Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:reko.fied.1896
Schriften über Kunst, 1896
Conrad Fiedler
Quelle
Conrad Fiedler: Schriften über Kunst. Mit einer Einleitung von Hans Eckstein. Nachdruck der 1. Ausgabe 1977. Köln: DuMont Buchverlag 1996, S. 41-66, 117-130. ISBN 3-7701-3820-1. "Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst" [1876], S. 41-66; "Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit" [1881], S. 117-130.
Erstausgabe
Schriften über Kunst, hrsg. von Hans Marbach. Leipzig: S. Hirzel 1896, S. 41-66, 117-130. ISBN 3-7701-3820-1.
Genre
Aufsatz
Medium
Kunst
[41] […] 1. Die Kunst ist auf keinem anderen Wege zu finden als auf ihrem eigenen. Nur indem man es versucht, sich der Welt mit dem Interesse des Künstlers gegenüberzustellen, kann man dahin gelangen, seinem Verkehr mit den Kunstwerken denjenigen Inhalt zu geben, der sich einzig und allein auf die Erkenntnis des innersten Wesens künstlerischer Tätigkeit gründet. Um aber das Interesse des Künstlers an der sichtbaren Welt begreifen zu können, ist es gut, sich vorher in das Gedächtnis zurückzurufen, daß zwei Hauptarten menschlichen Interesses an den Erscheinungen zwar von der Anschauung, in deren selbständiger und freier Ausbildung wir die eigentümliche Stärke künstlerischer Begabung suchen werden, ausgehen, sich derselben aber sehr bald entgegensetzen.
Die Beziehung, in der der Mensch vermöge seiner Empfindungsfähigkeit zu der Welt steht, kann eine der Art und dem Grade nach sehr verschiedene sein. Von der äußersten Stumpf[42]heit und Teilnahmslosigkeit bis zur höchsten Reizbarkeit gibt es eine unendliche Reihe von Mittelstufen. Viele stehen fremd den Dingen gegenüber und können kein Verhältnis zu denselben gewinnen; sie sind von Seiten der Empfindung der Macht der Erscheinungen unzugänglich. Mit Recht betrachtet man diese Teilnahmslosigkeit als einen Mangel individueller Organisation. Andere, deren Naturell ein reicheres und feineres ist, bringen den Erscheinungen mehr Berührungspunkte entgegen und, wenn jene gleichsam der Organe ermangeln, mit denen sie eine große Gattung von Eigenschaften der Dinge erfassen könnten, so sehen sich diese wenigstens ab und zu den Einwirkungen dieser Eigenschaften ausgesetzt; sie sinken nicht hinab bis zu jenem gänzlich indifferenten Verharren, sie erheben sich aber auch nicht über ein vereinzeltes, bruchstückartiges Empfinden der Dinge. So mag der einzelne die Schönheit lebhaft empfinden, er wird von ihr doch immer nur als von einer einzelnen Eigenschaft berührt werden, und der Gegenstand als solcher, ob er schön ist oder nicht, bleibt ihm fremd. Es ist ein seltener Vorzug bedeutend organisierter Individuen, mit ihrer Empfindung in einer unmittelbaren Naturnähe zu stehen; ihnen entsteht die Beziehung zu den Dingen nicht aus einzelnen Wirkungen derselben, vielmehr erfassen sie die Existenz selbst und empfinden die Gegenständlichkeit des Seienden, noch ehe sie dieses Gesamtgefühl in einzelne Empfindungen auflösen. Es ist eine Lust, eine Freude an dem lebendigen Sein der Dinge, die über Unterschieden wie dem von schön und häßlich steht, es ist ein Erfassen nicht einzelner, der Empfindung sich enthüllender Eigenschaften, sondern der Natur selbst, die sich erst nachher als die Trägerin jener Eigenschaften erweist. Sowohl jenes Gefühl für einzelne Eigenschaften der Dinge als auch das über das empfindende Erfassen einzelner Eigenschaften hinausgehende Naturgefühl kann bei einzelnen Individuen und in einzelnen Momenten im höchsten Maße intensiv werden. Es steigert sich zur Innigkeit und zur Begeisterung und bildet den Inhalt eines leidenschaftlichen Enthusiasmus.
Die Empfindung kann unabhängig von der Anschauung nicht gedacht werden; aber es fragt sich, ob sie in ihrer Steigerung eine Steigerung der anschaulichen Erfassung derjenigen Dinge, von denen sie hervorgerufen wird, voraussetzt. Die Empfindung tritt schon bei wenig entwickelter Anschauung ein, sie [43] wird durch die oberflächlichsten Vorstellungen erregt, die wir der Wahrnehmung verdanken, und ihre Stärke hängt von der Reizbarkeit unseres Gefühls, nicht von dem Maße unserer anschaulichen Wahrnehmung ab. Ja wenn wir uns recht beobachten, so werden wir finden, daß wir von Seiten der Empfindung nicht eine Anregung, eine Förderung bei der Entwicklung unserer anschaulichen Vorstellung, vielmehr eine Hinderung empfangen. Das Interesse unseres Gefühls ist ein anderes als das Interesse anschaulicher Auffassung, und wenn jenes in den Vordergrund unserer Seelentätigkeit tritt, so muß dieses zurückstehen. Beharren wir z. B. bei der Empfindung für die Schönheit eines Gegenstandes, so vermögen wir uns mit dieser Empfindung ganz zu durchdringen, sie zum vorherrschenden Inhalt unseres momentanen Daseins zu machen, ohne auch nur einen Schritt in der anschaulichen Beherrschung des Gegenstandes vorwärts zu tun. In dem Augenblicke aber, wo uns das Interesse an der Anschauung wieder packt, müssen wir jede Empfindung vergessen können, um das anschauliche Verständnis des Gegenstandes um seiner selbst willen verfolgen zu können. Daß viele die Anschauung nur allzuschnell in Empfindung umsetzen, ist ein Grund, warum ihre Anschauung auf einer niedrigen Stufe der Entwicklung stehen bleibt.
Es wird als ein Haupterfordernis künstlerischer Begabung angesehen, gewissen Eigenschaften der Dinge ein besonders feines und erregbares Empfindungsvermögen entgegenzubringen, ja bei hervorragenden Künstlern mögen wir wohl jenem oben erwähnten innigen Empfindungszusammenhang mit der Gesamtheit der gegenständlichen Natur begegnen. Aber das Vorhandensein solchen Gefühls ist noch kein Anzeichen für das Vorhandensein künstlerischer Begabung. Es ist die Vorbedingung zur künstlerischen wie zu jeder anderen geistigen Produktion; denn wer die Welt nicht schon mit den instinktiven Kräften seiner Natur zu packen sucht, der wird auch niemals dahin gelangen, sie endlich einem höheren geistigen Bewußtsein zu unterwerfen. Was den Künstler zum Künstler macht, ist, daß er sich in seiner Weise über den Standpunkt der Empfindung erhebt. Wohl begleitet ihn die Empfindung in allen Phasen seines künstlerischen Tuns, sie erhält ihn in beständig naher Beziehung zu den Dingen, sie nährt die Lebenswärme, in der er als ein Teil der Welt mit dieser verbunden ist, sie führt ihm unaufhörlich [44] das Material zu, in dessen Verarbeitung sein geistiges Dasein besteht; aber so gesteigert sie ist, so muß er sie doch immer noch mit der Klarheit seines Geistes beherrschen können; und wenn das künstlerische Resultat auch nur auf Grund einer außerordentlichen Stärke des Gefühls denkbar ist, so wird es doch erst durch die noch außerordentlichere Stärke des Geistes möglich, die dem Künstler selbst in den Momenten intensivster Empfindung die Ruhe objektiven Interesses und die Energie der Gestaltungskraft bewahrt.
2. In der Fähigkeit abstrakter Erkenntnis besitzen wir das Mittel, die Erscheinungen gewissen Forderungen unseres Denkvermögens zu unterwerfen und sie so in eine bestimmte Gestalt gebracht uns anzueignen. Wir üben diese Fähigkeit unbewußt in tausend Fällen aus, wo es uns das Bedürfnis des Lebens stillschweigend gebietet, wir steigern sie zu einer mit Bewußtsein gehandhabten Macht, um, von einer höheren Notwendigkeit getrieben, uns zu den geistigen Herren der Schöpfung zu machen. Es ist ein eigentümlicher geistiger Vorgang, der zu der begrifflichen Gestaltung der Welt führt; so geläufig er uns ist, so rätselhaft muß er uns erscheinen; denn es findet bei ihm ein plötzlicher unerklärter Übergang vom Sinnlichen zum Unsinnlichen, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Anschauung zur Abstraktion statt.
In denjenigen Zeiten, in denen das Interesse an der wissenschaftlichen Erklärung der Welt nicht nur von den begabtesten Köpfen Besitz genommen hat, sondern durch alle Kreise der Bildung zu ausgedehnter Herrschaft gelangt ist, wird man häufig, ja fast allgemein der Meinung begegnen, erstens, daß die äußere Erscheinung der Dinge etwas an und für sich Unwesentliches sei, gegenüber derjenigen inneren Bedeutung, die die wissenschaftliche Erkenntnis zutage zu fördern suche, zweitens, daß die Dinge ihrer äußeren Erscheinung nach von der Wissenschaft schon vollkommen erkannt würden, daß aber die Wissenschaft diese Erkenntnis nur als eine untergeordnete Vorstufe betrachten könne, um zu höherer Erkenntnis emporzusteigen.
Wie kann man aber, wenn man von Dingen der Natur spricht, einen Unterschied machen zwischen wesentlich und unwesentlich? Es sind dies relative Wertschätzungen, je nach dem Standpunkte, den man einnimmt, und wenn dem Einzelnen nur das das Wesen einer Sache auszumachen scheint, auf dessen Betrach[45]tung und Erforschung gerade seine Bemühungen gerichtet sind, so hat er doch kein anderes als ein subjektives Recht, dieser für ihn wesentlichen Seite gegenüber alle anderen Seiten für unwesentlich zu erklären.
Und was den anderen Punkt anlangt, so muß man sich zunächst darüber klar sein, daß der wissenschaftlichen Betrachtung keineswegs eine Vollständigkeit der Anschauung zugrunde liegt. Für die wissenschaftliche Betrachtung kann die Anschauung nur Interesse und Wert haben, sofern sie den Übergang zum Begriff ermöglicht, und dies tut sie schon auf einer verhältnismäßig niedrigen Stufe. Schon im gewöhnlichen Leben beharrt der Mensch bei der Anschauung nur bis zu dem Punkte, wo ihm das Einlenken in die Abstraktion möglich wird. Er wiederholt dieses Verfahren unzählige Male, und jede Anschauung, die sich ihm aufdrängt, entschwindet ihm als Anschauung, sobald der Punkt erreicht ist, wo er mit seinem Begriffsvermögen gleichsam einhaken und aus der Anschauung das herausziehen kann, was er nur zu häufig für deren einzig wesentlichen Inhalt hält. Die wissenschaftliche Betrachtung würde von ihrem Ziele vollständig abkommen, wenn ihr die Erscheinung als solche von Wert zu sein anfinge und sie in der anschaulichen Auffassung da innezuhalten vergäße, wo sie noch zum Begriff übergehen kann. Man gelangt, wenn man bei der Anschauung beharrt, sehr bald zu einer Fülle, die kein begrifflicher Ausdruck mehr bezeichnen und umfassen kann. Von allen Wissenschaften sind es die Naturwissenschaften, die am meisten auf eine genaue, zugleich auf das Einzelne der Teile und auf den Zusammenhang des Ganzen gehende Beobachtung der Gestalt und der Veränderung in den Bildungen angewiesen sind. Wer die Dinge nach ihrer äußeren Erscheinung genau betrachten, sie sich einprägen und ganz zu eigen machen muß, um sie bei seinen Schlußfolgerungen stets vor Augen zu haben, der wird nicht geneigt sein, zuzugeben, daß die anschauliche Kenntnis ein viel weiter gehendes Gebiet haben könne, als ihm zu seinem speziellen Zwecke bekannt werden könne. Aber gerade denjenigen, die zu ihren wissenschaftlichen Zwecken eine reiche Naturanschauung brauchen, erschwert der Hang zur Abstraktion das Verständnis der Anschauung, abgesehen von der Abstraktion und über dieselbe hinaus. Je mehr sie in der Anschauung vordringen, um sie immer mehr in Begriffe umzusetzen, desto unfähiger werden sie, sich [46] auch nur eine kurze Strecke auf dem Boden der Anschauung zu erhalten, ohne einen Begriff zu fordern, und ihr gesamtes Kennen ist nur ein Mittel, um zum Wissen zu gelangen. Und wenn sie dann die Kunst, insofern sie in ihr eine Nachahmung der Natur sehen, mit dem Maßstabe ihrer Kenntnis der Natur messen, so enthüllt sich in der Unzulänglichkeit ihrer Anforderungen die Dürftigkeit ihrer Naturanschauung. Sie glauben, den Künstler in der Kenntnis der Natur kontrollieren zu können, übertragen ihre Art und Weise, die Natur anzuschauen, auf die künstlerische Nachbildung und sehen in dieser im Grunde nichts anderes als eine wissenschaftliche Abbildung, die die gefundene begriffliche Abstraktion illustriert. Und da dann die Kunst zu einem Mittel herabsinken würde, Anschauungen hervorzurufen, wo die Natur selbst nicht gegenwärtig wäre, oder die Natur nach einzelnen Teilen oder Seiten hin zu isolieren, um bequemer verständlich machen zu können, was an dem komplizierten Naturbild schwer zu erkennen ist, so meinen sie den Boden der Anschauung überhaupt verlassen zu müssen, um die Bedeutung der Kunst zu finden.
Mag endlich aber auch zugegeben werden, daß die Anschauung nicht so in den Begriff verwandelt werde, daß nichts von ihr übrig bleibe, daß man die Anschauung nicht deshalb gänzlich verlassen müsse, weil ihr der Begriff entnommen sei, so wird der wissenschaftliche Forscher doch immer alle Tätigkeit an der Anschauung für untergeordnet halten, die nicht zur Beherrschung derselben im Begriff führt. Aber wenn er auch die Welt auf seine Weise begriffen und damit der Forderung seines Geistes Genüge getan hat, so irrt er doch, wenn er meint, daß damit alles getan sei, wozu in der menschlichen Natur die Forderung und die Befähigung liegt. Aus der Anschauung nicht in die Abstraktion übergehen heißt nicht, auf einer Stufe verharren, von der der Eintritt in das Reich der Erkenntnis noch nicht möglich ist, vielmehr heißt es, sich andere Wege offen halten, die auch zur Erkenntnis führen, und wenn diese Erkenntnis eine andere ist als jene abstrakte, so kann sie darum doch eine wirkliche, letzte und höchste Erkenntnis sein.
Wir können bei den einzelnen Individuen schon in früher Jugend einen Unterschied insofern bemerken, als die einen aus dem Stoffe, der ihrem Auffassungsvermögen zugeführt wird, Begriffe zu ziehen bemüht sind und ihr Augenmerk auf den [47] inneren ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen richten, die anderen dagegen, um dieses unsichtbare Verhältnis der Dinge mehr unbekümmert, ihre Verstandeskräfte an der Betrachtung der äußeren Zustände der Erscheinungen üben. In beiden Fällen ist es eine Gabe der Beobachtung, die sich an bedeutenden Menschen schon früh enthüllt; aber der verschiedene Sinn der Beobachtung bekundet ein verschiedenes Verhältnis, in dem sich die einen und die anderen zur Welt befinden; und wie die einen, wenn sie wirklich begabt sind, nicht bei dem Bedürfnis nach einem trockenen und unfruchtbaren Wissen von den Dingen stehen bleiben, so werden auch die anderen sehr bald über das durch die Wahrnehmung vermittelte Kennen der Dinge in eine Tätigkeit übergeführt, durch die sie erst jener ganzen Welt der Erscheinungen nahe zu kommen, sie zu ergreifen und zu begreifen anfangen.
Freilich ist die Täuschung verbreitet, daß mittelst wissenschaftlicher Durchdringung der Mensch imstande sei, die Welt so dem Bedürfnis und der Fähigkeit der Erkenntnis zu unterwerfen, daß er sie nun wirklich so, wie sie ist, als eine begriffene zu besitzen hoffen könne; und wenn der Mensch auch zugibt, daß der wissenschaftlichen Forschung Aufgaben gestellt sind, deren Lösung in unabsehbarer Ferne liegt, so weiß er doch, daß, wenn auch die Lösung niemals erreicht werden könnte, sie doch am Ende des Weges liegt, auf dem er sich befindet. Darüber aber ist er sich nicht immer klar, daß, selbst wenn die Wissenschaft ihre fernsten Ziele erreicht, ihre verwegensten Träume verwirklicht hätte, wenn wir dieses ganze unendliche Weltwesen wissenschaftlich begriffen hätten, wir doch immer vor einer Reihe von Rätseln stehen würden, deren Dasein sogar aller Wissenschaft verborgen sein würde. Der Unterwerfungskampf, den der forschende Mensch mit der Natur eingeht, macht ihn zum wissenschaftlichen Beherrscher der Welt. Dies mag ihn zum höchsten Stolze berechtigen, so wird er doch nicht verhindern, daß anderen damit wenig getan zu sein scheint und daß diese das unabweisbare Bedürfnis empfinden, die Welt einem ganz anderen Aneignungsprozesse zu unterwerfen.
In der Regel wird jeder die Art und Weise, sich die Welt verständlich zu machen, für die wichtigste halten, zu der er sich getrieben fühlt. Die Natur ist sehr sparsam in der Hervorbringung solcher Individuen, die mit der ganzen Fülle menschlicher Fähig[48]keiten ausgerüstet, den mannigfachen Inhalt der Welt zum Ausdruck zu bringen vermögen. Viele gibt es, die die Vielseitigkeit darin suchen, daß sie einer Betrachtungsweise viele Dinge unterwerfen, wenige, die vielseitig sein können, indem sie ein Ding vielen Betrachtungsweisen unterwerfen.
3. Das Erwachen des Gefühls sowie das Auftreten des Begriffs bezeichnen den jedesmaligen Endpunkt der Anschauung. Das Maß der Vorstellungen, das zu beiden hinreicht, mag ein sehr verschiedenes sein, aber selbst das größte ist nur ein geringes gegenüber der Unendlichkeit, die dem Menschen auch hier offen steht; nur wer es vermag, bei der Anschauung zu verharren trotz der Empfindung und über die Abstraktion hinaus, beweist den künstlerischen Beruf. Nur selten aber gelangt die Anschauung zu so selbständiger Entwicklung, zu so unabhängigem Dasein.
Das Gefühlsleben der Menschen ist je nach Geschlecht, natürlicher Anlage, Lebensalter, Volk, Zeit ein unendlich verschiedenes; ebenso ist das Maß von Begriffen und abstrakter Erkenntnis, in dessen Besitz sich der einzelne befindet, ein unendlich mannigfaltiges. Es genügt, an sehr einfache und bekannte Tatsachen zu erinnern, um auch in den anschaulichen Vorstellungen nach Menge und Art bei den einzelnen Individuen die äußerste Verschiedenheit und in den meisten Fällen einen sehr geringen Grad von Ausbildung nachzuweisen; denn wenn auch ein trügerischer Schein zu der Annahme verführen könnte, daß Menschen mit gleich guten Sinnen begabt und dieselben in derselben Umgebung brauchend, auch dasselbe Maß von Vorstellungen erhalten müßten, wohingegen es keinerlei Zweifel unterliegen könne, daß die versteckteren Gegenstände des Wissens dem einzelnen selbst unter den gleichen Verhältnissen in sehr verschiedenem Maße zukommen würden; so wird sich doch, sobald sich eine Meinungsdifferenz über die äußere Erscheinung schon eines sehr einfachen, dem alltäglichen Gebrauche dienenden Gegenstandes zwischen mehreren erhebt und ein jeder sich gezwungen sieht, sich von dem Vorstellungsbilde, welches er von dem Gegenstande in seinem Gedächtnis aufbewahrt, Rechenschaft zu geben, sehr bald herausstellen, daß die bildliche Vorstellung bei verschiedenen äußerst verschieden und in verhältnismäßig seltenen Fällen zu selbständiger Deutlichkeit, Klarheit und Bestimmtheit ausgebildet ist. Auch bei sehr einfachen Dingen beschränkt sich die Kenntnis oft auf die allgemeinen Kennzeichen der Gattung, [49] während sie sich nur selten auf die besonderen Eigentümlichkeiten des Einzeldinges erstreckt. Gegenstände, die uns lange Zeiträume hindurch täglich umgeben, prägen sich ihrer äußeren Erscheinung nach unserem Vorstellungsvermögen so fest ein, daß wir es wohl gewahr würden, wenn auch nur kleine Veränderungen an ihrer Gestalt vorgingen oder wenn sie etwa mit anderen vertauscht würden, die nur unendlich wenig von ihnen abwichen; und doch braucht man die Verhältnisse nur einigermaßen zu komplizieren, um zu beweisen, daß die anscheinend sicherste Kenntnis doch immer noch eine sehr unsichere ist, daß sie ausreicht, solange die Verhältnisse die gewohnten bleiben, daß sie aber ihren Eigentümer sehr leicht im Stich läßt, sobald sie überhaupt nur einem Zweifel unterworfen wird. Ist es doch sogar in manchen Fällen schwierig, die Identität von Personen selbst durch solche festzustellen, die ihnen sehr nahe gestanden haben und durch dauernden Umgang mit ihnen verbunden gewesen sind.
Der Mensch eignet sich von den Gegenständen, die sich seiner Wahrnehmung darbieten, meist Bilder an, die sich aus nur sehr wenigen von allen den Elementen zusammensetzen, die die Gegenstände der Wahrnehmung wirklich bieten; und zwar ist es nicht die bloße Schuld des Gedächtnisses, welches das im Momente der Auffassung deutliche und vollständige Vorstellungsbild nicht dauernd festhalten könne, sobald der Gegenstand nicht mehr sinnlich gegenwärtig sei, vielmehr liegt die Schuld an dem Akte der Wahrnehmung selbst, und nicht die im Gedächtnis aufbewahrte Vorstellung ist eine nach und nach immer mangelhafter werdende, sondern schon die Wahrnehmung, die sich in der sinnlichen Gegenwart des wahrzunehmenden Gegenstandes vollzieht, ist eine unvollkommene. So betreibt der Mensch das Geschäft der Wahrnehmung in sehr nachlässiger Weise; er zeigt im allgemeinen mehr Geneigtheit, sein abstraktes Wissen als seine anschauliche Kenntnis zu erweitern; auch stellt das gewöhnliche Leben die Ausdehnung und Genauigkeit des Wissens weit öfter auf die Probe als den Umfang und die Vollständigkeit der Vorstellungen, und das Gesamturteil über die Befähigung und Bildung des einzelnen wird weit mehr auf Grund jener Probe gefällt als auf Grund dieser.
Die Erziehung, der die geistigen Fähigkeiten des Menschen unterworfen werden, um sie tauglich für den Gebrauch des [50] Lebens zu machen, erstreckt sich fast ausschließlich auf das Vermögen, Begriffe zu bilden. Wenn man zuweilen bei der Erziehung mehr Gewicht auf die Anschauung legt, als dies sonst zu geschehen pflegt, so ist dies doch überflüssig und eher schädlich, wenn man damit nur der Anschauung als Mittel, zum Begriff zu gelangen, einen breiteren Raum im Unterricht einräumt. Es bedarf keiner besonderen Veranstaltung, dem Menschen die Anschauung nahe zu bringen, und, so stark und geübt sein Denkvermögen sein mag, so wird er sich immer vor einer unendlichen Aufgabe befinden, wenn es sich darum handelt, der Anschauung Herr zu werden, die ihm das Leben unaufhörlich zuführt. Je selbständiger und unabhängiger aber das abstrakte Denkvermögen geübt wird, ein desto mächtigeres Werkzeug wird es der Anschauung gegenüber werden. Das Verlangen, der Anschauung bei der geistigen Erziehung des Menschen eine größere Berücksichtigung zuteil werden zu lassen, würde erst dann ein gerechtfertigtes sein, wenn demselben die Einsicht zugrunde läge, daß die Anschauung für den Menschen eine selbständige, von aller Abstraktion unabhängige Bedeutung habe, daß das Vermögen der Anschauung so gut wie das abstrakte Denkvermögen ein Recht habe, zu einem geregelten und bewußten Gebrauch ausgebildet zu werden, daß der Mensch zu einer geistigen Herrschaft über die Welt nicht nur im Begriff, sondern auch in der Anschauung zu gelangen imstande sei.
Aber die Fähigkeit zur Anschauung verfällt fast allenthalben der Verkümmerung und bleibt auf einen nahezu unbewußten und zufälligen Gebrauch beschränkt. Auch diejenigen, die aus Mangel an Befähigung oder weil sie ihr Leben in praktischer Tätigkeit hinzubringen gezwungen sind, nur zu einem sehr geringen begrifflichen Verständnis der Welt gelangen, verstehen doch den Sinn der Forderung, die in dieser Beziehung an den menschlichen Geist gestellt wird, und indem sie wenigstens das Verlangen kennen, welches den Fragen zugrunde liegt, die die wissenschaftliche Forschung im weitesten Sinne zu beantworten sucht, wird ihnen zuweilen die Unendlichkeit klar, vor die der Mensch mit seinem Verlangen und seinem Streben nach Wissen gestellt ist. Dagegen wird es selbst denen, die die Sphäre ihres abstrakten Wissens rastlos erweitern, schwer sein, zu begreifen, daß der Mensch auch in betreff der Anschauung mit seinen geistigen Fähigkeiten vor einer Unendlichkeit stehen, daß das Ge[51]biet des Sichtbaren ein Feld der Forschung sein könne, in das selbst den hervorragenden Geistern nur einzelne Schritte zu tun vergönnt sei, während es immer unausmeßbarer denen erscheinen müsse, die immer weiter in demselben vorzudringen sich bemühten.
4. Von der Unendlichkeit der anschaulichen Auffassung der Welt wird sich nur der überzeugen können, der zum freien Gebrauche seines Wahrnehmungsvermögens hindurchgedrungen ist. Solange die Wahrnehmung einem Zwecke dient, ist sie unfrei und endlich, der Zweck mag sein, welcher er wolle, so bleibt die Wahrnehmung ein Werkzeug; sie wird überflüssig, sobald der Zweck erreicht ist. Bei anderen geistigen Tätigkeiten gilt es wohl als eine engherzige Beschränkung, sie nur dann als berechtigt anzuerkennen, wenn sie zu einem ausgesprochenen Zwecke unternommen werden. Der Mensch hat von jeher einen unwiderstehlichen Trieb gefühlt, nachdem er einmal durch die Anforderungen des Lebens seine Kräfte als brauchbare kennengelernt hatte, dieselben im freien Gebrauche zu üben; ja die Resultate jenes freien Gebrauches geistiger Fähigkeiten werden als die höchsten menschlichen Leistungen verehrt. Das aber, wovon man glauben sollte, es müsse das Unbefangenste sein, was der Mensch tun könne, die Erfassung der Welt ihrer sichtbaren Erscheinung nach, ist das Allerbefangenste. Wohl begreift der Mensch die Notwendigkeit, im Betrachten der Dinge und im Einprägen der gewonnenen Vorstellungen zu größerer Sorgfalt sich zu erziehen, wohl steigern sich die Zwecke, denen die Anschauung als Mittel dient; aus der Sklaverei des täglichen Lebensbedürfnisses erhebt sie sich zum Dienste der edelsten Genüsse, zum Werkzeug der höchsten Bestrebungen. Immer aber ist ihr das Ziel vorausbestimmt, und sie endigt im erreichten Zweck.
Es ist das Wesentliche des künstlerischen Naturells, daß es mit und zu dem freien Gebrauche des anschaulichen Auffassungsvermögens geboren ist. Dem Künstler ist die Anschauung von vornherein eine unbefangene, freie, keinem jenseits der Anschauung liegenden Zwecke dienende und in diesem endigende Tätigkeit; diese allein ist es, die zur künstlerischen Gestaltung führen kann. Dem Künstler ist die Welt nur Erscheinung; er naht sich ihr als einem Ganzen, was er als Ganzes in seiner Anschauung zu reproduzieren strebt; ihm beruht das Wesen der Welt, das er sich geistig anzueignen, zu unterwerfen bemüht ist, in der sichtbaren [52] und greifbaren Gestalt der Dinge. So begreifen wir, wie dem Künstler die Anschauung, da ihr kein außerhalb ihrer selbst liegendes Ziel mehr gesetzt ist, eine unendliche werden könne. Zugleich aber erkennen wir auch, daß für den Künstler die Anschauung eine unmittelbare, von keinem durch sie zu erreichenden Zwecke abhängige Bedeutung haben müsse.
Das Verhältnis des Künstlers zur Welt, das uns unbegreiflich bleibt, solange wir als Nichtkünstler auf der Position beharren, die wir der Welt gegenüber einnehmen, wird uns verständlich, wenn wir es als eine durchaus ursprüngliche und eigentümliche Beziehung der menschlichen Erkenntniskräfte zu den Dingen auffassen. Und diese Beziehung beruht auf einer Forderung, die einen Bestandteil der geistigen Natur des Menschen ausmacht. Ursprung und Dasein der Kunst beruht auf einem unmittelbaren Ergreifen der Welt durch eine eigentümliche Kraft des menschlichen Geistes. Ihre Bedeutung ist keine andere als eine bestimmte Form, in der der Mensch die Welt sich zum Bewußtsein zu bringen nicht nur bestrebt, sondern recht eigentlich durch seine Natur gezwungen ist. So ist die Stellung, in der sich der Künstler zur Welt befindet, keine beliebig gewählte, sondern eine natürlich gegebene, die Beziehung, in die er sich zu den Dingen setzt, keine abgeleitete, sondern eine unmittelbare, die geistige Tätigkeit, die er der Welt entgegensetzt, keine willkürliche, sondern eine notwendige, und das Resultat, zu dem er gelangt, wird kein untergeordnetes und entbehrliches, sondern ein höchstes und dem menschlichen Geiste, wenn er sich nicht selbst verstümmeln will, vollkommen unentbehrliches sein.
5. Man pflegt die Tätigkeit des Künstlers eine nachahmende zu nennen. Es liegen aber dieser Auffassung Irrtümer zugrunde, die neue Irrtümer erzeugen.
Denn erstens kann man einen Gegenstand nur nachahmen, indem man einen anderen macht, der ihm gleich ist. Was aber herrscht für eine Übereinstimmung zwischen einem Abbilde und dem abgebildeten Gegenstande? Der Künstler kann dem Naturvorbilde nur sehr wenig von dem abgewinnen, was es zu dem Naturgegenstande macht. Wenn er sich bestrebt, die Natur nachzuahmen, so wird er gar bald zu der Notwendigkeit geführt werden, in seiner Nachahmung sehr verschiedene Seiten des Naturvorbildes zu vereinigen. Er befindet sich auf dem Wege, der zuletzt zu dem Bemühen führen muß, der Natur in ihr [53] schöpferisches Handwerk zu pfuschen, ein kindisches, sinnloses Unternehmen, bei dem schon oft der Mangel an Nachdenken, der ihm zugrunde liegt, vergessen worden ist über dem Schein einer gewissen genialischen Kühnheit, den es sich anmaßte. Gegen solches Bestreben ist der triviale Einwurf berechtigt, daß die Kunst, soweit sie nachahme, hinter der Natur zurückbleiben müsse und daß unvollkommene Nachahmung nutzlos und wertlos erscheinen müsse, wo man doch mit Originalen nicht gerade kärglich bedacht sei.
Dann aber, wenn man die Nachahmung nur auf die äußere Erscheinung bezieht, geht man von der Voraussetzung aus, daß dem Künstler in der Natur ein festes Kapital gemünzter und geprägter Formen zu Gebote stehe, deren Abbildung im Grunde doch nur eine mechanische Tätigkeit sei. Es tritt dann einesteils an die künstlerische Nachahmung das Verlangen heran, daß sie höheren Zwecken diene, daß sie ein Mittel des Ausdrucks sei für etwas, was sein Dasein unabhängig von der Erscheinung, nicht mehr im Reiche des Sichtbaren, sondern im Reiche des Unsichtbaren habe, daß sie eine Schrift sei, in der in eigentümlicher Weise etwas mitgeteilt werde, was des Ausdrucks auch durch ein anderes Mittel fähig sei; anderenteils fordert man vom Künstler, daß er in seiner Nachahmung die Natur gereinigt, veredelt, vervollkommnet wiedergebe; aus eigener Machtvollkommenheit soll er an das Naturvorbild Forderungen stellen, und was ihm die Natur darbietet, soll ihm nur als Unterlage dienen, um das darstellen zu können, was die Natur sein könnte, wenn sie sich ihn zum Schöpfer ausgesucht hätte. Die Überhebung wird berechtigt und die Willkür eine geistige Macht; man hält die entfesselte zur Phantasterei ausgeartete Einbildungskraft des Menschen für eine künstlerisch produktive Kraft und meint, der Künstler sei berufen und befähigt, neben und über der realen Welt eine andere von den irdischen Bedingungen entbundene Welt nach seinem Gutdünken zu gestalten. Das Reich der Kunst setzt sich dem Reiche der Natur entgegen; es maßt sich ein höheres Recht an, weil es sein Dasein dem menschlichen Geiste verdankt.
6. Die künstlerische Tätigkeit ist weder sklavische Nachahmung noch willkürliche Empfindung, sondern freie Gestaltung.
Damit etwas nachgeahmt werden könne, muß das, was nachgeahmt werden soll, vor allererst überhaupt vorhanden sein. [54] Wie aber soll die Natur, die in der künstlerischen Darstellung entsteht, auch ohne diese und vor ihr ein Dasein besitzen? Muß sich doch selbst der Geringste von uns seine Welt auch ihrer sichtbaren Gestalt nach produzieren; denn von nichts können wir sagen, daß es da sei, bevor es nicht in unser erkennendes Bewußtsein eingetreten ist.
Wer möchte die Wissenschaft eine Nachahmung der Natur nennen? Und doch könnte man dies mit demselben Rechte tun, mit dem man die Kunst nachahmend nennt. Bei der Wissenschaft aber begreift man viel eher, daß sie Forschung zugleich und Gestaltung ist, daß sie keinen anderen Sinn und Bedeutung hat, als vermöge der geistigen Natur des Menschen die Welt zu einem begreifbaren und begriffenen Dasein zu bringen. Es ist die natürliche, notwendige Tätigkeit des Menschen, sobald er überhaupt aus einem dumpfen, tierischen Zustande zu höherem, hellerem Bewußtsein erwacht. Die Kunst ist so gut Forschung wie die Wissenschaft, und die Wissenschaft ist so gut Gestaltung wie die Kunst. Die Kunst tritt ebenso notwendig wie die Wissenschaft in dem Augenblicke auf, in dem der Mensch für sein erkennendes Bewußtsein die Welt zu schaffen gezwungen ist.
Aber wie erst auf einer gewissen Stufe geistiger Entwicklung das Bedürfnis und mit diesem die Möglichkeit der Hervorbringung einer wissenschaftlich erkannten Welt eintritt, so wird auch die Kunst dem Menschen erst in dem Augenblicke möglich und zugleich notwendig, wo ihm die anschauliche Welt als ein Element erscheint, welches der Steigerung zu einer reichen und gestalteten Existenz fähig und bedürftig ist. Es ist die Kraft der künstlerischen Phantasie, welche diesen Übergang vermittelt. Die Phantasie des Künstlers ist im Grunde nichts anderes als die Einbildungskraft, deren wir in gewissem Maße alle bedürfen, um überhaupt die Welt als eine Welt der sichtbaren Erscheinungen zu besitzen. Aber die Kraft ist schwach und unsere Welt bleibt arm und dürftig. Erst wo in unermüdlich regsamer Tätigkeit eine mächtige Einbildungskraft aus dem unerschöpflichen Boden der Welt Elemente auf Elemente hervorruft, da erblickt sich der Mensch plötzlich, wo er sich früher mühelos zurechtgefunden hatte, einer unendlich verwickelten Aufgabe gegenübergestellt. Die Phantasie ist es, die weit umherschauend das Entlegene zusammenruft und auf dem engsten Raume die dem stumpfen Sinne verborgene Fülle des Lebens hervorzaubert. Es [55] ist eine von den Intuitionen, die den Eintritt in eine höhere Sphäre geistigen Daseins ermöglichen, daß der Mensch die sichtbare Erscheinung der Dinge, die er als eine einfache und klare hingenommen hatte, in ihrem unendlichen Reichtum und in ihrer schwankenden Verworrenheit wahrnehme. Die künstlerische Tätigkeit beginnt, wo der Mensch sich der Welt ihrer sichtbaren Erscheinung nach, als einem unendlich Rätselhaften gegenübergestellt findet, wo er, von einer inneren Notwendigkeit getrieben, die verworrene Masse des Sichtbaren, die auf ihn einstürmt, mit der Macht seines Geistes ergreift und zum gestalteten Dasein entwickelt. Der Mensch geht in der Kunst einen Kampf mit der Natur ein, nicht um seine physische Existenz, sondern um seine geistige; denn auch die Befriedigung seiner geistigen Bedürfnisse wird ihm nur als Lohn des Strebens und der Arbeit zuteil.
So hat es die Kunst nicht mit Gestalten zu tun, die sie vor ihrer Tätigkeit und unabhängig von derselben vorfindet, sondern Anfang und Ende ihrer Tätigkeit liegt in der Schaffung der Gestalten, die durch sie überhaupt erst zum Dasein gelangen. Was sie schafft, ist nicht eine zweite Welt neben einer anderen, die ohne sie existiert, sie bringt vielmehr überhaupt erst die Welt durch und für das künstlerische Bewußtsein hervor. Und so hat sie es auch nicht mit einem Materiale zu tun, das schon irgendwie zum geistigen Besitz des Menschen geworden wäre; was schon irgendeinem geistigen Prozesse unterlegen hat, ist für sie verloren; denn sie selbst ist ein Prozeß, durch den der geistige Besitz der Menschen unmittelbar bereichert wird; das vom menschlichen Geiste noch Unberührte ist es, was ihre Tätigkeit erregt, für das, was noch in keiner Weise für den menschlichen Geist existiert, schafft sie die Form, unter der es für den menschlichen Geist zum Dasein gelangt. Sie geht nicht vom Gedanken, vom geistigen Produkte aus, um zur Form, zur Gestalt hinabzusteigen, vielmehr steigt sie vom Form- und Gestaltlosen zur Form und Gestalt empor, und auf diesem Wege liegt ihre ganze geistige Bedeutung.
7. Im Künstler gelangt ein eigentümliches Weltbewußtsein zur Entwicklung.
Bis zu einem gewissen Grade erwirbt sich jeder Mensch dasjenige Bewußtsein der Welt, welches in seiner Steigerung zum künstlerischen Bewußtsein wird. Jeder Mensch beherbergt in seinem Kopfe eine Welt der Formen und Gestalten, eines jeden [56] erstes Bewußtsein erfüllt sich mit der Wahrnehmung der Dinge in ihrer sichtbaren Erscheinung. Bevor sich in ihm die Fähigkeit ausbildet, Begriffe zu bilden und die Folge der natürlichen Vorgänge dem Gesetze von Ursache und Wirkung zu unterwerfen, erfüllt er seinen Geist mit den mannigfaltigen Bildern des gegenständlich Daseienden; er erwirbt und schafft sich die vielgestaltige Welt, und der erste Inhalt seines Geistes ist das Bewußtsein einer sichtbaren und greifbaren Natur. Jedes Kind befindet sich in diesem Zustande. Ihm ist die Welt die sichtbare Erscheinung, soweit sie durch seinen Geist zum Dasein gelangt; es gelangt zu einem Bewußtsein der Welt, noch ehe es von derselben irgend etwas weiß, es hat die Welt, noch ehe es das, was es hat, mit dem Ausdruck Welt bezeichnen kann. Wenn im Menschen andere Kräfte sich entwickeln und, zur Tätigkeit gelangend, ihm ein anderes Bewußtsein schaffen, so verkennt er leicht jenes frühe Bewußtsein, zu dem er zuerst bei seinem Eintritte in das Leben erwacht war. Er hält jenes frühe Dasein für ein unbewußtes, dem Leben der Tiere ähnliches im Vergleich zu dem neuen Bewußtsein, zu dem er von der Welt gelangt ist; indem er die Welt als Begriff in seine Gewalt bringt, glaubt er sie erst zu besitzen, und jenes frühe Bewußtsein fällt der Verkümmerung anheim; und während er die Welt der Begriffe in sich zu immer reicherem und hellerem Bewußtsein zu bringen bestrebt ist, bleibt ihm die Welt der Anschauung dürftig und dunkel. Er geht nicht aus einem niederen unbewußten Zustande in einen höheren bewußten über, vielmehr opfert er um der Entwicklung des einen Bewußtseins willen das andere auf. Er verliert die Welt, indem er sie erwirbt.
Wäre die menschliche Natur nicht mit der künstlerischen Begabung ausgestattet worden, die Welt würde nach einer großen unendlichen Seite hin dem Menschen verloren sein und bleiben. Im Künstler regt sich ein mächtiger Trieb, jenes enge dunkle Bewußtsein, mit dem er die Welt bei seinem ersten geistigen Erwachen ergriffen hatte, zu steigern, auszudehnen, zu entfalten, zu immer größerer Klarheit zu entwickeln. Nicht der Künstler bedarf der Natur, vielmehr bedarf die Natur des Künstlers. Nicht was die Natur ihm so gut wie jedem anderen bietet, weiß der Künstler nur anders als ein anderer zu verwerten, vielmehr gewinnt die Natur nach einer gewissen Richtung hin erst durch die Tätigkeit des Künstlers für diesen und für jeden, der ihm auf [57] seinem Wege zu folgen vermag, ein reicheres und höheres Dasein. Indem der Künstler die Natur in einem gewissen Sinne zu erkennen, zu offenbaren scheint, erkennt und offenbart er nicht etwas, was unabhängig von seiner Tätigkeit ein Dasein hätte, vielmehr ist seine Tätigkeit eine durchaus hervorbringende, und unter künstlerischer Produktion im allgemeinen kann nichts anderes verstanden werden als die in dem menschlichen Bewußtsein und für dasselbe sich vollziehende Hervorbringung der Welt ausschließlich in Rücksicht auf ihre sichtbare Erscheinung. Es entsteht ein künstlerisches Bewußtsein, in dem alles, wodurch die Erscheinung dem Menschen bedeutend werden kann, zurücktritt vor dem, wodurch sie eine rein um ihrer selbst willen verfolgte anschauliche Auffassung werden kann.
Das geistige Leben des Künstlers besteht in der beständigen Hervorbringung dieses künstlerischen Bewußtseins. Dies ist die eigentliche künstlerische Tätigkeit, das eigentliche künstlerische Schaffen, von dem die Hervorbringung der Kunstwerke nur ein äußeres Resultat ist. Allenthalben, wo Menschen wohnen, tritt diese Tätigkeit auf. Sie ist eine notwendige Tätigkeit, nicht weil die Menschen der Wirkungen bedürften, die von den Resultaten derselben ausgehen, notwendig vielmehr, weil die Menschen die Kraft zu dieser Tätigkeit erhalten haben. Schon auf sehr niedriger Stufe der Entwicklung tritt in den rohesten Individuen diese Kraft, wenn auch in sehr kümmerlicher Gestalt, in Tätigkeit. Wir können ihr Dasein verfolgen, auch wo sie noch in keinem Werke der Kunst zur Äußerung drängt. Sie braucht aber noch nicht in sehr hohem Grade vorhanden zu sein, um doch die anderen Seiten der geistigen Natur zu überwiegen und dem Individuum den Stempel der vorwiegend künstlerischen Begabung aufzudrücken. Von da aber bietet sich eine unendliche Mannigfaltigkeit und Abstufung dar, bis man zu jenen seltenen Erscheinungen gelangt, in denen jene Kraft, zum höchsten Maße gesteigert, als eine übermenschliche erscheint, weil sie das gewöhnliche Maß menschlicher Kraft übersteigt.
Die geistige künstlerische Tätigkeit hat kein Resultat, sondern sie selbst ist das Resultat. Sie erschöpft sich in jedem einzelnen Momente, um in jedem folgenden neu zu beginnen. Nur während sein Geist in Tätigkeit ist, besitzt der Mensch das, wonach er strebt; die Klarheit des Bewußtseins, zu der sich der einzelne steigert, sichert ihm in keinem Augenblicke einen dauernden Be[58]sitz, dessen er sich in Ruhe freuen könnte, vielmehr versinkt jedes Bewußtsein in dem Augenblicke, in dem es entsteht, und räumt einem neuen den Platz. Auch ist die Tätigkeit keine ununterbrochen fortschreitende, keine unablässig sich steigernde; im einzelnen Individuum gelangt sie im einzelnen Augenblicke auf ihren Höhepunkt. Das dunkle Bewußtsein der Welt, welches den Inhalt seines Daseins ausmacht, erhebt sich in glücklichen Momenten zu einem klaren Schauen; aber die augenblickliche Tätigkeit seines Geistes ist das helle Licht, welches ihm die Welt blitzartig erleuchtet; vergebens wird er es festzuhalten suchen, er muß es von neuem erzeugen, wenn es ihm von neuem leuchten soll. Und wie im Leben des einzelnen, so verhält es sich im Leben der Menschheit. Man schmeichelt sich vergebens mit der Meinung, daß die Erkenntnis, zu der das einzelne bedeutende Individuum hindurchgedrungen ist, der Welt eine unverlorene sei; mit dem Individuum erlischt auch die Erkenntnis; niemand besitzt sie, der sie nicht neu zu erzeugen weiß, und wie lange Zeiträume vergehen oft, bevor die Natur Individuen hervorbringt, welche den Umfang und die Klarheit des Bewußtseins ihrer fernen Vorgänger auch nur ahnen können. Wer mag sich rühmen, seit den Zeiten des Leonardo die Höhe seiner künstlerischen Welterkenntnis auch nur von ferne erblickt zu haben.
Die Tätigkeit ist eine unendliche; sie ist ein beständiges unablässiges Arbeiten des Geistes, die Welt der Erscheinungen im eigenen Bewußtsein zu immer reicherer Entfaltung, zu immer vollendeterer Gestaltung zu bringen. Alle Kräfte des Gemüts dienen diesem Zwecke, und alle Leidenschaft, alle Begeisterung nützen dem Künstler nichts, wenn sie nicht dieser Tätigkeit seines Geistes ihre Kräfte dienstbar machen. Indem der Mensch Gestalt auf Gestalt aus der formlosen Masse in sein Bewußtsein heraufsteigen läßt, bleibt die Masse doch unerschöpft. Es ist nicht Vermessenheit, sondern Kurzsichtigkeit, zu meinen, die künstlerische Tätigkeit des Menschen könne jemals ihr letztes, höchstes Ziel erreichen. Nur durch sie kennt der Mensch die Welt, und er weiß nicht, welche Regionen ihm dunkel und verborgen sind, ehe sie nicht die künstlerische Tätigkeit seinem Bewußtsein erobert hat. Jedes Erreichte eröffnet ihm den Blick auf noch Unerreichtes, und je weiter der Künstler seine Herrschaft über die Welt ausdehnt, desto weiter fliehen auch die Grenzen der Welt selbst vor seinem Auge zurück. Das Reich der Erscheinungen [59] wird ihm grenzenlos, weil es unter seiner grenzenlosen Tätigkeit entsteht.
8. Das künstlerische Bewußtsein überschreitet in seiner Gesamtheit nicht die Grenzen des Individuums; es kommt niemals voll zum äußerlichen Ausdruck. Das Kunstwerk ist nicht die Summe der künstlerischen Tätigkeit des Individuums, sondern ein bruchstückartiger Ausdruck für etwas, was sich in seiner Gesamtheit nicht ausdrücken läßt. Die innere Tätigkeit, die der Künstler, getrieben von seiner Natur, entwickelt, steigert sich nur hier und da zur äußeren künstlerischen Tat, und diese repräsentiert nicht die künstlerische Arbeit in ihrem gesamten Verlaufe, sondern nur in einem bestimmten Stadium. Sie eröffnet den Blick in eine Welt des künstlerischen Bewußtseins, indem sie eine Gestalt aus dieser Welt zum sichtbaren mitteilbaren Ausdruck bringt; sie erschöpft diese Welt nicht und schließt sie nicht ab. Wie eine unendliche künstlerische Tätigkeit ihr vorhergeht, so kann ihr auch eine unendliche künstlerische Tätigkeit folgen. „Ein guter Maler“, sagt Dürer „ist inwendig voller Figur, und wenn es möglich wäre, daß er ewig lebte, hätte er aus den inneren Ideen, von denen Plato schreibt, allewege etwas Neues durch die Werke auszugießen.“
Wenn auch die geistige Tätigkeit des Künstlers sich niemals vollständig in der Form des Kunstwerkes darstellen kann, so drängt sie doch beständig zum Ausdruck und erreicht im Kunstwerk ihre momentane höchste Steigerung. Das Kunstwerk ist der Ausdruck des zu einer relativen Höhe gesteigerten künstlerischen Bewußtseins. Die künstlerische Form ist der unmittelbare und einzige Ausdruck für dieses Bewußtsein. Nicht auf Umwegen gelangt der Künstler zum Gebrauche derselben; er braucht sie nicht zu suchen, um in ihr einen Inhalt darzustellen, der, gestaltlos entstanden, nach einem Körper suchte, in dem er unterkommen könnte; vielmehr ist der künstlerische Ausdruck ein unmittelbarer und notwendiger, zugleich ein ausschließlicher; nicht ungestaltet wird der Inhalt des Kunstwerkes vom künstlerischen Geiste zuerst hervorgebracht, sondern nur in noch unentwickelter Gestalt. Das Kunstwerk ist nicht ein Ausdruck für etwas, was auch ohne diesen Ausdruck ein Dasein hätte, ein Abbild der im künstlerischen Bewußtsein lebenden Gestalt – dann wäre die Hervorbringung des Kunstwerkes für den Künstler selbst nicht notwendig –, vielmehr ist es das künstlerische Bewußtsein selbst, [60] wie es im einzelnen Falle zur höchsten dem Individuum erreichbaren Entwicklung gelangt. Die technische Manipulation, durch die das Kunstwerk hergestellt wird, wird zur Notwendigkeit für den künstlerischen Geist, wenn derselbe das Bedürfnis fühlt, das, was in ihm lebt, bis zum höchsten Dasein zu bringen. Ein selbständiges Recht hat die Technik in der künstlerischen Tätigkeit nicht; sie dient lediglich dem geistigen Prozeß. Nur wo der Geist keine Herrschaft auszuüben imstande ist, gelangt sie zu selbständiger Bedeutung, Wichtigkeit, Ausbildung und wird künstlerisch wertlos. Von Anfang an hat es der geistige Vorgang im Künstler mit nichts anderem zu tun als mit demselben Stoff, der im Kunstwerk in die sichtbare Erscheinung tritt. Im Kunstwerk findet die gestaltende Tätigkeit ihren äußeren Abschluß, der Inhalt des Kunstwerks ist nichts anderes als die Gestaltung selbst.
9. Fragen wir aber, welches der letzte Höhepunkt sei, bei dem das künstlerische Streben sich im einzelnen Falle beruhigen müsse, so finden wir, daß, wie im allgemeinen der menschliche Geist in seinem Streben nach Erkenntnis nicht eher einen Ruhepunkt findet, als bis ihm die Überzeugung von der Notwendigkeit aufgegangen ist, so auch der Künstler gezwungen sei, seine Anschauung so weit zu steigern, daß sie ihm zu einer notwendigen werde. Unter der Macht der künstlerischen Einbildungskraft wird das anschauende Bewußtsein der Welt ein immer formen- und gestaltenreicheres. Aber, wenn uns auch diese in die Breite und Mannigfaltigkeit gehende Schaffenskraft Bewunderung abnötigt, so müssen wir doch, wenn wir dahin überhaupt zu folgen vermögen, als das vornehmste künstlerische Streben anerkennen, jede Form, jede Gestalt bis zu ihrer vollen Existenz herauszubilden. Auf dem Wege läßt der Künstler alles hinter sich, was ihm die Erscheinung in manchen Stadien der Entwicklung bedeutend gemacht hatte; ihre Eigenschaften verlieren die Macht über ihn, je mehr sie selbst der Macht seiner Erkenntnis unterliegt.
Wenn der Künstler seine Anschauung der Erscheinungen bis zum Begreifen der Notwendigkeit, des So- und Nichtandersseins steigert, so ist das eine andere Operation, als durch welche der wissenschaftliche Forscher einen natürlichen Vorgang als notwendig einsieht. Wer die Welt nicht mit dem Interesse des Künstlers betrachtet, der wird, wenn er überhaupt das Bedürfnis fühlt, die Erscheinung der Dinge in ihrer Notwendigkeit zu er[61]kennen, dies nicht anders zu erlangen suchen, als indem er die Bedingungen der Entstehung erforscht; er wird aber schwer begreifen, daß die Erscheinung als solche eine Notwendigkeit in sich trage, die von der Erkenntnis des Zusammenhanges der Entstehung unabhängig sei. „So wird ein Mann“, um einen Ausspruch Goethes anzuführen, „zu den sogenannten exakten Wissenschaften geboren und gebildet, auf der Höhe seiner Verstandsvernunft nicht leicht begreifen, daß es auch eine exakte sinnliche Phantasie geben könne, ohne welche doch eigentlich keine Kunst denkbar ist.“ Die wenigsten Menschen empfinden überhaupt das Bedürfnis, ihre anschaulichen Vorstellungen bis zu dem Grade auszubilden, daß sie den Charakter der Notwendigkeit erlangen, sie mögen in ihrer Erkenntnis der inneren Zusammenhänge aller Unbestimmtheit und aller Willkür noch so feind sein, sie mögen noch so sehr danach ringen, dieses Chaos von Vorgängen zu einem notwendigen Ganzen zu ordnen, sie mögen in diesem Ringen noch so weit vorwärts gekommen sein, die anschauliche Welt ist ihnen ein Chaos geblieben, in dem die Willkür die Herrschaft führt. Der Künstler kann sich dabei nicht beruhigen; gleichgültig gegen alles andere läßt er die Anschauung nicht eher los, als bis sie zu einer in allen ihren Teilen klaren Vorstellung seines Geistes geworden ist, bis sie zur vollen notwendigen Existenz gelangt ist. Dies ist das höchste Stadium, bis zu dem er seine produktive Erkenntnis treiben kann. Vollständige Klarheit und Notwendigkeit fallen zusammen.
Anmerkung 1
Aller Streit um Realismus oder Idealismus der Kunst ist ein müßiger; er wird geführt um eine äußerlich der Kunst wohl ähnliche, innerlich aber unkünstlerische Produktion. Die Kunst, wenn sie diesen Namen verdienen soll, kann nicht entweder realistisch oder idealistisch, sondern sie kann immer und überall nur ein und dasselbe sein, welchen Namen man ihr auch beilege. Die sogenannten Realisten sind nicht deshalb zu tadeln, weil sie in ihren Werken das Hauptgewicht auf die sinnliche Erscheinung legen, sondern deshalb, weil sie gemeiniglich in der sinnlichen Erscheinung nicht mehr gewahr zu werden vermögen, als ihr auch das geringste Auffassungsvermögen abzugewinnen weiß. Sie bleiben bei einem niedrigen Durchschnittsmaß von Vorstellungen stehen und bilden eine Natur nach, die deshalb eine ge[62]wöhnliche, gemeine Natur genannt zu werden verdient, weil sie die ist, die sich in gewöhnlichen, gemeinen Köpfen widerspiegelt. Sie meinen, die Natur in ihrer Gewalt zu haben, und sehen nicht, daß das, was sie in ihrer Gewalt haben, nicht mehr ist als der dürftige Besitz der großen Menge. Daß die Menge in ihren Werken die Natur wiedererkennt, ist nur ein Beweis dafür, daß sie sich über den Gesichtskreis der Menge nicht erhoben haben. Sie arbeiten für das niedrigste Bedürfnis und suchen Beifall dadurch, daß sie zu dem niedrigen Standpunkte einer unentwickelten Naturanschauung hinabsteigen. Die Idealisten aber, indem sie sich weder befriedigt fühlen von der Natur, wie sie sie erkennen, noch auch imstande sind, ihre Naturanschauung zu immer höheren Graden auszubilden, suchen der künstlerischen Dürftigkeit ihrer Gestaltungen durch einen außerkünstlerischen Inhalt abzuhelfen. Beider Werke sind künstlerisch unbedeutend. Alle Geschicklichkeit in der Wiedergabe des rohen Naturbildes, aller willkürliche Inhalt, zu dessen unmittelbarem Träger oder mittelbarem Zeichen das Kunstwerk gemacht wird, kann für den künstlerischen Unwert nicht entschädigen. Die Kunst kann nur eine einzige Aufgabe haben, eine Aufgabe, die sie in jedem ihrer echten Werke löst und die doch immer der neuen Lösung harren wird, solange Menschen mit dem Bedürfnis geboren werden, sich die Welt auch künstlerisch zum Bewußtsein zu bringen. Die Kunst ist immer realistisch, weil sie das hervorzubringen sucht, was dem Menschen allererst die Realität ist, und sie ist immer idealistisch, weil alle Realität, die sie schafft, ein Produkt des Geistes ist.
Anmerkung 2
Die künstlerische Tätigkeit ist eine ganz ursprüngliche und durchaus selbständige geistige Tätigkeit. Sie setzt die höchste Besonnenheit voraus und führt zum klarsten Bewußtsein. Wenn man die künstlerische Tätigkeit so gern eine unbewußte nennt, so beweist man damit nur, daß man in die eigentümliche Art des künstlerischen Bewußtseins nicht einzugehen vermag. Dieser Umstand trägt die Schuld an so manchen falschen Auffassungen von der Stellung des Künstlers in der Welt, Auffassungen, mit denen man dem Künstler zu schmeicheln glaubt, während man ihm doch sein Recht vorenthält. Man betrachtet ihn gern als eine Art Luxusartikel der Menschheit, man verehrt ihn um einer Art der [63] Tätigkeit willen, die sich aus dem Kreise der übrigen menschlichen Tätigkeiten heraushebt, die man eine Blüte menschlichen Tuns nennt, weil sie dem irdischen Dasein sich zu entwinden scheint. Aber indem man den Künstler so eximiert, indem man seine Werke gleichsam als einen Überschuß betrachtet, den eine gütige Vorsehung den Menschen zum Trost und zur Erhebung gegönnt habe, versagt man ihm die viel wichtigere Anerkennung, daß er am Tagewerk der Menschheit sein ernstes und notwendiges Teil so gut leistet wie irgendein anderer, daß ohne ihn der Menschheit nicht ein wenn auch noch so edles Vergnügen, sondern eine ganze Art der höheren geistigen Existenz fehlen würde. Man nennt die Kunst etwas Göttliches, weil man das Menschliche an ihr nicht versteht. Die Kunst ist aber etwas äußerst Menschliches und ist auch nicht einzusehen, wie sie etwas anderes sein sollte. Sie ist nicht außerordentlicher, als dies andere bedeutende menschliche Leistungen auch sind. Wir mögen göttlich nennen, wovon wir uns bewußt sind, daß es durch keine menschliche Kraft hervorgebracht werden kann; nur zu oft aber nennen wir göttlich das, was wir als menschlich nur nicht begriffen haben, und freilich ist es leichter, etwas Unbegriffenes auf etwas Unbegreifliches zurückzuführen, statt zu versuchen, ob man es nicht zu etwas Begreifbarem machen könne.
IV.
1. „Die Kunst des Malens kann nicht wohl beurteilt werden, denn allein durch die, die da selbst gute Maler sind, aber fürwahr den anderen ist es verborgen, wie dir eine fremde Sprache.“ Dieser Ausspruch Dürers erscheint uns erklärlich und gerechtfertigt, wenn wir bedenken, daß die Tätigkeit des Künstlers auf einem geistigen Vorgange beruht, der in dem gesamten Gebiete geistiger Arbeit in so selbständiger Ausbildung nicht wieder anzutreffen ist. Wir deuteten schon anfangs darauf hin, wie es dem Nichtkünstler schwer sein müsse, in das Verständnis der Manifestationen einer ihm fremden Kraft einzudringen. Im Verlaufe geistiger Entwicklung bildet sich der Mensch, bestimmt durch die vorwiegende Anlage seiner Natur und durch die Elemente, die ihm Erziehung und Leben zuführen, die Welt zu einer bestimmten Gestalt und zu einem bestimmten Inhalte aus; nichts [64] kann dem einzelnen wertvoller erscheinen als der Komplex geistigen Besitzes, der ihm unverlierbar und sich beständig vergrößernd zugehört; auf ihm beruht seine geistige Individualität, nur in ihm gelangt er zur Möglichkeit eines höheren geistigen Daseins. Aber wie jeder Besitz, so macht auch der geistige frei und befangen zugleich. Er reißt manche Schranke nieder, wird aber selbst unwillkürlich zur Schranke; er nimmt dem Menschen die Fähigkeit sich zurückzuversetzen in jenen besitzlosen Zustand, da ihm die Welt noch alles werden konnte, weil sie ihm noch in keiner Gestalt angehörte. Und doch, wer dem Künstler auf sein Gebiet folgen will, der muß von der Höhe seines geistigen Bewußtseins, zu der ihn die Arbeit des Lebens geführt hatte, herabsteigen, er muß die Welt noch einmal als eine ihm fremde betrachten, um sie in einer neuen Weise kennenzulernen.
2. Wenn wir es aber recht bedenken, was es heißen wolle, ein Kunstwerk vollständig zu verstehen, so können wir uns nicht verhehlen, daß wir uns vor einer im Grunde unlösbaren Aufgabe befinden. Wir sahen, daß sich das Kunstwerk aus der Gesamtheit des individuellen Künstlerbewußtseins als der Ausdruck augenblicklicher höchster künstlerischer Erkenntnis heraushebt und als sichtbares dauerndes Denkmal dieses Bewußtseins eine Zeitlang fortlebt. Das Bewußtsein selbst, in seiner Gesamtheit keines Ausdrucks fähig, hat keine Dauer. Kann doch der Mensch überhaupt das Leben in seiner ganzen Fülle niemals festhalten, vor dem Untergange oder auch nur vor der Vergessenheit bewahren. Was ihm zurückbleibt, sind bruchstückartige, vergängliche Zeichen. Die Kunstwerke selbst, dem Zufall preisgegeben, fristen ein mehr oder minder langes Dasein; von dem Augenblicke ihrer Vollendung gehen sie einer allmählichen Zerstörung entgegen, und schon nach kurzer Zeit werden die dauerhaftesten zu Ruinen. Was sind Hunderte, was Tausende von Jahren? Wenn das höchste Künstlerbewußtsein, welches einer besonderen Gunst der Natur und den seltensten Umständen sein Dasein verdankt, mit dem Individuum für immer zugrunde geht, so werden auch jene geringen Spuren, die, selbständig fortbestehend, den Untergang des Individuums überdauern, in näherer oder fernerer Zeit spurlos verwischt. Dem Individuum folgen auch seine Werke ins Grab. Und auch in ihrer Dauer sind die Kunstwerke nur ein Schatten von dem, was sie waren, als sie noch zusammenhingen mit der lebendigen Tätigkeit des Künstlers. [65] Das Bewußtsein, welches sich im Kunstwerk vollendet und in ihm zur Erscheinung kommt, ist nur dieses einzige Mal vorhanden, das Kunstwerk ist nur dieses einzige Mal vollständig lebendig, nur in diesem einzigen Moment und nur für diesen einzigen Menschen hat es seine höchste Bedeutung; und wenn es im Momente seiner Entstehung spurlos zugrunde ginge, es würde seine höchste Bestimmung erfüllt haben. Zu diesem Leben kann es niemand zurückrufen, der Künstler selbst so wenig wie ein fremder Betrachter; die Vorbedingungen, die, tief in die geheimnisvolle Werkstatt der schaffenden Menschennatur hinabreichend, seine Gestalt bestimmten, entziehen sich dem Blick, und wenn es im Momente der Entstehung mit Notwendigkeit hervortrat, so muß es in jedem späteren Momente mehr oder minder willkürlich und rätselhaft erscheinen. In diesem höchsten Sinne ist das einzelne Kunstwerk etwas Unergründliches.
3. Und dennoch müssen wir, ob wir uns gleich dies eingestehen, in das Verständnis des Kunstwerks in diesem Sinne einzudringen suchen, um nur überhaupt eine nahe geistige Beziehung zu demselben zu gewinnen. Es bleibt uns innerlich fremd, wir mögen noch so sehr bemüht sein, uns seiner mehr oder minder entfernten Wirkungen mit Eifer, mit Liebe, mit Begeisterung zu versichern. Erst in dem Augenblicke, in dem wir uns bewußt werden, daß zwar alle diese Wirkungen sich aus dem Kunstwerk, die Entstehung des Kunstwerks sich aber nicht aus diesen Wirkungen erklären lasse und wir daher alle die Fragen, was das Kunstwerk für uns sein könne, vergessen über der einen Frage, wie es aus dem künstlerischen Bewußtsein habe hervorgehen können, beginnt es, wahrhaftes Leben für uns zu gewinnen. Wir sehen uns unmittelbar in die Tätigkeit des schaffenden Künstlers hineingezogen und erfassen das Resultat als ein lebendig werdendes. Wir reproduzieren die künstlerische Tätigkeit, und das Maß von Verständnis, zu dem wir gelangen können, ist abhängig von der produktiven Kraft unseres Geistes, mit der wir dem Kunstwerk begegnen.
Und indem wir so die Sprache des Künstlers zu verstehen, das Kunstwerk zu begreifen anfangen, empfangen wir zugleich die höchste Anregung, die wir Kunstwerken verdanken können. Ihr Anblick erweckt uns zu einer neuen Art des geistigen Lebens; wir sehen uns in ein neues Verhältnis zur Welt gesetzt und erkennen, daß wir die Welt in noch ganz anderem Sinne besitzen [66] können, als sie uns vordem zu eigen geworden war. Und wie uns die Kunstwerke zuerst den Blick für die Welt im künstlerischen Sinne öffnen, so werden sie uns auch zu den wichtigsten Bildungsmitteln im Verfolgen des Weges, auf den sie uns gewiesen haben. So schöpfen wir aus den Kunstwerken den höchsten Nutzen, den wir menschlichen Leistungen verdanken können. Sie werden die Wahrzeichen auf einem der Wege, auf denen wir zu höherem Bewußtsein emporsteigen, und die höchste Lust, die wir ihnen verdanken, fällt zusammen mit einem Fortschritt in der Erkenntnis. Nur indem wir unserem Verkehr mit den Kunstwerken diesen Inhalt geben, sind wir sicher, sie im innersten Wesen zu erfassen.
[…] [117] […]
Es ist oft betont worden, daß die der naturalistischen Richtung angehörenden Künstler nicht die Wahrheit, sondern nur die Wirklichkeit darstellen. Die naturalistischen Künstler sagen dagegen mit Recht, daß nur die Wirklichkeit wahr sei, daß es außerhalb der Wirklichkeit keine Wahrheit geben könne und daß nur der die Freiheit und die natürlichen Rechte der Kunst vertrete, der die unbeschränkte Darstellung der Wirklichkeit zu ihrer ausschließlichen Aufgabe mache. Hier zeigt es sich nun, daß es leichter ist, sich frei zu machen, als frei zu sein. Einfach, klar und unwidersprechlich klingt jenes Dogma. Aber die geistige Kraft, die so kühn in der Bekämpfung dessen war, was ihr Widerstand leistete, bescheidet sich schnell, wo es sich darum handelt, die errungene Freiheit weiter zu entwickeln. Denn der Begriff der Wirklichkeit, bei dem jene Neuerer sich beruhigen, ist ein sehr unentwickelter und bildet in seinem unentwickelten Zustande gerade die Fessel, die sich der moderne Naturalismus selbst anlegt, nachdem er sich von allen anderen Fesseln glücklich befreit hat.
Der moderne Naturalismus wirft die Frage, was nun eigentlich die Wirklichkeit sei, ebensowenig auf wie der naive, jeglichen philosophischen Sinnes entbehrende Mensch. Jenem so gut wie diesem erscheint die Frage vollkommen überflüssig. Sieht er nicht Natur und Leben um sich her, unabhängig von ihm und außer ihm, unendliche Formen und ewig wechselnde Vorgänge, und doch jede Form, jeden Vorgang fest und in ihrem Bestande gegeben? Das gerade ist der Ruhm des Naturalisten, daß er die Kunst auf die Erde zurückgeführt hat. Wo Geist und Phantasie immer geneigt sind, ihren eigenen Luftgebilden nachzugehen, da weiß er immer festeren Grund unter sich, je mehr er auf dem Boden der gegebenen Wirklichkeit Fuß zu fassen sucht. Wenn aus der Ferne die Dinge der Welt undeutlich und schwankend erscheinen, manche Täuschungen, manche Irrungen zulassen, so [118] weiß er, daß sie doch eine feste Gestalt haben und daß es kein anderes Mittel gibt, sich vor Irrtum und Täuschung zu schützen, als sich den Dingen der Welt zu nähern, sie immer energischer mit den Sinnesorganen zu ergreifen, sie bis in ihre kleinsten Bestandteile zu verfolgen. So steht er, das Individuum, mit ganz freiem, aufgeklärtem, jeder bindenden Tradition, aller drückenden Vorurteile ledigem Geiste zum allerersten Male der Welt gegenüber. Wenn der wissenschaftliche Forscher auf seine Weise, durch keine Rücksicht geleitet außer derjenigen der Erkenntnis, in die vor ihm und um ihn liegende Welt eindringt, sie nach allen Seiten hin rastlos durchforscht und bis zu ihren äußersten Grenzen der Erkenntnis zu unterwerfen sucht, so sieht auch der Künstler die neue unendliche Aufgabe vor sich, auf seine Weise die Welt immer mehr und mehr in der unerbittlichen Positivität ihrer Formen und ihrer Vorgänge zu erfassen, immer weiter in alle noch so verborgenen Schlupfwinkel des Lebens vorzudringen und der Welt zu ihrem eigenen Erstaunen durch seine Darstellungen zu zeigen, wie sie nun eigentlich in ihrer unbeschönigten Wahrheit, in ihrer unverhüllten Nacktheit aussieht.
So natürlich, so selbstverständlich erscheint diese Auffassung von der Stellung des künstlerischen Individuums der gegebenen Wirklichkeit gegenüber, daß sie, ohne nur irgendwie Gegenstand des Zweifels zu werden, jenen aufgeklärten Künstlern die gegebene Voraussetzung ihrer Tätigkeit ist. Was aber sind die Konsequenzen dieser Auffassung, dieser Voraussetzung? Die künstlerische Tätigkeit, mag sie dichtend, mag sie gestaltend die Welt zu zeigen unternehmen, wie sie ist, muß sich unter den Zwang der Dinge begeben, sie muß sich zur Sklavin der Wirklichkeit machen. Aus dieser wesentlichen Konsequenz ergeben sich alle übrigen von selbst. Auf der einen Seite die Gleichgültigkeit für die Beschaffenheit des darzustellenden Stoffes – denn seine Wirklichkeit ist im Grunde sein einziger Wert –, ein sich immer steigerndes Suchen nach Gebieten, die der Darstellung noch nicht erschlossen sind; auf der anderen Seite der Wetteifer, wer nur immer seinen Vorgänger an rücksichtsloser Offenheit, an gesuchter Ausführlichkeit der Darstellung überbietet. In jeder Hinsicht bietet die naturalistische Literatur die ausgiebigsten Beispiele; sie hat sich bis zu der Schilderung selbst der verborgensten Lebens- und Gesellschaftszustände gesteigert; sie ist in der Darstellung von der Aufdeckung des psychologischen Zu[119]sammenhanges zu den Versuchen physiologischer Begründung fortgeschritten. Und was hat nicht alles die bildende Kunst zum Stoffe ihrer Darstellung gemacht! Wie ist sie bei ihrer Darstellung zu Werke gegangen, um, sei es in minutiösester Ausführung, sei es in grob frappanter Wiedergabe gewisser hervortretender Bestandteile der Erscheinungen, ihren Zweck, die Enthüllung der wahren Gestalt der Dinge, zu erreichen.
Das Ziel, dem die naturalistische Richtung zugetrieben wird, besteht so auf Seiten der künstlerischen Individualität in einer Neutralisierung derselben, auf Seiten der Produktion in einer auf dem Wege der Schilderung oder Darstellung zu erreichenden Inventarisierung der Welt. Je mehr nun die künstlerische Individualität auf ihre besondere Bedeutung verzichtet und sich zum bloßen Werkzeuge zu machen sucht, desto mehr konzentriert sich aller Wert, alle Wichtigkeit auf das Werk, zu dessen Hervorbringung sie dient. Dieses Werk aber erscheint als ein allmählich sich vervollständigendes. Indem die künstlerische Darstellung Schritt für Schritt sich der Wirklichkeit bemächtigt, fügt sie Besitz zu Besitz, und wenn die Aufgabe ungeheuer ist, so erscheint es doch nicht unmöglich, daß in endlicher Zeit das ganze Gebiet des Seienden in seiner wahren und wirklichen Gestalt zum Ausdruck gebracht werde. Betrachtet man das Ziel genauer, dem die naturalistische Kunst zustrebt, so ist dasselbe im Grunde ein nützlich-lehrhaftes. Es handelt sich um ein Feststellen dessen, was wirklich ist, damit die Menschen vor Irrtum und Täuschung bewahrt werden. Darauf läuft schließlich die ganze Kunst hinaus; freilich eine arge Ernüchterung nach allen den erhabenen Zwecken, die eine frühere Zeit der Kunst beilegte.
Aber die Konsequenz, die aus jener Voraussetzung für die Tätigkeit des Künstlers sowohl wie für die Natur seines Werkes sich ergibt, macht sich nun auch schließlich in den Wirkungen geltend, die eine so gestaltete Kunst auf die Menschen ausübt. Der Umstand, daß in der künstlerischen Darstellung nichts anderes zur Erscheinung kommen soll als das tatsächlich Wirkliche, kann nur ein Wiedererkennen des in der Wirklichkeit Gekannten oder eine Neugier nach dem noch nicht Gekannten erzeugen. Rechnet man dazu ein gewisses harmloses Vergnügen, bestimmten Dingen in der Darstellung wieder zu begegnen, die man in der Wirklichkeit kennt, und eine weniger harmlose [120] Freude, Dinge an das Licht der Öffentlichkeit gezogen zu sehen, die sonst unter einem gewissen Schleier verborgen zu sein pflegen, so sind so ziemlich alle die bemerkenswerten Wirkungen genannt, die eine naturalistische Kunst auf ihr Publikum ausüben kann.
Man sieht, in welches Gewebe von unentrinnbaren Konsequenzen sich die Kunst verstrickt sieht, wenn ein Prinzip seine Durchführung findet, welches vorgibt, die Kunst frei zu machen, indem es sie zur Wahrheit zurückführt. Das, was die neue Schule verspricht, ist in keiner Weise geleistet. Abgesehen davon, daß sie die Kunst unter ein neues Joch beugt, gelingt es ihr nicht einmal, sie der alten Fesseln zu entledigen. Die unveränderliche Grundlage der gesamten Entwicklung, welche die Auffassung der künstlerischen Tätigkeit durchlaufen hat, ist jener Dualismus, in dem sich der künstlerisch begabte Mensch und die gegebene Wirklichkeit gegenübergestellt werden. Alle die Ansichten, die sich über das Wesen der künstlerischen Tätigkeit im Laufe der Zeit und im Anschluß an die großen Wandlungen der menschlichen Denkungsart gebildet haben, ruhen auf jener Voraussetzung. So mannigfaltig sie sein mögen, so lassen sie sich unter die beiden großen Gesichtspunkte der nachahmenden Darstellung und der Umgestaltung der Wirklichkeit bringen. Die Bedeutung der Kunst liegt dann ganz folgerichtig in einem Zwecke, und ihre Entwicklung ist nichts anderes als die allmähliche Verwirklichung einer gegebenen Aufgabe. Jene jüngere Schule, die sich ein so weltstürmendes Ansehen gibt, richtet ihren Widerspruch doch nicht gegen jene wesentliche Voraussetzung; sie akzeptiert die Gegenüberstellung von Künstler und Wirklichkeit, sie tritt auf die Seite derer, die in der Darstellung der Wirklichkeit, nicht in der Umgestaltung derselben das Wesen der künstlerischen Tätigkeit sehen; sie verlegt die Bedeutung der Kunst in einen Zweck und erwartet von ihr die Lösung einer Aufgabe. So erscheint die ganze Neuerung doch nur als eine Variation über das alte Thema. Stand die Kunst sonst im Dienste der Schönheit und des Ideals, so steht sie nun unter der viel härteren Botmäßigkeit der Wirklichkeit. So kann es nicht anders kommen, als daß ihre Leistungen peinlich und ängstlich werden und zugleich peinigend für diejenigen, die sie sich anzueignen suchen. Muß es nicht jeder fühlen, der jenen modernen naturalistischen Leistungen einige Aufmerksamkeit zuwendet, daß die präten[121]dierte Erlösung der Kunst in die Freiheit von Natur und Leben nur ein falsches Vorgeben ist und daß jene Leistungen, wie sie unter dem Druck und in der Enge der Wirklichkeit entstanden sind, nun diesen Druck und diese Enge dem Menschen erst recht fühlbar machen? Hat man nicht den Eindruck, als ob in solcher Kunst die Wirklichkeit, die zwar dem Wollen und Tun der Menschen feste Schranken setzt, der Betrachtung aber ein ewig wechselndes und flüchtiges Spiel bleibt, nun auch für die Betrachtung zu unveränderlichen Formen erstarrte und sich wie ein lastender Alp auf Sinn und Geist legte? Wird nicht das Leben gleichsam erst getötet, damit es ja dem untersuchenden Auge, der sezierenden Hand nicht entfliehe, und starrt uns nicht aus diesen Kunstgebilden eine Wirklichkeit an, die eben doch keine Wirklichkeit, sondern nur eine Maske, gleichsam ein Gespenst der Wirklichkeit ist? Und das ist der letzte und höchste Punkt des Mißlingens, zu dem der moderne Naturalismus auf seinem Wege gelangt. Sein gewaltiger Eifer gegen alles, was er in der Kunst der Vergangenheit als Lüge, als Verhüllung, als Beschönigung der Wahrheit brandmarkt, schützt ihn nicht davor, selbst etwas als das Bild der Wirklichkeit auszugeben, was doch nur eine Verfälschung der Wirklichkeit ist.
Wie aber steht es endlich mit dem großen Zwecke, der endgültigen Aufklärung des menschlichen Geistes, an dem die Kunst, nachdem sie im Naturalismus ihre Reife erlangt habe, mit zu arbeiten berufen sei? Man stelle sich vor, daß die Kunst auf den Bahnen des Naturalismus weiter und weiter fortschreite, daß sie allmählich den Tatbestand der Welt und des Lebens in immer ausführlicheren und getreueren Schilderungen feststelle, daß sie gleichsam die wahre Gestalt der Dinge und der Vorgänge in unvergänglichen und unveränderlichen, mit aller ihr zu Gebote stehenden Positivität ausgestatteten Bildern ein für allemal niederlege: wird dieser der Menschheit geschenkte Schatz scheinbarer Wahrheit nicht viel mehr ein Hindernis als ein Hilfsmittel der Aufklärung sein? Denn niemals sind Irrtum und Täuschung gefährlicher und mächtiger, als wenn sie mit dem Anspruch auftreten, die endlich gefundene definitive Wahrheit darzustellen.
Hätte die moderne naturalistische Schule in ihrem der Berechtigung nicht entbehrenden Kampfe gegen Mißbrauch, Vorurteil, Irrtum sich zugleich den Ruhm erwerben wollen, einen wahrhaften Fortschritt einzuleiten, so hätte sie, anstatt der vorlauten [122] Anmaßung, mit der sie das wahre Kunstprinzip als bereits gefunden ankündigte, ein etwas bescheideneres aber tiefer eindringendes Bemühen, die gesuchte Wahrheit allererst zu finden, beweisen müssen. Nachdem alle bisherigen Auffassungen von dem Wesen der künstlerischen Tätigkeit Antworten auf die Frage gewesen waren, was mit der Wirklichkeit zu geschehen hätte, um sie zur Kunst zu erheben, hätte der Widerspruch gegen diese Auffassungen von der neuen Frage ausgehen müssen, ob man überhaupt berechtigt sei, von einer Wirklichkeit zu sprechen, die dem Künstler als Gegenstand seiner Tätigkeit gegeben sei.
Die modernen Naturalisten brüsten sich gern damit, auf dem Gebiete der Kunst die Vertreter desselben Geistes zu sein, der auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Denkens zur Herrschaft gelangt ist. Und doch ist dieser moderne künstlerische Naturalismus nicht viel mehr als die Karikatur des modernen wissenschaftlichen Geistes. Sein Kunstprinzip ist ein fast kindlicher Standpunkt, der nur durch die maßlose Überhebung seiner Vertreter und durch die Urteilslosigkeit des Publikums zu seiner gegenwärtigen Bedeutung hat gelangen können. Er beruht auf einer Anschauung, die wohl hinreichen mag, wo es sich um das gewöhnliche Bewußtsein des alltäglichen Lebens handelt, die sich aber als ganz ungenügend und ganz unhaltbar erweist, wo der Mensch von der Oberfläche des Lebens sich in die Tiefen der Betrachtung und der Forschung zu versenken unternimmt.
Nichts anderes als ein ganz naiver Realismus ist es, der zum Angelpunkte der künstlerischen Tätigkeit gemacht werden soll. Indem man vorgibt, die Kunst auf die Höhe zu erheben, auf der der wissenschaftliche Geist steht, gründet man sie auf eine Anschauung, die von dem wissenschaftlichen Geiste längst hat überwunden werden müssen, damit nur überhaupt ein Fortschritt in der Erkenntnis möglich werde. Das ist der Punkt, aus dem allein der moderne Naturalismus zugleich zu erklären und zu widerlegen ist. Was nützt es, wenn er es unternimmt, die Kunst aus dem dogmatischen Schlummer zu erwecken, in dem sie unter der Herrschaft älterer ästhetischer Theorien gehalten worden ist, um sie sofort in einen neuen dogmatischen Schlummer zu versenken?
Der entscheidende Wendepunkt für den nach Erkenntnis strebenden Geist tritt in dem Augenblicke ein, wo sich dem tieferen Nachdenken die anscheinend mit absoluter Realität ausgestattete Wirklichkeit als ein trügerischer Schein enthüllt, wo sich die Ein[123]sicht auftut, daß das menschliche Erkenntnisvermögen nicht so einer von ihm unabhängigen Außenwelt gegenübersteht wie ein Spiegel dem Gegenstande, dessen Bild in ihm erscheint, sondern daß das, was man Außenwelt nennt, das ewig wechselnde und ununterbrochen von neuem sich erzeugende Resultat eines geistigen Vorganges ist. So folgenreich diese Einsicht für die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis gewesen ist, so ist sie doch infolge einer eigentümlichen Beschränktheit von jeher für die Untersuchungen über das Wesen der künstlerischen Tätigkeit ungenützt geblieben. Dies mochte so lange erklärlich sein, als die künstlerische Tätigkeit überhaupt nicht als mit der wissenschaftlichen Tätigkeit an einer und derselben großen Aufgabe arbeitend angesehen wurde, als man alles, was Erkenntnis genannt werden konnte, so ausschließlich als die Aufgabe des denkenden Menschen betrachtete, daß man für den künstlerisch bildenden Menschen nach einer durchaus anderen Aufgabe suchen mußte. Nun aber eine Schule auftritt, welche den großen Schritt zu tun vorgibt, die künstlerische Tätigkeit als in dem Dienste derselben Aufgabe stehend darzustellen, an der die forschenden Kräfte des Menschen unablässig arbeiten, wie ist es möglich, daß die Aufgabe so durchaus oberflächlich aufgefaßt wird, wie dies von jenen modernen Naturalisten tatsächlich geschieht?
Die Frage, was Wahrheit ist, gilt nicht nur für das Gebiet philosophischer Erkenntnis, auf dem sie allein gestellt zu werden pflegt, sie gilt ebenso auch für das Gebiet künstlerischer Gestaltung. Nicht nur dem denkenden Menschen wird sich die uralte Weisheit immer von neuem aufdrängen, daß das Seiende eigentlich das Nichtseiende ist; nicht nur der Philosoph wird sich in dem Streben, den realen Grund der Dinge zu erfassen, von Zuflucht zu Zuflucht vertrieben sehen, um schließlich sich mit der Überzeugung zu bescheiden, daß der Mensch einen anderen festen Boden nicht unter sich hat als seine eigene nicht ermattende geistige Tätigkeit; auch der künstlerisch bildende Mensch, wenn er nach nichts anderem strebt, als in seinem Gebilde die Wahrheit von Natur und Leben zu erfassen, wird, sofern er überhaupt befähigt ist, durch die Oberfläche hindurchzudringen, zwar begreifen, daß ihm Wahrheit nur aus dem Boden der seiner Erfahrung zugänglichen Wirklichkeit erwachsen könne, zugleich aber wird er einsehen, daß seine Tätigkeit sich auf keine andere Wirklichkeit berufen kann als auf diejenige, die sie selbst in ihren Ge[124]bilden hervorbringt. Man darf sich nicht scheuen, nach dem Verständnis der Tätigkeit des Künstlers auf Grund von Einsichten zu suchen, nach denen man nur die erkennende Tätigkeit des Menschen zu beurteilen gewohnt ist. Es ist sehr ungerechtfertigt, wenn man zwar zugibt, daß das, was im philosophischen, im wissenschaftlichen Sinne Wahrheit zu nennen sei, vom menschlichen Geiste nicht gefunden, sondern erzeugt werde, und zugleich den Künstler auf ein ihm fertig entgegentretendes Erfahrungsgebiet einschränken will, welches alle Wahrheit enthalte, die für ihn in Frage kommen könne. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, zu meinen, der Künstler verlasse die Wahrheit, überschreite dieselbe, wenn er sich nicht darauf beschränkt, der kühle Beobachter und Schilderer dessen zu sein, was dem gewöhnlichen Bewußtsein als wahr und wirklich erscheint. So wenig der wissenschaftliche Geist vorhandene Wahrheit findet, so wenig darf der künstlerische Geist sich damit befassen, Gegebenes darzustellen. Sooft aber freilich bloßes Gelehrtentum, welches der Aufbewahrung dessen dient, was der vordringende Geist sich errungen hat, mit wahrer Wissenschaftlichkeit verwechselt wird, so oft wird auch für künstlerisches Bemühen gehalten, wo doch nur die Mittel der Kunst in äußerlicher Weise verwendet werden, um etwas im Bilde vorzuführen, was im allgemeinen Bewußtsein längst fertige Gestalt gewonnen hat.
Will man sich den Unterschied zu lebendigem Bewußtsein bringen, der jenen vorgeblichen Realismus von dem wahren künstlerischen Realismus trennt, so muß man sich gegenwärtig halten, daß alle Wirklichkeit nichts anderes ist als das jeweilige Resultat eines sinnlich-geistigen Vorgangs, dessen Anfänge in dem dunklen Gebiet der sinnlichen Empfindung verschwinden und der sich aus diesen dem Lichte des Bewußtseins entzogenen Anfängen zu der mannigfaltig wechselnden Bestimmtheit und Fülle der Erscheinungen entwickelt und ausbreitet. Wie wunderbar nun auch die Welt den Menschen umgeben mag, so herrscht doch eine gewisse beschränkte Übereinstimmung unter dem, was die Menschen als Wirklichkeit besitzen. Es ist, als ob sich jener Prozeß in einer gewissen Gleichmäßigkeit vollziehe, als ob er, von denselben Anfängen beginnend, in denselben Bahnen ablaufe, zu denselben Resultaten führe. Es hat sich gleichsam ein bestimmtes Kapital von Vorstellungen gebildet, an dem alle teilhaben, mit dem alle gleichmäßig schalten, von dem jedes Stück [125] dasselbe Gepräge hat und von jedem wiedererkannt und anerkannt wird. Wie erstarrt erscheint der Vorgang, in dem die Außenwelt vor dem menschlichen Bewußtsein aufsteigt. Die Gebilde, die in und durch den Menschen entstehen, treten ihm als von ihm unabhängige, unveränderliche gegenüber und üben einen Zwang auf ihn aus, aus dem er sich um so weniger befreit, als er ihm als Zwang nicht zum Bewußtsein kommt.
Das ist die Welt, auf die sich jener moderne Naturalismus angewiesen sieht. Nach ihm steht der Künstler von vornherein der Welt gegenüber. Von diesem Standpunkte aus geht er an die Betrachtung und Wiedergabe der Wirklichkeit. Seine Tätigkeit ist ein Beschreiben und Darstellen von Dingen und Vorgängen, die jedermann zu Gebote stehen, der Freude daran hat, sie aufzusuchen, und den Mut, sie auszusprechen. Seine Entwicklung beschränkt sich darauf, daß sein Blick sich schärfen, seine Geschicklichkeit sich vervollkommnen kann. Die äußerliche Nähe, in die er die Dinge zu sich heranzubringen sucht, kann die innerliche Entfernung nicht aufheben, durch die er sich von der Welt geschieden fühlt.
Der wahrhaft künstlerisch begabten Natur aber ist die Welt nicht jenes Bilderbuch, als welches sie dem gemeinen Bewußtsein erscheint, welches genauer oder weniger genau zu kennen bei vielen Menschen den ganzen Unterschied der Begabung ausmacht. Sie empfindet den Zwang, der ihr auferlegt ist, wenn sie sich innerhalb der Wirklichkeit des gemeinen, in Gewohnheit und Erstarrung verfallenen Bewußtseins eingeschlossen findet. Sie unterliegt aber diesem Zwange nicht, sondern stellt in sich selbst gleichsam den zu neuer Freiheit gelangten Prozeß dar, in dem die Wirklichkeit sich für den Menschen gebildet. Was sie umgibt, erscheint ihr wie leblose, unverstandene Larven, solange sie damit kein anderes Bewußtsein verbindet, als ihr überliefert ist. Sie verläßt den Standpunkt der Welt gegenüber, sie fühlt sich selbst als einen Bestandteil der Welt. Mit allen ihren Fähigkeiten drängt sie sich an die Welt, sie möchte sie erfassen, eins mit ihr werden. Da fühlt sie in leidenschaftlicher Erregung die ununterbrochen sich wiederholenden tausend und abertausend Eindrücke, denen ihre Sinnesorgane offen stehen, sie geht gleichsam in der Welt auf, indem sie sich nur wie der Punkt vorkommt, in welchem die chaotisch durcheinanderwogenden getrennten Elemente sich treffen, sich vereinigen, sich ordnen, sich gestalten. Nun er[126]scheint ihr die Trennung aufgehoben, die Scheidewand gefallen, die sie von der Welt als etwas Fremdem schied. Sie weiß es nicht als eine Wahrheit, die ihrem Verstande sich aufnötigt, es ist ihr ein inneres Erlebnis, daß jene Trennung von Welt und Individuum nur ein trügerischer Schein ist und daß die Welt im Individuum ihre immer sich erneuernde Entstehung vollzieht.
Das Wort ist unvermögend, diesen Vorgang zu schildern, es kann ihn nur andeuten. Wer ihn aber einmal begriffen hat, der vermag den unermeßlichen Unterschied zu erkennen, der die geistige Tätigkeit desjenigen, der die Welt als ein ihm gegenüberstehendes Objekt der Erkenntnis und der Darstellung betrachtet, von der geistigen Tätigkeit desjenigen trennt, der sich selbst als die notwendige Bedingung für das Dasein der Welt empfindet. Dieser Unterschied besteht in der wissenschaftlichen Tätigkeit so gut wie in der künstlerischen, hier scheidet sich die wahrhaft bedeutende geistige Tätigkeit von der gewöhnlichen geistigen Arbeit des alltäglichen Bedürfnisses.
So haben diejenigen ebenso unrecht, welche behaupten, daß der Künstler nur dann in den Grenzen der Wirklichkeit und Wahrheit bleibe, wenn seine Gebilde in sklavischer Treue das ausdrücken, was in dem Durchschnittsbewußtsein der Menge die Wirklichkeit ist, wie auch diejenigen, welche den Künstler aus den Grenzen der Wirklichkeit hinausweisen und ihm, indem sie ihn zu befreien meinen, neue Fesseln anlegen. Wo enge und beschränkte Köpfe sich aus dumpfer Gewohnheit nicht zu erheben vermögen, da treten empfängliche, reiche und kräftige Naturen mit neuen Fähigkeiten und neuen Forderungen auf; sie meinen nicht die Welt der Wirklichkeit verlassen zu müssen, um ihrem Bedürfnis nach Wachstum und Freiheit genügen zu können; wenn sie die Enge der Wirklichkeit sprengen, in der sie von Gewohnheit und Überlieferung festgehalten werden, so tun sie dies aus der innersten Überzeugung, daß dies eben die Wirklichkeit nicht sei, die ihnen von anderen gezeigt wird; sie tun es im Bewußtsein der Kraft, die ihrem Blick und ihrem Geiste die Welt in ganz anderer und neuer Fülle, Klarheit und Bestimmtheit erstehen läßt. Sie werden inne, daß sie die Wirklichkeit, die vor ihren Blicken schwindet, nicht anders bannen, zur Bestimmtheit und zur Dauer zwingen können, als in ihrer eigenen zu immer entwickelterem Ausdruck sich steigernden geistigen Tätigkeit.
[127] Eine ältere philosophische Überzeugung betrachtete die Denktätigkeit allein als diejenige Erkenntnisquelle, die Gewißheit geben könne. Allmählich trat die Sinnlichkeit als erst untergeordnete, dann gleichberechtigte Erkenntnisquelle an ihre Seite. Wenn man jetzt der Ansicht ist, daß keinerlei Denktätigkeit Erkenntnis geben könne ohne sinnliche Anschauung, so ist man auf der anderen Seite auch zu der Überzeugung fortgeschritten, daß in jeder sinnlichen Anschauung schon eine geistige Tätigkeit enthalten sei. Man weiß, daß nicht nur die höchsten Formen der Gewißheit, in denen sich die Wirklichkeit recht eigentlich in ihrem innersten Wesen zu enthüllen scheint, wie die Kräfte und die Gesetze, weitgetriebene Abstraktionen des Verstandes sind, sondern daß schon die einfachste Anschauung, in der man meinen könnte, nur erst den Stoff für die Operationen der Denktätigkeit zu empfangen, bereits ein geistiges Gebilde ist. Nicht anders aber verhält es sich mit der Tätigkeit des Künstlers. Der erste Versuch, sich der Wirklichkeit in ihren einfachsten Formen und Vorgängen zu bemächtigen, führt zu einem geistigen Resultat, in dem sich die gefundene, die erfaßte Wirklichkeit darstellt. Aller Fortschritt, alle weitere Entwicklung der künstlerischen Tätigkeit beruht auf der in ihren künstlerischen Gestaltungen sich aussprechenden Weiterentwicklung jener ersten geistigen Gebilde, in denen sich der künstlerische Geist zuerst der Wirklichkeit vergewisserte. Auch der Künstler erhebt sich von Abstraktion zu Abstraktion, und je höher die geistigen Formen sind, zu denen sich der sinnliche Stoff emporgestaltet, desto mehr und mehr erhebt sich der Künstler aus der Verworrenheit, Unbestimmtheit, Flüchtigkeit der Anschauung in eine klare, bestimmte, dauernde Wirklichkeit empor.
In dieser Wirklichkeit tritt uns nicht mehr der einzelne Fall, der vorübereilende Vorgang, die vereinzelte Gestalt entgegen; wenn in ihr das niedere, unentwickelte Bewußtsein eine Welt der Erfindung zu sehen meint, so ist sie doch für den künstlerischen Geist selbst die notwendige Form, in der sich ihm das ganze ungeheure Gebiet von Leben und Natur zusammenfaßt, in der er die Wirklichkeit, die sich nach allen Seiten vereinzelt und verflüchtigt, sammelt, festhält und zur Dauer zwingt.
Wenn nun das, was der Dichter schildert, was der bildende Künstler darstellt, keinem Vorgange, keiner Erscheinung gleich ist, mit denen man es vergleichen kann, so darf man sich darum [128] doch nicht das Recht anmaßen, den Künstler des Verlassens der Wirklichkeit, der Unwahrheit zu beschuldigen. Wo hat man den Maßstab, mit dem man den Künstler messen könnte? Darf man den geringen Grad von Klarheit, den geringen Umfang, bis zu dem man die eigene Anschauung von Natur und Leben entwickelt hat, zum Vorbilde nehmen, um danach die Wahrhaftigkeit jenes erweiterten und entwickelten Weltbildes zu beurteilen? Im Gegenteil, man muß an der Hand des Künstlers die drückende und trübe Enge des eigenen Bewußtseins zu verlassen suchen, man muß sein eigenes Bewußtsein zu dem Weltbewußtsein erweitern und steigern, welches in den großen Werken der Dichter, in den Gebilden der Maler und Bildhauer niedergelegt ist. So wird man innewerden, daß man die Wirklichkeit nicht zu verlassen braucht, wenn man den wahren Künstlern auf ihren Wegen folgen will, sondern daß man überhaupt nur dann Anspruch auf ihr Verständnis hat, wenn man in ihren Werken und durch dieselben die Wirklichkeit und nichts anderes als die Wirklichkeit erst kennen und verstehen lernt. Denn alle wahre Kunst – und das allein ist das Wesentliche an ihr – faßt in einer höchsten geistigen Verarbeitung eine ungeheure Fülle von Erfahrungen zusammen, und wenn ihre Gebilde typisch genannt werden, so hat dies keinen anderen Sinn als den, daß in ihnen ganze unendliche Reihen von Lebensformen und Lebensvorgängen zum Lichte der Verständlichkeit und Klarheit erhoben erscheinen.
Nur so aufgefaßt ist die künstlerische Tätigkeit eine wahrhaft freie; nur so erscheint sie erlöst sowohl von dem Drucke, den die kurzsichtige Annahme eines ihr gegenüberstehenden Wirklichkeitsvorbildes auf sie ausübt, als auch von dem Dienste aller fremdartigen, ihr willkürlich aufgenötigten Aufgaben. Nur so folgt die Kunst keinem anderen Gesetze als dem ihrer innersten eigensten Natur. Folgt man diesem freien Spiel der künstlerischen Kräfte, so erkennt man, daß die Kunst nicht verurteilt ist, in den Niederungen einer Wirklichkeit hinzuschleichen, die die Wirklichkeit aller Menschen ist, daß sie aber auch nicht den zweifelhaften Beruf hat, aus einem fabelhaften Reiche herabzusteigen, um den Menschen aus der Wirklichkeit zu erlösen. Wenn von alters her zwei große Prinzipien, das der Nachahmung und das der Umwandlung der Wirklichkeit, um das Recht gestritten haben, der wahre Ausdruck des Wesens der künstlerischen Tätig[129]keit zu sein, so scheint eine Schlichtung des Streites nur dadurch möglich, daß an die Stelle dieser beiden Prinzipien ein drittes gesetzt wird, das Prinzip der Produktion der Wirklichkeit. Denn nichts anderes ist die Kunst als eins der Mittel, durch die der Mensch allererst die Wirklichkeit gewinnt.
So beruht aller Fortschritt in der Erkenntnis des Wesens der Kunst auf der Entwicklung des Begriffes der künstlerischen Wahrheit. Man mußte auf der Seite der modernen Naturalisten stehen in ihrem Kampfe gegen diejenigen, die der künstlerischen Tätigkeit ein willkürliches Joch aufzwingen wollen; man muß ihnen entgegentreten, sobald man die Einsicht gewinnt, daß das große Wort der Wahrheit für sie nur einen unentwickelten und falschen Sinn hat.
Erweist es sich aber, daß jene junge Schule einer irrigen Anschauung folgt, so wird damit auch der Wert ihrer Leistungen gerichtet. Auch zeigt es schon die Entstehung dieser modernsten Kunstwerke, daß sich in ihnen nicht ein neuer, zu großer Laufbahn berufener Geist ankündigt. Kein jugendkräftiger Drang ist es, der, unbekümmert um alle Theorie, nach freiem Ausdruck seiner selbst strebt. Es ist eine altkluge Produktion; sie bringt die Lehre, der sie folgt, mit sich, und die Werke sind im Grunde nur die Beispiele für die aufgestellte Theorie.
Steht es so um Grundsätze und Leistungen des modernen Naturalismus, so sind schließlich auch seine Ansprüche leicht auf ihren wahren Wert zurückzuführen. Mit ihm soll ja eine ganz neue Zeit für die Kunst beginnen, in ihm und durch ihn soll die Kunst zum ersten Male, aber nun für alle Zeiten ihre eigentliche Aufgabe gefunden haben. Nur der Unverstand eines jungen unreifen Geschlechts kann eine solche Überhebung über die Bestrebungen, über die Leistungen der Vergangenheit erklären. Die Kunst ist alt und hat eine lange Geschichte. In ihr wie auf allen Gebieten geistiger Tätigkeit kommen Zeiten, in denen hervorragende Individuen sich aus den niederen Sphären beschränkten und irregeleiteten Bemühens zur Freiheit des Gelingens emporschwingen. Nur der Kraft aber ist die Freiheit eigen. Fehlt diese Kraft, so fällt die künstlerische Tätigkeit in alle die Irrungen zurück, die so wenig auf immer zu überwinden sind, als es jemals möglich ist, die Kraft des Geistes zu einem dauernden und allgemeinen Besitz des menschlichen Geschlechts zu machen. Auch für die Kunst werden Zeiten, wie sie dagewesen sind, wiederkehren. [130] Es werden große Künstler wiedererstehen, und dann wird man von diesem neuesten Naturalismus, der so anspruchsvoll auftritt und sich als so epochemachend brüstet, nur als von einer der vielen Irrungen sprechen, die entstehen und vergehen, solange es Menschen gibt.
Conrad Fiedler: Schriften über Kunst, 1896