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Das Realistische Manifest, 1920
Naum Gabo
Quelle
Naum Gabo: "Das Realistische Manifest", in: Naum Gabo: Sechzig Jahre Konstruktivismus, hrsg. von Steven A. Nash/Jörn Merkert. Mit dem Œuvre-Katalog der Konstruktionen und Skulpturen (anläßlich der Ausstellung Naum Gabo: Sechzig Jahre Konstruktivismus im Dallas Museum of Art vom 29. September bis 17. November 1985, der Art Gallery of Ontario, Toronto, 13. Dezember 1985 – 9. Februar 1986, dem Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 6. März – 27. April 1985, der Akademie der Künste, Berlin-West, 7. September – 19. Oktober 1986, der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 28. November 1986 – 4. Januar 1987 und der Tate Gallery, London, 11. Februar – 20. April 1987). München/New York: Prestel-Verlag 1986, S. 203-204. ISBN: 3-7913-0773-8.
Erstausgabe
Naum Gabo [Pseudonym v. Naum Neemiia Pevzner], Antoine Pevsner [Pseudonym v. Noton Pevzner]: Realisticheskii Manifest [The Realistic Manifesto], Moskau (5. 8. 1920). [Engl.] Naum Gabo, Herbert Read (Hrsg.): Constructions, Sculpture, Paintings, Drawings, Engravings. With introductory essays by Herbert Read and Leslie Martin. London/Cambridge: Lund Humphries 1957, S. 151-152. [Dt.] Naum Gabo, Nathan Pevsner: "Das Realistische Manifest", in: Naum Gabo. Sechzig Jahre Konstruktivismus, hrsg. von Steven A. Nash/Jörn Merkert. Prestel-Verlag 1986. ISBN: 3-7913-0773-8.
Genre
Manifest
Medium
Kunst
[203] Über die Stürme unseres Alltags hinweg,
Auf den Ruinen und der Asche der zerstörten Vergangenheit,
Vor den Toren der unbekannten Zukunft,
Verkünden wir heute euch Künstlern, Malern, Bildhauern, Musikern, Schauspielern, Dichtern…
euch, denen die Kunst nicht nur ein Anlaß zur Konversation ist, sondern die Quelle echter Begeisterung, unser Wort und unsere Tat.
Aus der Sackgasse, in die die Kunst nach über zwei Jahrzehnten des Suchens geraten ist, muß ein Ausweg gefunden werden.
Die Zunahme der menschlichen Erkenntnis und das machtvolle Eindringen in die gestern noch geheimnisvollen Gesetze der Welt, die mit dem Aufdämmern unseres Jahrhunderts begannen, das Aufblühen einer neuen Kultur und einer neuen Zivilisation, mit dem in der Geschichte ohne Beispiel dastehenden Drang der breiten Volksmassen zum Besitz der Reichtümer der Natur, ein Drang, eng verbunden mit der Ausdehnung der einer vereinigten Menschheit entgegenstrebenden Völker – und, schließlich, der Krieg und die Revolution (diese Läuterungsstürme der kommenden Epoche) haben uns die Tatsache neuer, bereits entstandener und wirksamer Lebensformen vor Augen geführt.
Was bringt die Kunst in diese sich entfaltende Epoche der Menschheitsgeschichte mit?
Besitzt sie die für den neuen Großen Stil notwendigen Mittel?
Oder nimmt sie an, die neue Epoche bedürfe keines neuen Stils?
Oder ist sie der Ansicht, das neue Leben könne eine Neuschöpfung akzeptieren, die auf alten Fundamenten errichtet ist?
Trotz der Forderungen des sich erneuernden Geistes unserer Zeit lebt die Kunst noch immer von der Impression, der äußeren Erscheinung, und wandert hilflos zwischen Naturalismus und Symbolismus, zwischen Romantik und Mystik hin und her. Die Versuche der Kubisten und der Futuristen, die visuellen Künste über die Sümpfe der Vergangenheit hinauszuheben, haben nur zu neuen Täuschungen geführt. Der Kubismus endete, nachdem er mit der Vereinfachung der Darstellungstechnik begonnen hatte, mit der Analyse und erstarrte darin.
Die verwirrte, durch logische Anarchie zerstückelte Welt der Kubisten kann uns nicht genügen, die wir bereits die Revolution zuwege gebracht haben und im Begriffe sind, neu zu schaffen und aufzubauen. Man konnte die Experimente der Kubisten mit Interesse beobachten, aber man kann ihnen nicht folgen, wenn man sich davon überzeugt hat, daß diese Versuche an der Oberfläche der Kunst blieben, ohne die Grundlagen zu berühren, wenn man klar erkennt, daß das Ergebnis auf die alte graphische Darstellungsweise, das alte Volumen und die alte dekorative Fläche hinausläuft.
Man hätte den Futurismus zu seiner Zeit wegen des frischen Schwungs der von ihm verkündeten Revolution, wegen seiner niederschmetternden Kritik an der Vergangenheit, begrüßen können, denn auf keine andere Weise konnte man jene künstlichen Barrikaden des ‚guten Geschmacks‘ bekämpfen … Pulver und viel Pulver war dazu notwendig … aber man kann ein künstlerisches System nicht nur auf einer einzigen revolutionären Phrase aufbauen.
Wir mußten den Futurismus unter seiner glänzenden Oberfläche prüfen, um zu erkennen, daß man einem ganz gewöhnlichen Schönredner gegenüberstand, einem sehr gewandten, unehrlichen Burschen, der mit den Lumpen abgenutzter Schlagworte wie ‚Patriotismus‘, ‚Militarismus‘, ‚Verachtung der Frau‘ und sonstiger provinzieller Redensarten bekleidet war.
Im Bereich rein malerischer Probleme ist der Futurismus nicht weiter gegangen als bis zu dem neuerlichen Versuch, einen rein optischen Reflex auf der Leinwand festzuhalten, ein Versuch, der schon bei den Impressionisten zum Mißerfolg geführt hatte. Jedem von uns ist es nun klar, daß man durch die einfache graphische Registrierung einer Reihe von festgehaltenen Augenblicksbewegungen die Bewegung selbst nicht nachschaffen kann. Das völlige Fehlen einer linearen Rhythmik macht aus dem futuristischen Bild so etwas wie den Pulsschlag einer Leiche.
Das großsprecherische Wort von der ‚Geschwindigkeit‘ wurde von den Futuristen als Trumpf ausgespielt. Wir erkennen den Wohllaut dieser Parole an, und wir sehen völlig ein, daß sie auch den strengsten Spießbürger umwerfen kann. Doch fragt man einen Futuristen, was er sich unter ‚Geschwindigkeit‘ vorstelle, dann erscheint ein ganzes Arsenal rasender Automobile, rasselnder Bahnhöfe, verwickelter Drähte, der Schall, der Lärm und das Geklirre kreisender Straßen ... ist es wirklich nötig, sie davon zu überzeugen, daß alles dieses für die Geschwindigkeit und ihre Rhythmen nicht notwendig ist? Schau‘ einen Sonnenstrahl an ... die stillste aller stillen Kräfte, er legt 300.000 Kilometer in der Sekunde zurück … Betrachte den Sternenhimmel … wer hört ihn … und doch, was sind unsere Bahnhöfe gegenüber den Bahnhöfen des Universums? Was sind unsere irdischen Züge gegenüber diesen dahineilenden des Sternenhimmels?
In der Tat war das ganze Geschrei der Futuristen um die Geschwindigkeit ganz offensichtlich nur eine Anekdote, und von dem Augenblick an, da der Futurismus verkündete, daß „Raum und Zeit gestern gestorben seien“, sank er in das Dunkel der Abstraktion. Weder der Futurismus noch der Kubismus haben uns gebracht, was unsere Zeit von ihnen erwartete. Neben diesen beiden künstlerischen Richtungen hat unsere jüngste Vergangenheit nichts Bedeutendes oder Beachtenswertes hervorgebracht.
Aber das Leben wartet nicht, und die Folge der Generationen hält nicht an, und wir, die wir jene ablösen, die bereits in die Geschichte eingegangen sind, die wir die Ergebnisse ihrer Experimente in Händen halten mit ihren Fehlschlägen und Erfolgen nach Jahren der Erfahrung, die wie Jahrhunderte zählen … wir sagen …
Kein neues künstlerisches System wird den Forderungen einer werdenden Kultur widerstehen können, wenn das Fundament der Kunst nicht auf den realen Gesetzen des Lebens errichtet wird. Wenn nicht alle Künstler mit uns sagen werden … Alles ist Lüge … nur das Leben und seine Gesetze sind wahr, und im Leben ist nur der Tätige schön, klug, stark und aufrichtig, denn das Leben kennt die Schönheit nicht als ästhetischen Maßstab … die Wirklichkeit ist die höchste Schönheit. Das Leben kennt weder gut noch schlecht noch die Gerechtigkeit als Maßstab der Moral ... die Notwendigkeit ist die höchste und gerechteste Moral. Das Leben kennt keine gedanklich abstrahierten Wahrheiten als Maßstäbe der Erkenntnis, die Tat ist die höchste und sicherste aller Wahrheiten. So sind die Gesetze des unerbittlichen Lebens. Kann die Kunst den Mühlsteinen dieser Gesetze widerstehen, wenn sie auf Abstraktion, Täuschung und Fiktion aufgebaut ist? Wir sagen …
Raum und Zeit sind für uns heute geboren. Raum und Zeit sind die einzigen Formen, in denen sich das Leben aufbaut und in denen sich deshalb die Kunst aufbauen muß. Staaten, politische und wirtschaftliche Systeme vergehen, Ideen zerbröckeln unter dem Zwang der Jahrhunderte … aber das Leben ist stark und wächst ununterbrochen, und die Zeit schreitet vorwärts in echter Kontinuität.
Wer will uns wirksamere Formen zeigen als diese … wer ist so groß, daß er uns stärkere Fundamente geben könnte als diese? Wo ist das Genie, das uns eine hinreißendere Legende erzählen könnte als diese prosaische Geschichte, die man Leben nennt? Die Verwirklichung unserer Weltauffassungen in den Formen von Raum und Zeit ist das einzige Ziel unseres bildnerischen Schaffens. Wir messen unsere Arbeit nicht mit dem Ellenmaß der Schönheit, wir wägen sie nicht nach Pfunden an Zärtlichkeit und Stimmung ab. Die Lotleine in der Hand, mit Augen, so genau wie ein Lineal, in einem Geiste, so gespannt wie ein Zirkel … konstruieren wir unser Werk wie das Universum das seine, wie der Ingenieur seine [204] Brücken, wie der Mathematiker seine Formel der Planetenbahnen. Wir wissen, daß jedes Ding sein eigenes Wesensbild hat; Stuhl, Tisch, Lampe, Telephon, Buch, Haus, Mensch … das alles sind vollständige Welten für sich mit eigenem Rhythmus und eigenen Planetenbahnen. Deshalb entfernen wir, wenn wir Dinge schaffen, den Stempel ihrer Besitzer … alles Zufällige und Begrenzte, und lassen ihnen nur die Realität des gleichbleibenden Rhythmus der ihnen innewohnenden Kräfte.
1. Daher lehnen wir die Farbe als malerisches Element ab. Die Farbe ist das idealisierte optische Antlitz der Dinge, ein äußerlicher und oberflächlicher Eindruck. Die Farbe ist zufällig, sie hat nichts mit dem inneren Wesen der Körper zu tun. Wir behaupten, daß die Tönung einer Substanz, das heißt, ihr lichtabsorbierender stofflicher Körper, ihre einzige malerische Realität ist.
2. Wir verzichten bei einer Linie auf ihr Darstellungsvermögen. Es gibt im wirklichen Leben der Körper keine beschreibenden Linien. Darstellung ist die zufällige Spur des Menschen auf den Dingen, sie ist nicht an das wesensmäßige Leben und die gleichbleibende Struktur des Körpers gebunden. Die Beschreibung ist ein Element der graphischen Darstellung und der Dekoration. Wir behaupten, daß die Linie nur die Richtung statischer Kräfte und deren Rhythmus in den Dingen angibt.
3. Wir lehnen das Volumen als malerische und plastische Raumform ab. Man kann einen Raum ebensowenig nach dem Umfang bestimmen, wie man Flüssigkeit nach Metern messen kann: seht unseren Raum an … was ist er anderes als eine fortlaufende Tiefenausdehnung? Wir behaupten, daß die Tiefe die einzige malerische und plastische Raumform ist.
4. Wir lehnen in der Skulptur die Masse als plastisches Element ab. Es ist jedem Ingenieur bekannt, daß die statischen Kräfte eines festen Körpers und seine materielle Stärke nicht von der Masse abhängig sind … etwa bei einer Schiene, einem T-Träger usw. Doch ihr, Bildhauer aller Schattierungen und Richtungen, ihr haltet immer noch an dem alten Vorurteil fest, man könne das Volumen nicht von der Masse befreien. So nehmen wir der Skulptur die Linie als Richtungsweiser zurück und erklären damit die Tiefe zur einzigen Raumform.
5. Wir weisen den tausendjährigen, von der ägyptischen Kunst ererbten Irrtum zurück, daß die statischen Rhythmen die einzigen Elemente des bildnerischen Schaffens seien. Wir erkennen in der bildenden Kunst ein neues Element, die kinetischen Rhythmen, als Grundformen unserer Wahrnehmung der realen Zeit.
Das sind die fünf Grundprinzipien unseres Werkes und unserer konstruktiven Technik. Heute richten wir unsere Worte an euch Menschen. Auf die Plätze und Straßen tragen wir unser Anliegen in der Überzeugung, daß die Kunst keine Freistatt für den Müßigen bleiben darf, kein Trost für den Müden und keine Rechtfertigung für den Faulen. Die Kunst ist aufgerufen, den Menschen überall zu begleiten, wo sein unermüdliches Leben strömt und wirkt … An der Werkbank, am Tisch, bei der Arbeit, bei der Erholung, beim Spiel, an Arbeitstagen und an Feiertagen … zu Hause und auf der Straße … damit die Flamme des Lebens in der Menschheit nicht verlösche.
Wir suchen keine Rechtfertigung, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft.
Niemand kann uns sagen, was die Zukunft ist und wie man sie bewältigt.
Etwas Wahres über die Zukunft zu sagen ist unmöglich, und man kann nach Belieben über sie lügen. Wir erklären, daß das Geschrei um die Zukunft für uns das gleiche ist wie die Tränen über die Vergangenheit: die Erneuerung des Tagtraumes der Romantik.
Ein mönchischer Wahn vom himmlischen Königreich in zeitgenössischem Gewand.
Wer sich heute mit dem Morgen beschäftigt, ist geschäftig im Nichtstun.
Wer uns morgen nicht vorweisen kann, was er heute geleistet hat, ist für die Zukunft ohne Bedeutung.
Heute ist die Tat.
Wir werden morgen über sie Rechenschaft ablegen.
Die Vergangenheit lassen wir wie einen Kadaver hinter uns.
Die Zukunft überlassen wir den Wahrsagern.
Wir ergreifen das Heute.
Moskau, 5. August 1920.
N. Gabo
Nathan Pevsner […]
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