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Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe, 1892
Wilhelm Dilthey
Quelle
Wilhelm Dilthey: "Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe (1892)", in: Gesammelte Schriften. VI. Bd. Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte. Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, hrsg. von Karlfried Gründer. Stuttgart/Göttingen: B. G. Teubner Verlagsgesellschaft/Vandenhoeck & Ruprecht 19947 (1. Aufl. 1956), S. 242-285. ISBN 3-525-30307-6.
Erstausgabe
"Die drei Epochen der modernen Aesthetik und ihre heutige Aufgabe", in: Deutsche Rundschau 19 (1892), S. 200-236.
Genre
Aufsatz
Medium
Literatur, Kunst
[242] „Möchte doch endlich die Forderung der Schönheit aufgegeben und ganz und gar durch die Forderung der Wahrheit ersetzt werden.“ Schiller
Es gehört unter die lebendigsten Aufgaben der gegenwärtigen Philosophie, durch Fortbildung des ästhetischen Denkens das natürliche Verhältnis zwischen Kunst, Kritik und einem debattierenden Publikum wiederherzustellen. Dieses Verhältnis ist jederzeit sehr schwer festzuhalten gewesen, wie einmal Menschen und Dinge sind. Man weiß, wieviel Sorgfalt und Arbeit ihm Goethe und Schiller zugewandt haben. Heute ist es besonders unvollkommen. Der schaffende Künstler ist jederzeit sehr reizbar gegen die Kritik, die als eine fremde Gewalt in den mit Liebe gestalteten Organismus seines Werkes eindringt. Dazu ist ihm gegenwärtig die Ästhetik durch die abstrakten Spekulationen über das Schöne verleidet, die so lange auf den Kathedern herrschten. Die Kritik ihrerseits besaß in den Tagen des Boileau, Lessing oder Wilhelm Schlegel an einer herrschenden Ästhetik einen festen Maßstab, ist aber heute allzusehr gegenüber den neuen Aufgaben auf eigenes Ermessen und momentane ästhetische Reflexion von Fall zu Fall angewiesen. Im Publikum bildet sich keine öffentliche Meinung, welche den zu höheren Zielen strebenden Künstler trägt. Es mangelt so die lebendige Zirkulation ästhetischen Denkens und ästhetischer Bildung in den leitenden Kreisen unserer Gesellschaft.
Sollen Künstler, Ästhetiker, Kritiker und Publikum einander beeinflussen und voneinander etwas lernen: so muß die Ästhetik von einem unbefangenen Verständnis der großen Bewegung der Kunst ausgehen, in welcher wir heute leben. Und unbehagliche einzelne Kunsterscheinungen dürfen sie gegen das Recht dieser neuen Bewegung nicht blind oder taub machen.
Die Anfänge dieser Bewegung reichen weiter zurück. Aber mir scheint, daß die Generation, welche noch die Einflüsse der Julirevo[243]lution an sich erfuhr, zuerst sich ganz von Klassizismus und Romantik löste. Damals wie 1848 wurden die Tritte der herannahenden Kolonnen deutlicher vernommen, welche die Umgestaltung der europäischen Gesellschaft nach den Prinzipien gänzlicher Diesseitigkeit und Erdenbedingtheit des geistigen Lebens herbeizuführen gedachten. Der Boden des alten Europa erzitterte. Die Lebensansicht, die seit dem fünfzehnten Jahrhundert sich ausgebildet hatte und deren Ausdruck die Kunst von Lionardo [sic] und Shakespeare bis Goethe gewesen war, löste sich auf. In dämmernden großen Umrissen begann ein Neues am Horizonte aufzutauchen. Aus dem Gefühl dieser Lage Europas ist eine neue Literatur und Kunst entstanden. Sie selbst ein Zeugnis von der Gewalt der hereinbrechenden veränderten Lebensstimmung. Ich will versuchen, in drei Sätzen die Tendenz derselben zu umschreiben.
Diese Literatur will erstens dem lastenden Gefühl Ausdruck geben, die Lebensordnungen der Gesellschaft seien alt, greisenhaft, brüchig, unhaltbar geworden. Wand an Wand mit dem Sozialismus wohnt in Paris eine neue Literatur. Diese Schriftsteller schildern, und sie zersetzen im Schildern. Sie genießen die wurmstichige Zivilisation und hassen sie. Sie berauschen sich daran, und dann deutet ihre Hand auf Krankheit und Tod darin. Man kann aber nur auflösen, wenn man ganz wahr, gründlich und genau in der Darstellung des Tatbestandes gewesen ist. Die neue Poesie und Kunst will also zweitens Naturalismus sein. Sie will das Wirkliche sehen lassen, wie es ist, und analysieren. Sie will die Anatomie und Physiologie eines gegebenen Teils der Wirklichkeit sein. Was heute um uns menschlich, gesellschaftlich lebt, atmet und pulsiert, was jeder an seinem eigenen Leben und an seiner eigenen Seele erfährt, das will sie, solange es dem Messer der Wissenschaft noch nicht verfallen ist, unter ihr eigenes Seziermesser nehmen. Sie bevorzugt daher vor der Handlung die psychologische Tiefe. Sie will erkennen. Wie nun aber die herrschenden Ideen in Paris, als dem Zentralpunkt dieser Bewegung, gleichmäßig bei einem Balzac, Taine und Zola sind: will die stärkste literarische Richtung vor allem das Physiologische, ja das Bestialische deutlich in der Menschennatur sehen lassen: die unwiderstehlichen Instinkte, denen der Intellekt nur ihren Weg erleuchtet.
Dieselben Kräfte der Gegenwart machen sich in dem künstlerischen Charakter der neuen Dichter, Maler und Musiker geltend. Auch diese Eigenschaften der neuen Kunst und Literatur treten seit den dreißiger Jahren stärker hervor. Ich versuche, sie in einem dritten Satze auszudrücken. Der Grundzug der neuen Kunst ist das von unten nach oben, die festere, massivere Basierung jeder Kunst auf die Wirklichkeit und auf die Natur des besonderen Mittels, in welchem sie [244] arbeitet. Balzac wollte methodisch in einem zusammenhängenden Zyklus von Romanen die Physiologie der damaligen französischen Gesellschaft geben: der Zusammenhang der menschlichen Leidenschaften mit dem sozialen Boden, auf dem sie wachsen, und die pathologische Bedingtheit der Personen, in denen diese Leidenschaften entstehen, beschäftigen ihn vornehmlich. Ihm folgte das französische Sittenschauspiel. Richard Wagner ging auf den elementaren Grund der Musik zurück; so war sie ihm Ausdruck des Gefühls zusammen mit der Sprache und neben der Mimik; er wollte diesen Ausdruck, den sie in Rhythmus und Tonfall mit der Rede gemeinsam hat, zu idealer Darstellung in der Melodie bringen. Daher entsprang ihm aus seiner Auffassung der Musik die innige Verbindung derselben mit der Dichtung und der Mimik im Gesamtkunstwerk der Oper, zugleich aber ein mächtigerer Wuchs, eine potenzierte Wirkungskraft des Musikalischen. Semper, Richard Wagners Genosse während der Dresdner Kunstblüte und dann auch in den blutigen Maitagen von 1849, hat die Architektur, wie Wagner die Musik, sowohl durch theoretische Betrachtung als durch Schaffen aus ihren lebendigen Triebkräften von unten nach oben erneuern wollen. Folgerichtiger und tiefer als irgend jemand vor ihm erkannte und benützte er ihre Bedingtheit durch das Material, den Ursprung ihrer Formensprache im Kunsthandwerk, in der textilen Arbeit, der Töpferarbeit, Metallarbeit, Zimmerei und ältesten Steinkonstruktion. Und auch ihm erwuchs so ein Gesamtkunstwerk, in welchem die architektonischen Massen gleichsam belebt werden durch Ornament, Farbe und ein Volk von Gestalten, gemalten und plastisch gebildeten. Sah er in der Renaissance die wahre Fortgestaltung der römischen Architektur und die Grundlage der heutigen, so hat doch ihm die Renaissancekunst „kaum die Hälfte ihrer Entwicklungsbahn erreicht, auf der sie durch die Ungunst des modernen Zeitgeistes von ihrer makrokosmischen Schwesterkunst, der Musik, überholt und in trostloser Entfernung zurückgelassen wurde“.1 So hat Semper aus den wenigen uns erhaltenen Gesamtkunstwerken der gotischen, romanischen und Renaissancezeit die echte Aufgabe der im Räumlichen und Sichtbaren wirkenden Künste und ein volleres Ideal ihrer Leistung abgeleitet. Ist doch, was von solchen Gesamtkunstwerken noch existiert, teils unvollkommen, teils später wieder auseinandergerissen, entfärbt und durch den Geschmack verändert, welcher das Kunstwerk isolierte, um es zu steigern. Semper aber begriff, daß von dieser in Gliederung und Belebung eines Raumes einheitlichen Kunst der Stil zumeist ausgegangen ist und auch heute ausgehen muß.
[245] Mitten in der Bewegung, welche damals begann, stehen wir heute. Die Prinzipien des neuen Stils erweisen ihre Kraft darin, daß auch entgegenstehende Richtungen widerwillig von ihnen bedingt werden. So hat selbst ein Klassiker wie Gottfried Keller in seinen Leuten von Seldwyla den gesellschaftlichen Boden, auf welchem seine Gestalten, deren Leidenschaften und Schicksale erwachsen, in massivem Realismus sichtbar gemacht. Unsere Zeit kennt die zeit- und raumlosen Ideale, Iphigenie, Wilhelm, Lothario nicht mehr. Die Malerei ist zurückgegangen auf die Farbe als das Mittel, in welchem ihre elementare Wirkungskraft gelegen ist. Sie sucht alle überlieferten Schemata des Schauens und Bildens abzutun und wie mit frischen Augen die Welt zu erblicken. Überall wird die natürliche Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit, die überlieferte saubere und gebundene Abgrenzung der Formen dem Bedürfnis nach der unverstümmelten Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit der Sachen geopfert. Dies Wirklichkeitsehen, Sehenwollen wenigstens, dies Streben, ihr all unser Denken, Bilden und Handeln mit reinem Sinne unterzuordnen und ihrem Gesetze die Wünsche und Ideale des Herzens anheimzugeben: das ist in unserem Zeitalter das Größte. Auch Donatello, Verrocchio, Masaccio, die älteren niederländischen und oberdeutschen Künstler, die Schöpfer des altenglischen Theaters, voran Marlowe, wollten mit neuen Augen das Wirkliche gewahren. Von diesem Impuls aus haben sie einen neuen großen Stil der europäischen Kunst geschaffen. Dessen Weltzeit ist nun erst abgelaufen. In einer ähnlichen Krisis leben wir heute. Aber jeder neuen Epoche menschlicher Kunst werden die Aufgaben schwieriger. Die individuellen Kräfte, ihr in ihrem Charakter gelegenes Schicksal, die Kontraste und Beziehungen unter ihnen, ihr Verhältnis zu einem höheren Zusammenhang: das war der Gesichtswinkel, unter dem ein Künstler des 15. und 16. Jahrhunderts die menschliche Wirklichkeit faßte. Heute möchte die Kunst die realen Bezüge, in denen die Menschen untereinander und mit der Natur stehen, die Wirklichkeitsordnung, deren Gesetzen wir Untertan sind, im Kunstwerk erblicken lassen. Das gärt in der Verwendung des biologischen Gesetzes der Vererbung, die sich schon bei der Sand findet, in der Bevorzugung der anormalen Seelenzustände und des Seelisch-Komplexen, die bei Balzac und Musset beobachtet werden kann, zumal aber in der Ableitung der Charaktere und Leidenschaften aus den sozialen Bedingungen. Eine ungeheure Aufgabe!
[…] [248] DAS NATÜRLICHE SYSTEM ÄSTHETISCHER GESETZE UND DIE ÄSTHETISCHEN METHODEN DES 17. JAHRHUNDERTS
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vollzog sich eine große Veränderung in der Kunst und in der Ästhetik. In dem politischen Leben der emporwachsenden absoluten Staaten, Frankreich voran, gelangte das Gleichmäßige, Verstandesmäßige, die Maschine der Finanz- und Verwaltungskunst zum Siege. In den höfischen Sitten erhielt auch über glühende Leidenschaften regelmäßige gehaltene Form das Übergewicht, und die Herrschaft des Intellektes formierte das äußere Benehmen der vornehmen Persönlichkeit. So sah die Kunst andere Typen von Menschen vor sich, andere Ideale. Zur selben Zeit und nicht ohne Zusammenhang hiermit begann die mathematische Abstraktion und Deduktion ihren Siegeslauf und begründete die herrschende europäische Naturwissenschaft. So entstand neben dem Naturrecht und der natürlichen Theologie, wie sie im Deismus kulminierte, auch das natürliche System der Ästhetik. Frankreich war seine Heimat. Es entstand dort damals, als die Poetik Ronsards der von Boileau und d'Aubignac Platz machte. Heinrich von Stein hat gezeigt, wie im Zusammenhang mit Descartes und der Entwicklung seines philosophischen Rationalismus, zumal in Port-Royal, die neue Ästhetik sich ausbreitete und Einfluß gewann. Stein hat aber die nächste Aufgabe noch nicht wirklich gelöst. Es wäre nachzuweisen, wie diese rationale Ästhetik, nach verschiedenen Vorgängern, unter denen Kepler am weitesten kam, doch erst in Leibniz und seiner Schule den Höhepunkt fruchtbarer Forschung erreicht hat. Ihr herrschender Einfluß geht dann bis auf Baumgarten, Meier, Euler, Sulzer, Mendelssohn und Lessing hinab.
Die Hilfsmittel dieser theoretisch solidesten Zeit der rationalen Ästhetik liegen bei Leibniz in einer tiefen Intuition über das Verhältnis der Hauptklassen des seelischen Lebens zueinander und in einer genialen Hypothese über die Kausalverhältnisse des geistigen Geschehens.
Die Intuition ist ihm mit anderen Philosophen des 17. Jahrhunderts gemeinsam. Spinoza sagt: „Wille und Intellekt sind dasselbe“ (voluntas et intellectus unum et idem sunt). Leibniz leitet hieraus eine genauer gefaßte Beziehung von Kraft, Trieb und Vorstellen ab. Die Vorstellungen sind innere Handlungen in der monadischen Einheit der Seele, sie entspringen daraus, daß die Seele Kraft ist, und die in dieser Kraft enthaltenen Strebungen (conatus), aus einem Zustande in einen anderen überzugehen, sind nun Appetitionen, sonach Willensvorgänge (Erd. 464, 714). Man möchte sagen, daß hier Leibniz das [249] Seelenleben nach seinem schöpferischen und spontanen Charakter, welchem auch die Kunst angehört, richtig ausgedrückt habe. Nur daß die Tragweite dieser tiefen psychologischen Einsicht gemindert wurde durch deren Verbindung mit dem metaphysischen Feenmärchen von den Monaden. Diesem entsprechend wird nämlich die ganze Repräsentation des Universums im Vorstellen von ihm nicht aus realen Wechselwirkungen zwischen der Seeleneinheit und den Objekten, sondern nur aus dem idealen Zusammenhang des Weltganzen und der in diesem gesetzten Einschränkung der Seeleneinheit abgeleitet. Hierdurch ist für die Erklärung des Auftretens von ästhetischen Bildern die Kausalbetrachtung ausgeschlossen. Und als nun in der nachfolgenden Ästhetik Köpfe geringeren Ranges ihn berichtigten, ging von der genialen Energie, mit welcher Leibniz die Harmonie des Universums ausgesprochen und so den ästhetischen Gesichtspunkt zur Geltung gebracht hatte, viel verloren.
Das zweite Hilfsmittel von Leibniz war die Lehre von den kleinen oder dunklen Vorstellungen. Cicero hatte aus philosophischen Arbeiten der Zeit, vorwiegend aus stoischen Schriften, diese Lehre übernommen, deren er für die Begründung von angeborenen Ideen bedurfte. Schriftsteller des 17. Jahrhunderts hatten dann von dieser Lehre für die Auflösung anderer Probleme Gebrauch gemacht: so Montaigne, um den Grund unserer Entscheidung zwischen Motiven gleicher Stärke angeben zu können. Leibniz ergänzte nun Lockes Analysis der Intelligenz in ihre Bestandteile, nämlich Empfindungen und zurückbleibende Vorstellungen, durch diese Hypothese, wobei Lockes geniale Erklärung der Wahrnehmung aus der Mitwirkung unmerklicher, beinahe unbewußter Urteile (II 9) ihm vorarbeitete. Nun wurde zuerst eine wirkliche Erklärung der wichtigsten psychischen Erscheinungen möglich. Und so konnte jetzt auch eine rationale Ästhetik vermittels der Verbindung jener Intuition von Leibniz mit dieser Hypothese desselben geschaffen werden.
Descartes hatte schon in seiner Schrift über die Musik (1618 vollendet) das Prinzip einer solchen rationalen Ästhetik angegeben. Dieses ermöglichte, von den Regeln der Poetik auf die mehr elementaren ästhetischen Verhältnisse zurückzugehen. Das mit der sinnlichen Wahrnehmung verbundene Gefallen entsteht nach diesem Prinzip aus der Leichtigkeit von Unterscheidung und Verbindung der Eindrücke, und sonach ist der Grund unseres ästhetischen Gefallens an sinnlichen Eindrücken das Rationale oder Logische (Descartes V, 446).
Dies Prinzip empfängt durch Leibniz psychologische Faßbarkeit, Er stimmt mit den französischen Klassizisten zunächst darin überein, daß der logische Charakter der poetischen Form, zumal Einheit im [250] Mannigfaltigen, der Grund des ästhetischen Gefallens an ihr sei. Und er führt in der Hauptstelle über die kleinen oder unmerklichen oder dunklen Vorstellungen (E. 197 b) den Geschmack auf dies Rationale zurück. Vermittels seiner Hypothese leitet er dann auch das sinnliche Gefallen aus einer verborgenen Verstandesmäßigkeit in der Sinneswahrnehmung ab. Er gibt die tiefste Begründung seiner Ästhetik in der kleinen Schrift „Über die Glückseligkeit“, an die ich mich nun anschließe (E. 671-673). Kraft, Vollkommenheit, Ordnung und Schönheit sind „aneinander verbunden“. „Je größer die Kraft, je höher und freier ist das Wesen.“ „Alle Erhöhung des Wesens nenne ich Vollkommenheit.“ „Je größer die Kraft ist, desto mehr zeigt sich dabei Viel aus Einem und in Einem, indem Eines Viele außer sich regieret und in sich vorbildet.“ Drücken wir uns zunächst freier in unserer Art aus. Die Betätigung der einheitlichen seelischen Kraft ist überall eine Vereinigung des Vielen in Einem, und die seelische Kraft genießt den Grad ihrer eigenen Vollkommenheit, wenn sie das Mannigfache so ihrer Einheit unterwirft. Wir fahren nun in den Ausdrücken von Leibniz fort. Der Grad dieser „Einigkeit“ manifestiert sich als „Übereinstimmung“, „Ordnung“. „Von der Ordnung kommt alle Schönheit her, und die Schönheit erweckt Liebe.“ Interpretieren wir abermals. Die Freude an der Schönheit ist also die Bewußtseinsfolge der verstärkten Betätigung psychischer Kraft nach dem ihr einwohnenden Gesetz, Einheit im Vielen zu erwirken. So kommt es, daß „die Schönheit eines anderen Menschen, auch wohl eines Tieres, ja gar eines leblosen Geschöpfes, Gemäldes oder Kunstwerkes“, indem sich „ihr Bild in uns eindrückt“, erhöhtes vollkommenes Dasein und entsprechende Freude in uns „pflanzt und erweckt“. Dann „empfindet unser Gemüt“ eine Vollkommenheit, die der Verstand noch nicht begreift und die trotzdem ganz verstandesmäßig ist.
[…] [253] WERT DER RATIONALEN ÄSTHETIK
Die rationale Ästhetik begreift das Schöne als die Erscheinung des Logischen im Sinnlichen und die Kunst als eine sinnliche Vergegenwärtigung des harmonischen Weltzusammenhanges. Diesen gewahrt das sinnliche Schauen des Künstlers dunkel und gefühlslebendig. Und da dieser Zusammenhang ein einziger ist, müssen die in ihm obwaltenden sinnlichen Verhältnisse schließlich in einem Prinzip ausdrückbar sein. Diesen Zusammenhang sprechen dann das Naturschöne und das Kunstschöne jedes in seiner Sprache aus. So steht auch die freieste Äußerung der Einbildungskraft unter Regeln. Solche Regeln bilden die Harmonik und Metrik; sie wirken in der Führung der Linien, dem Aufbau der Figuren und in dem Ornament des Architekten und bildenden Künstlers; der Geschmack des Dichters läßt sich als ein Inbegriff solcher Regeln entwickeln. Die Einheit der Handlung und die aus ihr folgenden Bestimmungen regieren das Drama. Und alle diese Regeln sind schließlich in der rationalen Ordnung des Universums begründet.
Diese rationale Ästhetik spricht zunächst eine wertvolle Stimmung der Zeit aus. Ihre Geschichte zeigt uns in einem ersten großen Beispiel, wie es die aus der Verfassung der Gesellschaft stammende Haltung des ganzen Menschen einer Zeit ist, was zugleich in der Kunst, dem Geschmack und der ästhetischen Theorie dieser Zeit regiert. So entstehen die ästhetischen Theorien neben den Kunstrichtungen und beeinflussen sie, wie sie von ihnen ihrerseits beeinflußt werden.
Aber diese rationale Ästhetik hat zugleich einen wertvollen Kern, dessen Gültigkeit von der Zeit des Klassizismus unabhängig fortbesteht. Das Problem wird nur sein, ihn auszuschälen und von den Irrtümern zu sondern. Es gibt Regeln der Künste, die allgemeingültig aus der Natur der Sache fließen, und es wird nur gelten, sie von dem historisch Variabeln im Geschmack zu sondern. Es bedarf dabei [254] aber der schwierigen Umbildung der ästhetischen Metaphysik von Leibniz in eine psychologische Ästhetik. Ein Teil des Grundes, aus welchem Wahrnehmungsbilder und Kunstwerke uns gefallen, ist wirklich darin gelegen, daß die Handlung, durch welche wir das Mannigfache in ihnen vereinigen (die man denn eine Denkhandlung nennen mag), in der Totalität unseres Seelenlebens die ästhetische Wirkung hervorbringt. Zwar hat keiner der rationalen Ästhetiker den Satz und das in ihm liegende Problem in dieser Allgemeinheit formuliert. Aber Leibniz, der Tiefgründigste von ihnen, besaß, wie wir sahen, in seinem System die Voraussetzung für eine solche Fassung des Problems. Und die Einzelarbeiten der von der rationalen Schule bedingten Ästhetiker enthielten schon Belege für den angegebenen Satz. Ebenso enthält die Leibnizsche Lehre von der Harmonie des Universums in sich den weiteren Satz, daß ein metaphysischer Zusammenhang zwischen dem ästhetischen Vermögen und seinen äußeren Objekten besteht, und Kant hat denselben in gewissen Grenzen entwickelt. Das Verhältnis der das Mannigfache vereinigenden Handlungen unserer Intelligenz zu einer einheitlichen und gedankenmäßigen Ordnung des Wirklichen, zumal des Sinnlich-Wirklichen, wird stets die Bedingung oder, wenn man lieber will, das Postulat ausmachen, vermittels dessen allein wir die ästhetische Auffassung der Welt uns faßbar machen können. Aber freilich weist diese Bedingung der ästhetischen Anschauung in ein Unergründliches, in einen Urquell der Harmonie, der unserem Denken unnahbar ist.
DIE ANALYSIS DES ÄSTHETISCHEN EINDRUCKS UND DIE ÄSTHETISCHEN METHODEN DES 18. JAHRHUNDERTS
Im Verlaufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ändern sich die Bedingungen, unter denen die Künste und das ästhetische Nachdenken standen. Ging die Ästhetik der Renaissance von Italien nach Frankreich hinüber, war dann das natürliche ästhetische System in Frankreich gegründet und in Deutschland nachher vollendet worden, so übernimmt nunmehr England zunächst die Führung. Auch diesmal ist eine Umgestaltung der sozialen Ordnung, 1688 in der englischen Revolution vollzogen, die Grundlage einer veränderten Stimmung der Menschen, und diese Stimmung wirkt dann gleichzeitig auf die Künste und das ästhetische Denken. – Hier im Lande der Industrie, des Handels und der politischen Freiheit übten allmählich der in der Form gehaltene und innerlich von fürstlichen und feudalen Impulsen bewegte Selbstherrscher, Prinz oder Höfling nicht mehr die magische Gewalt über Willen und Einbildungskraft der Menschen; der unabhängige gebildete Mann begann sich zu fühlen; schon Lockes Er[255]ziehungsplan zweckte darauf ab, diesen gebildeten Mann hervorzubringen. Die Poesie formte nun auch Ideale und Typen der gebildeten bürgerlichen Gesellschaft neben denen der vornehmen Klassen. In der niederländischen Republik, dem Geburtslande der europäischen Freiheit, hatte die Malerei des 17. Jahrhunderts in Rembrandt den Menschen in seiner Lebensenergie unbekümmert um den idealisierenden Glanz der Linien oder die Haltung und die Formen des Standes hingestellt. Die holländischen Genremaler hatten die schlichte menschliche Zuständlichkeit gewähren lassen. Nun bemächtigte sich in England, nicht ohne Mitwirkung des politischen Zusammenhanges des Landes mit den Niederlanden, der neue Geist auch der Poesie, welche die klarste und wirksamste Äußerung der ästhetischen Verfassung einer Zeit ist und mit der literarischen Kritik und ästhetischen Theorie im nächsten Zusammenhange steht. – Die neue englische Gesellschaft bedurfte einer Kunst, welche zur freien Bildung erzieht und das moralische Verhalten vorbereitet. Addison spricht einmal bei dem Blick auf London ergreifend aus, wie von all denen, die sich auf den Straßen drängen, die meisten nur eine Scheinexistenz haben: er möchte sie zu wirklichen Leuten machen, und das ist nun das Neue, daß er es nicht durch Religion, sondern durch ästhetische und moralische Kultur tun will. Diese beiden Arten von Kultur sind der neuen Denkart unzertrennlich. – Noch eine bemerkenswerte Umwandlung vollzog sich. Neben der Poesie hatten bildende Kunst und Architektur von der Renaissancezeit an die Vorherrschaft behauptet. Die formvoll schöne Gestaltung der Persönlichkeit dieser aristokratischen Jahrhunderte, des 16. und 17., redet von den Wänden der heutigen Museen und Schlösser in der Fülle der Bildnisse, in der Verherrlichung stattlichen Lebensglanzes. Die königliche Gewalt spricht sich prächtig und selbstbewußt in den architektonischen Massen, in der mächtigen Gliederung der Schlösser, in der fließenden Linienführung ihrer Ornamente und in der formgeregelten, beherrschten Naturfülle ihrer Gärten aus. Nun gewann die Kunst der Innerlichkeit, die im stillen Gemach, am Spinett jedem offen stand, neben der Poesie die Herrschaft und hat sie bis auf unsere Tage behauptet. – Und gleichzeitig erlangte formloses, stimmungstiefes Naturgefühl im ästhetischen Haushalt dieser neuen Zeit die breiteste Bedeutung. Mit der wissenschaftlichen und philosophischen Auffassung der Selbständigkeit der Natur hatte die Loslösung der Landschaft vom Figurenbilde sich vollzogen, und im Zeitalter des Spinoza, Leibniz und Shaftesbury haben Claude Lorrain, Ruysdael und Hobbema das selbständige landschaftliche Kunstwerk geschaffen. Dies Naturgefühl ward intimer, und es vertiefte sich mehr in das Detail unter dem Einfluß der Naturbeobach[256]tung eines Buffon und Linné. So finden wir es nun in der Poesie des 18. Jahrhunderts vor. Der erste große Dichter des Naturgefühls, Rousseau, war ein leidenschaftlicher Botaniker.
Diese Veränderungen des Geschmackes während des 18. Jahrhunderts sind nun aber von der lebhaftesten ästhetischen Diskussion begleitet. Die Kunstkritik erweist sich zuerst in den periodischen Schriften der Engländer, dann in den handschriftlich umlaufenden Diderotschen Gemäldeausstellungsberichten und weiter in Lessings Dramaturgie als leitende Macht. Viel von der ungeheuren Papiermasse der Zeitschriften des 18. Jahrhunderts ist mit ästhetischem Räsonnement und mit Kunstkritik angefüllt. Der bürgerliche Roman, das Sittenschauspiel, die Oper Glucks und das Drama Lessings und Schillers entstanden unter lebhaftester ästhetischer Reflexion und unter kunstkritischen Debatten.
Die Historiker der Ästhetik haben diese lebendigen Beziehungen zu wenig an der Fülle der ästhetischen Literatur sichtbar zu machen verstanden. Insbesondere stehen die verdienstlichen Arbeiten von Zimmermann, Lotze und Hartmann unter dem Bann des unfruchtbaren Streites über den Formalismus Herbarts. Dieser Formalismus aber war in dem, was er zu der damals vorhandenen Zergliederung des Schönen in wirkungskräftige Elemente und der den technischen Autoren geläufigen Erkenntnis des ästhetischen Wertes der Formen hinzugefügt hat, eine müßige Gelehrtenspekulation, ohne allen Einfluß auf die Kunst. Sie war auch wissenschaftlich zwar durch ihre Einseitigkeit anregend, aber erwies sich doch nach vorübergehendem Kathederlärm als bloße Episode. Noch stärker macht sich ein anderer Fehler bei diesen Historikern geltend. Sie überschätzen den Wert der ästhetischen Spekulationen. Sie berücksichtigen nur in zweiter Linie oder gelegentlich die Schriftsteller, welche das sinnliche Material und die Formensprache der einzelnen Künste analysiert und hieraus deren Entwicklungsgesetze zu erkennen begonnen haben. Das Schicksal Sempers in diesen geschichtlichen Werken ist bezeichnend für die Einseitigkeit dieser Historiker der ästhetischen Wissenschaft, da dieselbe doch in unserem Jahrhundert niemandem mehr als Semper verdankt. So bleibt auch heute noch nach so gründlichen und geistvollen Arbeiten die Aufgabe zurück, Entwicklung und Tragweite der beiden Methoden zu erkennen, welche von dem 18. und 19. Jahrhundert zu dem natürlichen ästhetischen System des 17. hinzugefügt worden sind und der Ästhetik ihre sicheren Ergebnisse geliefert haben.
Die erste dieser Methoden ist die Analysis des Eindrucks, welchen das ästhetische Objekt hervorruft, in die ihn bedingenden wirkungskräftigen Bestandteile.
[…] [259] […] Es gibt eine ästhetische Wissenschaft, welche Richterin auf dem Gebiete des Geschmackes ist. Ihre Grundsätze folgen aus der Analyse des fühlenden Teiles unserer Natur. So treten sie neben die moralischen Grundsätze: ihnen verwandt und dennoch selbständig. Der Eindruck des ästhetischen Objektes enthält eine Mannigfaltigkeit von Gefühlen, welche an die Eigenschaften und Verhältnisse in diesem Objekte geknüpft sind. Die ästhetische Kritik ist also als allgemeingültig möglich, weil bestimmte ästhetische Eindrücke regelmäßig gemäß der Natur unserer Seele mit bestimmten Eigenschaften der ästhetischen Objekte verbunden sind. Hiervon liegt der Beweis in der durchgehenden Übereinstimmung des ästhetischen Urteils unter den Gebildeten. Diese festen Verbindungen durch psychologische Analyse entdecken, heißt die ästhetische Kritik als Wissenschaft begründen.
Eine solche regelmäßige Verbindung ist jedesmal ein festes Ele[260]ment, mit welchem die ästhetische Kritik rechnen kann. Und aus der Vereinigung dieser festen Elemente entsteht der Standard of taste, d. h. das Muster oder der Typus des Geschmacks. Derselbe entwickelt sich durch Erziehung, Nachdenken und Erfahrung in einer ausschlaggebenden Minorität. Seine letzte Bedingung ist aber eine Sympathie der Menschen untereinander und mit den Dingen. Jedes ästhetisch fühlende Subjekt ist in diesen Gefühlen von dem Gemeinsamen der Menschennatur beherrscht. Und die Seelenvorgänge oder körperlichen Bewegungen, welche auf dies Subjekt einwirken, bringen in ihm Bewegungen hervor, die stets der Ursache ähnlich sind. Eine gezwungene Stellung, eine schräg hängende Säule, eine träge oder rasche äußere Bewegung rufen ähnliche innere Veränderungen in uns hervor. Man bemerkt, wie in dieser ganzen Lehre von der Allgemeingültigkeit des Geschmacks die Ideen der stoisch philosophierenden Römer fortgebildet werden, von denen ja auch schon Homes Lehrer Shaftesbury sehr beeinflußt war.
[…] [262] […] Ich folge nicht Home in die Anwendung dieser Ergebnisse auf Poesie, Architektur und Gartenkunst, vielmehr fasse ich schließlich das gemeinsame Ergebnis der beiden großen Analytiker der ästhetischen Wirkungen, Home und Fechner, zusammen. Empfindungsinhalte als solche rufen Gefallen hervor. Im Maß und Wechsel der Beschäftigung und in den formalen Verhältnissen des Vorstellungsablaufs liegen überall wirksame Elemente von Unterhaltung, Langeweile oder Lust der Auffassung. Verbinden sich dann ästhetische Lustwerte zu einem Ganzen, so tritt zu diesen Elementen aus den Verhältnissen in ihren Verbindungen ein Prinzip der Steigerung. Einheit des Mannigfaltigen, Symmetrie, Proportion, Zusammensetzung aus Teilen von gleicher Struktur, und dann wieder Eindrucksreichtum und Kontrast sind Elemente ästhetischer Wirkung. Hierzu tritt aber nun das Verhältnis dieses Außen zu einem Innen, des Bildes zu dem hineinverlegten Leben, der äußeren Bewegung zu dem durch sie hervorgerufenen und ihr entsprechenden inneren Vorgang: alles, was Fechner als ästhetische Assoziation zusammenfaßt. So zeigt sich jeder ästhetische Eindruck als aus Elementen zusammengesetzt. In jedem zeigen sich verbindende geistige Vorgänge wirksam. Aus Einfachen bestehen alle ästhetischen Wirkungen.
[263] WÜRDIGUNG DER ANALYSIS DES ÄSTHETISCHEN EINDRUCKS
Ein langer Weg ist von Home bis zu Fechners „Vorschule der Ästhetik“, von welcher ich nicht spreche, da sie in aller Händen ist. Über ein Jahrhundert liegt zwischen beiden Werken. Insbesondere das Studium der Sinnesempfindungen und Sinneswahrnehmungen durch die Physiologen hat inzwischen eine viel festere Grundlage für die ästhetische Analysis geschaffen. Dennoch bemerkt man, daß gewisse Grenzen in der Methode selber gelegen sind, welche auch Fechner nicht zu durchbrechen vermocht hat.
Zunächst bewegt sich die auf die Analyse des Eindruckes gegründete Ästhetik in einem Zirkel, welchen sie für sich nicht ganz aufzulösen vermag. Indem sie die Faktoren des Schönen aufzufinden strebt, hat sie zum Kriterium derselben deren Wirkungskraft auf das Gefühl. Nun ist aber nicht jede Gefühlswirkung ästhetisch, vielmehr besteht hier eine Grenze zwischen den brutalen, durch den Bezug auf die Person wirkenden Gefühlseffekten und dem ästhetisch Ergreifenden. So muß die Analyse einen gewissen Begriff des ästhetisch Wirksamen schon voraussetzen. Langsam erwuchsen in der Ästhetik die Begriffsbestimmungen über das Schöne, welche dann Kant in überaus wirksamer Weise an die Spitze seiner Untersuchung gestellt hat. Sie scheiden sinnliche, brutale, materielle Gefühlswirkungen aus dem Gebiet des Schönen mit fester Hand aus. Aber weder ist von Kant der Beweis für diese Begriffsbestimmungen geliefert noch ist durch ihn die Grenze richtig gezogen. Hier liegt also zunächst für die ästhetische Analyse das fundamentale Problem. Sie hat durch irgendeine Methode eine Entscheidung über die Natur ästhetischer Wirkungen herbeizuführen. Ästhetik und Kunstkritik haben kein wichtigeres, ja heiligeres Amt, als Wache zu halten und die brutalen, durch die direkte Beziehung auf den Zuhörer wirksamen Gefühls- und Sinneseffekte als solche zu kennzeichnen und zu bekämpfen. Die isolierte Methode der Analysis von Gefühlseindrücken vermag aber nicht der Ästhetik und Kunstkritik den Rücken fest zu machen, damit sie diesen Wachtposten tapfer versehe.
Alsdann trifft die Ausführung der Methode auf eine eigentümliche Schwierigkeit in der Sache. Diese macht es fraglich, ob die Methode je für sich allein zu objektiv sicheren und allgemeingültigen Resultaten gelangen kann.
Ihr Gang ist nämlich durch folgenden Kunstgriff bestimmt. Ich kann den Gefühlseffekt eines ästhetisch wirksamen Tatbestandes nur als einen verhältnismäßig allgemeinen erkennen, indem ich an mir [264] und an anderen wiederholte Versuche anstelle und bei denselben nach den bekannten Regeln der Induktion mit den Bedingungen wechsele. So geht die Analyse in das Experiment über. Die Ästhetik wird eine experimentelle Wissenschaft. Und je mehr sie die Bedingungen variieren und die Wirkung an vielen Fällen und an sehr verschiedenen Personen prüfen kann, desto allgemeiner und sicherer können ihre Sätze formuliert werden. Da diese Methode ein Kausalverhältnis zwischen dem Gefallen und den Eigenschaften, welche die Wirkung des Gefallens hervorrufen, aufsucht, so kann sie auch als induktiv bezeichnet werden. Das gefundene Kausalverhältnis selber kann Gesetz genannt werden. Sofern es eine Regel ausdrückt, unter welcher Wirkungen stehen, kann es Prinzip heißen.
Diese Methode vermag nun für sich folgende Schwierigkeit nicht zu überwinden. Der ästhetische Eindruck irgendeiner Eigenschaft von Gegenständen kann nur an einem beschränkten Kreis von Personen und zu einer gegebenen Zeit der Prüfung unterworfen werden. Indem ich einen einzelnen wirkenden Bestandteil, eine Linie oder Figur, ein Zusammen oder Nacheinander von Tönen experimentell isoliere, entsteht nur eine Erfahrung über eine erworbene Gewöhnung. Zunächst mache ich sie an mir selbst. Auf mich, diesen gebildeten und historisch bedingten Menschen, wirkt etwas ästhetisch in einer bestimmten Art. In diesem Eindruck sind die Folgen langer denkender Sinneserfahrung enthalten. Sein ursprünglicher einfacher Charakter ist psychologischer Schein. Er steht zu den dunklen Vorstellungs-, Trieb- und Gefühlsmassen des erworbenen seelischen Zusammenhangs in Verhältnis; er ist dadurch orientiert, bedingt; daher ist auch, wo sich eine durchgreifende Gleichmäßigkeit der Gefühlswirkung irgendeines Tatbestandes im ganzen Umkreis der Experimente herausstellt, doch die wirkliche Ursache dieser Wirkung schwer festzustellen. Nun ergänze ich mein Verfahren; ich erprobe den ästhetischen Eindruck des Tatbestandes auch an anderen Personen. Aber auch so bleibt der Kreis der Experimente lokal und zeitlich eingeschränkt, und er muß es bleiben. Denn da in unserer Sinneserfahrung lange denkende Gewöhnung enthalten ist, kann diese in Generationen Geschmacksurteile hervorbringen, welche sich dann als einfach und unmittelbar darstellen. Das Formgefühl der Generation von Perikles ist ein gänzlich anderes als das der Barockzeit, und es kann sein, daß seine Gewöhnungen auch das Geschmacksurteil über einfache Linien bedingen. Ich weiß nicht, ob diese Schwierigkeit überhaupt jemals aufgelöst werden kann. Soweit es aber der Fall sein wird, kann es nur durch die Erweiterung des Gesichtskreises vermittels der geschichtlichen Betrachtungsweise geschehen. Denn die Analysis für sich besitzt kein Hilfsmittel, das [265] Historisch-Bedingte im Geschmack vom Allgemeingültigen zu sondern. So erweist sich die analytische, induktive, experimentelle Ästhetik auch an diesem Punkte als eingeschränkt und bedingt.
Überblickt man dann die Ergebnisse der Methode, so macht sich eine neue Schwierigkeit geltend. Die Analyse des ästhetischen Eindruckes gelangt zu einer unbestimmten Zahl regelmäßiger Beziehungen zwischen den eindruckskräftigen Tatsachen und den Eindrücken selber. Hiernach erscheint die Wirkung eines Kunstwerkes oder einer Landschaft als ein höchst Zusammengesetztes: und zwar zusammengesetzt aus sehr disparaten Eindrucksmomenten. Nun ist aber die Wirkung selber einheitlich. Das Kunstwerk ist nicht ein Haufen wirkungskräftiger Eigenschaften.
Auch bleibt die Frage offen, ob nicht hinter den einzelnen gesetzlichen Verhältnissen ein tieferer Zusammenhang sich verbirgt, welcher zumal in dem von der Analysis vorausgesetzten Verhältnis des auffassenden Vermögens zu den ästhetischen Eigenschaften des Wirklichen oder dem sogenannten Naturschönen gegründet wäre. Es kann dem Schönen ein solches umfassendes gesetzliches Verhältnis zugrunde liegen, das sich dann in den analytisch aufgefundenen Einzelverhältnissen zwischen Eigenschaften des ästhetischen Objektes und daran gebundenen Eindrücken äußert. Bestünde ein solches allgemeines Verhältnis, dann könnten auch die geschichtlichen Veränderungen des Geschmackes mit ihm schließlich in Zusammenhang stehen. So haben sich denn zu allen Zeiten spekulative Prinzipien für die Erklärung des Schönen gebildet. Formeln für eine verborgene und doch auf das Gefühl wirksame Rationalität der Wirklichkeit haben zunächst im 17. Jahrhundert als Metaphysik des Schönen regiert und auch im 18. noch vielfach Geltung gehabt. In der Zeit der Naturphilosophie Goethes ist man von der Einheit zwischen einem unbewußt und doch zweckmäßig wirkenden und organisierenden Trieb in der Natur und dem schaffenden Vermögen des Künstlers ausgegangen. Und einige der genialsten Ästhetiker, wie Goethe selber, Oersted und Semper, erprobten höchst glücklich am Einzelnen diesen Gedanken. Ihm ist ein anderer neuerdings viel benutzter verwandt. Die Schönheit, der künstlerische Eindruck und das künstlerische Schaffen bestehen überall in der Beziehung der in die Sinne fallenden Formen auf eine innere Bedeutung, die aus ihnen spricht.
Endlich kann durch die isolierte Analysis von Eindrücken das wichtigste, allgemein menschliche, Künstler und Publikum gleichmäßig bewegende Interesse an aller Kunstbetrachtung nicht befriedigt werden. Dies Interesse hängt nämlich an der Frage nach der Funktion der Kunst im geistigen Haushalt des Menschenlebens. Soweit [266] diese Frage einer strengeren Lösung ugänglich ist, muß man dieselbe von der Verbindung der Analysis der Eindrücke mit der geschichtlich-sozialen Betrachtung der Kunst erwarten. Auch hier ist ein Punkt, an welchem leicht ein Zirkel in den Bemühungen der Analytiker des Eindruckes sich geltend macht. Irgendeine innere Stellung zur Kunst, eine Idee von ihrer inneren Bedeutung wird die Arbeiten derselben leiten, auch wo sie kein Bewußtsein solcher Voraussetzungen haben.
DIE HISTORISCHE METHODE UND DIE ÄSTHETIK DES 19. JAHRHUNDERTS
Eine dritte Methode hat sich entwickelt, welche die beiden anderen zu ergänzen geeignet ist: die historische. Sie hat es in erster Linie mit den schöpferischen Köpfen und den wirkungsfähigen Kunstwerken zu tun. Verwertet sie die Psychologie zur Interpretation der Tatsachen: dann entwickelt sich aus ihr auch eine Analysis, nämlich die Zergliederung des schöpferischen ästhetischen Vermögens. Ich habe versucht, die Insuffizienz der experimentellen Methode aufzuzeigen. Nun möchte ich, in Fortsetzung meiner früheren Arbeiten über Literaturgeschichte und Poetik, noch ausführen, wie von der Mitverwertung dieser Analysis des schöpferischen ästhetischen Vermögens die Fortbildung der Ästhetik zu einer Erfahrungwissenschaft abhängt, welche die von der ästhetischen Spekulation aufgeworfenen Fragen allmählich auflösen und so den praktischen Bedürfnissen von Kunstkritik und genießendem Publikum entsprechen kann. Die Künstler haben nämlich irrtümlich die Ästhetik in Verdacht, dieselbe habe es vornehmlich auf sie und auf die Beeinflussung ihres Schaffens abgesehen. Dazu sind wir zu bescheiden und auch – zu wohl unterrichtet über die Reizbarkeit der Künstler. Aber das ästhetische Räsonnement schafft in der Kunstwissenschaft, in der gar nicht genug gewürdigten Kunstkritik und in den Debatten des Publikums das lebendige Milieu von Teilnahme, Wertschätzung der Kunst und Gefühl ihrer höheren Bedeutung, dessen der Künstler bedarf und von welchem das Fortschreiten der Kunst erheblich beeinflußt wird. Hat doch gerade unsere deutsche Ästhetik die Einsicht begründet und ausgebreitet, daß die Kunst eine höchste und unsterbliche Aufgabe in der Menschheit hat. Hat sie doch den brutalen oder sentimentalen Masseninstinkten gegenüber die echte große Kunst verteidigt und interpretiert.
[…] [268] […] Die deutsche Transzendentalphilosophie hat auf allen Gebieten das schaffende Vermögen der Menschennatur wieder zur Anerkennung gebracht. Hierin liegt der große Atem eigener innerer Erfahrung über den Menschen, der von Kant ausgeht und alles rings um ihn hob und belebte. Das Genie ist nach Kant ein eingeborenes, schöpferisches Vermögen, welches der Kunst die Regel gibt. Es macht nach Fichte den transzendentalen Gesichtspunkt zum gemeinen. Und Schelling hebt in ihm das Unbewußte heraus, von welchem die unergründliche Realität in seinen Schöpfungen herstammt. Hieran schließen sich die Bestimmungen von Solger, Schleiermacher, Hegel und Vischer. Freilich bleiben doch diese alle vor dem entscheidenden Punkte stehen: der psychologischen Analysis des Schaffens in einer bestimmten Kunst. – Das zweite Moment liegt in dem Verhältnis dieses schaffenden Vermögens zu den naturschönen Objekten, welche es nachahmt. Dieses Verhältnis schließt eines der tiefsten ästhetischen Probleme in sich. Eine prinzipielle Auflösung gab Schelling im Geiste des Platonismus durch die Lehre vom ästhetischen Charakter des Weltzusammenhanges. Aber alle Debatten der Hegelschen Schule über dies Verhältnis und die Stellung des Naturschönen im System führten nicht über die höchst problematische prinzipielle Auflösung hinaus in sichere und fruchtbare Einzelerkenntnisse. Diese können erst aus der psychologischen Analyse des Vorganges in den einzelnen Künsten hervorgehen. – Das dritte Moment lag in dem Verhältnis des Kunstwirkens zu den Bedingungen und Mitteln der Darstellung. Dies Verhältnis haben die Künstler, welche zugleich Ästhetiker waren, stets mit Vorliebe behandelt. Zumal an Lessings Untersuchung haben sich fruchtbare Arbeiten von Malern, Dichtern und Architekten angeschlossen. Und diese Einzelarbeiten haben nach der Verschiedenheit der Künste eine sehr große Mannigfaltigkeit künstlerischer Formen und Regeln ableiten können.
Nun aber tritt ein viertes Moment hinzu, welches diese Mannigfaltigkeit ins Grenzenlose vermehrt und die Aufgabe der Regelgebung unauflöslich zu machen scheint. Winckelmann hatte gesetzmäßige Stufen der griechischen Plastik unterschieden. Er hat hierbei eine Angabe [269] von Jos. Just. Scaliger über die Stufen der griechischen Poesie benutzt (Opusc. 1612, p. 323, vgl. des älteren Scaliger Poetik VI, I über die Epochen der römischen Poesie). Schlegel übertrug dann Winckelmanns Charakteristik der vier Epochen der bildenden Kunst wieder rückwärts auf die Geschichte der griechischen Poesie. So ward zuerst die griechische Kunst als ein gesetzmäßig sich entfaltender Organismus aufgefaßt. Indem nun aber das moderne Bewußtsein sich dem gegenübersetzte, erwuchsen hieraus jene Arbeiten, welche von Schiller und Friedrich Schlegel bis auf Hegel die Epochen der Kunst in der Menschheit als aufeinanderfolgende Stellungen des künstlerischen Bewußtseins zur Wirklichkeit tiefsinnig unterschieden und bestimmten. So ist man damals zuerst in den inneren Zusammenhang eingedrungen, durch welchen die Entwicklung der Künste in den umfassenderen Verlauf der Kultur und des geistigen Lebens gleichsam eingewebt ist.
Von den vier Momenten, welche die historische Methode an dem Kunstwerke so zu berücksichtigen lernte, war der geschichtliche Gehalt zuletzt erfaßt worden. Doch nach der deutschen Geistesart, und zumal nach der Richtung der spekulativen Epoche, überwog dieser Gesichtspunkt des geschichtlichen Gehaltes der Kunstwerke damals die übrigen ebenso berechtigten Momente der geschichtlichen Betrachtung. Hierdurch war der Fortgang der historischen Methode auf diesem Gebiete bedingt. Die geschichtsphilosophische Methode Hegels dominierte. Die Momente, welche in der Einzelkunst, in deren Verhältnis zu den Objekten und in ihren Bedingungen und Darstellungsmitteln gelegen sind, wurden vernachlässigt. Formensprache und sinnliche Mittel, Stil und Technik wurden zurückgeschoben. Und doch hätte in ihnen allein das Können des Künstlers erfaßt werden können.“ Selbst in so bedeutenden Leistungen wie denen von Gervinus und Schnaase treten diese Eigenheiten nachteilig hervor.
[…] [271] […] SCHAFFEN UND GENIESSEN
Ein paar Töne einer Melodie von Mozart unterscheiden sich für den Kenner von jeder anderen Musik. Das Bruchstück eines Marmors aus der besten griechischen Zeit kann von dem Archäologen geschichtlich lokalisiert werden. Die Linienführung von Raffael wird von dem Kenner mit der keines anderen Malers völlig verwechselt. Also hat die seelische Handlung, in welcher Sinneselemente verbunden werden, bei demselben großen Genie in jeder wiederkehrenden Verbindung denselben Grundzug. So ist in jedem Kunstwerke eine Art und Weise der einheitlichen Handlung, gleichsam eine innere Linienführung von der Gliederung der Massen bis zum kleinsten Ornament wirksam. Dies nennen wir den Stil desselben.
Der Stil eines Kunstwerks ruft nun einen Eindruck hervor, der nicht zureichend als Lust, Gefallen oder angenehmes Gefühle charakterisiert wird. Dem Seelenleben des Auffassenden wird vielmehr eine bestimmte Form von Handlung mitgeteilt. In dieser erweitert, steigert, dehnt sich die Seele gleichsam. Es vollzieht sich eine Kraftentwicklung, welche die Vitalität des Auffassenden, seine Lebendigkeit und deren Gefühl erhöht. Die Nachbildung der Handlung in einer großen Seele, die in einem Fresko des Michelangelo oder in einer Fuge von Bach verkörpert ist, ruft in mir eine entsprechende Kraft auf und erhöht so in einer ganz bestimmten, durch das Objekt fest gegebenen Art meine eigene Lebendigkeit. Das Gefühl ist hier also nur der Reflex der seelischen Kraftäußerung und Handlung, in welcher ich das Kunstwerk umspanne. Im Gefühl werde ich dieser inneren Handlung inne. Sonach sind die Vorgänge im ästhetischen Auffassen der Wirklichkeit, im Schaffen des Künstlers und im Genießen des Kunstwerkes einander nahe verwandt. Denn das Genießen des Kunstwerkes ist ebenfalls eine Handlung der Seele; nur [272] eine unangespannte, gelassene. Ihre Teile verlaufen unmerklich, aber die Erhöhung der freien Lebendigkeit, welche für den ästhetischen Genuß so charakteristisch ist, entspringt doch gerade aus der Form dieser Handlung. Man kann weitergehen. Die Erhöhung und Erweiterung meines Daseins im ästhetischen Schaffen oder Genießen ist der Freudigkeit verwandt, welche aus der Form der Willensbetätigung in dem tapferen und folgerichtigen Denken oder in dem mutigen und charaktervollen Handeln entspringt. Hier wie dort erhebt sich die Seele über die grobe Erfüllung der Triebe durch die Freude an der inneren Form ihres eigenen Tuns. Diese Freude ist unter allen Lustgefühlen allein unabhängig von dem Äußeren und kann die Seele dauernd, ja immer erfüllen. Die Geschichte der moralischen Kultur der Menschheit ist der fortschreitende Sieg dieser höchsten Lebendigkeit, welche an die äußere und innere Arbeit sowie an die durch sie bedingte Form unseres geistigen Daseins geknüpft ist und stetig, beständig, vom Äußeren unabhängig wirkt.
Will ich mit den Augen und gleichsam durch die Seele eines großen schöpferischen Menschen das Wirkliche erblicken, will ich das räumlich Große, das dynamisch oder moralisch Erhabene fassen: dann fordert dies eine verstärkte Kraftentwicklung; alle meine Sinnes-, Gemüts- und Geisteskräfte werden aufgerufen, belebt und gesteigert, ohne daß doch die Anforderung an sie meine Kraft überstiege, weil ich mich nur nachbildend verhalte. Indem ich einer dramatischen Handlung von Schiller folge, in welcher der große Atem eines mächtigen Willens wirkt, muß ich mich zu einem analogen Verhalten erhöhen und steigern. Zugleich gehen nun in diesen Vorgang der Aufnahme eines Kunstwerks die einzelnen Bestandteile ästhetischer Freude ein, welche die Analysis des ästhetischen Eindrucks von Burke und Home bis Fechner zergliedert hat. Sie schmelzen in den geschilderten umfassenden Vorgang der Aufnahme hinein. Sie erhöhen nicht nur die Freude durch eine Zufügung neuer Lustelemente: mehr noch wirken sie, indem sie alle Partien unseres Seelenlebens gleichmäßig und vollständig mit Befriedigung erfüllen und der Seele das Bewußtsein eines unergründlichen, weil aus vielen Quellen fließenden Reichtums mitteilen: wie ein Bergstrom anschwillt, zu dem aus unzähligen Rinnen Wasser herabfließen.
Daher ist die Bedeutung des Kunstwerks nicht in einem Aggregat von Lustgefühlen gelegen, sondern sein Genuß erfüllt uns darum völlig, weil es die Lebendigkeit des Gemütes steigert und zugleich doch kein in uns aufgeregtes Streben unausgefüllt läßt, vielmehr zugleich unsere Sinne befriedigt und unsere Seele erweitert.
[…] [275] […] FORMENSPRACHE UND KUNSTREGELN
Der allmächtige Drang, welcher das künstlerische Genie treibt, sein Inneres in Bildern zu versinnlichen, gibt zunächst allen wahren Kunstwerken ein gemeinsames Gepräge.
In der Art, wie uns die Außenwelt aufgeht, nämlich als Willenswiderstand für einen Willen, ist es begründet, daß wir ursprünglich und unwillkürlich, unaufhebbar dem Sinnlich-Äußeren ein Inneres unterlegen. Der Kern des ästhetischen Auffassens und Schaffens, die Beziehung von Gefühl und Bild, Bedeutung und Erscheinung, innen und außen, beruht hierauf. So entstehen dann die festen symbolischen Verhältnisse sinnlich äußerer Formen zu seelischem Gehalt. Zunächst ist es in dem Verhältnis unserer Seelenbewegungen zu unseren Reflexmechanismen begründet, daß die Seelenbewegungen sich in Miene, Gebärde und Tonverhältnissen entladen und wir dann rückwärts überall ein Inneres in diesem Äußeren lesen können. Insbesondere in die Musik hinein wirken die Schemata, welche in den Beziehungen von Stärke, Höhe, Geschwindigkeit und Rhythmus zu den Emotionen die Rede durchziehen. Diese Beziehungen können an dem mit seiner Stimme spielenden Kinde beobachtet werden. Denn die Stimmungen des Kindes sprechen sich in der Höhe und Stärke der Töne wie in dem Zeitmaß ihrer Abfolge aus. Nun lösen sich in der Musik solche Beziehungen gleichsam von ihrer Grundlage los. Eine andere Quelle solcher musikalischen Schemata ist dann in der Tanzbewegung; denn auch sie versinnlicht seelische Vorgänge. In allen diesen Fällen entstehen aus der Verknüpfung unserer Seelenbewegungen mit unseren Körperbewegungen feste Verbindungen eines Inneren mit einem Äußeren. Neben diese treten dann zweitens die Vorgänge des Auffassens, in denen wir die äußeren sinnlichen Eigenschaften des Objektes durch eine dem Willen analoge Kraft zusammengehalten denken. Hier entspringen der Ani[276]mismus der Naturvölker, das mythische Denken und die unvertilgbare Neigung der Poesie, die innere Lebendigkeit der Natur immer neu aus dem lebendigen Verhalten des ganzen Menschen wiederherzustellen. Dem Dichter ist und bleibt die Natur stets lebendig, weil und sofern er als ganzer Mensch zu ihr sich verhält. Aus diesem Mitwirken des Willens im ästhetischen Auffassen stammen viele einzelne Beziehungen innerer Zustände zu äußeren Vorgängen, vor allem der Eindruck des Erhabenen. So entstehen auch hier wieder mannigfache Schemata ästhetischen Auffassens.
So bildet sich der Grundstock einer Formensprache der einzelnen Künste. Hierbei sind die tiefen Beziehungen wichtig, die auf diesem Wege zwischen der Formensprache der bildenden Kunst, der Ornamentik und der Architektur, zwischen der Formensprache der Musik und der Poesie entstehen. Denn auf diesen Beziehungen beruht die Möglichkeit des architektonischen und des musikalisch-poetischen Gesamtkunstwerks. Das Reich dieser Formensprache erstreckt sich dann noch über die Künste hinaus. Sitte, Religion und Recht sind vermittels ihrer gerade in ihren Anfängen sinnlich eindrucksvoll und stehen dadurch mit den Künsten in Verbindung.
Von dieser Erörterung über das Genie des Künstlers aus kann nun das praktische Ergebnis erweitert werden, das wir aus der Betrachtung über Schaffen und Genießen ableiteten. Erkannten wir das Persönliche in den höchsten Wirkungen der Kunst, so ist doch eben in der Persönlichkeit des Genies ein Allgemeingültiges und Notwendiges, wodurch es mit seinem Publikum verbunden ist. Wir verstehen die Sprache der sinnlichen Erscheinungen durch es. Wir lesen durch es in den Gebärden und Handlungen der Menschen. Die innere Bedeutung alles Äußeren, schließlich der ganzen Erscheinungswelt wird den anderen Menschen durch es aufgeschlossen. Wir lernen sehen durch die Augen der großen Maler. Wir lernen durch Shakespeare verstehen, was auf der Bühne der Welt geschieht, und durch Goethe, was in der stillen Tiefe einer Menschenseele sich ereignet. Die Kunst deutet uns das Gleichnis des Vergänglichen. Daher ist nur der ein wirklicher Künstler, der uns in dieser Deutung weiterführt. Die Kopisten des Wirklichen lehren uns nichts, was nicht ein gescheiter Mensch und guter Beobachter auch ohne sie wüßte. Sie sind nicht besser als die Idealisten, die das längst in der Sprache der Kunst Gesagte wiederholen. Beiden gibt nur die Langeweile, welche nach vorübergehender Beschäftigung verlangt, Existenzrecht. Wir warten des ästhetischen Eindrucks, dessen Energie und Mächtigkeit der ungeheuren Erweiterung des menschlichen Gesichtskreises entspräche. Und nie hatte ein Künstler die Arme so frei als heute, sein Genie zu betätigen.
[277] Auf diesen Unterlagen entstehen nun die einzelnen Künste. Sie scheinen aus drei ganz verschiedenen Wurzeln zu entspringen. Die einen wollen das von der Natur Hervorgebrachte oder den menschlichen Zwecken Diensame verschönern oder bedeutsam gestalten. Dies beginnt mit kriegerischem oder weiblichem Schmuck, Tätowierung, Masken, Bekleidung der Wände, und die Gewöhnungen der Phantasie, die hier aus den Wirkungen der Gewebe, der Metall- oder Holzbekleidung entstehen, wirken nach Sempers Beobachtungen bis in die höchste Kunst, welche das Zweckmäßige verschönert: die Architektur. Hiervon ist eine andere Wurzel der Kunst ganz getrennt. Es ist ein unwiderstehlicher Trieb im Menschen nachzuahmen. „Die Zeichnungen und Schnitzereien der alten Höhlenbewohner Europas zeigen einen so hohen Grad von Vollendung, daß einige den Verdacht hegten, sie seien Fälschungen.“ Buschmänner und Australier bedecken die Wände ihrer Höhlen und Indianer die Wände von Felsen mit Zeichnungen. So ententstehen [sic] die nachahmenden Künste, Malerei, Skulptur, aber auch Epos und Drama. Eine dritte gesonderte Wurzel der Künste liegt in dem Drang, den Affekt im Ausdruck zu entladen und mitzuteilen. So entstehen Tanz, Lyrik und Musik. Hiernach entspringen die Künste aus geschiedenen tiefen und starken Motiven, die dann ihr besonderes Wachstum bedingen. Wenige und dürftige Gesetze haben sie miteinander gemein. Aus der Verschiedenheit ihrer Mittel, gleichsam aus den besonderen Bedingungen ihres Wachstums entspringen alsdann Kunstgesetze von stufenweise immer enger abgegrenzter Geltung.
Die allgemeinsten Eigenschaften des zusammenfassenden Bewußtseins, wie sie im räumlichen Gewahren und zeitlichen Verknüpfen wirksam sind, enthalten Formen und Regeln, an welche künstlerisches Schaffen und ästhetisches Genießen gleichmäßig gebunden sind. Das natürliche System der Ästhetik, d. h. die erste der von uns geschilderten Methoden hat diese Formen und Regeln entwickelt. Dieselben zeigen sich als mit dem ästhetischen Schaffen und Auffassen selber gegeben, weil sie bei dem Hinstellen und Gewahren von Bildern im Raum oder von Vorgängen in der Zeit aus der Anforderung einer ästhetischen Erfüllung des zusammenfassenden Bewußtseins entspringen. Hier hat die große Regel des natürlichen ästhetischen Systems ihren Platz: in der Einheit einer reichen Mannigfaltigkeit ist die erste Bedingung des ästhetischen Eindruckes gegeben. Die sinnliche Kraft und herrschergewaltige Energie künstlerischen Schaffens tut sich nur in der Verbindung eines Reichtums sinnlicher Eindrücke Genüge, und nur eine solche Einheit eines Mannigfaltigen, das gleichsam das ganze Feld unserer Rezeptivität erfüllt und deren ganzes Vermögen sättigt, vermag uns zu fesseln. Hierzu tritt eine zweite Regel, [278] welche eine so allgemeine Formulierung noch nicht gefunden hat, wohl aber in dem schon von Home aufgestellten Assoziationsprinzip enthalten ist. Die erste Regel bezog sich nur auf die sinnlichen Eindrücke und deren Einheit. Aber ein solches Sinnesganzes steht zugleich in Verhältnissen zu dem ganzen erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens. Daher dieser teils, ohne zu klarem Bewußtsein in seinen einzelnen Teilen erhoben zu werden, mitwirkt, teils reproduziert wird und so zu den Bildern ergänzend hinzutritt, jedenfalls aber den tiefen Hintergrund der Bilder ausmacht. Je reicher, normaler und tiefer nun dieser erworbene Zusammenhang des Seelenlebens ist, je vollständiger er zu den Bildern in Beziehung tritt und diese gleichsam erfüllt und sättigt: um so mehr gestaltet sich das künstlerische Gebilde zu einer Repräsentation der Wirklichkeit in deren wahren Bedeutung. In demselben Maße wird dann auch das aufnehmende Bewußtsein in seinen Tiefen erregt und befriedigt.
Nun tritt die besondere Natur von Bilden und Auffassen in räumlichen Verhältnissen oder im Zeitverlauf hinzu; so entsteht eine unbestimmte Zahl von weiteren Bedingungen, unter denen die Künste stehen, von weiteren Regeln, an welche Schaffen und Eindruck in ihnen gebunden sind. Solche Regeln hat Lessings Laokoon aus dem Unterschied der Mittel des Raumes und der Zeit abgeleitet. Dann differenzieren sich die Bestimmungen näher nach dem Verhältnis des Gegenstandes zu der Natur des Mittels, in welchem er sich darstellt. Unweigerliche Gesetze binden hier den Künstler, und zum größten Schaden der Kunst werden sie heute mißachtet. Das Behagen an der Regellosigkeit und Formlosigkeit ist immer nur das Zeichen, daß die Zeit eines Stils abgelaufen ist, noch aber ein neuer sich nicht gebildet hat. Dann werden mit den Regeln einer geschichtlich bedingten Technik die ewigen Kunstgesetze verworfen.
Ein Gesetz der Malerei, das den Vorzug hat, leicht erprobt werden zu können, ist zunächst, daß äußere Wirklichkeit durch eine Einrahmung in eine ideale Ferne gerückt wird. Der Fuß, mit welchem ich den Boden trete, die Hand, mit der ich Gestein betaste, werden durch diese Einrahmung von einer Landschaft getrennt. Diese ist dann nur für den Gesichtssinn da. Ihre Wirklichkeit wird so gemindert. Wir gehen nun ein Stück weiter. Das Freskobild, welches in einen architektonisch gegliederten Raum hinein konstruiert wird, muß auch bei der größten Lebendigkeit eine gewisse architektonische Gliederung der Massen festhalten und sich in seiner Stimmung und Haltung an den gegebenen architektonischen Raum anschließen. Die Einordnung desselben in die Gliederung der Raumverhältnisse, ja gleichsam in die Äternität des Architektonischen fordert rhythmischen Fluß der Li[279]nien und Konzentration der Gestalten wie der Handlungen auf das Bleibende. Selbst aus den landschaftlichen Hintergründen muß die bloße Stimmung, welche das heutige isolierte Landschaftsbild beherrscht, fernbleiben. Die unerschütterlichen Formen und großen Bildungsgesetze der Natur, zu denen wir in festen Verhältnissen leben, müssen herausgehoben werden. Hier hat dann auch die Verteilung der Farben in einem architektonischen Ganzen und die farbige Skulptur ihre Stelle, durch welche der architektonisch gegliederte Raum, die Fresken und die plastischen Werke in den Zusammenhang eines lebendigen Ganzen gebracht werden. In wie ganz anderer Freiheit vermag das Staffeleibild Wirklichkeit aller Art hinzustellen. Und doch muß sein Umfang und die eindringliche Macht farbiger, leibhaftig heraustretender Wirklichkeit in einem gesetzmäßigen Verhältnis zu seinem Gegenstande stehen. Wer ertrüge eine Karikatur in der Farbenpracht eines großen Gemäldes? Ja das, was in leibhafter Nähe unglaubhaft oder durch seine Häßlichkeit heftig abstoßend wirken müßte, haben die deutschen Künstler des 16. Jahrhunderts mit echtem Formgefühl am liebsten in die farblose Schattenwelt der Abstufungen von Hell und Dunkel verwiesen.
An dieser Stelle entscheidet sich auch der Streit über das Gesamtkunstwerk der Raumkunst. Ihm liegt das Prinzip der Verwandtschaft der Formensprache in Architektur, Ornament und Gerät, weiterhin in Plastik und Malerei zugrunde. Die Raumkunst stellt hier ein Gewaltiges und ganz Lebendiges hin, in welchem ein Geist sich in der Sprache verschiedener Künste ausdrückt, und in den Wänden, Säulen, Statuen und Bildern als in seinen Gliedern lebt: gleichsam ein Ens sui generis. Dieses Ideal schwebte Raffael und Michelangelo vor, wenn sie zu architektonischen Arbeiten sich hingezogen fanden. Es ist die leitende Idee gewesen, in welcher Schaffen und Schriftstellerei des großen Semper verknüpft waren. Daß dieser heute noch lebte, da solche Aufgaben da sind, aber kein Künstler seinesgleichen! Und dieses Ideal hat nach meiner Überzeugung die Kraft, ungeahnte Wirkungen und Entwicklungen der ganzen Raumkunst herbeizuführen. Aber die Erwägung der Kunstgesetze lehrt uns zugleich, wie in dem Gesamtkunstwerk die independente Wirkungskraft der Einzelkunst eingeschränkt werden muß. So muß neben ihm die selbständige Einzelkunst ihren Platz behalten. Die unabhängige Lebendigkeit des Gemäldes, das nur sich selbst will, behauptet sich. Ganz so wird zwar Wagners Gesamtkunstwerk, das auf den musikalischen Verhältnissen sich aufbaut, sich siegreich entwickeln, aber die independente Wirkungskraft der in ihm vereinten Einzelkünste neben sich walten lassen müssen.
Ein großer Teil des Mißbehagens, welches heute bei den künst[280]lerisch Gebildeten viele poetische Leistungen der naturalistischen Richtung von unbestreitbarem Verdienst hervorbringen, beruht auf der Nichtachtung gültiger Kunstgesetze. Der Drang, Wirklichkeit sehen zu lassen, möchte sich von den Fesseln befreien, welche rückständige Stilregeln ihm anlegen. Das Neue will sich aus eigener Kraft bewegen. Insbesondere im Drama, wie einst beim Auftreten von Marlowe, Lope, Goethe. Manche geschichtlich bedingte Regel wird man los werden. Um so entschiedener wird sich zeigen, wie an andere Regeln die theatralische Wirkung gebunden ist. Die Zeit, welche die Aufnahme eines Vorgangs in Anspruch nimmt, die Nähe, in welche derselbe durch direkte theatralische Repräsentation zu uns gestellt wird, müssen in festem und angemessenem Verhältnis zu dem Gegenstande in jeder Dichtung stehen. Bin ich während eines langen Abends gemeinsam mit vielen anderen der sinnfälligen, theatralischen Darstellung eines Gegenstandes preisgegeben, soll dieser Vorgang angemessen während dieser ganzen langen Zeit auf mich wirken und dann auch nach seinem Ablauf ein Gefühl entsprechender Ausfüllung in der Seele zurücklassen: dann müssen Behandlung und Gegenstand bestimmten Anforderungen entsprechen, welche die Ästhetik nicht ersinnt, sondern die aus der Natur der Sache fließen. Schon die Zerlegung des Dramas in Szenen, die Trennung des Vorganges durch Pausen fordert einen viel höheren Grad von Einheit, eine gediegenere Einfachheit, als die epische Erzählung braucht. Alsdann bedarf die Sinneskräftigkeit und Sinnfälligkeit theatralischer Bilder einer viel festeren Verkettung und stärkeren Steigerung, als in der Erzählung nötig ist; sonst treten Verwirrung und Ermüdung ein. Gerade manche bedeutende Stücke zeigen besonders deutlich, daß der sehr große Vorteil, in loseren Bildern die ganze Breite des Lebens zu schildern, doch den Verlust an Wirkungskraft nicht aufwiegt, der aus der Auflösung der Handlung in solche Bilder entspringt. Dagegen ist das Streben, für die üblichen reinen Abschlüsse im Schauspiel einen Ersatz zu suchen, jedenfalls beachtenswert; da der Tod allein ein solcher Abschluß ist, das Leben selber aber, wenn es weitergeht, immer höchst problematisch bleibt und die Kunst nicht mit einer Lüge endigen soll.
Betrachtet man dann den Gegenstand des Dramas, so kann diesen das Kleine, Niedrige und Häßliche nur insofern ausmachen, als es zu dem Wertvollen und Großen der Menschennatur in Beziehung gesetzt wird. Die Kunst strebt heute, ihr Stoffgebiet zu erweitern. Wir sahen, daß die Ästhetik ihr dies Streben nicht verschränken darf, indem sie einen Begriff der Schönheit als Maßstab zugrunde legt. So ist die Arbeit der spekulativen Ästhetik wertlos geworden, in einer Dialektik des Schönen auch dem Häßlichen seinen Ort anzuweisen. An [281] sich gibt es keine Grenze für das Gestalten des Künstlers. Nur aus dem Ziel der Kunst, den Genießenden dauernd zu erfüllen und sein Leben zu erhöhen, sowie aus dem Verhältnis dieses Ziels zu Stoff und Darstellungsmitteln fließen Kunstgesetze, die über dem größten künstlerischen Genie stehen; denn sie sind in der Natur der Sache gegründet.
Wo der Stoff so den ihm eingeborenen Kunstgesetzen entsprechend behandelt wird, entsteht ein Stil des Kunstwerks, eine innere Form desselben. Andererseits ein unendlicher und unergründlicher Gehalt, wie er aus dem Verhältnis des einzelnen Gegenstandes zum ganzen reichen Bewußtsein des Künstlers fließt. Im wahren Verstande genommen, hat die spekulative Ästhetik recht. Jedes echte Kunstwerk hat einen unendlichen Gehalt. Denn es orientiert seinen Gegenstand an das ganze Universum, welches im Geiste des Künstlers gegenwärtig ist. Es erteilt seinem Gegenstande innere Bedeutung, indem es die Beziehungen desselben zu diesem Universum sichtbar macht. Und dieses ganz naiv, unwillkürlich, nur durch die Art, wie der Künstler sieht und sehen lehrt.
DER NATURALISMUS
Ich versuche schließlich, durch die Verbindung der Methoden wie der Ergebnisse die Frage zu beantworten, in welchem Sinne innerhalb der nachahmenden Künste, insbesondere der Malerei und Poesie, von Nachbildung der Wirklichkeit die Rede sein könne.
Am Abhange eines Berges im Schwarzwalde lehnen Bauernhäuser, deren Dächer dem Vorüberfahrenden herüberwinken. Ihr Anblick ruft eine melancholisch süße Stimmung von heimlichstem Frieden hervor. Das Naturschöne, das sich hier so einfach darstellt, ist aus subjektiven Zuständen des Beschauers und objektiven Wirkungselementen vermittels vieler Denkprozesse oder ihnen äquivalenter Vorgänge zur Einheit zusammengewoben. Ich ergänze das äußere Bild durch all meine Vorstellungen über Innenzustände von stiller Gleichförmigkeit in Arbeit und Genuß, jahraus jahrein. So durchdringt und erfüllt nun gleichsam dieses Bild der Ernst der Monotonie, der auf solchem Leben lastet, der Seelenfrieden, mit dem es beglückt. Und mein eigener augenblicklicher Zustand entscheidet dann über die besondere Färbung des Bildes. In mir sind vielleicht gerade die Schutztriebe, die nach stiller Sicherheit streben, das Ruhebedürfnis überwiegend. Oder es regt sich leiser Tätigkeitsdrang, und die Wehmut über die Monotonie und Weltabgeschiedenheit dominiert dann. So ist der Sinneseindruck, auch wo er für sich zu wirken scheint, d. h. ohne bewußte Beziehungen auftritt, verwebt mit den dunklen Vorstellungs-, Trieb- und Gefühlsmas[282]sen im Hintergrunde meines Seelenlebens. So gut als die Sinneswahrnehmung ist der ästhetische Eindruck nicht nur zusammengesetzt, sondern durch unzählige intellektuelle Vorgänge bedingt und zur Einheit gebracht. Wie langsam hat sich der Zusammenhang, in welchem wir heute musikalisch oder architektonisch denken, aus Erfahrungen und intellektuellen Prozessen gebildet! Es gibt so gut eine Intellektualität des ästhetischen Gefühls als eine solche der Sinneswahrnehmung. Ich sondere ein Intervall ab, aber sein Eindruck beruht auf der Beziehung zum Tonsystem. Ich gebe eine Melodie an: unzählige Beziehungen treten auf, machen beim Fortschreiten anderen Platz, verbinden sich. Die Erhabenheit, welche wenigen leisen Tönen beiwohnen kann, liegt nicht in dem, was ich höre, sondern in dem Meer wogender Vorstellungsmassen, das den Hintergrund bildet.
Was ist hier gegebene Wirklichkeit?
Ich fasse ein Gesiebt auf und präge es meinem Gedächtnis ein. Ein Aggregat von Farben, räumlichen Abständen, in Länge, Breite und Tiefe. Nun ist aber die Einheit meines Bewußtseins in der Auffassung von diesem allen vermittels einer großen Zahl unmerklicher, rasch verlaufender Handlungen tätig. So werden Bildbestandteile vereinigt und durch ein hineintretendes seelisches Inneres ergänzt. Mein eigenes Seelenleben klingt mit. Der Zusammenhang wird von einem besonders eindruckskräftigen Punkte aus erworben, welchen ich den ästhetischen Eindruckspunkt nennen will. Jedes aufmerksam betrachtete Gesicht wird von einem solchen dominierenden Eindruck aus verstanden. Der Zusammenhang der Züge wird von ihm aus aufgebaut. Unter diesem Eindruck werden zumal bei wiederholter Erinnerung gleichgültige Züge ausgeschieden, sprechende betont und widerstrebende zurückgestellt. Immer entschiedener wird der übrigbleibende Zusammenhang vereinigt. Denn die aufmerksame, zur Lebendigkeit erhebende Erinnerung ist nicht tote Wiederkehr des Dagewesenen, sondern ein Inbegriff neuer Vorgänge, die denen der Wahrnehmung ähnlich sind. Und nun prüfe man sich selbst. Die Wahrnehmung uns bekannter Gesichter ist ein Hineinsehen des so geschaffenen Zusammenhanges in die Sinnesdata.
Das Genie des Porträtmalers besteht zunächst in der normalen und doch mächtigen Erfassung des dominierenden Punktes und in dem Aufbau des Bildzusammenhanges durch Ausscheidung, Betonung und Zurückstellen. So nähert sich das Porträt nicht dem Original, von dem bloß die photographische Platte etwas weiß, sondern dem Auffassungsbild, im Kopfe derer, welche das Original kennen und genau kennen. Und eben darin liegt nun sein Vorzug vor der Photographie. Das Porträt gibt das vertraute Auffassungsbild, in welchem die ganze [283] Kenntnis vom Original gleichsam aufgespeichert ist. Daher gibt es nun nicht einen Moment, sondern wie überall jedes echte Kunstwerk ein zur Dauer Erhobenes. Denn nur solches verträgt immer wiederholte Betrachtung und bleibt dabei unerschöpflich. Gelingt das Porträt gut, dann vermißt man nichts in ihm und wird durch nichts Fremdes gestört. Gelingt es im höchsten Grade, dann schließt das Porträt denen, die das Original seit lange kennen, doch das Gesicht tiefer auf. Und dies ist dann der höchste Triumph der Porträtkunst.
So zeigt sich im einfachen Fall des Porträts, daß die nachahmende Kunst nicht Abmalung der Wirklichkeit, sondern Anleitung zum tieferen Verständnis derselben vermittels des Durchgangs der Bilder durch einen genial auffassenden Kopf ist. Diese Wirklichkeit gibt es überhaupt innerhalb eines Bewußtseins nicht: sie ist eine contradictio in adjecto. Vielmehr verdankt die Menschheit dem Künstler etwas ganz anderes. Dies kann von der Gefühlsästhetik so wenig erfaßt werden als von der formalen oder spekulativen. Eben darum handelt es sich vielmehr bei dem Verständnis der Kunst, wie in ihr Bild, Form, Gefühl, Denken, geistiger Gehalt von innen verknüpft sind. Alle nachahmende Kunst stellt einen Lebenszusammenhang dar; sahen wir doch, wie auch die dem abstrakten Denken tote Natur für den Eindrucksfähigen lebt. Wo aber Leben ist, da werden Funktionen und Teile eben durch das, um welches in Energie und Gefühl gerade diese bestimmte Existenz sich dreht, zusammengehalten. Von dem aus, was ich den Eindruckspunkt nenne, bemächtigt sich nun dessen der Künstler. Und so wird von hier aus Struktur und Form verständlich und bedeutsam, darstellbar und eindrucksfähig. Wir haben das Glück, in Lenbach einen Porträtisten zu haben, welcher durch sein Beispiel dies alles bestätigt. Geht man dann weiter in der Zeit zurück, so ist gerade für das Dominieren des Eindruckspunktes der große Erzähler Dickens besonders belehrend. Aus solchem Lebenszusammenhang ziehen auch mindestens einige der Wirkungselemente, welche die analytische Ästhetik einzeln auffindet, ihre Kraft. Und nicht anders als mit dem Künstler steht es doch auch mit dem Geschichtsschreiber. Konzentriertes geniales Auffassen einer geschichtlichen Persönlichkeit, künstlerisches Darstellen und Anleitung gleichsam für andere, sie zu erblicken, sind hier eins. Sucht dann die Phantasie nicht Nachahmung eines einzelgegebenen Wirklichen: so ist sie in den Vorgängen von Ausschaltung, Verstärkung, Minderung zur Herstellung eines eindrucksmäßigen Bildes nur an die Bedingungen gebunden, die aus dem Zusammenhang des Wirklichen fließen, innerhalb dessen das freigeschaffene Bild möglich sein soll. Arbeitet der Künstler besonders durch Ausschaltungen, so entsteht eine hohle verblasene Idealität. Benützt er besonders Verstär[284]kungen und Minderungen, so entsteht die charakteristische Kunst von Thackeray und Rembrandt.
Welchen Sinn haben für den, der sich in solchen Einsichten gefestigt hat, die Forderungen des Naturalismus? Können sie mehr besagen als Opposition gegen eine nunmehr verbrauchte, vernutzte Art, Wirklichkeit aufzufassen und darzustellen? Das ist es; der Naturalismus tritt jedesmal auf, wenn eine Epoche der Kunst abgelaufen ist. Er ist in unseren Tagen der Protest der Wahrhaftigkeit gegen die ganze überlieferte Formensprache, welche einst das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert für Menschen ganz anderer Art, mit anderen Augen und anderen geistigen Organen geschaffen hatte. Er weiß es nicht, aber was er will, ist, eine neue innere Form des Kunstwerkes, einen neuen Stil, eine neue Technik in den einzelnen Künsten zu schaffen. Das heißt eben nur, die Menschen zwingen, mit seinen Augen zu sehen.
Denn Stil ist ja eben die konstante Auffassungs- und Darstellungsweise, welche, durch Ziel, Mittel und Gesetze einer Kunst bedingt, von der genialen Kraft eines Künstlers geschaffen ist. Die Energie, einen solchen Stil zu gestalten, ist der Gradmesser schöpferischen Vermögens. Shakespeare, Lionardo, Dürer zeigen, wie unabhängig ein fester Stil vom sogenannten Idealisieren ist: gerade das Sprödeste, Tatsächlichste, Partikulare wird im größten Stil als Moment, Wirklichkeitseindruck hervorzurufen, verwandt.
DIE KUNST DER GEGENWART
Wir sahen, wie die Auffassungsweise und der Stil durch den geistigen Gehalt des Künstlers bestimmt sind. Dieser Gehalt ist nun aber historisch bedingt und zu einem großen Teile den Künstlern einer Epoche gemeinsam. Auch tritt in dem genießenden Publikum einer Zeit die Neigung zur selben Auffassungsweise hervor, und dies wirkt ebenfalls auf die Künstler. So habe ich früher nachweisen können (Bausteine zur Poetik, S. 198 ff.), daß die Technik des Dichters immer nur der Ausdruck einer geschichtlich begrenzten Epoche ist. Es gibt Kunstgesetze der Poesie, aber keine allgemeingültige poetische Technik. Versuche, wie der Freytags, eine Technik des Dramas zu entwerfen, können nicht gelingen. Form und Technik sind vom Gehalt aus geschichtlich bedingt. Und die Kunstgeschichte hat eben die einander folgenden Typen dieser Technik zu entwickeln.
Der Stil und die Technik von Raffael, Michelangelo, Shakespeare, Cervantes, Corneille sind nicht mehr die unsern. Dieser Stil war der höchste seit den Tagen der Griechen. Wie er allgemeingültige Elemente von der Antike aneignete und verwertete, so wird auch er selber weiter wirken. Aber er war eben auch nur der Ausdruck einer Zeit. Es [285] kann gewagt erscheinen, seine Züge in den verschiedenen nachahmenden Künsten, deren Gegenstand der Mensch ist, herauszuheben. Andererseits ist eine solche Betrachtungsweise eben für die Gegenwart und ihre Aufgaben aufklärend. Die individuelle Kraft der Menschen, ihre Autonomie, zugleich doch auch ihr Zusammenhang mit einem rein ideellen Ordnungssystem und mit den von diesem befaßten Individuen: dies war das Geheimnis, das alle großen Kunstwerke dieser Epoche aussprachen, in vielfachen Modifikationen. Daher dominieren im Stil ideelle Beziehungen zwischen Personen, Kontrast, Parallelerscheinung, Abstufung, harmonische Gliederung der Gruppen. Die Figuren sind gleichsam alle in einen ideellen Raum konstruiert. Dies ist nicht nur der Stil von Raffael, Michelangelo und Corneille, sondern auch der von Shakespeare, Lope und Cervantes. Parallelhandlungen, Kontrastfiguren, analogische Figuren usw. sind schließlich bei Shakespeare um einen Mittelpunkt in einen idealen Raum konstruiert. Schillers Arbeit am Wallenstein hat die ungeheure Bedeutung, daß hier entgegengesetzte politische Mächte, die einander mit gleicher Berechtigung gegenübertreten, wirklich als Grundlage für die Struktur der Handlungen verwandt, ja daß im Lager des Wallenstein bereits die politischen Lebensbedingungen der Handlung wirklich hingestellt werden.
Die Wissenschaft hat uns gelehrt, überall gesetzlichen Zusammenhang des Wirklichen aufzufassen. Wir verstehen heute auch den Menschen nur in dem naturgesetzlichen, sozialen und geschichtlichen Zusammenhang, von dem wir ihn bedingt finden. In jeder Darstellung ist ein Reflex dieses Strebens. Wir wollen die realen gesetzlichen Beziehungen innerhalb eines Kreises von Erscheinungen zum Ausdruck bringen, selbst in einer einzelnen Gestalt. Der Künstler sucht das reale naturgesetzliche Gefüge, in welches der Mensch gestellt ist, nach seinem Charakter und Wert mit grenzenloser Wahrhaftigkeit auszudrücken. Das Verhältnis des Arbeiters zur Maschine, des Bauern zu seinem Boden, die Verbindung von Personen in einem Werk und einer Arbeitsleistung, genealogische Abfolge und Vererbung, reales Verhältnis der Geschlechter, die Beziehung der Leidenschaft zu ihrer sozialen und pathologischen Grundlage, des Helden zu einem bunten Gemenge von ungenannten Menschen, die ihn tragen: solche reale Bezüge sucht die Kunst überall. In dieser Gärung warten wir der Genies, welche den einzelnen nachahmenden Künsten ihren neuen Stil schaffen.
Jedesmal in einer solchen Krisis tritt der Naturalismus auf. Er zerstört die abgebrauchte Formensprache. Er saugt sich fest an der Wirklichkeit, Neues ihr abzugewinnen. So sind Donatello, Verrocchio, Masaccio, Marlowe gekommen. Sie bereiteten Stil und Technik der großen schöpferischen Genies vor.
1 Semper, Stil II, 457. Er bezeichnet II, 371 diese von der Renaissance anhebende Baukunst als „Entfaltung einer großartigen Symphonie der Massen und Räume“.
Wilhelm Dilthey: Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe, 1892