenden Stück des Motivs ganz unähnlich ist, damit sie am Schlusse richtig aussehe.

Ich bin überzeugt, daß diese Gabe nicht nur nichts mit unserem Gesichtssinn oder mit dem Bild auf unserer Netzhaut zu tun hat, sondern auch nur sehr wenig mit unserem visuellen Gedächtnis. Es gibt Menschen – man nennt sie Eidetiker –, die einen visuellen Eindruck eine lange Zeit, nachdem er verschwunden ist, vor ihrem geistigen Auge festhalten können, so daß sie selbst mit geschlossenen Augen eine Art Farbenphotographie des Gesehenen vor sich haben. Es ist klar, daß eine solche Begabung für einen Maler sehr nützlich sein kann, wenn er sich ein Motiv einprägen will, und daß sie es ihm ermöglicht, mehr Zeit aufs Malen als aufs Schauen zu verwenden. Aber darüber hinaus sind die Ansprüche, die man in bezug auf die Malerei für dieses eidetische Gedächtnis gemacht hat, ebenso unbegründet wie die für das unschuldige Auge. Denn wie wir gesehen haben, handelt es sich selbst bei einer relativ so unbedeutenden Aufgabe wie dem faksimileartigen Nachahmen der Natur um Schwierigkeiten einer ganz anderen Art und Größenordnung. Ob der Künstler das Motiv leiblich vor sich hat oder vor seinem geistigen Auge, spielt dabei keine Rolle; denn die Gabe, ein Bild im Geiste als Ganzes festzuhalten, die Ruskin so großartig beschreibt, hat mit der Gabe des Eidetikers nichts gemein; es handelt sich vielmehr um die Fähigkeit, eine große Zahl von Beziehungen gleichzeitig zu überblicken, die für alle großen Leistungen charakteristisch ist, seien es die des Strategen und Schachspielers oder die des Komponisten und des Malers.

Man kann übrigens manche der psychologischen Probleme, die da mitspielen, in viel alltäglicheren Situationen beobachten. Jede Frau weiß ja, daß man ebensowenig die gegenseitige Wirkung von Farben und Formen aufeinander voraussagen kann, wenn man sie nicht ausprobiert hat, wie man ohne zu kosten die genaue Wirkung aller Zutaten auf den Geschmack eines Gerichts voraussagen kann. In beiden Fällen handelt es sich um Gesamteindrücke, die aus dem Zusammenwirken von ungezählten Einzelreizen entstehen. Keine Frau, auch wenn sie noch so viel von Kleidern versteht, wird sich ohne Zuhilfenahme eines Spiegels eine Meinung darüber bilden, ob ein Hut ihr stehe; denn sie weiß genau, daß jede Linie und jede Schattierung, ja auch jedes Material ihre Physiognomie in der unvorhergesehensten Weise verändern kann.

Dabei strebt die Modedame ja meist nicht wirklich darnach, sich einem Prototyp ganz anzugleichen, wenn sie sich auch dem Modeideal oder einer im Augenblick gerade besonders populären Gestalt soweit als möglich zu nähern sucht. Aber jeder Kopist, der ein Faksimile produzieren will, weiß, was für unerwartete Stückchen die einzelnen Elemente zu spielen imstande sind, wenn man sie nebeneinandersetzt. Man kann nämlich von einem wirklichen Faksimile nur dann sprechen, wenn die Kopie und das Original gleich groß sind. Denn die Größe einer Farbfläche beeinflußt ihren Ton (ebenfalls ein Phänomen, mit dem alle Frauen zu rechnen gewohnt sind, wenn sie nach kleinen Mustern Stoffe wählen oder eine passende Nähseide suchen), und da demnach Farben verschieden aussehen, je nachdem wie groß die Fläche ist, die sie bedecken, wird eine verkleinerte Faksimilenachbildung falsch wirken, auch wenn die einzelnen Farben mit dem Original übereinstimmen. Wahrscheinlich kann diese Schwierigkeit bei der Herstellung von farbigen Reproduktionen für Bücher nie ganz überwunden werden, denn es gibt hier keine wissenschaftlich meßbaren Normen, an die sich der Techniker bei seiner subtilen und verantwortungsvollen Aufgabe halten könnte. Er kann sich nur durch unermüdliche Versuche langsam an ein gegenseitiges Verhältnis der Farben herantasten, das seinem Gefühl nach der Harmonie des Originals am besten entspricht.

[263] Es gibt ein Gebiet der wissenschaftlichen Illustration, auf dem der Effekt der Größenskala auf den Gesamteindruck sozusagen offiziell anerkannt ist. Profildarstellungen von Bergketten in geographischen Werken sind immer in einem angegebenen Maßstab überhöht, das heißt im Verhältnis zur Horizontalausdehnung übertrieben, weil erfahrungsgemäß eine maßgerechte Darstellung der vertikalen Erhebungen falsch aussieht. Unser Geist weigert sich ganz einfach, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, daß die 9000 Meter, die der Mount Everest vom Meeresspiegel emporragt, nicht mehr sind als eine Entfernung, die ein Auto in weniger als zehn Minuten zurücklegt.

IX

Hierhin liegt auch einer der Gründe, warum eine Gegenüberstellung wie der Vergleich zwischen Cézannes Darstellung des Mont Ste. Victoire und Photographien desselben Berges bei einer ästhetischen Analyse recht irreführend sein kann. Es ist zum Beispiel ganz unwichtig, daß Cézanne die Steilheit der Silhouette übertrieb. Denn man kann nicht einfach sagen, die Photographie sehe in diesem Punkte mehr oder weniger ‚so aus‘ wie der wirkliche Berg. Die Sache ist ungleich komplizierter. Manche Photographien ebenso wie manche Gemälde wirken richtig und andere wieder nicht. Das hängt in ganz unvorhersehbarer Weise von allen möglichen Faktoren ab, zu denen unter anderem die Vergrößerung, der Abstand des Berges vom Bildrand, ja sogar das Passepartout und der Rahmen gehören. Das gleiche gilt auch von gemalten Ansichten. Aber diese Dinge berühren die viel schwerwiegenderen Probleme, mit denen ein Maler vom Genie Cézannes zu ringen hatte, kaum am Rande.

Diese Probleme erlangten ganz besondere Bedeutung zu einer Zeit, die absolute Treue dem visuellen Erlebnis gegenüber zum moralischen wie zum ästhetischen Gebot erhob. Für die Impressionisten war der innere Widerspruch dieser Forderung noch durch den farbigen Schleier ihrer schimmernden Schöpfungen verhüllt. Aber die kompromißlose Ehrlichkeit Cézannes und sein Interesse an Klarheit und Struktur führten ihn zu der Entdeckung, daß bei absoluter Treue im einzelnen die Gleichung im ganzen nicht aufgeht. Die Elemente schließen sich nicht zu einem überzeugenden Ganzen zusammen. Das bedeutete aber den Zusammenbruch der Mosaiktheorie bildlicher Darstellung und den Zwang, nach neuen Organisationsprinzipien zu suchen. Cézanne wußte freilich besser als jeder andere, daß man diese neue Art der Organisation nicht planen kann, eben weil es keine Möglichkeit gibt, die Wechselwirkungen der Bildelemente vorauszusehen. Paradoxerweise fällt es uns heute schwer, die einzelnen Stadien von Cézannes Ringen nach einem neuen Gestaltungsprinzip zu verfolgen, weil selbst seine mißlungenen Versuche uns so viel ästhetischen Genuß bereiten. Aber man kann kaum daran zweifeln, daß viele seiner unvollendet gebliebenen Bilder Experimente darstellen, die nicht zum Ziele führten, sondern Vorversuche sind, die in einer Sackgasse endeten. So war er gezwungen, umzukehren und neue Wege in unerforschtes Neuland zu suchen, die es ihm ermöglichen sollten, ‚Poussin nach der Natur‘ zu wiederholen, indem er durch andere, nicht weniger gültige Methoden den Eindruck einer festgefügten, geordneten Welt heraufbeschwor.

Die Kubisten gingen den umgekehrten Weg. Sie stießen die ganze Tradition naturgetreuer Wiedergabe über den Haufen und suchten wieder auf das wirkliche Objekt selbst zurückzukommen. Sie nahmen es und drückten es gegen ihre Leinwand platt. Man kann durchaus an dem Kaleidoskop aus derart abgeplatteten Objekten ästhetischen Gefallen finden und sie als eine geistvolle Demonstration der vielen unlösbaren Widersprüche unserer visuellen Wahrnehmung würdigen, ohne deshalb die Ansicht zu teilen, daß hier eine tiefere, wesentlichere [264] Realität wiedergegeben sei als in Bildern, die nach den Gesetzen der geometrischen Projektion aufgebaut sind.

Wir haben schon einmal feststellen können, daß die Berufung auf die Wissenschaft vom Standpunkt ästhetischer Theorie aus eine zweischneidige Sache ist. Sie kann zwar die Geheimnisse des Sehens ein wenig erhellen, aber sie kann dem Künstler nicht sagen, was für Folgerungen er aus ihren Erkenntnissen ziehen soll. Denn die Tatsache, daß man aus der Beobachtung und Nachahmung einzelner Elemente unseres Gesichtsfeldes nicht ein Bild schaffen kann, das die Illusion der Wirklichkeit hervorruft, läßt sowohl den Schluß zu, alle traditionellen Methoden der Darstellung seien falsch und müßten aufgegeben werden, als auch den, daß man dieser Methoden nicht entraten könne.

Wir haben kein Recht, anzunehmen, daß die Vorkämpfer der akademischen Tradition sich dieses Dilemmas nicht bewußt gewesen wären. Eine klare Formulierung des Problems findet sich schon in der Schrift Idée de la perfection de la peinture von Roland Fréart de Chambray, einem Freunde und Gönner Poussins, die im Jahre 1662 in Mans erschien und eine Art Manifest der akademischen Theorie darstellt. Dort heißt es:

‚Wenn ein Maler behauptet, er male die Dinge, wie er sie sehe, kann man sicher sein, daß er sie falsch sieht. Er wird sie nach seinen unrichtigen Vorstellungen wiedergeben und ein schlechtes Bild produzieren. Bevor er Bleistift oder Pinsel zur Hand nimmt, muß er sein Auge darauf einstellen, nach den Prinzipien der Kunst zu urteilen, die uns lehren, die Dinge nicht nur so zu sehen, wie sie wirklich sind, sondern so, wie sie dargestellt werden sollen. Denn so paradox es klingt, ist es oft ein schwerer Fehler, Dinge genau so zu malen, wie man sie sieht.‘

In diesem Paradoxon können wir, glaube ich, die Erklärung für die Tatsache finden, daß die illusionistische Kunst sich auf dem Boden einer langen Tradition entwickeln konnte, aber zusammenbrach, als der Wert dieser Tradition unter Berufung auf die Unschuld des Auges in Frage gestellt wurde.

Zur Bekräftigung dieser Behauptung können wir uns auf einige historisch belegbare Tatsachen stützen, die der Gegenstand früherer Kapitel waren, in denen wir feststellten, daß alle Darstellung auf Schemata aufbaut, die der Künstler anzuwenden gelernt hat. Aber jetzt verstehen wir schon besser, warum er so stark von der Überlieferung abhängig ist: Die undifferenzierte Aufforderung, ‚die Erscheinung der Dinge nachzuahmen‘, ist dieser Form jeden Sinnes bar. Sie wird erst sinnvoll, wenn dem Künstler etwas an die Hand gegeben wird, was er einem anderen Gegenstand ähnlich machen soll. Auch hier gilt: Ohne Bilden kein Abbilden. Ohne die Kenntnis von gewissen Beispielen jener komplizierten Relationen und Wechselwirkungen, die die einzelnen visuellen Elemente miteinander verknüpfen, könnte kein Maler auch nur den Versuch unternehmen, jenen Fleck von Schwefelgelb (um bei Ruskins Beispiel zu bleiben) so lange zu modifizieren, bis das Resultat nicht mehr nur für eine Gruppe leuchtender Primeln gehalten werden kann, sondern auch den Eindruck eines sonnenbeschienenen Rasens zu erwecken imstande ist. Wir wissen ja erst, daß die Unschuld des Auges, die Ruskin forderte, oder modern gesprochen die Konzentration auf die Sinnesempfindung allein nicht nur eine ungeheure psychologische Schwierigkeit, sondern eine logische Unmöglichkeit darstellt, weil jede Sinnesempfindung unendlich vieler Deutungen fähig ist und Vieldeutigkeit – um nochmals zu einem der Leitmotive dieses Buches zurückzukehren – an sich nicht wahrgenommen werden kann. Ihre Existenz kann allerdings dadurch erschlossen werden, daß man verschiedene Lesarten versuchsweise auf dieselbe Konfiguration anwendet und feststellt, daß zwei oder mehrere einen Sinn ergeben. Ich bin überzeugt, daß hier der Kern einer malerischen [265] Begabung liegt. Der Blick des bildenden Künstlers ist nicht unschuldiger, sondern bewußter und kritischer als der anderer Menschen, und er hat gelernt, seine Wahrnehmungen dadurch konstant auf die Probe zu stellen, daß er halb ernst, halb spielerisch die verschiedensten Deutungen durch Projektionen, die seine Phantasie ihm eingibt, im Geiste ausprobiert. Der geistige Vorgang, um den es sich dabei handelt, ist viel älter als die illusionistische Malerei, die sich seiner bedient. Denn unsere Sprache beweist auf Schritt und Tritt, daß der Mensch sich der Vieldeutigkeit des visuellen Erlebens schon in Urzeiten bewußt war. Aus ihren Wortbildungen und Vergleichen ebenso wie aus den Metaphern und Gleichnissen in Poesie und Mythos geht hervor, daß alle Kategorien, die der menschliche Geist sich schafft, um die Welt zu begreifen und sich zu eigen zu machen, wandelbar sind, so daß jeden Augenblick neue Klassen von Dingen gebildet und bestehende Klassen aufgelöst werden können. Es waren die unpraktischen Menschen, die Träumer, deren Reaktionen weniger eingefahren und weniger sicher waren als die ihrer lebenstüchtigeren Mitbürger, die uns gezeigt haben, daß man etwa einen Felsblock als einen Stier sehen kann, aber auch einen Stier als einen Felsen. Ein großer moderner Maler, Georges Braque, erwähnte einmal vor nicht allzulanger Zeit, wie die Entdeckung, daß alle unsere Kategorien fließend sind, daß also etwa aus einer Feile ohne weiteres ein Schuhlöffel oder aus einem Eimer ein Kohlenbecken werden kann, ihn mit Staunen und Entzücken erfüllt habe. Kinder haben ja auch, wie wir schon Gelegenheit hatten zu erwähnen, dieselbe Fähigkeit wie Künstler, Dinge zu finden oder zu machen, die für andere einstehen können, und wir haben angenommen, daß diese beiden Gaben wohl am Anfang aller Kultur standen. Finden ist wohl die älteste Form des Entsprechungserlebnisses; aber nur dadurch, daß er etwas macht und versucht, es etwas anderem ähnlich zu machen, kann der Mensch der sichtbaren Seite seiner Umwelt in gesteigertem Maße gewahr werden. Dieser Aspekt des schöpferischen Prozesses wurde ganz besonders von Konrad Fiedler in den Vordergrund gerückt, aber auch er vermochte vielleicht nicht die Schwierigkeit, auf diese Weise unsere Erkenntnisse zu erweitern, voll einzuschätzen, noch auch die Leistung, die in der ‚Bezwingung der Erscheinung‘ gelegen ist und die mit der Entdeckung der Vieldeutigkeit unserer visuellen Erlebnisse gleichbedeutend ist, ganz zu würdigen.

X

Hiermit sind wir, glaube ich, nun wirklich zum Kernpunkt der Sache vorgedrungen, die uns von Anfang an beschäftigt hat: der Frage nämlich, warum die darstellende Kunst eine Geschichte hat und warum diese Geschichte so lang und so verwickelt ist. Um es also nochmals kurz zu formulieren: Wenn wir, die Betrachter, künstlerische Darstellungen deuten wollen, unterwerfen wir sie einer Prüfung durch die verschiedensten versuchsweisen Interpretationen, indem wir unsere Erfahrungen und Kenntnisse der wirklichen Welt in sie hineinprojizieren. Wenn der Maler ein Stück Welt als Bild sehen will, muß er genau umgekehrt vorgehen. Er muß von den Bildern, die er kennt, ausgehen und versuchen, ob sich eines von ihnen in einen Ausschnitt der Wirklichkeit hineinprojizieren ließe. Sir Winston Churchill wollte von der Psychologie eine Erklärung der Rolle haben, die das Gedächtnis beim Malen spiele – was er das Postamt nannte, das eine Lichtmeldung in einen Code aus Malerfarben verschlüssele. Es scheint mir unzweifelhaft, daß dieses Wunder von der Erinnerung an Bilder, die man gesehen hat, vollbracht wird.

Unsere Untersuchungen haben zu dem paradoxen Resultat geführt, daß nur ein Bild uns dazu verhelfen kann, die Natur als Bild zu sehen. Zur Stütze dieser paradoxen These habe ich [266] eine Menge Beweismaterial vorgeführt, ja, man kann sagen, daß meine Absicht beim Schreiben dieses Buches im wesentlichen darin lag, diese Phänomene zu erklären und zu eben dieser Schlußfolgerung hinzuleiten. Und doch scheint es, daß, wenn wir sie wörtlich nehmen wollten, wir sofort vor neuen unüberwindlichen Schwierigkeiten stünden. Denn wenn nur diejenigen, die Bilder als Wirklichkeit zu sehen gelernt haben, imstande sein sollten, umgekehrt die Wirklichkeit als Bild zu sehen, dann könnte ja der ganze Prozeß niemals begonnen [267] haben und es könnte niemals zum ersten Bild gekommen sein. Die Schwierigkeit ist jedoch eine nur scheinbare, da die ersten Bilder ja gar nicht darnach streben, ähnlich zu sein. Überhaupt beschritten nur ganz wenige Kulturen diesen Weg vom Bilden zum Abbilden. Erst wenn die Ausführung und Gestaltung von bildlichen Darstellungen eine hohe Stufe erreicht hat, kommt es zu jenem systematischen Vergleich, aus dem eine illusionistische Kunst sich entwickeln kann. Aber auch dann noch bleibt die Nachahmung der Natur in hohem Grade selektiv. Durchaus nicht jedes Motiv findet seinen Maler. Selbst innerhalb einer hochentwickelten naturalistischen Kunst beobachtet man, daß der Formenschatz ein unglaubliches Beharrungsvermögen aufweist und sich jeder Wandlung so sehr widersetzt, als ob eben jedes Bild, das einer malt, ein Bild voraussetzte, das er gesehen hat. Die Beständigkeit der Stile in der Kunst ist so auffallend, daß sie einer Erklärung bedarf. Die naheliegendste scheint mir ein solcher automatischer Rückkoppelungsprozeß zu sein.

Es ist kein Zufall, daß diese psychologischen Tatsachen zuerst auf dem Gebiet der Landschaftsmalerei entdeckt wurden, also auf einem Gebiet, in dem Sehen so viel wichtiger ist als alle Berechnung. Elf Jahre nachdem Fréart de Chambray zu seinen Freunden aus dem Lager Poussins so einsichtig von dem ‚Paradox‘ gesprochen hatte, daß ein guter Maler niemals seinen Augen trauen dürfe, schrieb Roger de Piles, der Führer der damals im Entstehen begriffenen Rubenspartei, in seinem Dialogue sur le Coloris (1673): ‚Die schlechten Gewohnheiten der Maler wirken auf ihre Sinne zurück, so daß ihre Augen schließlich die Natur in den Farben sehen, in denen sie sie zu malen pflegen.‘ Uns sind diese Wechselwirkungen schon früher begegnet, sowohl als wir die Pathologie topographischer Abbildungen kennenlernten als auch als wir ihre Verwandlung in ein künstlerisches Genre beobachten. Denn man darf ja auch nicht vergessen, daß etwas sehr Positives an der Sache ist: Wir könnten selbstverständlich niemals ‚das Malerische‘ einer Landschaft sehen und bewundern, wenn nicht auch wir von den Malern gelernt [268] hätten, Landschaften als Bilder zu sehen. Richard Payne Knight, ein scharfblickender Kunstfreund des achtzehnten Jahrhunderts, war sich durchaus im klaren darüber, daß nichts anderes die englischen Dichter und Maler seiner Zeit in die Berg- und Seenlandschaft Cumberlands führte als die Suche nach Motiven, die ihren Lieblingsbildern glichen, womöglich also den Gemälden Claude Lorrains oder Poussins.

Und damit sind wir wieder bei Constable angelangt und bei dem Problem, worin eigentlich das Neue jener Entdeckung bestanden habe, die Roger Fry als einen ‚Vorstoß in der Richtung zur wirklichen Erscheinung der Dinge‘ bezeichnete. Constable selbst faßte zweifellos sein Werk in diesem Sinne auf. Er wandte sich voll Bitterkeit gegen ein Publikum, ‚das Bilder als den Maßstab betrachte, nach dem man die Natur beurteile, anstatt umgekehrt‘. Aber die Heftigkeit seiner Reaktion darf uns nicht darüber täuschen, daß sie selbst nur aus der unwiderstehlichen Anziehungskraft erklärt werden kann, die die Erinnerung an Bilder, die er gesehen, auf seinen feinfühligen Geist ausübten. Das Victoria and Albert Museum in London besitzt eine sehr schöne Studie des Zweiundzwanzigjährigen, die Borrowdale im englischen Seengebiet darstellt. Auf der Rückseite findet sich die interessante Notiz: ‚Schöner, windiger Tag, satte Töne, wie die weichsten Bilder Poussins oder Sir George Beaumonts, eigentlich dunkler getönt als die Zeichnung.‘

Wir sehen, wie der junge Maler sofort vor seinem Motiv an Bilder denken muß, an die es ihn erinnert. Er denkt an Gaspard Poussin, aus dessen grandiosen Gebirgslandschaften das achtzehnte Jahrhundert gelernt hatte, Gegenden von der Art des englischen Seengebiets als ‚malerisch‘ zu empfinden. Sir George Beaumont kennen wir aus der Anekdote über die sattbraune Meistergeige als einen Vertreter der akademischen Tradition.

Aber selbst wenn Constable sich vom Malerischen und Pittoresken abwendet, denkt er noch immer in Bildern, die er gesehen hat. Aus seiner Heimat, den ebenen Fluren Suffolks, schreibt er: ‚Es ist eine beglückende Landschaft für einen Maler. Es scheint mir, als sähe ich einen [271] Gainsborough in jeder Hecke und in jedem hohlen Baum.‘ In der Tat kann man leicht nachweisen, daß die Formensprache, die Constable bei der Wiedergabe dieser Motive aus dem flachen Osten Englands benützte, direkt von Gainsborough stammt. Wir haben weiter oben eine der ersten Skizzen Constables für sein Gemälde von Wivenhoe Park erwähnt. Etwas später sehen wir, wie er auf dem herrschaftlichen Besitz seines Gönners nach einem geeigneten malerischen Motiv sucht. Was herauskam, war eine ländliche Szene, wie er sie sicher oft in den Idyllen Gainsboroughs gesehen hatte – z.B. in dem Bild Die Tränke, das Wald- und Hirtenpoesie vereinte. Er sah ein Motiv eben ganz im Sinne des älteren Meisters.

Hier müssen wir uns freilich fragen, ob eine solche Erklärung uns auch wirklich weiterhilft; denn es scheint ja, als ob wir auf diese Weise die Frage immer nur eine Stufe weiter zurückschieben, ohne daß in einer solchen Kette ein Ende abzusehen wäre. Wenn Constable die englische Landschaft sah, als hätte Gainsborough sie gemalt, wie sah sie dann Gainsborough selbst? Diese Frage läßt sich noch beantworten. […]

[272] […] Denn es scheint mir, daß wir jetzt besser als am Anfang unserer Untersuchungen verstehen können, was Constable damit sagen wollte, als er erklärte, Landschaftsbilder seien Experimente auf dem Gebiete der Naturphilosophie, d.h. der Physik. Er hatte erkannt, daß der Künstler nur durch Experimentieren sich aus den Fesseln des Stils lösen und den Weg zu einer höheren Wahrheit finden kann. Nur dadurch, daß er Effekte versucht, die niemals vorher gemalt worden waren, kann er hoffen, der Natur näher zu kommen. Denn auch hier kommt immer noch das Bilden vor dem Abbilden.

XI

Die veränderte Deutung, die ich hiermit für die Geschichte jener Entdeckungen auf dem Gebiete des Sehens vorschlagen möchte, aus denen sich die Entwicklung der westlichen Malerei im wesentlichen aufbaut, hat ihre Parallele in der modernen Auffassung von der Geschichte der Naturwissenschaften. Auch hier glaubte das neunzehnte Jahrhundert an ein passives Registrieren, an voraussetzungsloses Beobachten von Tatsachen ohne jede Interpretation. Der Terminus technicus für eine solche Einstellung ist der Glaube an die Methode der Induktion. Sie beruht auf der Überzeugung, daß aus einem geduldigen Aneinanderreihen von Tatsachen sich schließlich ein richtiges Bild der Natur ergeben werde, vorausgesetzt daß keine Beobachtung durch subjektive Meinungen entstellt ist. Nach dieser Ansicht ist für den Forscher nichts schädlicher als eine solche vorgefaßte Meinung, eine Hypothese oder Voraussetzung, die seine Resultate zu verfälschen geeignet ist. Die Wissenschaft sei ein System von Tatsachen, und nur solche Erkenntnisse seien verläßlich, die direkt aus Sinnesdaten abgeleitet worden seien.

Aber dieses Ideal der reinen voraussetzungslosen Beobachtung, das der Theorie der Induktion zugrunde lag, hat sich in der Wissenschaft ebenso wie in der bildenden Kunst als illusorisch erwiesen. Die moderne Wissenschaftslehre hat an der Idee, daß es möglich sei, unbeeinflußt von jeder Erwartungsvorstellung drauflos zu beobachten, scharfe Kritik geübt. [273] Karl Popper betonte, daß wir nicht imstande sind, unseren Geist gleichsam in ein unbeschriebenes Blatt zu verwandeln, auf dem die Natur nun ihre Geheimnisse registriert, sondern daß jede Beobachtung eine Frage voraussetzt, die wir an die Natur richten, und daß jede solche Frage eine vorläufige Hypothese in sich schließt. Wir beobachten gewisse Vorgänge, weil unsere Hypothese uns gewisse Resultate erwarten läßt. Wir wollen sehen, ob sie auch wirklich eintreten. Wenn nicht, müssen wir unsere Hypothese revidieren und nochmals versuchen, sie durch Beobachtung zu überprüfen, wobei wir die strengsten Maßstäbe anlegen müssen. Die Methode, die wir dabei anwenden, besteht darin, sie zu widerlegen, und wir halten uns für berechtigt, eine Hypothese, die dabei nicht umgestürzt wird, vorläufig zu akzeptieren.

Man kann sehr gut die Geschichte der visuellen Entdeckungen in der Kunst in ganz ähnlicher Weise beschreiben, wie es hier für die wissenschaftliche Forschung geschehen ist. Das von uns so oft zitierte Prinzip von Schema und Korrektur entspricht dem oben geschilderten Vorgang vollkommen. Der Künstler braucht einen Punkt, von dem er ausgehen kann, indem er etwas bildet, was er dann sukzessive ähnlicher macht und so lange ummodelt, bis schließlich das vollendete Abbild daraus hervorgeht. Auch der Künstler kann nicht voraussetzungslos beginnen, aber er braucht seinen Vorläufern nicht kritiklos zu folgen.

Im Jahre 1817 – in demselben Jahre, in dem Constable Wivenhoe Park ausstellte – erschien eine interessante kleine Schrift eines wenig bekannten Malers namens Henry Richter, die den Forschungsdrang, der damals die jungen Maler beseelte, sehr schön illustriert. Sie führt den Titel Daylight: A Recent Discovery in the Art of Painting (Das Tageslicht: eine neue Entdeckung in der Malerei). Er apostrophiert darin die Geister der holländischen Meister des siebzehnten Jahrhunderts, die er sich in einer Ausstellung spukhaft versammelt denkt, wie folgt: ‚Gab es denn zu eurer Zeit keinen klaren Himmel, und schien nicht das weite blaue Licht der Atmosphäre damals wie heute? ... Ich finde, daß der Kontrast zwischen dem goldenen und dem blauen Licht es ist, was vor allem die Herrlichkeit des Sonnenscheins ausmacht ...‘

Ähnlich wie Constable unterzog auch Richter die überlieferten Formeln, die ihm die Wissenschaft der Malerei bot, einer kritischen Prüfung und fand, daß, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, Bilder, die darnach gemalt waren, nicht aussahen wie Szenen, die sich im [274] Tageslicht abspielten. Er plädierte deshalb dafür, mehr Blau zu verwenden und es dem Gelb gegenüberzustellen, um auf diese Weise jene Entsprechung zum Tageslicht zu finden, die bisher der Kunst nicht gelungen war.

Richters Kritik war berechtigt, aber er war anscheinend nicht imstande, selbst eine neue befriedigende Lösung zu finden. Vielleicht hatte er nicht genug Erfindungsgeist, um seine Hypothese in einem geglückten Gemälde zu bewähren, vielleicht fehlte ihm auch einfach die Beharrlichkeit, immer von neuem zu versuchen. Jedenfalls versank er in Vergessenheit als ein unbedeutender Illustrator der viktorianischen Epoche, während Constable so lange mit seinen Experimenten fortfuhr, bis er jene helleren und kühleren Harmonien zustande brachte, die tatsächlich die Malerei ein großes Stück näher zum ‚plein air‘ führen sollten.

Aus der Geschichte der Malerei geht aber hervor, daß alle derartigen Entdeckungen einen systematischen Vergleich der alten Errungenschaften mit den neuen Motiven zur Voraussetzung haben oder, anders ausgedrückt, eine versuchsweise Projektion bekannter Kunstwerke in die Natur, um festzustellen, inwiefern man die Natur tatsächlich in dieser Weise sehen könne. Ein besonders aufschlußreiches Beispiel einer solchen Gegenüberstellung verdanken wir Lecoq de Boisbaudran. Er war vor etwa hundert Jahren einer der einflußreichsten Lehrer der Malerei in Frankreich, ein Vorkämpfer für Reformen im Kunstunterricht, der besonders für die Schulung des visuellen Gedächtnisses eintrat. Im Zusammenhang mit einer Kritik der hergebrachten Routine des Aktstudiums im Atelier setzte er es durch, daß die Modelle im Freien posierten, und er ließ sie sich frei bewegen, wie später Rodin. Sein Streben ging dabei dahin, wie er sagte, ‚seine Studenten in das unermeßliche, fast unerforschte Gebilde lebendiger Handlung und [275] fließender, flüchtiger Effekte einzuführen‘. Dabei ‚steigerte sich einmal unser Eifer zur wahren Begeisterung. Eines unserer Modelle, ein Mann von prachtvoller Gestalt mit wehendem Bart, lag ruhend am Rande eines Teiches neben einem Gebüsch aus Schilfrohr. Seine Haltung war zugleich lässig und schön. Die Illusion war vollkommen, die klassische Mythologie lebte vor unseren Augen. Denn hier vor uns sahen wir einen der alten Flußgötter, der in gelassener Würde über seine Gewässer herrschte.‘ Wir dürfen annehmen, daß Meister und Schüler dies als eine wunderbare Gelegenheit betrachteten, die alte Tradition mythologischer Gemälde aufzugreifen, zu vergleichen und zu verbessern. Derartige Beispiele machen es auch verständlich, warum alle künstlerischen Wandlungen allmählich vor sich gehen. Wie bei wissenschaftlichen Versuchen können Veränderungen nur beherrscht und kontrolliert werden, wenn alle übrigen Faktoren unverändert bleiben.

Denkt man nicht bei der oben zitierten Schilderung unwillkürlich an das Werk eines viel bedeutenderen Neuerers, an Manets epochemachendes Déjeuner sur l'herbe? Es ist ja bekannt, daß dieses kühne naturalistische Wagnis nicht auf einem tatsächlichen Erlebnis in der Umgebung von Paris basierte, wie das skandalisierte Publikum annahm, sondern auf einem Stich aus dem Kreise Raffaels, den niemand geringerer als der Akademiker Fréart de Chambray als das vollendete Muster der Komposition gepriesen hatte! Nach dem, was wir bisher gelernt haben, erscheint diese Entlehnung nicht mehr ganz so befremdlich. Ein Maler, der systematisch bestrebt ist, neue Effekte zu erforschen, darf es sich noch weniger als ein anderer erlauben, willkürlich vorzugehen. Er kann nicht einfach Farben auf die Leinwand werfen und beobachten, was dabei herauskommt. Denn selbst, wenn er mit dem Resultat zufrieden wäre, könnte er es nicht wiederholen. Wie wir gesehen haben, ist das naturwahre Abbild ein äußerst subtil abgewogenes System von Relationen, das nur in engen Grenzen abgewandelt werden kann, wenn es nicht für den Künstler selbst und für sein Publikum unverständlich sein soll. Die Tatsache, daß Manet das Kompositionsschema Raffaels zu seinem Ausgangspunkte wählte, beweist, wie sehr er sich der Notwendigkeit bewußt war, nicht mehr als einen Schritt auf einmal zu wagen. Er wußte wohl instinktiv, daß eine Sprache durch die Aufnahme von neuen Worten und Wendungen lebt und wächst, daß aber eine Sprache, die nur aus neuen Worten und einer neuen Syntax bestünde, so unverständlich sein würde wie das Stammeln eines Wahnsinnigen.

All dies trägt jedoch meiner Meinung nach nur dazu bei, unseren Respekt vor der Leistung erfolgreicher Neuerer noch zu erhöhen. Denn dazu bedarf es noch mehr als einer Auflehnung gegen die Tradition, mehr noch als einer Wiedererlangung der Unschuld des Auges. Der Künstler muß sich das Werkzeug, mit dem er die Realität zu ergründen sucht, aus der Kunst der Vergangenheit selbst schmieden. Er darf nicht einfach jenen geistigen Zwang, kraft dessen [276] er jedes Motiv so sehen muß, wie er es von den Bildern her kennt, mit Gewalt niederkämpfen. Er muß die überkommenen Darstellungsweisen selbst anwenden, aber nicht traditionsgebunden bejahend, sondern kritisch prüfend und sorgsam abwägend, um zu sehen, ob durch eine Änderung hier, eine Zutat dort, vielleicht eine bessere Entsprechung der Realität erreicht werden könnte. Er muß von der Leinwand zurücktreten und sich selbst der schärfste, unbarmherzigste Richter sein, unerbittlich gegen die leisesten Anzeichen billiger Effekte oder oberflächlicher Vereinfachungen. Dabei muß er darauf gefaßt sein, daß das Publikum, wie es nur allzuleicht geschieht, bei seinen neuen Entsprechungen nicht mitkam und sie ablehnt, weil es noch nicht gelernt hat, diese neuen Kombinationen im Sinne der wirklichen Welt zu deuten.

So ist es denn durchaus nicht merkwürdig, daß die kühnsten dieser Experimente im Publikum die Überzeugung wachriefen, des Künstlers Weltbild sei vollkommen subjektiv. Hand in Hand mit dem Aufkommen des impressionistischen Stils in der Malerei entstand die volkstümliche Vorstellung des Malers als eines Mannes, der die Bäume blau, das Gras rot und den Himmel grün male und der jede Kritik mit der stolzen Bemerkung abtue: ‚lch sehe es eben so.‘ Natürlich ist die Sache nicht ganz so einfach. Man kann die Behauptung, alle Anschauungen sei subjektiv, ziemlich leicht übertreiben. Es gibt tatsächlich echte Neuentdeckungen auf dem Gebiet des Sehens, und es ist möglich, sie einer Prüfung zu unterziehen, selbst wenn wir zugeben müssen, daß wir niemals wissen können, was ein Künstler in einem bestimmten Augenblick sah. Und trotz des anfänglichen Widerstandes gegen impressionistische Gemälde lernten die Menschen schnell, sie zu deuten, sobald der erste Schock abgeklungen war. Wenn sie dann, nachdem sie sich diese neue Sprache angeeignet hatten, selbst hinausgingen in die Felder und Fluren oder zum Fenster hinaus auf einen Pariser Boulevard hinunterblickten, entdeckten sie zu ihrer freudigen Überraschung, daß auch sie die Welt tatsächlich als ein solches Flimmern von bunten Lichtern und farbigen Flecken erleben konnten. Die Übertragung war wirksam geworden. Die Impressionisten lehrten ihre Zeitgenossen zwar nicht, die Natur mit einem ‚unschuldigen Auge‘ zu betrachten – denn das gibt es nicht –, sie zeigten ihnen aber neue, ungeahnte Möglichkeiten, die Welt zu sehen, die gewissen visuellen Erlebnissen besser entsprachen als alle Malerei, die es bisher gesehen hatte. Die Maler überzeugten das kunstverständige Publikum so gründlich, daß das Bonmot entstehen konnte, die Natur ahme die Kunst nach. Oder, wie Oskar Wilde es einmal ausdrückte, es gebe den Londoner Nebel erst, seitdem Whistler ihn gemalt habe.

[...] [304] […]

Es gibt in der Kunstgeschichte einzelne Erfindungen, die geradezu die Wirkung eines Sesam-öffne-dich gehabt haben. Hierher gehörten fast sicher die Erfindung der Verkürzung, die die Tiefenwirkung aufschloß, ebenso das Modellieren in Tonschattierungen, das Aufsetzen von Lichtern zur Charakterisierung der Oberfläche oder jene Ausdruckszüge, die der Gegenstand des vorigen Kapitels gewesen waren. Dabei handelt es sich nicht darum, ob die Natur wirklich so aussieht wie diese technischen Kunstgriffe, sondern ob Bilder, die sie enthalten, eine Deutung im Sinne eines Naturvorbildes herausfordern. Zwar wird das bis zu einem gewissen Grade von der psychologischen Einstellung des Beschauers abhängen, also von seinem Zustand der Erwartung, seinen Bedürfnissen und vor allem von der Kultur, die seine Gewohnheiten geformt hat. Aber alle diese Faktoren beeinflussen sozusagen nur die Kombination, nicht jedoch das Öffnen des Schlosses selbst, das immer noch den richtigen Schlüssel voraussetzt.

Als die Erkenntnis sich anbahnte, daß wir in der Kunst nicht nur einen Schlüssel zur sichtbaren äußeren Welt, sondern auch ein Instrument zum Aufschließen innerer Welten besitzen, [305] vollzog sich alsbald eine vollständige Verlagerung künstlerischer Zielsetzungen. Aber gerade weil ich diesen Umschwung anerkenne, würde ich es sehr bedauern, wenn diese neuen Bestrebungen verfehlen sollten, aus den Lehren der Vergangenheit Nutzen zu ziehen, wie es beinahe den Anschein hat. Im kunsttheoretischen Schrifttum der jüngsten Zeit bemerkt man nämlich eine eigenartige Dichotomie der Auffassung. Während es heute nicht nur als erwiesen gilt, daß aller Naturalismus im Grunde Konvention ist und dieser Aspekt geradezu überbetont wird, betrachtet man die Sprache der Farben und Formen, durch die die Tiefen der menschlichen Psyche wiedergegeben werden sollen, als naturgegeben, weil sie unserer Natur entspringt.

Ich möchte nun zum Abschluß versuchen, diese Gegenüberstellung ein wenig zu beleuchten. Dabei scheint es mir auch hier am fruchtbarsten, das Problem zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen. In Platos Zeiten wurde sehr viel darüber debattiert, ob die Sprache, also die Gesamtheit der Dingnamen, ‚Natur‘ oder ‚Konvention‘ sei, ob also zum Beispiel zwischen dem Wort Pferd und der Tiergattung Pferd ein wirklicher Zusammenhang besteht oder ob es auch beliebig anders heißen könnte. Uns erscheint heute die Frage in dieser Form recht naiv, und die wenigsten zweifeln wohl daran, daß, von wenigen onomatopoetischen Wörtern abgesehen, die Namen den Dingen mehr oder minder zufällig anhaften, nichts sind als Laute, mit denen wir gewisse Gruppen von Dingen zu bezeichnen gelernt haben. Damals nun pflegten die Vertreter der Konventionstheorie in Verteidigung ihres Standpunktes der konventionellen und willkürlichen Sprache der Worte die ‚natürliche‘ Sprache der bildenden Kunst gegenüberzustellen, also etwa das Lautgebilde ‚Pferd‘ oder ‚Hippos‘ mit dem Abbild eines solchen Tieres zu vergleichen. Bei diesem habe man es im Gegensatz zu jenem nicht mit einem konventionellen, sondern mit einem natürlichen Zeichen zu tun, das etwas mit dem Bezeichneten gemein hat (was man, nach der Terminologie des amerikanischen Logikers Peirce, auch als ‚Ikon‘ bezeichnet).

In Platos Dialog Cratylus, der sich mit diesem Problem beschäftigt, hebt Sokrates immer wieder diesen Gegensatz hervor: ‚Um zu unserem früheren Vergleich zurückzukehren: Könnte man ein Gemälde einem wirklichen Gegenstand ähnlich machen, wenn nicht die Farben, aus denen das Gemälde besteht, ihrer eigenen Natur nach den Gegenständen glichen, die die Kunst des Malers nachahmt? Wäre das nicht unmöglich?‘ ‚Schlechterdings unmöglich‘, wiederholt sein Opfer. Hier wäre ich für mein Leben gern dabei gewesen, um den Sprecher beiseite zu schieben und nun meinerseits den Sokrates zu befragen. ‚O Sokrates‘, würde ich gesagt haben, ‚wurdest du nicht einst als Bildhauer ausgebildet?‘ ‚Gewiß doch‘, hätte er zugegeben. ‚Und erschien es dir damals, als ob der Stein, den du bearbeitest, den Gegenständen, die du nachahmtest, ähnlich sei?‘ ‚Nun, nicht allzu ähnlich, beim Hund.‘ ‚Und wie steht es mit den Schalen, aus denen du beim Symposium zu trinken pflegst? Hast du nicht bemerkt, daß die altmodischen schwarzen Figuren auf rotgebranntem Ton zeigen, während auf den meisten der modernen Gefäße der Grund schwarz ist und das Rot des Tons für die Figuren verwendet wird? Sind also Figuren rot oder schwarz je nachdem, wie es dem Vasenmaler beliebt? Aber selbst wenn du an die farbigen Gemälde des Polygnotus oder Zeuxis dachtest, o Sokrates, so wissen wir heute, daß sie niemals hoffen konnten, Pigmente zu finden, die einer sonnbeschienenen Landschaft gleichen. Und doch sind sonnbeschienene Landschaften gemalt worden, und was du für unmöglich erklärtest, hat sich ereignet!‘

Im Hochgefühl meiner Überlegenheit ließe ich den alten Tüftler gar nicht zu Worte kommen. Vergebens würde er vorzubringen versuchen, daß er noch nie das Bild einer sonnbeschienenen Landschaft gesehen habe und noch nie von Dingkonstanz oder geistigen Einstel[306]lungen gehört habe, durch die solche Wunder möglich werden. Als nächstes würde ich ihn in eine Kinderstube mitnehmen, in der ein paar kleine Jungen mit farbigen Klötzchen spielen. Sie hätten Klötzchen in allen möglichen Farben, rot, grün und gelb, alle in einer Reihe, nur an einem Ende wären zwei aufeinandergestellt. Einer der Kleinen würde die ganze Reihe am Fußboden vorwärtsschieben und dabei Laute ausstoßen, die wie ‚puff, puff!‘ klängen. ‚Sage mir, о Sokrates‘, würde ich triumphierend fragen, ‚was hat all das mit einem Eisenbahnzug gemein?‘ ‚Womit, sagtest du? Ich verstehe dich nicht.‘ Kaum hätte er das gefragt, wüßte ich auch schon, daß ich mich ihm ganz ausgeliefert hätte. Denn wenn ich jetzt versuchte, ihm zu erklären, was Eisenbahnzüge sind, würde er glauben oder doch zu glauben vorgeben, daß sie aus roten, grünen und gelben Klötzchen bestehen und ‚puff, puff‘ rufend durch die Landschaft sausen. ‚Warum nennst du sonst dieses Gebilde hier einen Eisenbahnzug?‘ würde er fragen. ‚Und wenn so ein Zug nicht ‚puff, puff‘ sagt, was für einen Sinn haben dann diese sonderbaren und nichtssagenden Silben?‘ Schließlich würden wir dann beide etwas kleinlaut von der Höhe unserer Unfehlbarkeit herabsteigen, um gemeinsam den Kern der Sache zu untersuchen, der, glaube ich, darin besteht, daß die Sprache des gesprochenen Wortes mit der bildlichen Darstellung viel mehr gemein hat, als wir manchmal zuzugeben geneigt sind. Wir würden darin übereinstimmen, daß der Spielereizug kein Abbild ist, sondern vielmehr ein Versuch der Kinder, das Material, das ihnen zur Verfügung stand, also die bunten Klötzchen, so anzuordnen, daß sie als Zug verwendet werden können. Ein Kind sagt ja auch nicht: ‚Sollen wir mit unseren Klötzchen einen Zug darstellen?‘ Es sagt: ‚Machen wir einen Zug!‘ Damit meint es eine Art primitives Modell, das wie der wirkliche Zug aus einer Reihe von aneinandergefügten Elementen besteht, die sich schieben lassen und die man in der Phantasie mit Lokomotivführern, Heizern und Passagieren bevölkern kann.

Und ganz dasselbe gilt für das Wort ‚puff, puff!‘. Natürlich macht kein Zug ein solches Geräusch. Aber innerhalb der Gegebenheiten der Sprache des Kindes, dem ja nur die ‚Phoneme‘ oder Bausteine der Sprache zur Verfügung stehen, aus denen sie sich zusammensetzt, entspricht die Silbe ‚puff‘ dem Geräusch, das eine Dampflokomotive macht, noch am besten, und sie wurde daher ausgewählt, den Lärm des ausströmenden Dampfes zu repräsentieren – und wird wahrscheinlich auch dann noch für den Lärm einer Eisenbahn gebraucht werden, wenn es keine Dampflokomotiven mehr geben wird, auf die sie wenigstens halbwegs paßte. Gewiß spielt in der gesprochenen Sprache diese Art der konventionalisierten Imitation nur eine untergeordnete Rolle, und insofern hat Sokrates recht, wenn er den Unterschied der beiden Systeme hervorhebt. Ich glaube aber, daß es für das Studium visueller Bildelemente sehr lohnend ist, sich einen Augenblick mit diesen sogenannten onomatopoetischen Nachahmungen von Geräuschen durch Sprachlaute zu befassen. Denn an ihnen läßt sich meiner Ansicht nach die Beziehung zwischen Konvention, geistiger Einstellung und Wahrnehmung besonders gut analysieren. Wir sahen soeben, daß diese sogenannten Nachahmungen nicht wirklich Nachahmungen sind, sondern die beste Näherung an den gewünschten Laut, der innerhalb einer bestimmten Sprache möglich ist. Der Klang der Trommel wird zum Beispiel im Französischen mit dem Wort ‚rataplan‘ nachgeahmt. Im Deutschen, in dem es an Nasallauten fehlt, sagt man statt dessen ‚btini, biim‘, was mir wenigstens als eine weniger gute Näherung erscheint. Vielleicht ist das der Grund, warum diese Silben weniger oft verwendet werden als die entsprechenden, besser passenden französischen. Es erscheint mir sehr wahrscheinlich, daß die bessere Lautmalerei des französischen Wortes mehr Projektion und Illusion erzeugt als die schwächere deutsche, mit anderen Worten, daß mehr Franzosen die Trommel ‚rataplan‘ sagen hören als [307] Deutsche ‚bum, bum‘. Das Krähen des Hahnes wird im Englischen mit ‚cock-a-doodle-doo‘, im Französischen mit ‚cocorico‘ und im Chinesischen mit ‚kiao kiao‘ wiedergegeben. Für mich, obwohl ich schon viele Jahre in England lebe, sagt ein Hahn aber immer noch nichts anderes als ‚kikeriki‘. Genaugenommen sagt er natürlich auch nicht wirklich ‚kikeriki‘. Er kann ja nicht sprechen. Aber wie wir den Hahnenschrei hören, wird eben in hohem Maße durch die Silben beeinflußt, die ihm traditionell unterlegt werden, und die Frage nach dem Grade dieser Beeinflussung ist eben mit jener Frage nach dem Primat von Konvention oder Natur gleichbedeutend, die Sokrates solche Schwierigkeiten bereitete. Um sie beantworten zu können, müßten wir die Laute, die der Hahn wirklich von sich gibt, mit den Lauten, die wir hören, vergleichen können. So gefaßt, erscheint das Problem dann nicht nur schwer zu lösen, sondern beinahe absurd. Es gibt eben keine Realität ohne Deutung, und ein unschuldiges Ohr existiert ebensowenig wie ein unschuldiges Auge.

[...] [329] […] Denn das Einmalige in all seiner reichen Mannigfaltigkeit und Differenziertheit läßt sich in unserem grobmaschigen Netz allgemeiner Begriffe, wie wir es in unserem Frage-und-Antwort-Spiel zu knüpfen trachten, nicht einfangen und festhalten. Unsere Sprache, die entstand, damit wir uns in der Welt der Dinge zurechtfinden können, erweist sich eben als ein recht armseliges Werkzeug, wenn wir versuchen, die innere Welt des Geistes zu ordnen und zu analysieren.

Ich hoffe aber, daß wir im Verlauf unserer Bemühungen, die Entwicklung der Sprache bildlicher Darstellung zu verstehen, ganz allgemein etwas über den Aufbau und das Wesen von Äquivalenzsystemen erfahren haben. In der Tat liegt das wahre Wunder der Sprache der bildenden Kunst nicht darin, daß sie es dem Künstler ermöglicht, eine Illusion der Wirklichkeit zu erschaffen, sondern darin, daß unter den Händen eines Meisters die bemalte Leinwand durchsichtig wird wie ein Schleier. Indem wir unter seiner Führung die sichtbare Welt mit neuen Augen betrachten, meinen wir in die unsichtbare Welt des Geistes zu blicken, wir müssen nur, wie Philostratus sagt, unsere Augen zu gebrauchen wissen.

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Ernst H. Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, 1959

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