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Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 1925
Ernst Cassirer
Quelle
Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 19776 (Nachdruck der Oxford Ausgabe Bruno Cassirer 1956), S. 73-87, 121-127, 174-189, 192-200. ISBN 3-534-00272-5.
Erstausgabe
"Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen" [1925]; "Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften" [1923], in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Leipzig/Berlin: B. G. Teubner 1925. (= Studien der Bibliothek Warburg. Bd. 16.).
Genre
Buchkapitel
Medium
Sprache, Bild
[73] Zu Beginn des Platonischen Phaidros wird geschildert, wie Sokrates durch Phaidros, dem er begegnet, vor die Tore der Stadt an das Ufer des Ilissos gelockt wird. Die Landschaft, in die Platon diese Szene versetzt, hat er bis in die feinsten Züge ausgemalt – und es liegt über dieser Darstellung ein Glanz und ein Duft, wie wir ihn sonst in antiken Naturschilderungen kaum kennen. Im Schatten einer hohen Platane, am Rande einer kühlen Quelle lassen Sokrates und Phaidros sich nieder, die sommerliche Luft weht milde und süß und ist erfüllt vom Zirpen der Zikaden. In dieser Landschaft stellt Phaidros die Frage, ob dies nicht der Ort sei, von dem der Mythos zu berichten wisse, daß Boreas an dieser Stelle die Oreithyia geraubt habe; denn angenehm rein und durchsichtig sei hier das Wasser, recht gemacht für Mägdlein, um darin zu spielen. Auf die weitere Frage aber, ob Sokrates diese Erzählung, dieses „Mythologem“ für wahr halte, erwidert dieser, daß er, auch wenn er dies eben nicht glaubte, darum doch nicht in Verlegenheit wäre. „Denn wie die Weisen würde ich alsdann verfahren – und klüglich deutend (σοϕιζόμενος) würde ich sagen, der Nordwind Boreas habe die Oreithyia, als sie mit ihrer Gefährtin, der Pharmakeia, spielte, von den Felsen dort in der Nähe herabgeweht, und wegen dieses ihres Endes habe man gesagt, sie sei durch den Gott Boreas entführt worden.“ Ich aber, o Phaidros – so fährt Sokrates fort – finde dergleichen übrigens ganz artig, nur sind derlei Auslegungen ein gar mühseliges und kunstreiches Geschäft, um das der, der es übernimmt, eben nicht zu beneiden ist. „Denn dann wird er ja notwendig auch die Gestalt der Kentauren und die der Chimaira ins Rechte bringen müssen, und sodann strömt ihm ein ganzer Haufe von dergleichen Gorgonen, Pegasen und anderen unendlich vielen und seltsamen Wunderwesen hinzu. Und wer all diesen Wunderwesen nicht traut und an sie herangeht, um jedes von ihnen auf etwas Wahrscheinliches zu bringen, der wird wahrlich viel Zeit an diese ungeziemende Weisheit wenden müssen. Ich aber habe hierfür durchaus keine Muße, und der Grund hiervon, mein Lieber, liegt darin, daß ich noch immer nicht nach dem [74] delphischen Spruche mich selbst erkennen kann. Lächerlich also kommt es mir vor, solange ich hierin noch unwissend bin, mich mit fremdartigen Dingen zu beschäftigen. Daher lasse ich dies alles dahingestellt sein und denke nicht an derlei Dinge, sondern an mich selbst, ob ich nicht etwa ein Geschöpf bin, noch verschlungener gebildet und noch ungetümer als Typhon oder ein milderes und einfacheres Wesen, das sich von Natur eines göttlichen und edlen Teils erfreut“ (Phaidr. 229 D ff.). Wenn Platon in dieser Weise die Mythendeutung, die bei den Sophisten und Rhetoren seiner Zeit als Ausdruck der höchsten Gelehrsamkeit und als die Blüte des echten urbanen Geistes galt, als das Gegenteil dieses Geistes bezeichnet, wenn er in ihr nur eine „bäurische Weisheit“ (ἄϒροιϰος σοϕία) sah, so hat dies Urteil doch nicht verhindert, daß sich auch die folgenden Jahrhunderte immer wieder an dieser Weisheit erfreuten. Wie zu Platons Zeiten Sophisten und Rhetoren, haben in der hellenistischen Zeit insbesondere Stoiker und Neuplatoniker in ihr gewetteifert. Und immer wieder war es die Sprachforschung und die Etymologie, die als Vehikel für sie gebraucht wurde. Hier im Reich der Spukgestalten und Dämonen, wie im Bereich der höheren Mythologie schien immer wieder das Faustische Wort sich zu bewähren: hier glaubte man das Wesen jeder einzelnen mythischen Gestalt unmittelbar aus ihrem Namen ablesen zu können. Daß Name und Wesen in einem innerlich notwendigen Verhältnis zueinander stehen, daß der Name das Wesen nicht nur bezeichnet, sondern daß er das Wesen selbst ist und daß die Kraft des Wesens in ihm beschlossen liegt: dies gehört zu den Grundvoraussetzungen der mythischen Anschauung selbst. Es schien, als sei die philosophische und wissenschaftliche Mythenforschung gewillt, auch ihrerseits diese Voraussetzung anzunehmen. Sie wandte das, was im Mythos selbst noch als unmittelbare Anschauung und Überzeugung lebendig ist, in ein Postulat des reflektierenden Denkens um; sie erhob, innerhalb ihres Kreises, die Verwandtschaft zwischen Sache und Namen und die latente Identität beider zur Forderung der Methode. Diese Methode hat im Lauf der Geschichte der Mythenforschung und im Lauf der Geschichte der Philologie und Sprachwissenschaft eine fortschreitende Vertiefung und Verfeinerung erfahren. Sie hat sich von dem groben Instrument, das sie in den Händen der Sophistik war und von den naiven Etymologien des Altertums und des Mittelalters bis zu jener philologischen Schärfe und zu jener Kraft und Weite der geistigen Umschau entwickelt, die wir an den Meistern der heutigen klassischen Philologie bewundern.
[75] Man braucht nur der Analyse der „Götternamen“, wie sie der Platonische „Kratylos“ in ironischer Übertreibung, aber doch wohl zweifellos nach dem Vorbild wirklicher „Erklärungen“ seiner Zeit durchführt, Useners grundlegendes Werk über die „Götternamen“ gegenüberzustellen, um sich diesen Abstand in der geistigen Haltung und in den geistigen Mitteln ganz deutlich und fühlbar zu machen. Aber selbst das 19. Jahrhundert kennt Theorien über das Verhältnis von Sprache und Mythos, die noch unverkennbar an die alten Methoden der griechischen Sophistik erinnert. Von den Philosophen ist es Herbert Spencer gewesen, der die These durchzuführen gesucht hat, daß die mythisch-religiöse Verehrung allgemeiner Naturerscheinungen, wie der Sonne und des Mondes, ihren letzten Grund in nichts anderem als in einer Mißdeutung der Namen habe, die man diesen Erscheinungen gegeben. Und unter den Sprachforschern hat Max Müller die sprachlich-etymologische Zergliederung nicht nur als Mittel gebraucht, um die Natur bestimmter mythischer Gestalten, insbesondere aus dem Umkreis der vedischen Religion, aufzuhellen, sondern er hat hieran auch eine ganz allgemeine Theorie über das Verhältnis von Sprache und Mythos geknüpft. Ihm ist Mythologie weder die in Fabel verwandelte Geschichte, noch ist sie die in Geschichte verwandelte Fabel, aber ebensowenig geht sie unmittelbar aus der Anschauung der Natur und ihrer großen Gestalten und Kräfte hervor. Vielmehr ist alles, was wir Mythos nennen, durch die Sprache bedingt und vermittelt: und zwar in dem Sinne, daß es mit einem Grundmangel der Sprache, mit einer ihrer ursprünglichen Schwächen zusammenhängt. Alle sprachliche Bezeichnung ist notwendig vieldeutig – und in dieser Vieldeutigkeit, in dieser „Paronymie“ der Worte ist der Quell und Ursprung aller Mythen zu suchen. Charakteristisch für diese Auffassung sind insbesondere die Beispiele, mit denen Max Müller sie belegt. Man denke etwa an die Sage von Deukalion und Pyrrha, die, nachdem sie durch Zeus aus der großen Flut, die das Menschengeschlecht vernichtete, gerettet worden sind, zu Stammvätern eines neuen Geschlechts werden, indem sie Steine hinter sich werfen, aus denen sich Menschen bilden. Dieses Hervorgehen des Menschen aus dem Stein ist schlechthin unverständlich und scheint jeder Deutung zu trotzen – aber wird es nicht sofort begreiflich, wenn man sich erinnert, daß im Griechischen Menschen und Steine mit gleichen oder ähnlich klingenden Namen bezeichnet werden, daß die Worte λαοί und λᾶας aneinander anklingen? Oder man nehme den Mythos von der Daphne, [76] die von der Verfolgung des Apollon dadurch gerettet wird, daß sie von ihrer Mutter, der Erde, in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. Wiederum kann nur die Sprachgeschichte diesen Mythos „verständlich“ machen, ihm einen bestimmten Sinn abgewinnen. Wer war Daphne? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zur Etymologie unsere Zuflucht nehmen, oder mit anderen Worten, wir müssen die Geschichte des Wortes erforschen. Daphne kann auf das Sanskrit Ahanâ zurückgeleitet werden und Ahana bedeutet im Sanskrit die Morgenröte. Sobald wir dieses wissen, wird alles klar. Die Geschichte von Phoibos und Daphne ist nichts anderes als eine Beschreibung dessen, was man jeden Tag sehen kann, zuerst das Erscheinen der Morgenröte am östlichen Himmel, dann das Aufgehen des Sonnengottes, der seiner Braut nacheilt, dann das allmähliche Erbleichen der hellen Morgenröte bei der Berührung der feurigen Sonnenstrahlen und zuletzt ihr Tod oder Verschwinden in den Schoß ihrer Mutter, der Erde. Das Entscheidende für die Ausbildung des Mythos war also nicht die Naturerscheinung selbst, entscheidend ist vielmehr, daß das griechische Wort für den Lorbeer (δάϕνη) und das Sanskrit-Wort für die Morgenröte zusammenhängen und damit die Identifizierung der Gestalten, die sie bezeichnen, wie mit einer unentrinnbaren Notwendigkeit mit sich führen. „Die Mythologie“, so lautet daher der Schluß, zu dem Max Müller geführt wird, „ist unvermeidlich, sie ist eine inhärente Notwendigkeit der Sprache, wenn wir in der Sprache die äußere Form des Gedankens erkennen: sie ist, mit einem Wort, der dunkle Schatten, welchen die Sprache auf den Gedanken wirft, und der nie verschwinden wird, solange sich Sprache und Gedanke nicht vollständig decken, was nie der Fall sein kann. Freilich bricht die Mythologie in der ältesten Zeit der Geschichte des menschlichen Geistes stärker hervor, aber sie verschwindet nie vollständig. Kein Zweifel, es gibt jetzt ebensogut Mythologie wie zu den Zeiten des Homer, nur bemerken wir sie nicht, weil wir in ihrem eigenen Schatten leben und weil wir alle vor dem vollen Mittagslicht der Wahrheit zurückschrecken. Mythologie im höchsten Sinne des Wortes ist die durch die Sprache auf den Gedanken ausgeübte Macht und zwar in jeder nur möglichen Sphäre geistiger Tätigkeit1.“
[77] Es könnte müßig erscheinen, auf solche Anschauungen, die von der heutigen Sprachforschung und von der heutigen vergleichenden Mythenforschung längst verlassen sind, wieder zurückzugreifen, wenn es sich bei ihnen nicht um eine typische Einstellung handelte, die auf allen Gebieten, in der Theorie des Mythos so gut wie in der der Sprache, in der Theorie der Kunst so gut wie in der der Erkenntnis, beständig wiederkehrt. Für Max Müller ist die mythische Welt schlechthin eine Welt des Scheins – aber eines Scheins, der erklärt wird, indem die ursprüngliche und notwendige Selbsttäuschung des Geistes aufgedeckt wird, der er entspringt. Diese Selbsttäuschung hat ihren Grund in der Sprache, die mit dem Geist beständig ihr Spiel treibt, die ihn in jene schillernde Vieldeutigkeit, die ihr eigenes Erbteil ist, immer aufs neue verstrickt. Und diese Anschauung, daß der Mythos nicht sowohl auf einer positiven Kraft des Gestaltens und Bildens, als vielmehr auf einer Art Gebrechen des Geistes beruhe, – daß wir in ihm eine durch die Sprache bedingte „Erkrankung“ zu sehen haben, findet auch in der modernen ethnologischen Literatur noch ihre Vertreter und Fürsprecher2. In Wahrheit ist sie jedoch, wenn man sie selbst einmal auf ihre philosophischen Wurzeln zurückzuführen sucht, nichts anderes als eine notwendige Folge jenes naiven Realismus, für den die Wirklichkeit der Dinge etwas schlechthin und eindeutig Gegebenes ist, das sich geradezu mit Händen – ἀπρὶξ ταῖν χεροῖν sagt Platon – greifen läßt. Faßt man das Wirkliche in diesem Sinne, dann wandelt sich notwendig alles, was nicht diese handfeste Realität besitzt, in Trug und Schein. Dieser Schein mag noch so fein gesponnen sein und er mag uns mit noch so bunten und reizvollen Bildern umgaukeln: – so bleibt es doch dabei, daß das Bild keinen selbständigen Gehalt, keine ihm eigene immanente Bedeutung besitzt. Es spiegelt sich in ihm ein Wirkliches – aber ein Wirkliches, dem es in keiner Weise gewachsen ist, das es niemals adäquat wiederzugeben vermag. So wird unter diesem Gesichtspunkt betrachtet auch alles künstlerische Gestalten zur Nachbildung, die hinter dem Original immer und notwendig zurückbleibt. Nicht nur die einfache Nachahmung eines sinnlich gegebenen Modells, sondern auch all das, was man als Idealisierung, als Manier oder als Stil bezeichnet, verfällt zuletzt diesem Verdikt: denn die Idealisierung selbst ist, gemessen an der schlichten [78] „Wahrheit“ des Darzustellenden, nichts anderes als subjektive Umbiegung und Entstellung. Und eine ähnliche gewaltsame Verzerrung, einen ebensolchen Abfall vom Wesen der gegenständlichen Wirklichkeit und der unmittelbaren Erlebniswirklichkeit scheinen nun auch alle anderen Prozesse geistiger Formung zu bedeuten. Denn sie alle erfassen niemals das Wirkliche selbst, sondern sie müssen, um es darzustellen, um es in irgendeiner Weise festhalten zu können, zum Zeichen, zum Symbol ihre Zuflucht nehmen. An allem Zeichen aber haftet der Fluch der Mittelbarkeit: es muß verhüllen, wo es offenbaren möchte. So will der Laut der Sprache das objektive und das subjektive Geschehen, die Welt des „Äußeren“ wie die des „Inneren“ in irgendeiner Weise „ausdrücken“: aber was er von ihr zurückbehält, ist nicht das Leben und die individuelle Fülle des Daseins selbst, sondern nur eine tote Abbreviatur. Alle „Bedeutung“, die der Laut für sich in Anspruch nimmt, kann niemals über die bloße „Andeutung“ hinausgehen: eine Andeutung, die der konkreten Mannigfaltigkeit und der konkreten Totalität der wirklichen Anschauung gegenüber als kärglich und leer erscheinen muß. Das gilt von der Welt der Gegenstände wie von der Welt des Ich: „spricht die Seele so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr“. Von hier aus ist nur ein Schritt bis zu der Konsequenz, die die moderne skeptische Sprachkritik gezogen hat: bis zur völligen Auflösung des angeblichen Wahrheitsgehalts der Sprache und bis zur Einsicht, daß sich in ihr nichts anderes als eine Art Phantasmagorie des Geistes darstellt. Und Phantasmagorie wird, von diesem Standpunkt aus gesehen, nicht nur der Mythos, die Kunst, die Sprache, sondern zuletzt auch die theoretische Erkenntnis selbst. Denn auch sie vermag niemals das schlichte Wesen der Dinge einfach abzuspiegeln, sondern sie muß dieses Wesen in „Begriffe“ fassen: sind aber Begriffe etwas anderes als Bildungen und Schöpfungen des Denkens, die eben als solche, statt der reinen Form des Gegenstandes, vielmehr nur die Form des Gedankens selbst in sich schließen? Demnach sind auch alle Schemata, die das theoretische Denken sich schafft, um mittels ihrer das Sein, die Wirklichkeit der Erscheinungen zu sichten, zu gliedern, zu übersehen, zuletzt nichts als bloße Schemen – als luftige Gespinste des Geistes, in denen sich nicht sowohl die Natur der Dinge, als seine eigene Art ausdrückt. Auch das Wissen ist damit, gleich dem Mythos, der Sprache und der Kunst, zu einer Art von Fiktion geworden – zu einer Fiktion, die sich durch ihre praktische Brauchbarkeit empfiehlt, an die wir aber den strengen Maßstab der [79] Wahrheit nicht anlegen dürfen, wenn sie uns nicht alsbald in Nichts zergehen soll.
Gegen diese Selbstauflösung des Geistes gibt es zuletzt nur eine Rettung: daß man mit der Wendung Ernst macht, die Kant als die „Copernikanische Drehung“ bezeichnet. Statt den Gehalt, den Sinn, die Wahrheit der geistigen Formen an etwas anderem zu messen, das sich in ihnen mittelbar abspiegelt, müssen wir in diesen Formen selber den Maßstab und das Kriterium ihrer Wahrheit, ihrer inneren Bedeutsamkeit entdecken. Statt sie als bloße Nachbilder zu verstehen, müssen wir in jeder von ihnen eine spontane Regel der Erzeugung erkennen; eine ursprüngliche Weise und Richtung des Gestaltens, die mehr ist als der bloße Abdruck von etwas, das uns von vornherein in fester Seinsgestaltung gegeben ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wird der Mythos, wird die Kunst, werden die Sprache und die Erkenntnis zu Symbolen: nicht in dem Sinne, daß sie ein vorhandenes Wirkliches in der Form des Bildes, der hindeutenden und ausdeutenden Allegorie bezeichnen, sondern in dem Sinne, daß jede von ihnen eine eigene Welt des Sinnes erschafft und aus sich hervorgehen läßt. In ihnen stellt sich die Selbstentfaltung des Geistes dar, kraft deren es für ihn allein eine „Wirklichkeit“, ein bestimmtes und gegliedertes Sein gibt. Nicht Nachahmungen dieser Wirklichkeit, sondern Organe derselben sind jetzt die einzelnen symbolischen Formen, sofern nur durch sie Wirkliches zum Gegenstand der geistigen Schau gemacht und damit als solches sichtbar werden kann. Die Frage, was das Seiende an sich, außerhalb dieser Formen der Sichtbarkeit und der Sichtbarmachung sein und wie es beschaffen sein möge: diese Frage muß jetzt verstummen. Denn sichtbar ist für den Geist nur, was sich ihm in einer bestimmten Gestaltung darbietet; jede bestimmte Seinsgestalt aber entspringt erst in einer bestimmten Art und Weise des Sehens, in einer ideellen Form- und Sinngebung. Sind einmal die Sprache, der Mythos, die Kunst, die Erkenntnis als solche ideale Sinngebungen erkannt, so kann das eigentlich philosophische Grundproblem nicht mehr lauten, wie sie alle sich zu dem einen absoluten Sein verhalten, das gleichsam als ein undurchsichtiger substantieller Kern hinter ihnen steht, sondern wie sie sich wechselseitig ergänzen und bedingen. Mögen sie alle im Aufbau der geistigen Wirklichkeit als Organe zusammenwirken – so hat doch jedes dieser Organe seine eigentümliche Funktion und Leistung. Und es entsteht die Aufgabe, diese Leistungen nicht bloß in ihrem einfachen Nebeneinander zu beschreiben, [80] sondern sie in ihrem Ineinander zu verstehen, sie in ihrer relativen Abhängigkeit wie in ihrer relativen Selbständigkeit zu begreifen.
Von hier aus gesehen erscheint auch das Verhältnis von Sprache und Mythos alsbald in einem neuen Lichte. Nicht darum wird es sich handeln, die eine dieser Formen schlechthin aus der anderen abzuleiten und aus ihr „erklären“ zu wollen — denn diese Art der Erklärung käme einer Nivellierung, einer Aufhebung ihres eigentümlichen Gehaltes gleich. Ist der Mythos, wie in der Theorie Max Müllers, nichts anderes als der dunkle Schatten, den die Sprache auf den Gedanken wirft, so läßt sich nicht verstehen, wie dieser Schatten sich immer wieder mit dem Schein eigenen Lichtes umkleiden, wie er ein durchaus positives Leben und eine Wirksamkeit entfalten kann, hinter der selbst das, was wir die unmittelbare Wirklichkeit der Dinge zu nennen pflegen, hinter der selbst die Fülle des empirisch gegebenen sinnlichen Daseins zurücktritt. „Der Mensch“ – so hat Wilh. v. Humboldt mit Bezug auf die Sprache gesagt – „lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Akt, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen hinübertritt3.“ Das gilt in vielleicht noch höherem Maße als von der Sprache von den mythischen Grundvorstellungen der Menschheit. Sie werden nicht aus einer fertigen Welt des Seins herausgehoben, sie sind keine bloßen Gebilde der Phantasie, die sich aus der feststehenden empirisch-realen Wirklichkeit der Dinge ablösen und sich über sie wie ein leichter Nebel erheben, sondern sie stellen für das primitive Bewußtsein das Ganze des Seins dar. Die mythische Auffassung und Deutung tritt nicht nachträglich zu bestimmten Elementen des empirischen Daseins hinzu; sondern die primäre „Erfahrung“ selbst ist durch und durch von den Gestalten des Mythos durchdrungen und gleichsam mit seiner Atmosphäre gesättigt. Der Mensch lebt mit den Dingen nur, weil und sofern er in diesen Gestalten lebt; er erschließt die Wirklichkeit sich selbst und sich der Wirklichkeit nur dadurch, daß er die Welt wie sich selbst in dieses bildsame Medium eingehen und daß er beides in ihm sich nicht nur berühren, sondern sich miteinander durch[81]dringen läßt. Demgemäß bleibt jede Betrachtung ungenügend und einseitig, die die Wurzel des Mythos dadurch aufgedeckt zu haben meint, daß sie den bestimmten Objektkreis aufweist, von dem er anfänglich ausgegangen sei und von dem er sich allmählich weiterverbreitet habe. Es gibt, wie bekannt, eine Fülle solcher Erklärungen, – eine Mannigfaltigkeit von Theorien über den eigentlichen Kern und Ursprung der Mythenbildung, die in sich kaum weniger buntscheckig sind als die empirische Objektwelt selbst. Bald sind es bestimmte seelische Zustände und Erfahrungen, wie insbesondere die Traumerfahrungen, bald ist es die Anschauung des natürlichen Seins, worin der Quell und Ausgangspunkt des mythischen Bewußtseins gesucht wird, und in dem letzteren Kreis sondert sich wieder die Betrachtung der Naturobjekte, der Sonne, des Mondes, der Gestirne, von der der großen Naturprozesse, wie sie uns im Sturm, im Gewitter usw. entgegentreten. So wird immer von neuem der Versuch gemacht, die Seelenmythologie oder die Naturmythologie, die Sonnen- und Mondmythologie oder die Sturm- und Gewittermythologie als die Mythologie schlechthin zu erklären. Aber selbst angenommen, daß einer dieser Versuche gelänge, so wäre doch damit die eigentliche Frage, die die Philosophie an den Mythos zu stellen hat, nicht gelöst, sondern nur einen Schritt zurückgeschoben. Denn die mythische Formung als solche wird nicht dadurch verstanden und durchschaut, daß man uns den Gegenstand aufweist, an dem sie sich zunächst und ursprünglich vollzieht. Sie ist und bleibt das gleiche Wunder des Geistes und das gleiche Rätsel, ob sie sich nun auf diesen oder jenen Inhalt des Seins erstreckt, ob sie die Deutung und Gestaltung psychischer Prozesse oder physischer Objekte, und innerhalb der letzteren diesen oder jenen Gegenstand im besonderen betrifft. Mag es immerhin gelingen die gesamte Mythologie in Astralmythologie aufzulösen – so ist doch eben das, was der Mythos an den Gestirnen erfaßt, was er unmittelbar in ihnen sieht, nicht dasselbe, als was sie der empirischen Wahrnehmung und Beobachtung erscheinen oder als was sie sich dem theoretischen Denken, der wissenschaftlichen „Erklärung“ der Naturphänomene darstellen. Descartes hat von der theoretischen Erkenntnis gesagt, daß sie in ihrer Natur und in ihrem Wesen ein und dieselbe bleibe, auf welchen Gegenstand sie sich auch richten mag – ebenso wie das Licht der Sonne ein und dasselbe ist, wie vielerlei und wie verschiedene Objekte es immer beleuchtet. Das Gleiche gilt von jeder symbolischen Form, von der Sprache, wie von der Kunst oder vom Mythos, sofern jede von ihnen eine besondere [82] Art des Sehens ist und eine besondere, nur ihre eigene Lichtquelle in sich birgt. Die Funktion des Sehens, die geistige Lichtwerdung selbst läßt sich niemals realistisch von den Dingen und läßt sich nicht vom Gesehenen aus verständlich machen. Denn es handelt sich hier nicht um das, was in ihr erblickt wird, sondern um die ursprüngliche Blickrichtung. Faßt man die Frage in diesem Sinne, so scheint sie damit freilich ihrer Lösung nicht näher gerückt, sondern nur um so weiter von jeder Möglichkeit der Lösung entfernt zu werden. Denn jezt [sic] stellen sich die Sprache, die Kunst, der Mythos als wahrhafte Urphänomene des Geistes dar, die sich zwar als solche aufweisen lassen, an denen sich aber nichts mehr „erklären“, d. h. auf ein anderes zurückführen läßt. Die realistische Weltansicht besitzt als ein festes Substrat für derartige Erklärungen immer die gegebene Wirklichkeit, die sie in irgendeiner festen Fügung, in einer bestimmten Struktur voraussetzt. Sie nimmt diese Wirklichkeit als ein Ganzes von Ursachen und Wirkungen, von Dingen und Eigenschaften, von Zuständen und Prozessen, von ruhenden Gestalten und Bewegungen, und sie kann sich nun die Frage stellen, welcher dieser Bestandteile von einer bestimmten geistigen Form, vom Mythos, von der Sprache, von der Kunst zuerst erfaßt worden sei. Handelt es sich etwa um die Sprache, so läßt sich fragen, ob die Dingbezeichnungen den Vorgangs- und Tätigkeitsbezeichnungen oder diese jenen vorangegangen seien – ob das sprachliche Denken zuerst die Dinge oder die Vorgänge erfaßt und ob es demgemäß zuerst nominale oder verbale „Wurzeln“ gebildet habe. Aber diese Problemstellung wird hinfällig, sobald man sich einmal klar gemacht hat, daß die Unterscheidung, die hier vorausgesetzt wird, daß die Gliederung der Welt in Dinge und Vorgänge, in Dauerndes und Vergängliches, in Gegenstände und in Prozesse, der Bildung der Sprache nicht als ein gegebenes Faktum zugrunde liegt, sondern daß die Sprache selbst es ist, die zu dieser Gliederung erst hinführt, die sie an ihrem Teile mit zu vollziehen hat. Es ergibt sich alsdann, daß die Sprache weder mit einem Stadium bloßer „Nominalbegriffe“ noch mit einem solchem bloßer „Verbalbegriffe“ beginnen kann, sondern daß sie es ist, die die Scheidung zwischen beiden selbst erst herbeiführt, die die große geistige „Krisis“ schafft, in der das Beharrende dem Wechselnden, das Sein dem Werden gegenübertritt. So müssen die sprachlichen Urbegriffe, sofern von solchen die Rede sein kann, derart gedacht werden, daß sie nicht diesseits, sondern jenseits dieser Trennung liegen, daß in ihnen Gestaltungen gegeben sind, die [83] sich zwischen der nominalen und der verbalen Sphäre, zwischen dem Dingausdruck und dem Vorgangs- oder Tätigkeitsausdruck noch gewissermaßen in der Schwebe und in einem eigentümlichen Zustand der Indifferenz halten4. Und eine ähnliche Indifferenz scheint auch für die ursprünglichsten Bildungen, bis zu denen wir die Entwicklung des mythischen und religiösen Denkens zurückverfolgen können, charakteristisch zu sein. Uns scheint es natürlich und selbstverständlich, daß die Welt sich für die Wahrnehmung und Anschauung von selbst in fest umrissene Einzelgestalten abteilt, deren jede ihre scharfe räumliche Grenze und durch sie ihre bestimmte Individualität besitzt. Wenn sie uns ein Ganzes bedeutet, so baut sich doch dieses Ganze aus klar bestimmten Einheiten auf, die nicht ineinander verfließen, sondern deren jede ihre Eigenheit besitzt, die sich von der Eigenheit der anderen deutlich abhebt. Für die mythische Anschauung aber sind eben diese Einzelelemente nicht von Anfang an gegeben, sondern sie muß sie erst allmählich und schrittweise aus dem Ganzen gewinnen: sie muß den Prozeß der Abhebung und Sonderung erst selbst vollziehen. Man hat aus diesem Grunde die mythische Auffassung als „komplexe“ Auffassung bezeichnet, um sie durch dieses Kennzeichen von unserer theoretisch-analytischen Betrachtungsweise zu scheiden. Preuß, der diesen Ausdruck geprägt hat, weist z. B. darauf hin, daß in der Mythologie der Cora-Indianer, die er eingehend erforscht und dargestellt hat, die Anschauung des Nachthimmels und des Taghimmels als Ganzes der Anschauung der Sonne, des Mondes und einzelner Sternbilder vorausgegangen sein müsse. Die erste mythische Konzeption sei hier nicht die einer Mond- oder Sonnengottheit gewesen, sondern die Gesamtheit der Gestirne war es, von der gleichsam die ersten mythischen Impulse ausgingen. „Der Sonnengott nimmt zwar in der Götterhierarchie die erste Stelle ein, aber er wird … von den verschiedenen Gestirngöttern vertreten. Sie sind früher da als er, er wird durch sie geschaffen, indem jemand ins Feuer springt oder hineingeworfen wird, seine Wirkungskraft wird von ihnen beeinflußt und er wird künstlich, indem er sich von den Herzen der Geopferten, d. h. der Sterne nährt, am Leben und im Gange erhalten. Der gestirnte Nachthimmel ist die Vorbedingung für die Existenz der Sonne, das ist der Sinn der ganzen Religionsauffassung der Cora und der alten Mexikaner, [84] und das ist auch für die Entwicklung der Religion als ein Hauptfaktor zu verwerten5.“ Und dieselbe Funktion, die hier dem Nachthimmel zugeschrieben wird, scheint im Glauben der Indogermanen dem lichten Tageshimmel zuzukommen. Die Sprachvergleichung scheint uns einen Urstand des religiösen Empfindens und Denkens der Indogermanen zu erschließen, in dem der Tageshimmel als solcher als höchste Gottheit verehrt wurde: dem vedischen Dyaush-pitar entspricht, in einer bekannten sprachlichen Gleichung, das griechische Ζεὺς πατήρ, der lateinische Juppiter, der germanische Zio oder Ziu6. Aber auch abgesehen hiervon weisen die indogermanischen Religionen mancherlei Spuren dafür auf, daß hier die Verehrung des Lichts als eines noch ungeteilten Ganzen der der Einzelgestirne, die nur als Träger des Lichts, nur als seine besonderen Manifestationen erscheinen, vorausgegangen ist. Im Awesta z. B. ist Mithra nicht, wie später, ein Sonnengott, sondern der Genius des Himmelslichts. Er erscheint vor Aufgang der Sonne auf den Berggipfeln, um während des Tages auf seinem Wagen, der von vier weißen Pferden gezogen wird, die Himmelsräume zu durchlaufen, und wenn die Nacht herabsinkt, erhellt er, der Immerwache, noch immer mit einem unbestimmten Schein die Oberfläche der Erde. Er ist, wie ausdrücklich gesagt wird, weder die Sonne, noch der Mond, noch die Sterne, sondern durch sie, als seine tausend Ohren und zehntausend Augen, nimmt er alles wahr und wacht er über die Welt7. Hier stellt es sich uns gewissermaßen sinnfällig dar, wie die mythische Auffassung zunächst lediglich den großen qualitativen Grundgegensatz von Licht und Dunkel erfaßt und wie sie beide je als ein Wesen, als ein komplexes Ganzes nimmt, aus dem sich erst allmählich besondere Gestaltungen loslösen. Wie das sprachliche Bewußtsein, so hat auch das mythische Bewußtsein die Unterschiede der Einzelgestalten nur, indem es diese Unterschiede fortschreitend setzt, indem es sie aus einer ursprünglich indifferenten Einheitsanschauung „ersondert“.
Mit dieser Einsicht in die bestimmende und entscheidende Leistung, [85] die dem Mythos wie der Sprache im geistigen Aufbau der Gegenstandswelt zukommt, scheint freilich alles erschöpft, was eine „Philosophie der symbolischen Formen“ uns lehren kann. Die Philosophie als solche kann an diesem Punkte nicht weiter gehen; sie kann sich nicht vermessen, den großen Sonderungsprozeß, der sich hier vollzieht in concreto vor uns hinzustellen und seine einzelnen Phasen bestimmt gegen einander abzugrenzen. Aber wenn sie sich mit einer allgemeinen theoretischen Bestimmung der Umrisse des Bildes dieser Entwicklung begnügen muß, so kann vielleicht die Sprachforschung und die Mythenforschung ihrerseits diesen bloßen Umriß ergänzen und die Linien, die die philosophisch-spekulative Betrachtung nur andeuten konnte, schärfer fassen. Einen ersten und verheißungsvollen Schritt auf diesem Wege hat Hermann Usener in seinem Werk „Götternamen“ getan. „Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung“, so lautet der Untertitel, den Usener seiner Schrift gegeben hat und durch den er sie ausdrücklich in den Gesamtkreis der philosophischen Probleme und der philosophischen Systematik hineingestellt hat. Nicht eine Geschichte der Göttergestalten, ihres allmählichen Hervortretens, ihrer Sonderentwicklung bei den einzelnen Völkern – so erklärt er – kann als erreichbares Ziel gelten, sondern nur eine Geschichte der Vorstellungen. Diese Vorstellungen haben, so bunt, so mannigfaltig und heterogen sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, ihr inneres Gesetz; sie entspringen nicht der zügellosen Willkür der Einbildungskraft, sondern bewegen sich in bestimmten Bahnen des Gefühls und der denkenden Gestaltung. Dieses Gesetz will die Mythologie aufweisen. Mythologie ist die Lehre (λόγος) vom Mythos oder die Formenlehre der religiösen Vorstellungen8. Für diese seine große Aufgabe scheint Usener freilich von der Philosophie keine Hilfe zu erwarten; ihr wird vielmehr in diesem Zusammenhang eine scharfe und unzweideutige Absage erteilt. „Unsere Philosophen“ – so erklärt er – „in ihrer göttlichen Erhabenheit über das Geschichtliche behandeln die Begriffsbildung und die Zusammenfassung des Einzelnen zu Art und Gattung als selbstverständlichen und notwendigen Vorgang des menschlichen Geistes. Sie übersehen, daß jenseits der Herrschaft der für uns geltenden Logik und Erkenntnislehre es lange Abschnitte der Entwicklung gegeben hat, worin der menschliche Geist sich langsamen Schrittes zum Begreifen [86] und Denken hindurch arbeitete und unter wesentlich verschiedenem Gesetz des Vorstellens und Sprechens stand. Unsere Erkenntnislehre wird so lange des nötigen Unterbaus entbehren, bis Sprachwissenschaft und Mythologie die Vorgänge des unwillkürlichen und unbewußten Vorstellens aufgehellt haben. Der Sprung von den Einzelwahrnehmungen zum Gattungsbegriff ist weit größer, als wir mit unserer Schulbildung und einer Sprache, die für uns denkt, zu ahnen vermögen. Er ist so groß, daß ich es nicht auszudenken vermag, wann und wie der Mensch ihn hätte ausführen können, wenn nicht die Sprache selbst, dem Menschen unbewußt, den Vorgang vorbereitet und herbeigeführt hätte. Die Sprache ist es, welche aus der Masse gleichwertiger Sonderausdrücke allmählich einen hervorwachsen läßt, der seinen Bereich über mehr und mehr Fälle ausdehnt, bis er zuletzt geeignet ist, alle zu umfassen und zum Gattungsbegriff werden kann“ (S. 321). Dem Vorwurf, der hier gegen die Philosophie gerichtet wird, wird man kaum etwas Triftiges entgegensetzen können: denn fast alle großen philosophischen Systeme – mit alleiniger Ausnahme vielleicht des Platonischen Systems – haben es in der Tat versäumt, jenen „Unterbau“ für die theoretische Erkenntnislehre zu schaffen, auf dessen Unentbehrlichkeit Usener hinweist. Hier ist es also einmal der Philologe, der Sprach- und Religionsforscher gewesen, der lediglich aus den Problemen seiner eigenen Forschung heraus die Philosophie vor eine neue Frage gestellt hat. Und Usener hat hier nicht nur einen neuen Weg gewiesen, er hat ihn auch entschlossen beschritten, indem er sich hierbei des Rüstzeuges bediente, das ihm die Sprachgeschichte, das ihm die exakte Analyse der Worte und insbesondere die Analyse der Namen der Götter darbot. Es entsteht die Frage, ob die Philosophie, die über ein derartiges Rüstzeug nicht verfügt, das Problem, das ihr hier von Seiten der Geisteswissenschaften gestellt worden ist, ihrerseits aufnehmen und mit welchen gedanklichen Mitteln sie es behandeln kann. Gibt es einen anderen Weg als den der Sprachgeschichte und der Religionsgeschichte selbst, um uns tiefer in die geistige Genesis, in den Ursprung der primären sprachlichen und religiösen Begriffe hereinzuführen? Oder fällt an diesem Punkte der Einblick in die psychologische und historische Entstehung dieser Begriffe mit dem Einblick in ihr geistiges Wesen, in ihre Grundbedeutung und Grundfunktion zusammen? Auf diese Frage wollen die folgenden Betrachtungen eine Antwort zu gewinnen suchen. Sie nehmen das Problem Useners genau in der Form auf, in der er selbst es gestellt [87] hat; aber sie wollen versuchen, sich ihm von einer anderen Seite her zu nähern und es mit anderen Mitteln als denen der Philologie und Linguistik in Angriff zu nehmen. Auf das Recht, ja auf die Notwendigkeit einer derartigen Betrachtung hat Usener selbst hingedeutet, indem er seine Grundfrage nicht nur als eine solche der Sprachgeschichte und der allgemeinen Geistesgeschichte, sondern auch als eine Frage an die Logik und Erkenntnislehre formuliert. Es liegt hierbei die Voraussetzung zugrunde, daß auch diese beiden Disziplinen von sich aus das Problem der sprachlichen und der mythischen Begriffsbildung ins Auge zu fassen und daß sie es mit ihren eigenen methodischen Mitteln zu behandeln haben. In dieser Erweiterung, in dieser scheinbaren Überschreitung des logischen Aufgabenkreises wird sich seine eigene Bestimmtheit erst scharf bezeichnen und die Sphäre der reinen theoretischen Erkenntnis erst deutlich gegen andere Gebiete des geistigen Seins und der geistigen Formung abgrenzen lassen.
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Aber wir halten an dieser Stelle inne: denn statt das religionsgeschichtliche und ethnologische Material zu häufen, muß es uns vielmehr darauf ankommen, das Problem scharf ins Auge zu fassen, das in ihm zutage tritt. Eine derartige Verflochtenheit, ein solches Ineinander, wie es sich hier zwischen dem Wort der Sprache und den verschiedenen Grundgestaltungen des mythisch-religiösen Bewußtseins herausgestellt hat, kann kein Zufall sein, sondern muß in einem Wesenszug der Sprache und des Mythos selbst gegründet sein. Man hat bisweilen zur Erklärung dieses Zusammenhangs auf die suggestive Kraft des Wortes, des gesprochenen Befehls verwiesen, der der „primitive“ Mensch in besonders hohem Maße unterliege – und man hat gemeint, daß in der magischen und dämonischen Gewalt, die jede sprachliche Äußerung für das mythische Denken besitzt, nichts weiter als eine Objektivierung dieser Grunderfahrung vorliege. Aber auf eine so schmale empirisch-pragmatische Basis, auf solche Einzelheiten der individuellen oder sozialen Erfahrung dürfen wir die eigentlichen und wahrhaften Urphänomene des sprachlichen und mythischen Bewußtseins nicht stellen. Mehr und mehr drängt sich vielmehr die Frage auf, ob die inhaltlichen Beziehungen, die sich zwischen den Gebilden der Sprache und denen des Mythos aufweisen lassen, sich nicht auch hier aus der Form des Bildens selbst, ob sie sich [122] nicht aus den Bedingungen verstehen lassen, denen sowohl der sprachliche Ausdruck wie die mythische Gestaltung schon in ihren ersten unbewußten Anfängen unterliegt. Wir fanden diese Bedingungen in einer Art und Richtung der geistigen Auffassung, die der des theoretischen, des „diskursiven“ Denkens entgegengesetzt ist. Wenn das letztere auf Erweiterung, auf Verknüpfung, auf systematischen Zusammenhang hinstrebt, so strebt die sprachliche und mythische Auffassung umgekehrt nach Verdichtung, nach Konzentration, nach isolierender Heraushebung. Dort wird die einzelne Anschauung auf die Gesamtheit des Seins und Geschehens bezogen, wird sie mit immer feineren und immer festeren Fäden mit dieser Gesamtheit verknüpft; hier wird sie nicht nach dem, was sie mittelbar bedeutet, sondern nach dem, als was sie unmittelbar erscheint, genommen, wird sie in ihrer reinen Gegenwart erfaßt und verkörpert. Man begreift, daß aus dieser Art der Verkörperung auch eine andere Grundansicht vom Wort, von seinem Gehalt und seiner Kraft entstehen muß, als sie für das diskursive Denken gilt. Für das letztere ist das Wort wesentlich das Vehikel für die Grundaufgabe, die diese Denkform sich stellt: für die Herstellung einer Beziehung zwischen dem besonderen, jeweilig vorliegenden Anschauungsinhalt und anderen, die ihm gleichen oder ihm sonst in irgendeiner Weise „entsprechen“, die durch ein bestimmtes Gesetz der Zuordnung mit ihm verbunden sind. Sein Sinn geht in der Herstellung und im Ausdruck derartiger Beziehungen auf. So gefaßt erscheint es als ein wesentlich Ideelles, als ein „Zeichen“ oder Symbol, dessen Gehalt sich nicht sowohl in einem eigenen substantiellen Dasein aufzeigen läßt, als vielmehr in den gedanklichen Relationen, die es in sich faßt. Das Wort tritt gleichsam als ein Gebilde einer anderen Ordnung, einer anderen geistigen Dimension, zwischen die besonderen Anschauungsinhalte, wie sie sich in ihrem unmittelbaren Hier und Jetzt dem Bewußtsein aufdrängen; und eben dieser Zwischenstellung, dieser Herausgehobenheit aus der Sphäre des unmittelbaren Daseins, verdankt es die Freiheit und Leichtigkeit, mit der es sich bewegen, mit der es einen Inhalt mit dem andern verknüpfen kann. Aber diese seine freie Idealität, in der der Kern seiner logischen Leistung liegt, muß der mythischen Weltansicht notwendig fremd bleiben. Denn für sie hat nur das ein Sein und einen Sinn, was sich ihr in realer Gegenwart darstellt. Hier gilt kein bloßes „Hinweisen“ und „Bedeuten“ – sondern hier setzt sich jeglicher Inhalt, auf den sich das Bewußtsein spannt und richtet, alsbald in die Form des Daseins und [123] in die des Wirkens um. Das Bewußtsein steht dem Inhalt nicht in freier Reflexion gegenüber, um ihn sich in seiner Struktur und in seinen gesetzlichen Zusammenhängen zu verdeutlichen, um ihn in seine einzelnen Teile und Bedingungen zu zerlegen, sondern es ist von ihm in seiner unmittelbaren Ganzheit gefangen genommen. Es entfaltet den Einzelinhalt nicht; es geht von ihm aus nicht vorwärts und rückwärts, um ihn nach der Seite seiner „Gründe“ oder nach der Seite seiner „Folgen“ zu gelingt, wenn die Anschauung auf einen einzigen Punkt zusammengedrängt und gewissermaßen auf ihn reduziert ist, resultiert hieraus das mythische oder sprachliche Gebilde, entspringt das Wort der Sprache oder der mythische Augenblicksgott. Und diese Form der Genese bestimmt zugleich den Gehalt, der beiden eignet betrachten, sondern es ruht in seinem einfachen Bestand. Wenn Kant den Begriff der „Wirklichkeit“ dadurch definiert, daß als „wirklich“ jeder Inhalt der empirischen Anschauung zu bezeichnen sei, sofern er nach allgemeinen Gesetzen bestimmt und dadurch in den einheitlichen „Kontext der Erfahrung“ eingeordnet sei, – so hat er damit den Wirklichkeitsbegriff des diskursiven Denkens erschöpfend bezeichnet. Das mythische und das primäre sprachliche Denken aber kennt zunächst keinen derartigen „Kontext der Erfahrung“. Denn seine Leistung besteht, wie wir sahen, vielmehr in der Herauslösung, in der fast gewaltsamen Abhebung und Absonderung. Erst wenn diese Absonderung. Denn hier, wo der Prozeß des geistigen Erfassens statt auf die Erweiterung, die Ausdehnung, die Extensivierung des Inhalts vielmehr auf seine stärkste Intensivierung gerichtet ist, muß sich dies auch in seiner Rückwirkung auf das Bewußtsein ausdrücken. Alles andere Dasein oder Geschehen ist für das Bewußtsein nunmehr wie versunken; alle Brücken, die den konkreten Anschauungsinhalt mit der Totalität der Erfahrung, als einem gegliederten System, verbinden, sind wie abgebrochen: nur er selbst, nur das, was die mythische oder sprachliche Auffassung an ihm heraushebt, füllt das Ganze des Bewußtseins aus. So muß er jetzt dieses Ganze auch mit fast unumschränkter Gewalt beherrschen. Er hat nichts neben oder außer sich, mit dem er verglichen, an dem er „gemessen“ werden könnte, sondern seine schlichte Präsenz, seine einfache Gegenwart faßt die ganze Summe des Seins in sich. Hier drückt demnach das Wort nicht als bloß konventionelles Symbol den Inhalt der Anschauung aus, sondern es verschmilzt mit ihm zu einer unlöslichen Einheit. Der Inhalt der Anschauung geht in das Wort nicht nur in irgendeiner Weise ein, sondern er geht in ihm auf. Was einmal im Wort oder Namen fest[124]gehalten ist, das erscheint nunmehr nicht nur als ein Wirkliches, sondern geradezu als das Wirkliche. Die Spannung zwischen dem bloßen „Zeichen“ und dem „Bezeichneten“ hört auf: an die Stelle des mehr oder minder angemessenen „Ausdrucks“ ist ein Verhältnis der Identität, der völligen Deckung zwischen „Bild“ und „Sache“, zwischen den Namen und den Gegenstand getreten.
Und noch von einer anderen Seite her läßt sich die substantielle Verfestigung, die dem Wort hier zuteil wird, beleuchten und verständlich machen. Denn die gleiche Verfestigung, dieselbe Transsubstantiation begegnet uns auch auf anderen Gebieten des geistigen Schaffens; ja sie scheint geradezu die Grundregel für alles unbewußte Schaffen zu bilden. Alle Arbeit der Kultur, mag sie technisch oder rein geistig gerichtet sein, vollzieht sich derart, daß an die Stelle des unmittelbaren Verhältnisses, in dem der Mensch zu den Dingen steht, allmählich ein mittelbares Verhältnis tritt. Wenn anfangs der sinnliche Trieb und seine Befriedigung unmittelbar und unverzüglich aufeinanderfolgen, so schieben sich im weiteren Fortgang zwischen den Willen und seinen Gegenstand immer mehr Mittelglieder ein. Der Wille muß, um sein Ziel zu erreichen, sich scheinbar von diesem Ziel entfernen; er muß, statt durch eine einfache, fast in der Art eines Reflexes auftretende Handlung das Objekt in seinen Kreis zu ziehen, sein Tun differenzieren, es auf einen größeren Kreis von Objekten verteilen, um zuletzt erst durch den Zusammenschluß all dieser Akte, durch die Verwendung verschiedenartiger „Mittel“ den Zweck, den er sich stellt, zu verwirklichen. In der technischen Sphäre prägt sich diese wachsende Vermittlung in der Erfindung und im Gebrauch des Werkzeuges aus. Aber auch hier läßt sich nun beobachten, daß dem Menschen das Werkzeug, sobald er sich seiner zuerst bedient, kein bloßes Produkt ist, in dem er sich selbst, als den Schöpfer dieses Produkts, weiß und wiedererkennt. Er sieht in ihm keinen bloßen Artefakt, sondern es wird ihm zu einem Selbständigseienden, zu etwas, das mit eigenen Kräften begabt ist. Statt daß er es mit seinem Willen beherrscht, wird es ihm zum Gott oder Dämon, von dessen Willen er abhängt, – dem er sich unterworfen fühlt und dem er religiöse und kultische Verehrung zollt. Insbesondere scheinen es die Axt und der Hammer gewesen zu sein, die schon von früh an eine derartige religiöse Bedeutung gewonnen haben50; [125] aber auch sonst ist noch heute unter den Naturvölkern der Kult einzelner Geräte und Waffen, der Kult der Feldhacke oder des Angelhakens, des Speers oder des Schwertes lebendig. Bei den Eweern gilt der Schmiedehammer (Zu) als eine mächtige Gottheit, zu der sie beten und der sie Opfer darbringen51. Und selbst in der griechischen Religion und in der griechischen klassischen Literatur bricht die Empfindung, die diesem Kult zugrunde liegt, oft noch unvermittelt durch. Als Beispiel hierfür hat Usener an eine Stelle in den „Sieben gegen Theben“ des Aischylos erinnert, an der Parthenopaios bei seinem Speere, den er „mehr als Gott und höher als die Augen ehrt“, den Eid leistet, Theben zu zerstören und zu plündern. „Leben und Sieg hängt von Richtung und Kraft, gleichsam vom guten Willen der Waffe ab; übermächtig wallt diese Empfindung im entscheidenden Augenblick des Kampfes auf; das Gebet ruft nicht einen Gott aus der Ferne, die Waffe zu lenken: die Waffe selbst ist der helfende, rettende Gott52.“ So gilt das Werkzeug nirgend als ein bloß Gemachtes, als ein nach freier Willkür Ersonnenes und Hergestelltes, sondern als eine „Gabe von oben“. Sein Ursprung geht nicht auf den Menschen selbst, sondern auf einen, sei es göttlichen, sei es tierischen „Heilbringer“ zurück. So durchgehend ist diese Zurückführung aller Kulturgüter auf den „Heilbringer“ verbreitet, daß man bisweilen in dem Gedanken des Heilbringers geradezu den Kern und den Ursprung des Gottesgedankens finden zu können geglaubt hat53. Wieder erfassen wir hierin einen Wesenszug des mythischen Denkens, in welchem es sich aufs schärfste von der Richtung der „diskursiven“, der theoretischen Reflexion unterscheidet. Diese ist dadurch charakterisiert, daß sie auch in allem scheinbar unmittelbar Gegebenen den Anteil der Produktivität des Geistes erkennt und heraushebt. Selbst in dem rein Tatsächlichen weist sie die Momente der geistigen Gestaltung auf: selbst in den Daten der sinnlichen Empfindung und der Anschauung spürt sie der Mitwirkung der „Spontaneität des Denkens“ nach. Aber wenn auf diese Weise die Tendenz der Reflexion darauf gerichtet ist, alle Rezeptivität in Spontaneität aufzuheben, so wird für die mythische Auffassung umgekehrt auch das Spontane zu einem bloß Rezeptiven, so wird hier selbst alles durch die Mitwirkung des Menschen Erzeugte zu einem bloß-Empfange[126]nen. Und dies gilt wie von den technischen Werkzeugen der Kultur, so auch von ihren geistigen Werkzeugen. Denn zwischen beiden besteht anfangs überhaupt keine scharfe, sondern nur eine fließende Grenze. Auch rein geistige Inhalte und Erzeugnisse, wie die Worte der Sprache, werden zunächst durchaus als Bedingungen des physischen Daseins und der physischen Erhaltung des Menschen gedacht. Von den Cora-Indianern und von den Uitoto berichtet Preuß, daß nach ihrem Glauben der „Urvater“ die Menschen und die Dinge geschaffen habe, daß er aber nach Vollendung dieser Schöpfung nicht mehr unmittelbar in das Geschehen eingreife. Er gab vielmehr dem Menschen die „Worte“, d. h. den Kult und die religiösen Zeremonien, mit deren Hilfe sie nun die Natur beherrschen und dasjenige, was für den Fortbestand und das Gedeihen des menschlichen Geschlechts notwendig ist, von ihr erlangen. Ohne sie, ohne die heiligen Sprüche, die ihm von Anfang an mitgegeben wurden, würde der Mensch sich völlig hilflos fühlen, da die Natur der bloßen Arbeit des Menschen nichts hergibt54. Auch bei den Tscherokesen gilt der Glaube, daß die Aufspürung und Erlegung des Wildes bei ihren Jagdzügen oder beim Fischfang vor allem dem Gebrauch bestimmter Worte, bestimmter zauberischer Formeln verdankt wird55. Es ist ein weiter Weg, den die menschliche Geistesentwicklung durchmessen muß, um von hier aus, von dem Glauben an die physisch-magische Kraft, die im Worte beschlossen ist, zum Bewußtsein seiner geistigen Kraft fortzuschreiten. In der Tat ist es das Wort, ist es die Sprache, die dem Menschen diejenige Welt, die ihm fast noch näher steht als das physische Sein der Objekte, und die ihn in seinem Wohl und Wehe noch unmittelbarer berührt, erst eigentlich aufschließt. Durch sie erst wird für ihn das Dasein und Leben in der Gemeinschaft möglich; und in ihr, in der Gemeinschaft, in der Beziehung auf das „Du“ nimmt auch sein eigenes Ich, seine Subjektivität, erst eine bestimmte Gestalt an. Aber wieder gilt hier, daß diese schöpferische Leistung, indem sie sich vollzieht, nicht auch als solche erfaßt wird, daß alle Energie des geistigen Tuns auf das Ergebnis dieses Tuns übergeht, daß sie in ihm wie gebunden bleibt und von ihm, nur wie im Reflex, zurückstrahlt. So wird auch hier wie beim Werkzeug [127] alle Spontaneität als Rezeptivität, alle Schöpfung als Sein, alles, was Erzeugnis der Subjektivität ist, als Substantialität gedeutet. Und doch ist eben diese mythische Hypostase des Wortes in der Entwicklung des menschlichen Geistes von entscheidender Bedeutung. Denn sie bedeutet die erste Form, in der überhaupt die geistige Kraft, die dem Wort und der Sprache eigen, als solche erfaßt werden kann: das Wort muß im mythischen Sinne als substantielles Sein und als substantielle Kraft verstanden werden, ehe es im ideellen Sinne als ein Organon des Geistes, als eine Grundfunktion für den Aufbau und die Gliederung der geistigen Wirklichkeit verstanden werden kann.
[...] [174] […]
Wenn ich das Problem in dieser Weise auszusprechen versuche, so liegt es mir freilich zunächst ob, den Begriff der „symbolischen Form“ näher zu bestimmen. Man kann den Begriff des Symbolischen so nehmen, daß darunter eine ganz bestimmte Richtung geistiger Auffassung und Gestaltung verstanden wird, die als solche dann eine nicht minder bestimmte Gegenrichtung sich gegenüber hat. So läßt sich z.B. aus dem Ganzen der Sprache ein bestimmter Kreis sprachlicher Erscheinungen herausheben, die man im engeren Sinne als „metaphorisch“ bezeichnen und dem „eigentlichen“ Wort- und Sprachsinn gegenüberstellen kann – so kann man in der Kunst von einer Darstellungsform, die lediglich auf Herausgestaltung des sinnlichanschaulichen Inhalts geht, eine Darstellungsweise unterscheiden, die sich allegorisch-symbolischer Mittel des Ausdrucks bedient; und man kann schließlich auch vom symbolischen Denken als einer Denkform sprechen, die von der Form unserer logisch-wissenschaftlichen Begriffsbildung durch ganz bestimmte scharf zu charakterisierende Kennzeichen unterschieden ist. Was dagegen hier durch den Begriff der symbolischen Form bezeichnet werden soll, ist ein anderes und allgemeineres. Es handelt sich darum, den symbolischen Ausdruck, d.h. den Ausdruck eines „Geistigen“ durch sinnliche „Zeichen“ und „Bilder“, in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen; es handelt sich um die Frage, ob dieser Ausdrucksform bei aller Verschiedenheit ihrer möglichen Anwendungen ein Prinzip zugrunde liegt, das sie als ein in sich geschlossenes und einheitliches Grundverfahren kennzeichnet. Nicht also was das Symbol in irgendeiner besonderen Sphäre, was es in der Kunst, im Mythos, in der Sprache bedeutet und leistet, soll hier gefragt werden; sondern vielmehr wie weit die Sprache als Ganzes, der Mythos als Ganzes, die Kunst als Ganzes den allgemeinen Charakter symbolischer Gestaltung in sich tragen. Geschichtlich läßt sich freilich verfolgen, wie der Symbolbegriff zu dieser Weite und Allgemeinheit seiner systematischen Bedeutung nur langsam heranreift. Er wurzelt ursprüng[175]lich in der religiösen Sphäre und bleibt in ihr auf lange Zeit hinaus gebunden. Erst die neuere Zeit hat ihn von hier aus allmählich immer bewußter und entschiedener auf andere Gebiete verpflanzt und ihn insbesondere der Kunst und der ästhetischen Betrachtung zugeeignet. Goethe bezeichnet auch hierin am klarsten die entscheidende Wendung des modernen Bewußtseins. In der prachtvollen Schilderung, die Kestner von dem dreiundzwanzigjährigen Goethe, nach seiner Ankunft in Wetzlar entwirft, heißt es, daß er eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft besitze, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrücke: auch pflege er von sich selbst zu sagen, daß er sich immer nur uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne; wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedanken selbst, wie sie wären, zu denken und zu sagen. Aber noch der fünfundsiebenzigjährige Goethe sagt zu Eckermann, daß er all sein Wirken und Leisten sein Leben lang nur symbolisch angesehen habe und selbst den ursprünglichsten und tiefsten, den „eigentlichsten“ Gedanken, den er jemals gedacht, die Idee der Metamorphose, will er um diese Zeit, wie ein Brief an Zelter ausspricht, nur noch symbolisch genommen wissen. So schließt sich in diesen Begriff für ihn der geistige Ring seines Daseins; so faßt sich in ihm nicht nur das Ganze seines künstlerischen Strebens, sondern geradezu das Ganze der ihm eigentümlichen Lebens- und Denkform zusammen. Von Goethe ausgehend und beständig auf ihn hinblickend haben dann Schelling und Hegel den Symbolbegriff für die philosophische Ästhetik erobert und durch Fr. Theod. Vischers Aufsatz über das Symbol wird die Bedeutung, die er für die Grundlegung der Ästhetik besitzt, endgültig festgestellt. Aber nicht von diesen wie immer reichen und fruchtbaren Anwendungen des Begriffs, sondern von seiner einheitlichen und allgemeingültigen Struktur soll in den folgenden Betrachtungen die Rede sein. Unter einer „symbolischen Form“ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit [176] der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft. Humboldt hat für die Sprache dargelegt, wie in ihre Bildung und ihren Gebrauch notwendig die ganze Art der subjektiven Wahrnehmung der Gegenstände übergehe. Denn das Wort sei niemals ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes. „Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten. Durch denselben Akt, vermöge dessen der Mensch die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen hinübertritt2.“ Was hier von der Welt der Sprachlaute gesagt ist, das gilt nicht minder von jeder in sich geschlossenen Welt von Bildern und Zeichen, also auch von der mythischen, der religiösen, der künstlerischen Welt. Es ist eine falsche, freilich immer wiederkehrende Tendenz, den Gehalt und die „Wahrheit“, die sie in sich bergen, nach dem zu bemessen, was sie an Dasein, – es sei nun inneres oder äußeres, physisches oder psychisches Dasein – in sich schließen, statt nach der Kraft und Geschlossenheit des Ausdrucks selbst. Sie alle treten zwischen uns und die Gegenstände; aber sie bezeichnen damit nicht nur negativ die Entfernung, in welche der Gegenstand für uns rückt, sondern sie schaffen die einzig mögliche, adäquate Vermittlung und das Medium, durch welches uns irgendwelches geistige Sein erst faßbar und verständlich wird.
Daß eine solche Vermittlung, – sei es durch Lautzeichen, sei es durch die Bildgestalten des Mythos und der Kunst, sei es durch die intellektuellen Zeichen und Symbole der reinen Erkenntnis – zum Wesen des Geistigen selbst notwendig gehört, läßt sich leicht einsehen, sobald man nur auf die allgemeinste Form reflektiert, in der es uns gegeben ist. Aller geistige Inhalt ist für uns notwendig an die Form des Bewußtseins und somit an die Form der Zeit gebunden. Er ist nur, sofern er sich in der Zeit erzeugt, und er scheint sich nicht anders erzeugen zu können, als dadurch, daß er sogleich wieder verschwindet, um der Erzeugung eines [177] anderen neuen Raum zu geben. So steht alles Bewußtsein unter dem Heraklitischen Gesetz des Werdens. Die Dinge der Natur in ihrem objektiv-realen Dasein mögen allenfalls einen festen „Bestand“, eine relative Dauer aufweisen: dem Bewußtsein ist ein solcher durch seine eigenste Natur versagt. Es besitzt kein anderes Sein als das der freien Tätigkeit, als das Sein des Prozesses. Und in diesem Prozeß kehren niemals wahrhaft identische Bestandteile wieder. Hier findet nur ein stetiges Fließen statt, ein lebendiges Strömen, in dem alle feste Gestaltung, kaum daß sie gewonnen, wieder zergehen muß. Und eben dies bezeichnet nun die eigentümliche Antinomie, den immanenten Widerspruch des Bewußtseins selbst. Es kann sich von der Zeitform als solcher nicht befreien, denn in ihr besteht und auf ihr beruht seine eigene charakteristische Wesenheit. Und doch soll andererseits in dieser Form ein Gehalt nicht nur entstehen, sondern erstehen; aus dem bloßen Werden soll sich ein Gebilde, eine Gestalt, ein „Eidos“ losringen. Wie sind diese beiden widerstreitenden Forderungen miteinander zu vereinen und zu versöhnen? Wie läßt sich der Augenblick, der Moment der Zeit festhalten, ohne darin seinen Charakter als zeitlicher Augenblick zu verlieren; – wie läßt sich das Einzelne, Hier und Jetzt Gegebene des Bewußtseins, seine besondere Individualität so bestimmen, daß in ihm ein allgemeiner Gehalt, eine geistige „Bedeutung“ sichtbar wird?
Die Kluft, die sich hier vor uns auftut, scheint in der Tat unüberbrückbar; der Gegensatz scheint unaufheblich, sobald man ihn sich einmal auf die schärfste abstrakte Formel zu bringen sucht. Und doch begibt sich im Tun des Geistes beständig das Wunder, daß diese Kluft sich schließt; daß das Allgemeine sich mit dem Besonderen gleichsam in einer geistigen Mitte begegnet und sich mit ihm zu einer wahrhaften konkreten Einheit durchdringt. Dieser Prozeß stellt sich uns überall dort dar, wo das Bewußtsein sich nicht damit begnügt, einen sinnlichen Inhalt einfach zu haben, sondern wo es ihn aus sich heraus erzeugt. Die Kraft dieser Erzeugung ist es, die den bloßen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalt zum symbolischen Inhalt gestaltet. In diesem hat das Bild aufgehört, ein bloß von außen Empfangenes zu sein; es ist zu einem von innen her Gebildeten geworden, in dem ein Grundprinzip freien Bildens waltet. Dies ist die Leistung, die wir in den einzelnen „symbolischen Formen“, die wir in der Sprache, im Mythos, in der Kunst sich vollziehen sehen. Jede dieser Formen nimmt vom Sinnlichen nicht nur ihren Ausgang, sondern sie bleibt auch ständig im Kreise des Sinnlichen [178] beschlossen. Sie wendet sich nicht gegen das sinnliche Material, sondern lebt und schafft in ihm selbst. Und damit vereinen sich Gegensätze, die der abstrakten metaphysischen Betrachtung als unvereinbar erscheinen mußten. So wird in der Sprache der reine Bedeutungsgehalt der Begriffe, also ein Etwas, das allgemein und unwandelbar sein soll, dem flüchtigen Element des Lautes anvertraut, von dem wie von keinem anderen zu gelten scheint, daß es immer nur wird, aber niemals ist. Aber diese Flüchtigkeit selbst erweist sich nun als ein Mittel und ein Vehikel für die freie Bildsamkeit des Lautes durch den Gedanken. In dieser seiner Lebendigkeit und Beweglichkeit wird er, im Gegensatz zur Gebärdensprache, die zuletzt doch stets an der Bezeichnung des Einzelnen haften bleibt, zum Ausdruck nicht nur des Gedachten, sondern der inneren Bewegung des Denkens selbst. Indem wir die Eindrücke, die von außen auf uns einzudringen scheinen, nicht bloß wie tote Bilder auf einer Tafel betrachten, sondern indem wir sie mit der Lautgestalt des Wortes durchdringen, erwacht in ihnen selbst ein neues vielfältiges Leben. Jetzt gewinnen sie in der Differenzierung und Scheidung, die ihnen zuteil wird, zugleich eine neue inhaltliche Fülle. Denn das Lautzeichen ist nicht der bloße Abdruck solcher Unterschiede, die im Bewußtsein schon bestehen, sondern ein Mittel und eine Bedingung der innerlichen Gliederung der Vorstellungen selbst. Die Artikulation des Lautes spricht nicht nur die fertige Artikulation des Gedankens aus, sondern bereitet ihr erst selbst den Weg. Noch deutlicher erweist sich diese Untrennbarkeit der sinnlichen und der geistigen Elemente der Formbildung im Aufbau der ästhetischen Formwelt. Alle ästhetische Auffassung räumlicher Formen mag in sinnlichen Elementargefühlen wurzeln, alles Gefühl für Proportion und Symmetrie mag unmittelbar auf das Gefühl unseres eigenen Körpers zurückgeführt werden können – und doch gibt es für uns andererseits ein wahrhaftes Verständnis räumlicher Formen, eine plastische oder architektonische Anschauung nur dadurch, daß wir diese Formen in uns selbst zu erzeugen und uns der Gesetzlichkeit dieser Erzeugung bewußt zu werden vermögen.
Bei dieser Art des inneren Aufbaus der einzelnen Formwerte können wir einen dreifachen Stufengang unterscheiden. Immer beginnt das Zeichen damit, sich dem Bezeichneten möglichst nahe anzuschmiegen, es gleichsam in sich aufzunehmen und es so genau und vollständig als möglich wiederzugeben. So scheint die Sprache, je weiter wir sie zurückverfolgen, um so reicher an eigentlichen Lautnachahmungen und Laut[179]metaphern zu werden. Kein Wunder daher, daß die philosophische Theorie lange Zeit geglaubt hat, hier die unmittelbare Erklärung des Ursprungs der Sprache gewinnen zu können. Die Theorie des onomatopoietischen Sprachursprungs hat ihre systematische Durchbildung bereits in der Stoa erhalten, und sie hat sich in der originellen und merkwürdigen Fortbildung, die sie im 18. Jahrhundert durch Gianbattista Vico erfahren hat, in der neueren Zeit bis zu den Anfängen der modernen Sprachphilosophie behauptet. Heute, nach der kritischen Neubegründung der Sprachphilosophie durch Herder und Humboldt, darf freilich der Glaube, als könne man an diesem Punkte das Geheimnis der Spracherzeugung gleichsam mit Händen greifen, als überwunden gelten. Und doch lehrt andererseits ein Blick auf die Sprachgeschichte, daß die Lautnachahmung, so wenig sich in ihr das eigentliche Prinzip der Sprache enthüllt, sich doch als ein mitwirkender Faktor der Sprachbildung überall wirksam erweist. Daher ist es gerade die empirische Sprachforschung gewesen, aus der heraus immer wieder eine wenigstens bedingte Ehrenrettung des vielgeschmähten Prinzips der Lautnachahmung versucht worden ist: wie sich denn – um hier nur einige der bekanntesten Namen zu nennen – Hermann Paul, Georg Curtius und Wilhelm Scherer in diesem Sinne ausgesprochen haben. Niemand habe ein Recht – so betont Scherer gelegentlich – mit dem Lächeln mitleidiger Verachtung auf die Annahme eines ursprünglichen natürlichen Zusammenhangs zwischen Laut und Bedeutung herabzusehen: vielmehr gelte auch hier die Bemerkung, daß, wer derartige Probleme falsch löse, hundertmal höher stehe, als wer sich um die Lösung derselben niemals bemüht habe3. Noch mehr scheint sich diese Auffassung zu bestätigen, und einen noch größeren Umfang scheint sie zu gewinnen, wenn wir von unseren entwickelten Kultursprachen auf die Sprachen der Naturvölker hinüberblicken. So ist z. B. die Ewe-Sprache, wie Westermann in seiner Ewe-Grammatik betont, außerordentlich reich an Mitteln, um einen empfangenen Eindruck durch Laute wiederzugeben: ein Reichtum, der aus der fast unbezwinglichen Lust entspringe, jedes Gehörte, Gesehene, überhaupt irgendwie Empfundene nachzuahmen, durch einen oder mehrere Laute zu bezeichnen. Hier und in einigen verwandten Sprachen gibt es z. B. Adverbien, die nur eine Tätigkeit, einen Zustand [180] oder eine Eigenschaft beschreiben und die demgemäß nur einem Verbum angehören und mit ihm verbunden werden können. Westermann führt für das einzige Verbum des Gehens nicht weniger als 33 derartiger adverbialer Lautbilder an, denen jedes je eine besondere Weise, eine bestimmte Nuance und Eigenart des Gehens bezeichnet4. Wie man sieht, hat sich hier der sprachliche Ausdruck vom rein mimischen noch nicht geschieden und besitzt ihm gegenüber kaum eine höhere Form der Allgemeinheit. Dieser mimische Charakter der Sprachen der Naturvölker tritt besonders in der Fülle scharf differenzierter Ausdrucksformen hervor, die sie für die Bezeichnung und die genaue Bestimmung räumlicher Verhältnisse besitzen. Verschiedene Grade der Entfernung, sowie sonstige anschauliche Verhältnisse der Stellung und Lage des Gegenstandes, von dem die Rede ist, werden durch verschiedene Vokale, unter Umständen auch nur durch den verschiedenen Ton, die verschiedene lautliche Färbung desselben Vokals bezeichnet. In alledem tritt deutlich hervor, wie auf dieser Stufe der Sprachbildung der Laut mit den Elementen der sinnlichen Anschauung noch unmittelbar verschmilzt, wie er gleichsam in sie eindringt und sie in ihrer ganzen Konkretion und Fülle auszuschöpfen sucht.
Es ist schon ein weiterer Schritt zur Befreiung der eigentlichen und originären Sprachform vom Inhalt der sinnlichen Anschauung, wenn an die Stelle des unmittelbar nachahmenden, des onomatopoietischen oder mimischen Ausdrucks, eine andere Bezeichnungsweise tritt, die man die „analogische“ nennen könnte. Hier ist es nicht mehr irgendeine einzelne objektive Qualität des Gegenstandes, die im Laut festgehalten und nachgebildet wird, sondern hier geht die Beziehung, die zwischen Laut und Bedeutung festgehalten wird, durch die Subjektivität des Denkens oder Fühlens hindurch. Es besteht keine sachlich aufzeigbare Ähnlichkeit mehr zwischen dem Laut und dem, was er bezeichnet; wohl aber erscheinen auch jetzt noch ganz bestimmte Tonbildungen und Tonnuancen für das Sprachgefühl zugleich als Träger bestimmter natürlicher Bedeutungsunterschiede. Nicht mehr das „Ding“ schlechthin, sondern der durch die Subjektivität vermittelte Eindruck von ihm oder eine Form der Tätigkeit des Subjekts ist es, was seine Darstellung und irgendeine Art der „Entsprechung“ im Laute finden soll. Gerade das geschärfte Sprachgefühl der feinsten und tiefsten Sprachkenner glaubt bisweilen, solche Entsprechun[181]gen noch in weit vorgerückten Stadien der Entwicklung unserer Kultursprachen erfassen zu können. So hat z. B. Jakob Grimm zwischen dem Sinn der Frage- und Antwortform und den Lauten, die im Indogermanischen zur Bildung der Frage- und Antwortwörter gebraucht werden, eine solche Entsprechung aufzuzeigen versucht. In Sprachen, die den musikalischen Silbenton besitzen, d. h. die übrigens gleichlautende Silben durch Hoch-, Mittel- oder Tiefton oder durch gleichbleibenden, steigenden oder fallenden Ton unterscheiden, kann diese Unterscheidung bald etymologischen Wert haben, d. h. eine Verschiedenheit der Bedeutung der Worte bezeichnen, bald kann sie auch für irgendeine bestimmte formale Funktion der Sprache eintreten. So kann z. B. die bloße Tonveränderung zum Ausdruck der Verneinung gebraucht werden, oder es können zwei im wesentlichen gleiche Silben, durch die verschiedene Tonqualität, zum Ausdruck eines Dinges oder Vorgangs, eines Nomen oder eines Verbum, gestempelt werden. Auch die Differenzierung zwischen transitiven, rein aktiven Verben und solchen, die nicht ein Tun, sondern einen Zustand und ein Leiden ausdrücken, kann auf diese Weise erfolgen. Hier ist es somit nicht mehr die Nachahmung eines sinnlich wahrgenommenen Gegenstandes, sondern eine schon sehr komplexe gedankliche Unterscheidung, hier ist es die Versetzung eines Wortes in eine bestimmte grammatische Kategorie, welche durch ein an sich rein musikalisches Prinzip, wie den Silbenton, geleistet wird. Noch auf der gleichen Stufe scheint sich ein sprachliches Mittel, wie die Reduplikation zu halten, bei dem ebenfalls ein bestimmtes sinnliches Klang- und Lautmittel dem Ausdruck der mannigfachsten gedanklichen Beziehungen und Bedeutungen dienstbar gemacht wird. Die Reduplikation schließt sich zunächst wieder ganz eng dem objektiven Vorgang an und sucht ihn unmittelbar nachzubilden: die Verdoppelung und Wiederholung der Silbe dient zur Bezeichnung einer Handlung oder eines Vorgangs, die sich tatsächlich in mehreren gleichartigen Phasen vollzieht. Aber von hier greift sie weiter, um solche Inhalte zu bezeichnen, die nur noch nach einer entfernten Analogie mit diesem Grundsinn der Wiederholung zusammenhängen. Sie dient beim Substantivum der Bildung der Mehrheit, beim Adjektivum der Bildung der Steigerungsformen, beim Verbum bildet sie neben den Frequentativformen vor allem Intensivformen und wird weiterhin zum Ausdruck einer großen Zahl, insbesondere temporaler Unterschiede gebraucht. Es gibt Sprachen, in denen dieses Mittel der Reduplikation den ganzen grammatischen Bau beherrscht. In alledem [182] tritt deutlich hervor, wie die Sprache, auch nachdem sie sich von der bloß onomatopoietischen Art des Ausdrucks befreit hat, noch immer bestrebt ist, sich dem Bedeutungsgehalt anzugleichen, ihm gleichsam tastend nachzugehen. Aber auf den höchsten Stufen ihrer Entwicklung erscheint dieser Zusammenhang gelöst. Auf jede Form der wirklichen Nachahmung wird nun verzichtet, und statt dessen tritt die Funktion der Bedeutung in reiner Selbständigkeit hervor. Je weniger jetzt die Sprachform noch danach strebt, ein, sei es unmittelbares, sei es mittelbares Abbild der gegenständlichen Welt zu bieten, je weniger sie mit dem Sein dieser Welt sich identifiziert, um so deutlicher ist sie damit zu ihrer eigentümlichen Leistung, zu ihrem spezifischen Sinn durchgedrungen. Jetzt erst hat sie statt des mimischen oder analogischen Ausdrucks die Stufe des symbolischen Ausdrucks erreicht, der, indem er sich von jeder Ähnlichkeit mit dem Gegenständlichen abscheidet, nun gerade in dieser Entfernung und Abkehr einen neuen geistigen Gehalt gewinnt. Wir können hier nicht im einzelnen verfolgen, wie die gleiche Richtung des Fortgangs auch im Aufbau der ästhetischen Formwelt sichtbar wird. Hier stehen wir freilich von Anfang an auf einem anderen Boden und sozusagen in einer anderen geistigen Dimension. Denn eine künstlerische Form im eigentlichen Sinne entsteht erst dort, wo die Anschauung sich von jeder Gebundenheit im bloßen Eindruck gelöst, wo sie sich zum reinen Ausdruck befreit hat. Schon die erste Phase künstlerischer Gestaltung ist daher von jeder Art der „Nachahmung“ streng geschieden. Und doch tritt auch hier, auf einer höheren Stufe, die gleiche typische Scheidung wieder hervor. Dabei handelt es sich freilich nicht um das bloße Nacheinander, um eine einfache geschichtliche Abfolge konkreter künstlerischer Darstellungsweisen, sondern um Grundmomente der künstlerischen Darstellung selbst, die auf jeder Stufe ihrer Entwicklung vorhanden sind, und deren verschiedenes Verhältnis, deren Dynamik für den Stil jeder Epoche bestimmend ist. Goethe hat in einem Aufsatz, der das Ganze seiner ästhetischen Grundanschauungen zusammenfaßt, drei Formen der Auffassung und Darstellung unterschieden, die er als „einfache Nachahmung der Natur“, als „Manier“ und als „Stil“ bestimmt. Die Nachahmung versucht in ruhiger Treue die konkrete sinnliche Natur des Gegenstandes, die dem Künstler vor Augen steht, festzuhalten; aber diese Treue gegenüber dem Objekt ist zugleich die Einschränkung in dasselbe. Ein beschränkter Gegenstand wird auf beschränkte Weise und mit beschränkten Mitteln wiedergegeben. Auf der zweiten [183] Stufe fällt diese Passivität gegenüber dem gegebenen Eindruck fort: es entsteht eine eigene Formensprache, in der sich nicht sowohl die einfache Natur des Objekts, als der Geist des Sprechenden ausdrückt. Der Gegenstand, das Modell steht der bildenden Kraft des Künstlers gegenüber; aber dieser sucht ihn nicht mehr in seiner Totalität zu ergreifen und ihn gleichsam auszuschöpfen, sondern er hebt an ihm einzelne charakteristische Züge heraus, um sie zu den eigentlichen künstlerischen Wesenszügen zu stempeln. Aber es gibt freilich noch eine höhere Form und eine höhere Kraft der Darstellung, als diejenige ist, die sich in der individuellen und somit zufälligen Natur des Künstlers gründet. Wenn die Subjektivität des Künstlers die Manier erzeugt, so erzeugt die Subjektivität der Kunst, so erzeugt das, was jede Kunst rein aus ihren eigenen Mitteln der Darstellung zu leisten vermag, den Stil. Dieser ist somit freilich der höchste Ausdruck der Objektivität, aber es ist nicht mehr die einfache Objektivität des Daseins, sondern die Objektivität des künstlerischen Geistes, es ist nicht die Natur des Bildes, sondern die zugleich freie und gesetzliche Natur des Bildens, die sich in ihm ausprägt. „Wie die einfache Nachahmung auf dem ruhigen Dasein und einer liebevollen Gegenwart beruht, die Manier eine Erscheinung mit einem leichten fähigen Gemüt ergreift, so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern es uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen.“ Wir erkennen diese Unterscheidung, wenn wir auf die Betrachtung der Sprachform zurückblicken, als einem allgemeinen Zusammenhange angehörig. Den Weg von der Nachahmung zum reinen Symbol muß die Kunst durchmessen, wie ihn die Sprache durchmißt: und nur auf ihm wird der „Stil“ der Kunst, wie der Stil der Sprache erreicht. Es ist eine analoge Gesetzlichkeit im Fortgang, es ist ein gleichartiger Rhythmus der Entfaltung zur Spontaneität des geistigen Ausdrucks, was sich hier wie dort wirksam erweist. –
In Goethes Definition des Stils aber liegt zugleich der Hinweis auf einen anderen Problemkreis: denn hier wird der Begriff des Stils mit dem der Erkenntnis verknüpft. So werden wir daran erinnert, daß auch die Erkenntnis, daß auch die Entwicklung der logischen und intellektuellen Funktionen den Bedingungen unterliegt, die für jede Art des Fortschritts vom natürlichen Dasein zum geistigen Ausdruck gelten. Die Erkenntnis beginnt als sinnliche Empfindung und Wahrnehmung damit, sich auf das Ding, auf das „Wirkliche“ zu richten, es ganz in sich auf[184]zunehmen und es gleichsam in den Kreis des Bewußtseins hinüberzuziehen. Die erste und in vieler Hinsicht klassische Ausbildung, die die Erkenntnislehre des Sensualismus in der antiken Philosophie gefunden hat, beschreibt diesen Vorgang noch in durchaus sinnlicher und stofflicher Weise: die Bilder, die εἴδωλα, durch welche die Verbindung zwischen Objekt und Subjekt hergestellt wird, sind stoffartige Partikel, die sich von den Dingen loslösen, um in das Ich, in die Seele einzudringen. Die Aristotelische und die stoische Erkenntnislehre haben versucht, den Ausdruck, der hier der Beziehung von Erkenntnis und Gegenstand gegeben wird, ständig zu verfeinern. Bei Aristoteles ist es nicht die Materie des Gegenstandes, sondern seine reine Form, die bei der Sinnesempfindung in die Seele übergeht, – wie das Wachs zwar die Form des Siegelrings, aber nicht das Gold oder Erz in sich aufnimmt. Und in der Stoa wird der Terminus der τύπωσις von Chrysipp durch den allgemeinen der ἑτεροίωσις ersetzt: nicht ein Abdruck des Gegenstandes werde bei der Wahrnehmung in der Seele erzeugt, sondern nur eine Veränderung in ihr bewirkt, auf Grund deren über sein Dasein und seine qualitative Beschaffenheit geurteilt wird. Aber so sehr man hier und in der mittelalterlichen Philosophie bestrebt ist, zu einer Intellektualisierung und Sublimierung der Abbildtheorie vorzudringen, und so sehr insbesondere die Scholastik sich um die Unterscheidung der „species intelligibilis“ von der „species sensibilis“ bemühte, – so lebte doch in dem abstrakten Begriff der „Species“ selbst die alte sinnliche Grundbedeutung des Bildes fort. Es bedurfte der neuen Denkform des modernen Idealismus, um den Aristotelisch-scholastischen Speziesbegriff und die an ihn geknüpfte Erkenntnislehre endgültig zu überwinden. Aber so fest und beharrlich erhielt sich andererseits die Voraussetzung, daß der Gegenstand, um erkannt zu werden, in irgendeiner Weise in das Bewußtsein eingehen, daß er sich in ihm ganz oder teilweise abbilden müsse, daß jetzt, nachdem diese Voraussetzung erschüttert war, auch die Erkennbarkeit des Gegenstandes mehr und mehr problematisch zu werden drohte. Der Idealismus eines Descartes und Leibniz, der nichts anderes erstrebte, als das Kriterium der objektiven Gültigkeit der Erkenntnisse in ihre reine Form, in die Form der cogitatio und des intellectus ipse zu verlegen, schloß für alle diejenigen, die sich von der dogmatischen Prämisse der Abbildtheorie nicht trennen konnten, eine unverhüllt-skeptische Folgerung in sich. Selbst bei Kant schien der Schwerpunkt der Lehre mehr in dem, was sie als negative Konsequenz in sich schloß, als in ihrer neuen [185] positiven Grundeinsicht zu ruhen. Als Kern seines Gedankens erschien nicht sowohl der Nachweis, wie die echte Objektivität der Erkenntnis in der freien Spontaneität des Geistes begründet und in ihr gesichert sei, als vielmehr die Lehre von der Unerkennbarkeit des „Dinges an sich“. Dennoch ist gerade umgekehrt der scharfe Schnitt, der hier die Erkenntnis von den „Dingen an sich“ ein für allemal loslöst, nur ein anderer Ausdruck für die Tatsache, daß sie nunmehr ihren festen Grund in sich selber gefunden hat. Das „Ding an sich“ ist, nach dem Hegelschen Ausdruck, nur das „caput mortuum der Abstraktion“; nur die negative Bezeichnung eines Zieles, nach dem die Erkenntnis nicht orientiert werden kann und nicht länger orientiert zu werden braucht – aber diese Negation schließt zugleich eine neue und eigentümliche Position, schließt die Zentrierung der Erkenntnis in ihrer eigenen Form, und im Gesetz dieser Form, in sich.
Und die gleiche typische Wendung tritt uns entgegen, wenn wir die Erkenntnis nicht lediglich nach ihrer allgemeinsten Bestimmung, sondern in ihren Besonderungen betrachten; wenn wir nicht nur ihren philosophischen Begriff, sondern die Ausprägung dieses Begriffes, die konkrete Gestaltung der Einzelwissenschaften, ins Auge fassen. Jede Einzelwissenschaft prägt in ihrem Fortgang immer feinere und eigentümlichere Begriffsmittel aus, und sie lernt zugleich mehr und mehr, sie als das, was sie sind, als intellektuelle Symbole, zu verstehen. Die Geschichte der Mathematik liefert für diesen Sachverhalt den fortlaufenden Beleg. Auch die Geometrie mag mit empirischen Messungen begonnen haben; auch die Zahl tritt im menschlichen Denken zuerst als Dingzahl hervor. Aber der Fortschritt der Mathematik und ihre Entwicklung zur strengen Wissenschaft besteht eben darin, daß sie sich von diesem Anfang und von der mit ihm verbundenen Bindung und Einengung mehr und mehr befreit. Wenn der Begriff der ganzen Zahl sich zu dem der Bruchzahl erweitert, so mag diese Erweiterung an wirklichen Vorgängen der Dingwelt, an der Zerteilung konkreter Gegenstände, noch ihr Korrelat haben; wenn das Irrationale, dem in der antiken Mathematik noch der Name der Zahl versagt wird, als eine ihrer Formen anerkannt wird, wenn neben die positive Zahl die negative tritt, so läßt sich dies alles noch unmittelbar an der Anschauung räumlicher Größen und Größenverhältnisse belegen. Aber mehr und mehr ringt sich allmählich der reine Zahlbegriff wie von der dinglichen, so auch von der räumlichen Anschauung los. In der modernen Mathematik besteht seit [186] Dedekind immer deutlicher die Tendenz, das System der Zahlen als ein System von „freien Schöpfungen des Geistes“ zu begreifen, das keinem anderen Gesetz untersteht, als demjenigen, das in ihrer ursprünglichen Setzung beschlossen ist. Allgemein zeigt sich, daß jeder wahrhaft große methodische Fortschritt, den die Mathematik im Laufe ihrer Geschichte errungen hat, mit einer Ausbildung, einer intellektuellen Verfeinerung ihres Zeichensystems stets aufs engste verbunden, ja an eine solche geradezu gebunden war. Die Entdeckung der Algebra, die als „Logistice speciosa“, als figürliche Analysis, von Vieta begründet wird; der Algorithmus der Infinitesimalrechnung, den Leibniz aufstellt, und der für ihn nur einen Sonderfall seines philosophisch-wissenschaftlichen Grundplans, des Entwurfs einer „allgemeinen Charakteristik“ bedeutet, liefert hierfür den deutlichsten Beleg. Was ferner die mathematische Physik betrifft, so weist auch sie, in Hinsicht auf das hier betrachtete Problem, eine höchst charakteristische Entwicklung auf. Solange das klassische System der Galilei- Newtonschen Mechanik schlechthin als das System der Physik galt: so lange konnten seine Grundbegriffe, die Begriffe des Raumes und der Zeit, der Kraft und der Masse, noch als Begriffe gedeutet werden, die uns in der Art, wie die Physik sie anwendet, unmittelbar und in eindeutiger Bestimmtheit durch die „Natur der Dinge“, durch den Charakter des Physisch-Wirklichen aufgenötigt werden. In dem Augenblick aber, als man einen neuen Aufbau der Mechanik kraft einer Variation und Umbildung eben dieser Grundbegriffe versuchte, war dieser Auffassung der Boden entzogen. Es ist daher kein Zufall, daß Heinrich Hertz, der in seinen „Prinzipien der Mechanik“ diesen entscheidenden Schritt zuerst vollzog, der den Kraftbegriff aus der Grundlegung der Mechanik ausstrich und diese ausschließlich aus den drei unabhängigen Grundvorstellungen der Zeit, des Raumes und der Masse aufbaute, in eben diesem Versuch zugleich eine neue prinzipielle Klarheit über den Symbolbegriff im allgemeinen, und über die Richtung und den Sinn der physikalischen Symbolik im besonderen, erringt. „Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewußten Naturerkenntnis – so betont er –, daß sie uns befähigt, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können. Das Verfahren aber, dessen wir uns zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen und damit zur Erlangung der erstrebten Voraussicht stets bedienen, ist dieses: Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren [187] Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände.“ Also auch hier tritt an Stelle des äußeren Abdrucks der Gegenstände ihr „inneres Scheinbild“, ihr mathematisch-physikalisches Symbol – und die Forderung, die wir an die Symbole der Physik stellen, ist nicht, daß sie ein einzelnes sinnlich-aufzeigbares Dasein abbilden, sondern daß sie untereinander in einer derartigen Verknüpfung stehen, daß wir kraft dieser Verknüpfung, kraft der denknotwendigen Folgen der Bilder, die Gesamtheit unserer Erfahrung systematisch ordnen und beherrschen können. Betrachtet man das Weltbild der modernen Physik, so sieht man, wie fruchtbar diese allgemeine Auffassung der physikalischen Erkenntnis für dasselbe geworden ist. Das Befremden und die Ratlosigkeit, mit der die Philosophie heute noch vielfach den Ergebnissen der Relativitätstheorie gegenübersteht, rührt vielleicht großenteils daher, daß sie den eigentümlichen Charakter der physikalischen Symbolik, der sich in dieser Theorie ausprägt, noch nicht scharf und klar erfaßt hat. Solange die Philosophie keine andere Möglichkeit kennt, als die Symbole, die hier gebraucht werden, z. B. das Symbol des Riemannschen Raumes, entweder als Ausdrücke für direkt gegebene Wirklichkeiten oder als bloße Fiktionen anzusehen – so lange hat sie ihren methodischen Sinn und Wert noch nicht begriffen. Die Relativitätstheorie ist – wenn wir die früher erwähnte Goethesche Dreiteilung zu ihrer Charakteristik verwenden wollen – freilich weit davon entfernt, eine „einfache Nachahmung der Natur“ zu bedeuten; aber ebensowenig drückt sich in ihr eine bloß zufällige „Manier“ der Naturbetrachtung aus, sondern sie scheint, wie wenige andere Theorien, den eigentlichen „Stil“ der modernen physikalischen Erkenntnis zu repräsentieren.
2
Wir haben bisher die Kraft des inneren Bildens, die sich in der Erzeugung der Welt der Kunst und der Welt der Erkenntnis, in der Erzeugung der mythischen und der sprachlichen Welt beweist, im wesentlichen als eine Einheit betrachtet; wir haben eine durchgehende Form des Aufbaus, gleichsam eine allgemeine Typik, in ihr herauszustellen gesucht. Aber das wahre Verhältnis der Einzelformen tritt erst zutage, wenn wir nun innerhalb dieser Typik die besonderen und spezifischen [188] Züge jeder einzelnen Grundrichtung zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen versuchen. Die Funktion der Bildgestaltung überhaupt mag immerhin als eine letzte übergreifende Einheit gedacht werden können; aber die Verschiedenheit der Formen tritt sofort wieder hervor, sobald man auf das verschiedene Verhältnis reflektiert, das der Geist in jeder von ihnen zu der von ihm erzeugten Welt der Bilder und Gestalten sich gibt.
Bleiben wir auf der Stufe des Mythos stehen, so tritt uns hier die Bildkraft des Geistes in ihrem ganzen Reichtum, in der unabsehbaren Mannigfaltigkeit und Fülle ihrer Äußerungsweisen, entgegen; aber zugleich bedeutet hier die Welt der Bilder für das Bewußtsein nur eine andere Form der objektiv-dinglichen Wirklichkeit, weil es ihr in der gleichen Gebundenheit wie der Welt der unmittelbaren Sinneseindrücke gegenübersteht. Das Bild ist nicht als solches, als eine freie geistige Schöpfung, gewußt und erkannt, sondern es kommt ihm eine selbständige Wirksamkeit zu; es geht ein dämonischer Zwang von ihm aus, der das Bewußtsein beherrscht und bannt. Das mythische Bewußtsein wird durchweg durch diese Indifferenz von Bild und Sache bestimmt: beide können sich in der Art des Seins nicht voneinander trennen, weil die Art des Wirkens ihnen gemeinsam ist. Denn in dem allgemeinen mythisch-magischen Verflechtungszusammenhang der Dinge eignet dem Bild die gleiche Kraft wie irgendeinem physischen Dasein. Das Bild des Menschen oder sein Name repräsentiert hier keineswegs den Menschen, sondern es ist, vom Standpunkt des magischen Wirkungszusammenhangs und also gemäß dem magischen Begriff der „Realität“, der Mensch selbst. Wie derjenige, der sich des kleinsten körperlichen Teils eines Menschen, der sich seiner Haare, seiner Nägel usf. zu bemächtigen vermag, kraft desselben den ganzen Menschen besitzt und beherrscht, so wird die gleiche Herrschaft, durch den Besitz des Bildes oder Namens verbürgt. Der Glaube an die objektive Wesenheit und an die objektive Kraft des Zeichens, der Glaube an Wort- und Bildzauber, an Namen- und Schriftzauber, bildet ein Grundelement der mythischen Weltansicht. Nun vollzieht sich freilich innerhalb dieser letzteren selbst eine allmähliche Loslösung und Befreiung in dem Maße, als die Welt des Mythos der eigentlich religiösen Welt zu weichen beginnt. Alle Entfaltung des religiösen Selbstbewußtseins nimmt hier ihren Ursprung. Mag die mythische Phantasie immerhin der substantielle Untergrund und gleichsam der Nährboden auch für alles Religiöse bleiben: [189] die eigentliche charakteristische Form des Religiösen wird doch erst erreicht, wenn es sich in bewußter Energie von diesem Boden losreißt, und mit einer ganz neuen Kraft geistiger Kritik dem Inhalt der mythischen Bilder entgegentritt. Aus dieser Haltung heraus, aus dem Kampf gegen den Bilderdienst, wird im israelitischen Prophetismus der Inhalt und die Form der Gottesidee gewonnen. Das Verbot des Bilderdienstes bildet die Grenzscheide zwischen dem mythischen und dem prophetischen Bewußtsein. Das unterscheidet das neue monotheistische Bewußtsein, daß für dasselbe die beseelende, die geistige Kraft des Bildes wie verloschen ist; daß alle Bedeutung und Bedeutsamkeit sich in eine andere, rein geistige Sphäre zurückzieht und damit vom Sein des Bildes nichts anderes als das leere materielle Substrat zurückläßt. Vor der heroischen Abstraktionskraft, die dem prophetischen Denken eignet, und die auch das prophetische religiöse Gefühl bestimmt, werden die Bilder des Mythos zum „lautern Nichts“. Und doch bleiben sie nicht auf die Dauer in dieser Sphäre des „Nichts“ beschlossen, in die das prophetische Bewußtsein sie zurückzudrängen sucht; sondern immer aufs neue brechen sie aus ihr hervor und machen sich als eine selbständige Macht geltend.
[…] [192] […]
Allgemein kann die philosophische Betrachtung der „symbolischen Formen“ niemals dabei stehen bleiben, jede von ihnen einzeln, in ihrer bestimmten geistigen Struktur und in ihren spezifischen Ausdrucksmitteln zu beschreiben, sondern es wird zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben, das wechselseitige Verhältnis dieser Formen zu bestimmen; – ein Verhältnis, das ebensosehr aus ihrer Entsprechung wie aus ihrem Gegensatz, aus ihrer Anziehung wie aus ihrer Abstoßung sich ergibt. Aus dem Umkreis der Probleme, die sich für eine derartige Betrachtung ergeben, hebe ich nur noch ein einzelnes heraus. Wenn man die mythische Welterklärung der wissenschaftlichen Welterklärung gegenüberstellt, so zeigt sich, daß beide nicht dadurch voneinander getrennt sind, daß auf der einen Seite die höchste objektive Bestimmtheit des Denkens, auf der anderen Seite lediglich phantastische Laune und individuelle Willkür waltet. Auch der Mythos hat eine in sich geschlossene Form; auch er zeigt, in aller widerspruchsvollen Fülle seiner Bildungen, ein bestimmtes Gesetz des Bildens selbst. Und diese Form entspringt wenigstens nicht ausschließlich den Antrieben der Phantasie oder des bloßen [193] Affekts, sondern sie faßt daneben ganz bestimmte intellektuelle Momente in sich. Das mythische Denken hat seine „Kategorien“, wie das logisch wissenschaftliche Denken sie hat. Vor allem ist es die grundlegende und beherrschende Kategorie, die Kategorie der Kausalität, die sich auch in ihm wirksam erweist. Daß es dem Mythos an dem allgemeinsten Begriff der Kausalität, an dem bloßen Verhältnisgedanken von „Ursache“ und „Wirkung“, keineswegs mangelt, tritt in seiner ständigen Tendenz zur Ableitung und „Erklärung“ der Welt deutlich zutage. Kosmogonie und Theogonie bestimmen erst das Ganze der mythischen Welt. Und schon auf niederen Stufen beweist die Fülle der Mythenmärchen, die für irgendein einzelnes Ding, für die Sonne oder den Mond, für den Menschen oder eine Tier- und Pflanzenart, die mythische „Entstehung“ angeben, wie tief dieser Grundzug im mythischen Denken wurzelt. Nicht die Form der Kausalität als solche, sonder [sic] ihre besondere Richtung und Ausgestaltung ist es somit, die den mythischen Begriff des Seins und Werdens vom wissenschaftlichen Begriff prinzipiell unterscheidet. Denn der Mythos bleibt auch noch in seinem kausalen Denken, und vorzugsweise in ihm, an die Form des „komplexen Denkens“ gebunden, die für ihn überhaupt bezeichnend und bestimmend ist. Ihm genügt jede bloße Ähnlichkeit der Dinge oder ihre zufällige Koexistenz, ihr Beisammen im Raume und ihre Berührung in der Zeit, um sie zu einer magischen Einheit des Wirkens zusammenzuschließen. Jeder „Analogiezauber“ ist ein typisches Beispiel dieses Verhaltens. Der Name des Analogiezaubers freilich verdunkelt diesen Sachverhalt eher, als daß er ihn erhellt: denn gerade dies ist für die mythische Auffassung bezeichnend, daß sie dort, wo wir eine bloße „Analogie“, eine bloße Beziehung der Ähnlichkeit erblicken, die zwischen zwei verschiedenen und selbständigen Elementen stattfindet, in Wahrheit nur ein einziges Ding vor sich sieht. Sie trennt nicht das verschiedenartige Besondere nach generischen Ähnlichkeiten ab; sondern jede Ähnlichkeit ist ihr der unmittelbare Ausdruck einer Identität des Wesens. Und das Gleiche wie für die Relation der Ähnlichkeit gilt auch für die des räumlichen Beieinander und der zeitlichen Gemeinschaft. Was einmal im Raume und in der Zeit zusammentritt, das verwächst damit zu mythisch-magischer Einheit. „Es ist, als wenn das einzelne Objekt“ – so charakterisiert K. Th. Preuß dieses Verhalten des mythischen Denkens – „gar nicht für sich gesondert betrachtet werden kann, sobald es das magische Interesse erregt, sondern stets die Zugehörigkeit zu anderen Objekten in sich trägt, mit denen es [194] identifiziert wird, so daß die äußere Erscheinung nur eine Art Umhüllung, eine Maske bildet6.“
Eben hierin aber trennt sich nun der wissenschaftliche Begriff der Kausalität von ihrem mythischen Begriff. Denn dieser wissenschaftliche Begriff entspringt – trotz Hume und all denen, die seine psychologistische Theorie wiederholt haben – nicht dem Zug und Trieb der „Assoziation“, nicht dem Walten der subjektiven Einbildungskraft, die das post hoc und juxta hoc in ein propter hoc verwandelt. Vielmehr zeigt er sich, schärfer betrachtet, genau in dem entgegengesetzten geistigen Verhalten gegründet. Es ist die begriffliche Kraft der Analyse, die das wissenschaftliche Kausalurteil erst ermöglicht und die ihm seinen festen Halt gibt. Wenn der Mythos ein Ding als komplexe Gesamtheit aus einem anderen Ding hervorgehen läßt, so kennt das wissenschaftliche Kausalurteil streng genommen die Beziehung von Ursache und Wirkung überhaupt nicht mehr als ein solches unmittelbares Dingverhältnis. Nicht Dinge, als komplexe sinnlich gegebene Gesamtheiten, sondern Veränderungen sind es, die zueinander in das Verhältnis von Ursache und Wirkung treten. Jeder kausale Ablauf erscheint als das Ganze eines Prozesses, der immer genauer und schärfer in seine Teilphasen und seine Teilbedingungen zerlegt wird. Diese Zerlegung schafft erst die Elemente, zwischen denen eine ursächliche Beziehung überhaupt aussagbar ist. Ein Phänomen α gilt als Ursache eines anderen β nicht darum, weil beide in der Beobachtung genügend oft miteinander zusammengetroffen sind und ihr weiteres Zusammentreffen auf Grund eines psychologischen Zwanges erwartet wird, sondern weil aus dem Ganzen von α sich ein Moment χ, aus dem Ganzen von β sich ein Moment γ herauslösen läßt, wobei χ und γ so beschaffen sind, daß sich der Übergang vom einen zum andern nach einer allgemeinen Regel bestimmen läßt. Als eindeutig fixiert und als wahrhaft allgemein erscheint dabei, nach der Grundanschauung der mathematischen Physik diese Regel nur dann, wenn es gelingt, χ und γ als Größen zu fassen, deren Veränderungen einem bestimmten Maßstab unterliegen, und die sich in diesem ihren Maßwert gegenseitig bedingen. Diese Größen und die Form ihrer gesetzlichen Verknüpfung, durch welche ihr Zusammenhang als „verständlich“, als notwendig erscheint, aber werden nicht unmittelbar in dem wahr[195]genommenen Inhalt der Phänomene vorgefunden, sondern müssen ihm gleichsam erst gedanklich substruiert und unterbaut werden. Das Sinnlichgegebene wird mit der Form unserer kausalen „Schlüsse“ durchsetzt und durchdrungen und nimmt nun kraft dieser Analysis und Synthesis des Verstandes selbst eine neue Gestalt an. Was zuvor dicht beieinander lag, was durch qualitative Ähnlichkeit oder durch räumlich-zeitliche Nachbarschaft aufs engste miteinander verbunden schien, kann jetzt in weite Ferne rücken – wie andererseits die vom Standpunkt der unmittelbaren Beobachtung einander fernsten Erscheinungen sich auf Grund der gedanklichen Zergliederung als einem Gesetz untergeordnet und insofern wesensverwandt erweisen. Während somit die Denkart des Mythos die Bezugsglieder von Ursache und Wirkung überall gleichsam mit Händen zu greifen glaubte, ist es hier eine höchst verwickelte, sondernde und scheidende, eine eigentlich „kritische“ Arbeit des Geistes, die erst zu ihnen hinleitet. Durch diese kritische Arbeit tritt an Stelle des bloßen empirischen Beisammen einzelner Inhalte eine immer schärfere Unter- und Überordnung – das bloße Dasein und seine individuelle Beschaffenheit wandelt sich immer bestimmter in einen allgemeinen Zusammenhang von „Gründen“ und „Folgen“. Die Wissenschaft trennt beständig die Elemente des einfachen „Daseins“ der Dinge, um für diese Trennung eine um so festere Verknüpfung nach allgemeingültigen Gesetzen einzutauschen. Sie setzt die Elemente des „Seins“ derart an, und stellt sie zueinander in ein derartiges Verhältnis, daß dies höchste intellektuelle Ziel, dem sie nachstrebt, aufs vollkommenste erreicht wird. Der Zusammenhang der Wahrnehmungswelt löst sich, um in einer anderen Dimension in einer neuen Weise, weil unter einer neuen gedanklichen Form, wieder zu erstehen. So fallen – um ein einzelnes konkretes Beispiel zu geben – sinnlich so weit voneinander abstehende Phänomene wie das Phänomen des fallenden Steines, das Phänomen der Mondbewegung und das von Ebbe und Flut für uns seit Newton unter ein und demselben physikalischen Begriff. Auf der anderen Seite geht das Zurückdrängen des spezifisch sinnlichen Elements aus den Definitionen der physikalischen Begriffe so weit, daß Gebiete der Physik, welche ursprünglich durch die Zuordnung zu einer bestimmten Sinnesempfindung als durchaus einheitlich charakterisiert wurden, theoretisch nunmehr in verschiedene ganz getrennte Stücke auseinanderfallen. […] [196] […] Die früheren Phasen der sprachlichen Entwicklung sind gegenüber den späteren dadurch charakterisiert, daß in ihnen nicht nur kein Mangel, sondern vielmehr eine Überfülle differenzierender Ausdrücke besteht, daß aber nichtdestoweniger die Differenzen nicht als solche bewußt und als solche bezeichnet sind, weil es an dem allgemeinen Begriff und somit an dem allgemeinen Prinzip mangelt, aus dem sie als Besonderungen einer übergreifenden Einheit bestimmt werden könnten. Erst indem die logische Kraft der Analyse erstarkt, und indem sie die Bildung der Sprache mehr und mehr durchdringt, wird dieses Prinzip gefunden und gefestigt. Jetzt nimmt auch die Satzform eine immer strengere logische Fügung an. An Stelle des bloßen Nebeneinanders von Satzgliedern, an Stelle der Parataxe, die für jede primitivere Sprachbildung bezeichnend ist, tritt immer bestimmter die Über- und Unterordnung, die der Rede sozusagen erst den geistigen Vorder- und Hintergrund, erst eine logische Perspektive erschafft. So führt der Weg der Sprache von der sinnlichen Komplexion zur immer bewußteren und strafferen gedanklichen Einheit: von elementarer Fülle zu einer scheinbaren Armut, die aber in Wahrheit die Strenge analytischer Bestimmung und analytischer Beherrschung erst ermöglicht.
Damit aber scheint sich freilich ein Einwand aufzudrängen, der nunmehr nicht nur gegen die Sprache, sondern gegen die Gesamtheit der symbolischen Formen erhoben werden kann. Erschöpfen diese Formen den tiefsten unmittelbaren Gehalt des Bewußtseins – oder bedeuten sie nicht vielmehr eine ständige Verarmung desselben? Wir haben das Wort W. v. Humboldts erwähnt, daß die Sprache zwischen Subjekt und Objekt, zwischen den Menschen und die ihn umgebende Wirklichkeit trete. Aber ist durch dieses Wort nicht zugleich zugestanden, daß sich durch sie, wie durch die anderen Formen, ein Gegensatz und eine tren[199]nende Schranke zwischen unserem Bewußtsein und der Wirklichkeit aufrichtet? Und muß somit nicht die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht möglich sei, diese Schranke zu durchbrechen und damit erst zum wahren und wesenhaften, zum hüllenlosen Sein zu gelangen? In der Tat macht sich heute wieder stärker als zuvor das Bestreben geltend, von aller bloßen Bedeutung zum letzten ursprünglichen Sein, von allem bloß Repräsentativen und Symbolischen zur metaphysischen Grundgewißheit der reinen Intuition zurückzudringen. Der erste und notwendige Schritt hierzu scheint darin zu bestehen, daß wir uns aller konventionellen Symbole entäußern, daß wir an Stelle der Worte die unmittelbare Anschauung, an Stelle des sprachlich-diskursiven Denkens das reine, wortlose Schauen setzen. Schon Berkeley hat hierin die Forderung der modernen positivistischen „Sprachkritik“ vorweggenommen. „Vergeblich“ – so sagt er einmal – „breiten wir unsern Blick in die Räume des Himmels aus und suchen wir in die Eingeweide der Erde zu dringen; vergeblich befragen wir die Werke gelehrter Männer und gehen den dunklen Spuren des Altertums nach: wir brauchen nur den Vorhang von Worten wegzuziehen, um hinter ihnen den Baum der Erkenntnis zu erfassen, dessen Frucht vortrefflich und in greifbarer Nähe für uns ist10.“ Und was hier von der Sprache gesagt ist: das scheint folgerecht von jeder Art symbolischen Ausdrucks gelten zu müssen. Jede geistige Form scheint zugleich eine Hülle zu bedeuten, in die sich der Geist einschließt. Wenn es gelänge, alle diese Hüllen abzustreifen, dann erst – so scheint es – würden wir zur echten unverfälschten Wirklichkeit, zur Wirklichkeit des Subjekts wie des Objekts durchdringen.
Und doch muß schon der Blick auf die Sprache und auf die Stellung, die sie im Aufbau der geistigen Welt einnimmt, gegen Folgerungen dieser Art bedenklich machen. Gelänge es, alle Mittelbarkeit des sprachlichen Ausdrucks und alle Bedingungen, die uns durch sie auferlegt werden, wahrhaft zu beseitigen, dann würde uns nicht der Reichtum der reinen Intuition, die unsagbare Fülle des Lebens selbst entgegentreten, sondern es würde uns nur wieder die Enge und Dumpfheit des sinnlichen Bewußtseins umfangen. Und noch klarer tritt die Notwendigkeit dieser Folgerung heraus, wenn wir die Frage auf die Gesamtheit der symbolischen Formen, auf die Sprache und den Mythos, auf die Kunst und die [200] Religion richten. Von jeder einzelnen dieser Formen glaubt man absehen zu können und kann man unter bestimmten Bedingungen absehen, sofern man nur gewiß ist, daß man, indem man sie aufgibt, eine andere gehaltvollere zurückbehält. So sucht die Mystik sich aller bildhaften Gestaltung, wie sie den Kern der ästhetischen Anschauung ausmacht und aller Bedingtheit des Sprachausdrucks zu entziehen – und in dieser Negation, in diesem reinen „Nein, Nein“, das als ein Grundmotiv in jeder geschichtlichen Gestalt der Mystik wiederkehrt, scheint sich nun erst die neue, die eigentümliche Position des religiösen Bewußtseins zu erschließen. Aber eben als positive Gestalt enthält auch die letztere eine bestimmte und spezifische Weise der Formung in sich. Der Gang unserer Betrachtung hat zu zeigen versucht, wie hinter jedem bestimmten Kreis von Symbolen und Zeichen – mag es sich nun um sprachliche oder mythische, um künstlerische oder intellektuelle Zeichen handeln – immer zugleich bestimmte Energien des Bildens stehen. Sich des Zeichens nicht nur in dieser oder jener, sondern in aller Form entäußern, hieße zugleich diese Energien zerstören. Die echte Substantialität des Geistes aber besteht nicht darin, daß er sich alles sinnlich-symbolischen Inhalts als eines bloßen Accidens entledigt, daß er ihn wie eine leere Schale fortwirft, sondern daß es sich in diesem widerstehenden Medium behauptet. Für die Philosophie, für die denkende Betrachtung des Seins, kann daher niemals das Leben selbst, vor und außerhalb aller Geformtheit, das Ziel und die Sehnsucht der Betrachtung bilden; sondern für sie bilden Leben und Form eine untrennbare Einheit. Denn erst durch die Form und ihre Vermittlung nimmt die bloße Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt des Geistes an: die Kraft des Geistes aber ist – nach einem Wort Hegels – „nur so groß, als seine Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut.“
1 [76] Max Müller, Über die Philosophie der Mythologie (wieder abgedruckt als Anhang zur deutschen Ausgabe von M. Müllers Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, 2. Aufl., Straßburg 1876).
2 So z. B. Brinton, Religions of primitive peoples, New York u. London 1907, S. 115 ff.
3 W. v. Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk, S. W. (Akad.-Ausg.) VII, 60.
4 Näheres hierüber in meiner Philosophie der symbolischen Formen, Band I: Die Sprache, S. 228 ff.
5 S. Preuß, Die Nayarit-Expedition I: Die Religion der Cora-Indianer, Leipzig 1912, S. L. Vgl. auch Preuß, Die geistige Kultur der Naturvölker, S. 9 ff.
6 Über das Recht dieser neuerdings freilich vielfach angefochtenen sprachlich mythischen „Gleichung“ vgl. z.B. Leop. v. Schröder, Arische Religion, Leipzig 1914, I, 300 ff.
7 Yasht X, 145; Yasna I, 11 (35): cf. Cumont, Textes et Monuments figurées relatifs aux Mystères de Mithra, Bruxelles 1899, I, 225.
8 Usener, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. Bonn 1896, S. 330; vgl. bes. S. V ff.
50 [124] Belege hierfür siehe z.B. bei Beth, Einführung in die vergleichende Religionsgeschichte, Leipzig 1920, S. 24 ff.
51 Spieth, Religion der Eweer, S. 115.
52 Usener, Götternamen, S. 285.
53 S. Kurt Breysig, Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer, Berlin 1905.
54 Näheres bei Preuß, Die Nayarit-Expedition I, S. LXVIII f.; Religion und Mythologie der Uitoto I, S. 25 f.; vgl. auch Preuß' Aufsatz: Die höchste Gottheit bei den kulturarmen Völkern, Psychol. Forschung II, 1922.
55 Vgl. Mooney, Sacred Formulas of the Cherokee, Vllth Annual Report of the Bureau of Ethnology (Smithson. Institution).
2 [176] Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk. Werke (Akademieausgabe) VII, 1, S. 60.
3 [179] Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1868. S. 38; vgl. G. Curtius, Grundzüge der griech. Etymologie5 S. 96; H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte3 S. 157 ff.
4 [180] S. Westermann, Grammatik der Ewe-Sprache. Berlin 1907. S. 83 f.
6 [194] K. Th. Preuß, Die geistige Kultur der Naturvölker. Leipzig und Berlin 1914. S. 13. Vgl. besonders Preuß, Die Nayarit-Expedition. Leipzig und Berlin. 1912. Bd. I.
10 [199] Berkeley, A treatise concerning the principles of human knowledge, Dublin 1710 u. ö. Introd. § 24.
Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 1925