Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Erstes Manifest des Surrealismus, 1924

André Breton

Quelle

André Breton: "Erstes Manifest des Surrealismus 1924", in: Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 11-29. ISBN 3-49925-095-0.

Erstausgabe

Manifeste du surréalisme. Paris: Éditions du Sagittaire 1924.

Genre

Manifest

Medium

Kunst, Literatur

[11] So lange wendet sich der Glaube dem Leben zu, dem Zerbrechlichsten im Leben, im realen Leben, versteht sich, bis dieser Glaube am Ende verlorengeht. Der Mensch, dieser entschiedene Träumer, von Tag zu Tag unzufriedener mit seinem Los, vermag kaum alle die Dinge ganz zu begreifen, die er zu gebrauchen gelernt hat und die ihn zu seiner Gleichgültigkeit geführt haben oder zu seiner Anstrengung, fast immer zu seiner Anstrengung, denn er hat eingewilligt zu arbeiten, zumindest hat er sich nicht gesträubt, sein Glück zu versuchen (das, was er sein Glück nennt!). Eine große Bescheidenheit ist nun sein Teil: er weiß, welche Frauen er gehabt hat, auf welche lächerlichen Abenteuer er sich eingelassen hat; sein Reichtum oder seine Armut helfen ihm nichts, in dieser Hinsicht bleibt er ein neugeborenes Kind, und was die Stimme seines Gewissens angeht, so muß ich gestehen, daß er sehr gut ohne sie auskommt. Wenn er sich einige Hellsichtigkeit bewahrt hat, dann kann er nicht anders, als sich nun wieder seiner Kindheit zuzuwenden, die ihm, sosehr sie auch durch die Bemühungen seiner Dresseure verpfuscht sein mag, dennoch als von Zauber erfüllt scheint. Das Fehlen jeglichen sonst üblichen Zwangs läßt ihm dort die Hoffnung auf mehrere, zu gleicher Zeit geführte Leben; an diese Illusion klammert er sich; nur noch von der augenblicklichen, extremen Leichtigkeit aller Dinge will er wissen. Jeden Morgen brechen Kinder ohne Bangen auf. Alles ist nahe, die schlimmsten materiellen Bedingungen sind großartig. Die Wälder sind weiß oder schwarz, man muß niemals schlafen gehen.

Indessen, nie könnte man so weit gehen, es handelt sich nicht nur um die Entfernung. Die Bedrohungen häufen sich, man gibt nach, man gibt einen Teil des zu erobernden Landes auf. Und jener Phantasie, die keine Grenzen kannte, erlaubt man nur noch, sich nach den Gesetzen einer willkürlichen Nützlichkeit zu betätigen; diese untergeordnete Rolle durchzuhalten, ist sie nicht lange fähig, und um das zwanzigste Lebensjahr zieht sie es im allgemeinen vor, den Menschen seinem lichtlosen Schicksal zu überlassen.

Selbst wenn er später ab und zu versucht, sich auf sich zu besinnen, weil er gespürt hat, daß er allmählich immer weniger Sinn im Leben findet, da er unfähig geworden ist, eine außerordentliche Situation, die Liebe etwa, zu erleben – es wird ihm kaum gelingen. Denn er ist nun mit Leib und Seele einer gebieterischen, praktischen Notwendigkeit unterworfen, die es nicht duldet, daß man sie unbeachtet läßt. All seinen Gesten wird es an Weite, all seinen Ideen an Kühnheit fehlen. Von allem, was ihm begegnet und was ihm begegnen könnte, wird er sich nur das vorstellen, was diesen Augenblick in seinem Leben mit einer Fülle gleichartiger Augenblicke verbindet, mit Augenblicken, die, ohne daß er Anteil an ihnen nahm, an ihm vorübergingen, mit versäumten Augenblicken. Nein, er wird es vergleichen mit einem bestimmten Ereignis, dessen Folgen weniger beunruhigend waren als die der anderen. Doch wird er hier unter keinem Vorwand sein Heil finden.

[12] Teure Phantasie, was ich vor allem an dir liebe, ist, daß du nicht verzeihen kannst.

Einzig das Wort Freiheit vermag mich noch zu begeistern. Ich halte es für geeignet, die alte Flamme, den Fanatismus des Menschen für alle Zeiten zu erhalten. Ohne Zweifel entspricht es meinem einzigen legitimen Wunsch. Unter so viel ererbter Ungnade bleibt uns, wie man zugeben muß, die größte Freiheit, die des Geistes, doch gewährt. Es liegt an uns, sie nicht leichtfertig zu vertun. Zuzulassen, daß die Imagination versklavt wird, auch wenn es um das ginge, was man so leichthin das Glück nennt – das hieße, sich allem entziehen, was man in der Tiefe seiner selbst an höchster Gerechtigkeit findet. Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, den furchtbaren Bann ein wenig zu lösen; genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben (als wenn man sich noch mehr täuschen könnte). Wo beginnt sie, Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken?

Bleibt der Wahnsinn, „der Wahnsinn, den man einsperrt“, wie man so trefflich gesagt hat. Dieser oder jener... Jeder weiß in der Tat, daß die Geisteskranken nur auf Grund einer geringen Zahl von gesetzwidrigen Handlungen eingesperrt werden und daß sie ohne diese Handlungen, auf keinen Fall ihre Freiheit (was man schon ihre Freiheit nennt) verlieren würden. Daß sie gewissermaßen Opfer ihrer Einbildungskraft sind, will ich durchaus zugestehen, insofern als diese sie zur Nichtbeachtung gewisser Konventionen treibt, ohne welche die Gattung Mensch sich sogleich getroffen fühlt; wird doch jeder dafür bezahlt, daß er es weiß. Aber die tiefe Gleichgültigkeit, die sie unserer Kritik gegenüber zeigen, und selbst gegenüber den verschiedenen Strafen, die man über sie verhängt – sie läßt die Vermutung zu, daß sie aus ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr Delirium hinreichend auskosten, um zu ertragen, daß es nur für sie selbst Gültigkeit besitzt. Und tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen usw. keine geringzuachtende Quelle des Genusses. Auch das noch so geregelte Empfindungsvermögen kommt dabei auf seine Kosten, und ich weiß, daß ich manchen Abend jene hübsche Hand zähmen würde, die auf den letzten Seiten von Taines L'Intelligence* so seltsame Missetaten begeht. Ich könnte mein Leben damit verbringen, die Wahnsinnigen zu ihren Bekenntnissen zu provozieren. Sie sind Menschen von peinlicher Ehrlichkeit und von einer Unschuld, die sich nur mit der meinen vergleichen läßt. Kolumbus mußte mit Verrückten ausfahren, um Amerika zu entdecken. Und seht nur, wie diese Verrücktheit Gestalt gewonnen hat – und Dauer.

Es ist wahrlich nicht die Angst vor dem Wahnsinn, die uns zwingen könnte, die Fahne der Imagination auf Halbmast zu setzen.

Nach dem Prozeß gegen die materialistische Haltung muß der gegen [13] die realistische eingeleitet werden. Erstere, die übrigens poetischer ist als die folgende, birgt, was den Menschen angeht, einen zweifellos ungeheuren Stolz in sich, nicht aber eine neue, letzte Erniedrigung. Man darf in ihr vor allem eine glückliche Reaktion auf einige lächerliche Tendenzen des Spiritualismus sehen. Und schließlich ist sie mit einer gewissen Erhöhung des Denkvermögens nicht unvereinbar.

Dagegen erscheint mir die realistische Haltung, seit Thomas von Aquin bis zu Anatole France vom Positivismus inspiriert, als jedem intellektuellen und moralischen Aufschwung absolut feindlich. Sie ist mir ein Greuel, denn sie ist aus Mittelmäßigkeit gemacht, aus Haß und platter Selbstgefälligkeit. Aus ihr resultieren heute diese lächerlichen Bücher, diese beleidigenden Theaterstücke. Ständig holt sie sich Rückhalt in der Tagespresse und bringt Wissenschaft und Kunst in Verlegenheit, indem sie sich bemüht, dem niedrigsten Geschmack der allgemeinen Meinung zu schmeicheln: an Dummheit grenzende Klarheit, das Leben von Hunden. Noch im Wirken der besten Köpfe macht sie sich bemerkbar; das Gesetz der geringsten Anstrengung drängt sich ihnen am Ende auf wie allen andern auch. Eine belustigende Folge dieses Tatbestands ist in der Literatur zum Beispiel die Überfülle von Romanen. Jeder steuert da seine kleine „Beobachtung“ bei. Einem Bedürfnis nach Reinigung nachgebend, schlug Monsieur Paul Valéry kürzlich vor, eine möglichst große Anzahl von Romananfängen in einer Anthologie zusammenzustellen, da er sich von ihrer Unsinnigkeit einige Wirkung versprach. Die berühmtesten Autoren sollten dazu herangezogen werden. Ein solcher Einfall macht Paul Valéry immerhin Ehre, ihm, der mir einmal in bezug auf den Roman versicherte, er selbst würde sich immer weigern, zu schreiben: Die Marquise ging um fünf Uhr aus. Aber hat er Wort gehalten?

Wenn der Stil der bloßen Information, für den der soeben zitierte Satz ein Beispiel ist, fast nur in Romanen gebraucht wird, dann deshalb, weil der Ehrgeiz der Autoren offensichtlich nicht sehr hochgespannt ist. Der vom Zufall bedingte, unnötig detaillierte Charakter jeder ihrer Feststellungen bringt mich auf den Verdacht, daß sie sich auf meine Kosten amüsieren. Kein Zögern des Helden wird mir erspart: ist er blond, wie heißt er, treffen wir ihn im Sommer? Lauter Fragen, die aufs Geratewohl – und ein für allemal – beantwortet werden; die einzige Entscheidungsfreiheit, die mir noch bleibt, ist die, das Buch zu schließen, was ich, bei der ersten Seite etwa, zu tun denn auch nicht verfehle. Und die Beschreibungen erst! Nichts kann nichtssagender sein als sie; übereinandergeschichtete Katalogbilder sind das, der Verfasser macht es sich immer leichter, er ergreift die Gelegenheit, mir seine Ansichtskarten zuzuschieben, versucht mein Einverständnis zu gewinnen mit seinen Gemeinplätzen:

„Das kleine Zimmer, das der junge Mann betrat, mit gelben Tapeten, Geranientöpfen und Musselingardinen an den Fenstern, war in diesem Augenblick von der untergehenden Sonne grell erleuchtet... das Zim- [14] mer enthielt nichts Besonderes. Die Birkenmöbel, alle sehr alt, das Sofa mit einer riesigen gebogenen Lehne, ein runder Tisch davor, ein Spiegeltisch zwischen den Fenstern, einige Stühle an den Wänden und zwei oder drei billige Bilder in gelben Rahmen, die deutsche Mädchen mit Vögeln auf dem Schoß darstellten, – das war alles.“1

Ich bin nicht bereit, gelten zu lassen, daß sich der Geist, selbst für einen Moment nur, solcher Motive annimmt. Man wird einwenden, daß diese pedantische Zeichnung hier angebracht ist und daß der Autor an dieser Stelle des Buches seine Gründe hat, mich derart mit Einzelheiten zu überschütten. Er vertut trotzdem seine Zeit, denn ich trete nicht in sein Zimmer ein. Die Trägheit und Müdigkeit der anderen fesseln mich nicht. Ich habe von der Kontinuität des Lebens eine zu unsichere Meinung, als daß ich meine Augenblicke der Depression und der Schwäche meinen besten gleichstellen würde. Ich fordere, daß man schweigt, wenn man nicht mehr fühlt. Und man verstehe mich recht: ich verdamme nicht den Mangel an Originalität wegen des Mangels an Originalität. Ich sage lediglich, daß ich kein Aufhebens mache von den nichtigen Augenblicken meines Lebens, daß es für jeden Menschen würdelos sein dürfte, solche Augenblicke zu verdichten. Diese Beschreibung eines Zimmers – man erlaube mir, darüber wie über vieles andere hinwegzugehen.

Doch halt! Damit bin ich bei der Psychologie angelangt, einem Gegenstand, über den zu spaßen ich mich hüten werde.

Der Autor nimmt sich eine Gestalt vor und läßt sie, nachdem ihr Charakter festgelegt ist, durch die Welt wandern. Was auch geschehen mag, dieser Held, dessen Aktionen und Reaktionen so fabelhaft präkonzipiert sind, ist verpflichtet, die Berechnungen, deren Gegenstand er ist, in nichts zu vereiteln – wobei er jedoch den Eindruck zu wahren hat, als täte er gerade das. Die Wogen des Lebens mögen ihn scheinbar mitreißen, umwerfen, hinabziehen, er wird sich immer als Typus des geformten Menschen erweisen. Eine bloße Schachpartie, die mich absolut nicht interessiert, da der Mensch, wer immer es sei, mir als ein mittelmäßiger Gegenspieler erscheint. Was ich unerträglich finde, sind diese kläglichen Diskussionen über diesen oder jenen Zug, sobald es weder ums Gewinnen noch ums Verlieren geht. Und wenn die Sache den Einsatz nicht wert ist, und wenn die objektive Vernunft, wie es hier der Fall ist, dem, der sie gebraucht, einen sehr üblen Dienst erweist – ist es da nicht besser, diese Kategorien fallenzulassen? „Die Vielfalt ist so groß, daß alle Töne der Stimme, alle Schritte, jedes Räuspern, Schneuzen, Niesen...“2 Wenn eine Traube keine zwei gleichen Beeren hat, warum soll ich dann diese Beere durch die andere beschreiben, durch alle anderen, um daraus eine Beere zum Essen zu machen? Die unausrottbare Manie, das Unbekannte [15] aufs Bekannte, aufs Klassifizierbare zurückzuführen, schläfert das Gehirn ein. Der Wunsch, zu analysieren, ist stärker als die Gefühle.1 Daraus ergeben sich umfangreiche Darlegungen, die ihre Überzeugungskraft nur aus eben dieser Seltsamkeit gewinnen und die den Leser nur durch den Gebrauch eines abstrakten, dazu noch recht mangelhaft bestimmten Wortschatzes beeindrucken. Würde das bedeuten, daß die allgemeinen, bisher von der Philosophie behandelten Ideen sich endgültig auf umfassendere Bereiche ausdehnen – ich wäre der erste, der sich darüber freute. Aber es bleibt bei einem bloßen geistreichelnden Geschwafel; bis jetzt bringen uns Geistesblitze und andere gute Manieren nach Herzenslust um das wahre Denken, das sich selber sucht, statt nach dem Erfolg zu schielen. Jede Handlung trägt, so scheint mir, ihre Rechtfertigung in sich selber – zumindest für den, der fähig gewesen ist, sie zu vollbringen –, und sie ist von einer Ausstrahlungskraft, der der geringste Kommentar nur abträglich sein kann. Ja, die er gewissermaßen sogar verhindert. Eine Handlung gewinnt nicht etwa dadurch, daß sie näher charakterisiert wird. Stendhals Helden brechen unter den Schlägen der mehr oder weniger glücklichen Beurteilungen ihres Autors zusammen, die ihrem Ruhm nichts hinzufügen. Wir finden sie erst dort wirklich wieder, wo Stendhal sie verloren hat.

Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik – und darauf wollte ich hinaus. Aber die logischen Methoden unserer Zeit wenden sich nur noch der Lösung zweitrangiger Probleme zu. Der nach wie vor führende absolute Rationalismus erlaubt lediglich die Berücksichtigung von Fakten, die eng mit unserer Erfahrung verknüpft sind. Die Ziele der Logik hingegen entgehen uns. Unnötig, hinzuzufügen, daß auch der logischen Erfahrung Grenzen gezogen wurden. Sie windet sich in einem Käfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen. Auch sie stützt sich auf die Tatsache, daß sie unmittelbar nutzbar gemacht werden kann, auch sie wird vom gesunden Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht. Scheinbar durch den größten Zufall nur ist vor kurzem ein Bereich der geistigen Welt wieder ans Licht gehoben worden – meines Erachtens der weitaus wichtigste Bereich –, um den man sich angeblich nicht mehr zu kümmern brauchte. Insofern sind wir den Entdeckungen Freuds zu Dank verpflichtet. Auf Grund dieser Entdeckungen bildet sich endlich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher des Menschen seine Untersuchungen weiter zu treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten. Wenn die Tiefen unseres Geistes seltsame Kräf[16]te bergen, die imstande sind, die der Oberfläche zu mehren oder gar zu besiegen, so haben wir allen Grund, sie einzufangen, sie zuerst einzufangen und danach, wenn nötig, der Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen. Auch die analytischen Denker können dabei nur gewinnen. Dabei ist jedoch der Hinweis wichtig, daß keine Methode a priori zur Verwirklichung dieses Vorhabens bestimmt ist; daß diese bis auf weiteres ebenso der Domäne der Dichter entstammen kann wie der der Gelehrten und daß ihr Erfolg nicht von den mehr oder weniger gewundenen Wegen abhängt, die man einschlagen wird.

Mit vollem Recht hat Freud seine Kritik auf das Gebiet des Traumes gerichtet. Es ist in der Tat völlig unzulässig, daß dieser beträchtliche Teil der psychischen Tätigkeit (bietet doch – zumindest von der Geburt des Menschen bis zu seinem Tode – das Denken keinerlei kontinuierliche Lösung, und ist doch die Summe der Traum-Momente, selbst wenn man nur den reinen Traum, den des Schlafes betrachtet, zeitlich gesehen nicht geringer als die Summe der Wirklichkeits-Momente, sagen wir einfach: der Momente des Wachseins), daß der Traum noch so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Die Tatsache, daß der gewöhnliche Beobachter den Ereignissen des Wachseins und denen des Schlafes so äußerst unterschiedliche Wichtigkeit und Bedeutung beimißt, hat mich schon immer in Erstaunen versetzt. Der Mensch ist eben, wenn er nicht mehr schläft, vor allem ein Spielball seines Gedächtnisses, das sich im Normalzustand darin gefällt, ihm die Einzelheiten des Traumes nur undeutlich nachzuzeichnen, diesem alle aktuelle Folgerichtigkeit zu nehmen und ihm als einzige Determinante den Zeitpunkt zu lassen, wo er sie vor ein paar Stunden verlassen zu haben glaubt: jene feste Hoffnung, jene Sorge. Er hat die Illusion, etwas fortzusetzen, was der Mühe wert ist. So ist der Traum nur noch eine Art Parenthese – wie die Nacht. Und so wenig wie die Nacht bringt er gemeinhin Rat. Diese merkwürdige Sachlage scheint mir Anlaß zu einigen Überlegungen zu sein:

1. Innerhalb der Grenzen, in denen er sich vollzieht (zu vollziehen scheint), besitzt der Traum allem Anschein nach eine Kontinuität und Anzeichen von Ordnung. Einzig das Gedächtnis maßt sich das Recht an, Kürzungen darin vorzunehmen, Übergänge nicht zu beachten und uns eher eine Reihe von Träumen darzubieten als den Traum. Ebenso haben wir nur für den Augenblick eine deutliche Vorstellung von den Realitäten, und ihre Koordination ist Sache des Willens.1 Und es drängt sich hier die Überlegung auf, daß nichts uns ermächtigt, auf eine größere [17] Auflösung bei den Traum-Elementen zu schließen. Ich bedaure, darüber in Formeln zu sprechen, die eigentlich den Traum ausschließen. Wann werden wir schlafende Logiker, schlafende Philosophen haben? Ich möchte schlafen, um mich den Schlafenden hingeben zu können, wie ich mich offenen Auges denen hingebe, die mich lesen; um bei diesem Thema nicht mehr den bewußten Rhythmus meines Denkens überwiegen zu lassen. Vielleicht setzt mein Traum der letzten Nacht den der vorhergehenden fort, und vielleicht erfährt er in der kommenden Nacht in löblicher Folgerichtigkeit seine Fortsetzung. Das ist gut möglich, heißt es. Und da es keineswegs erwiesen ist, daß auf diese Weise die „Realität“, die mich beschäftigt, im Traumzustand fortbesteht, daß sie nicht ins Unerinnerliche versinkt – warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nämlich, der für die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem täglich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen? Und diese Fragen, sind es dieselben in beiden Fällen – und stellen sie sich überhaupt im Traume? Ist der Traum weniger pragmatisch als das übrige Leben? Ich werde älter, und vielleicht ist es – mehr noch als diese Wirklichkeit, der ich mich unterworfen glaube – der Traum, meine Gleichgültigkeit ihm gegenüber, die mich altern läßt.

2. Betrachten wir noch einmal den Wachzustand. Ich kann nicht umhin, ihn für ein Interferenz-Phänomen zu halten. Nicht nur zeigt der Geist in diesem Zustand eine merkwürdige Tendenz zur Verwirrung (hierher gehören das Versprechen und alle Arten der Fehlleistung, deren Geheimnis man jetzt auf die Spur zu kommen beginnt), sondern es scheint auch, daß er in normaler Funktion nicht ausschließlich solchen Suggestionen aus tiefer Nacht folgt, aus der ich ihn herleite. So gut ausgebildet er auch ist, sein Gleichgewicht ist relativ. Kaum wagt er es, sich auszudrücken, und wenn er es tut, dann beschränkt er sich auf die Feststellung, daß jene Idee, jene Frau Eindruck auf ihn macht. Aber er wäre keineswegs fähig, zu sagen, welchen Eindruck; er beweist hier den Grad seiner Subjektivität, weiter nichts. Jene Idee, jene Frau berührt ihn, bestimmt ihn, weniger starr zu sein. Für einen Augenblick bewirkt sie, daß er, von seiner Auflösung getrennt, sich als schöner Niederschlag, der er sein kann, der er ist, im Himmel absetzt. Weil er keine Erklärung weiß, beschwört er dann den Zufall, eine dunklere Gottheit als jede andere, schreibt ihm alle seine Verwirrungen zu. Wer kann behaupten, daß der Blickwinkel, unter dem ihn diese Idee berührt, daß das, was er in den Augen jener Frau liebt, nicht eben das ist, was ihn mit seinem Traum verbindet, ihn an Gegebenheiten kettet, die ihm durch eigene Schuld entfallen sind? Und wäre es nicht so, zu was wohl wäre er nicht imstande? Ich möchte ihm den Schlüssel zu diesem Gang liefern.

[18] 3. Der Geist des Menschen, der träumt, ist vollauf zufrieden mit dem, was ihm zustößt. Die beängstigende Frage nach der Möglichkeit stellt sich hier nicht mehr. Töte, stiehl schneller, liebe soviel du magst. Und wenn du stirbst, hast du nicht die Gewißheit, zwischen den Toten wieder zu erwachen? Laß dich leiten, die Ereignisse dulden keinen Aufschub. Du hast keinen Namen. Die Leichtigkeit, mit der alles geschieht, ist ohne jedes Maß.

Welche Vernunft, frage ich, welche um soviel weitgespanntere Vernunft verleiht dem Traum diese Natürlichkeit, läßt mich rückhaltlos eine Reihe von Vorgängen akzeptieren, deren Seltsamkeit mich in diesem Augenblick, da ich dies schreibe, zu Boden schmettern würde? Und doch kann ich meinen Augen, meinen Ohren trauen; dieser schöne Tag ist angebrochen, dieses Tier hat gesprochen.

Wenn das Erwachen des Menschen so schmerzlich ist, der Zauber zu sehr zerreißt, so deshalb, weil man ihm eine armselige Vorstellung von der Sühne eingeimpft hat.

4. Von dem Augenblick an, da der Mensch einer methodischen Befragung unterworfen wird; wo es durch noch zu bestimmende Mittel gelingt, den Traum in seiner Integrität wiederzugeben (und das bedarf einer Disziplinierung des Gedächtnisses, die sich über Generationen erstreckt; beginnen wir trotzdem damit, die hervorstechendsten Tatsachen zu registrieren); und von dem Augenblick an, da seine Kurve sich regelmäßig und in einer Dimension ohnegleichen entwickeln wird, darf man hoffen, daß die Geheimnisse – die keine sind – dem großen Geheimnis, dem Mysterium weichen werden. Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen.

Man erzählt, Saint-Pol-Roux habe jeden Tag, bevor er sich schlafen legte, an die Tür seines Landhauses von Camaret ein Schild hängen lassen, auf dem zu lesen war: DER DICHTER ARBEITET.

Viel wäre noch zu sagen, aber ich wollte nur beiläufig ein Thema berühren, das für sich allein eine sehr lange Studie und eine sehr viel strengere Behandlung erforderte; ich werde darauf zurückkommen. Für dieses Mal wollte ich nur mit dem Haß auf das Wunderbare, der bei manchen Menschen herrscht, abrechnen, und mit der Lächerlichkeit, der sie es preisgeben wollen. Sagen wir es geradeheraus: das Wunderbare ist immer schön, gleich, welches Wunderbare schön ist, es ist sogar nur das Wunderbare schön.

Auf dem Gebiet der Literatur ist allein das Wunderbare imstande, die Werke zu befruchten, die einer untergeordneten Gattung zugehören, wie [19] der Roman und ganz allgemein alles, was eine Geschichte liefert. Dafür ist The Monk von Lewis* ein großartiges Beispiel. Der Atem des Wunderbaren durchweht das Buch von Anfang bis Ende. Schon lange bevor der Autor seine Hauptpersonen von jeder zeitlichen Bedingtheit befreit, spürt man, daß sie mit einem nie dagewesenen Stolz zu handeln bereit sind. Diese Leidenschaft für das Absolute, die sie ständig emporreißt, setzt ihrer und meiner eigenen Qual unvergeßliche Akzente. Ich finde, daß dieses Buch von Anfang bis Ende und auf die denkbar reinste Weise nur das preist, was dem Geist in seiner Sehnsucht, sich von aller Erdenschwere zu lösen, eigen ist; und daß es – von einem unbedeutenden Teil seiner moralisierenden Romanfabel im Stile der Zeit gereinigt – einen Modellfall von Folgerichtigkeit und unschuldiger Größe darstellt.1 Ich glaube, daß man noch nichts Besseres geschaffen hat und daß die Gestalt der Mathilde insbesondere die ergreifendste Schöpfung ist, die man auf der Habenseite dieser gegenständlichen Literatur buchen kann. Sie ist weniger eine Gestalt als eine fortgesetzte Versuchung. Und was ist eine Gestalt anders als eine Versuchung? Hier haben wir die äußerste Versuchung. Die Devise „dem, der wagt, ist nichts unmöglich“ zeigt sich in The Monk, dem „Mönch“, in ihrer ganzen Überzeugungskraft. Die Gespenstererscheinungen spielen darin eine logische Rolle, weil der kritische Verstand sie nicht angeht, um sie in Abrede zu stellen. Ebenso ist die Darstellung der Bestrafung Ambrosios legitim, da diese vom kritischen Verstand letztlich als natürlicher Ausgang anerkannt wird.

Daß ich gerade dieses Beispiel anführe, mag willkürlich erscheinen, wenn es sich um das Wunderbare handelt, bei dem die Literaturen des Nordens und des Orients ungezählte Anleihen gemacht haben, von den ausgesprochen religiösen Literaturen aller Länder ganz zu schweigen. Doch die meisten Beispiele, die diese Literaturen mir hatten liefern können, sind von einer solch kindischen Art, einzig deshalb, weil sie sich an Kinder wenden. Früh schon werden diese des Wunderbaren entwöhnt, und ihr Geist besitzt später nicht mehr genug Jungfräulichkeit, um an Peau d'Âne* größtes Vergnügen zu finden. So reizvoll sie auch sind, der Mensch glaubt, sich etwas zu vergeben, wenn er sich an Märchen erbaut, und ich gebe zu, nicht alle entsprechen immer seinem Alter. Das Zaubergewebe von Unwahrscheinlichkeit muß etwas feiner gesponnen sein, wenn man älter ist, aber auf diese Art von Spinnen muß man noch warten... Aber die Fähigkeiten verändern sich nicht grundlegend: die Angst, die Anziehungskraft des Ungewöhnlichen, die Glücksfälle, die Neigung zur Üppigkeit sind Triebfedern, an die man nie vergeblich appelliert. Es bleiben noch Märchen zu schreiben für Erwachsene, Ammenmärchen beinah noch.

[20] Das Wunderbare ist nicht zu allen Zeiten dasselbe; dunkel nimmt es teil an einer Art allgemeiner Offenbarung, die uns nur in ihren Einzelheiten: überkommt: das sind die romantischen Ruinen, das moderne Mannequin oder jedes andere Symbol, das geeignet ist, die menschliche Phantasie eine Zeitlang zu beschäftigen. Auf solchem Hintergrund, über den wir lächeln, spiegelt sich dennoch immer die unheilbare menschliche Unruhe wider, und das ist der Grund, warum ich sie erwähne, warum ich sie für untrennbar von einigen genialen Werken halte, die schmerzlicher als andere von dieser Unruhe gezeichnet sind. Die Galgen von Villon gehören dazu, die Griechinnen Racines, die Diwane Baudelaires. Sie fallen mit einer Geschmacksverfinsterung zusammen, die ich durchaus zu ertragen vermag, ich, der ich den guten Geschmack für einen ausgesprochenen Makel halte. Im schlechten Geschmack meiner Zeit gehe ich weiter als jeder andere, ich versuche es jedenfalls. Für mich war sie bestimmt, hätte ich um 1820 gelebt, „Die blutige Nonne“! Nichts braucht man mir zu ersparen von jenem tückisch-banalen „Dissimulons“*, das der parodierende Cuisin vorschlägt; an mir, ja an mir ist es, in gigantischen Metaphern, wie er sagt, alle Phasen des „Disque argenté“ zu durchlaufen. Für heute aber denke ich an ein Schloß, das nicht unbedingt halb verfallen sein muß; dieses Schloß gehört mir, ich sehe es in ländlicher Umgebung, nicht weit von Paris. Seine Nebengebäude nehmen kein Ende, und im Innern ist es abscheulich restauriert worden, so daß, was den Komfort angeht, nichts zu wünschen übrigbleibt. Autos parken vor dem Tor, das im Schatten der Bäume verborgen liegt. Einige meiner Freunde haben sich hier für immer eingerichtet: da ist Louis Aragon bei der Abreise; er kann Sie gerade noch grüßen; Philippe Soupault erhebt sich mit den Sternen, und Paul Éluard, unser großer Éluard, ist noch nicht zurückgekommen. Und da sind Robert Desnos und Roger Vitrac, die im Park eine alte Verordnung über das Duellieren entziffern; Georges Auric, Jean Paulhan; Max Morise, der so gut rudert, und Benjamin Peret bei seinen Vogelgleichungen*; und Joseph Delteil; und Jean Carrive; und Georges Limbour und Georges Limbour (eine ganze Hecke von Georges Limbours); und Marcel Noll; da ist T. Fraenkel, der uns von seinem Fesselballon aus zuwinkt, Georges Malkine, Antonin Artaud, Francis Gérard, Pierre Naville, J.-A. Boiffard, dann Jacques Baron und sein Bruder, schön und herzlich beide, und viele andere noch und hinreißend schöne Frauen, ungelogen. Diese jungen Leute, was sollen sie sich schon versagen, ihre Wünsche sind – was den Reichtum betrifft – Befehle. Francis Picabia besucht uns, und letzte Woche haben wir im Spiegelsaal einen gewissen Marcel Duchamp empfangen, den noch keiner kannte. Picasso geht in der Umgebung auf Jagd. Der Geist der Demoralisierung hat das Schloß zum Domizil gewählt, und mit diesem Geist haben wir es zu tun, jedesmal, wenn es um die Beziehung mit unsersgleichen geht, aber die Türen sind immer weit geöffnet, und wissen Sie, wir fangen erst gar nicht damit an, den Leuten „Danke schön“ zu sagen. Im übrigen, die Einsamkeit ist weit, [21] wir begegnen uns nicht oft. Und ist es schließlich nicht das Wesentliche, daß wir Herr über uns selber und auch über die Frauen, über die Liebe sind?

Man wird mir mit der dichterischen Freiheit kommen: jeder wird herumerzählen, daß ich rue Fontaine wohne und daß er mir nicht auf den Leim gehe. Du liebe Zeit! Ist es denn sicher, daß das Schloß, das ich ihm vorführe, ein Bild ist? Und wenn dieser Palast dennoch existiert? Meine Gäste können dafür einstehen; ihre Laune ist die hell leuchtende Straße, die zu ihm führt. Wir leben wirklich ganz unserer Phantasie, wenn wir dort sind. Und wie könnte das, was der eine tut, den anderen stören – hier, wo wir frei von sentimentalen Spielregeln, am Treffpunkt der Zufälle sind?

Der Mensch fügt und verfügt. Es hängt nur von ihm ab, ob er sich ganz gehören, das heißt, die jeden Tag furchterregende Zahl seiner Begierden im anarchischen Zustand halten will. Die Poesie lehrt es ihn. Sie trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen. Sie vermag auch eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer weniger persönlichen Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme, da sie das Ende des Geldes dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! Es wird noch Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen, an denen teilzunehmen ihr nicht zu hoffen gewagt habt. Schluß mit dem absurden Auswählen von Dingen, den Träumen vom Abgrund, den Rivalitäten, Schluß mit der langen Geduld, der Flucht der Jahreszeiten, der künstlichen Ordnung der Ideen, dem Schutzwall vor der Gefahr, der Zeit für alles! Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren. Ist es nicht an uns, die wir bereits davon leben, zu versuchen, dem größere Geltung zu verschaffen, was am meisten für uns zeugt?

Es ist unwichtig, daß ein gewisses Mißverhältnis zwischen dieser Verteidigung und der ihr folgenden Darstellung besteht. Es ging darum, zu den Quellen der dichterischen Imagination hinabzusteigen und vor allem dort zu bleiben. Ich behaupte nicht, dies getan zu haben. Man muß viel auf sich nehmen, will man sich in jene entfernten Bereiche zurückziehen, wo alles zuerst so schwer zu gehen scheint, und noch schwieriger ist es, wenn man jemanden dorthin führen will. Dabei ist man niemals sicher, wirklich ganz dort zu sein. Und ist man schon ungern da, kann man ebensogut anderswo bleiben. Immerhin weist ein Pfeil jetzt die Richtung, und daß das wahre Ziel erreicht wird, hängt nur noch von der Ausdauer des Reisenden ab.

Der Weg, der eingeschlagen wurde, ist hinlänglich bekannt. Ich habe mich bemüht, im Verlauf einer Studie über den Fall Robert Desnos – betitelt ENTRÉE DES MÉDIUMS1 – zu berichten, daß ich dazu gelangt war, „meine [22] Aufmerksamkeit auf mehr oder weniger vollständige Sätze zu richten, die, in völliger Einsamkeit, beim Einschlafen, für den Geist wahrnehmbar werden, ohne daß man für sie eine vorhergegangene Bestimmung entdecken kann“. Ich hatte mich damals auf das dichterische Abenteuer mit der geringsten Aussicht auf Erfolg eingelassen, das heißt, meine Aspirationen waren die gleichen wie heute, aber ich setzte auf die Langsamkeit der Ausführung, um mich vor unnötigen Kontakten, die ich sehr mißbilligte, zu schützen. Es war dies eine Art Scheu beim Denken, von der mir noch heute etwas anhaftet. Am Ende meines Lebens werde ich zweifellos Mühe haben, zu sprechen, wie man spricht, und meine Stimme und die geringe Zahl meiner Gesten zu entschuldigen. Die Kunst der Rede (weit mehr noch: des Schreibens) schien mir in der Fähigkeit zu liegen, den Entwurf in packendem Zugriff zu verkürzen (denn ein Entwurf lag vor), das, was ich mir an Wesentlichem, an einer kleinen Zahl von Fakten, poetischen oder anderen, vorgesetzt hatte. Ich hatte mir vorgestellt, daß Rimbaud nicht anders verfuhr. Ich verfaßte mit einer Sorgfalt, die Besseres verdient hätte, die letzten Gedichte von Mont de Piété*, das heißt, ich vermochte aus den ungeschriebenen Zeilen dieses Buches unglaublichen Gewinn zu ziehen. Diese Zeilen bedeuteten geschlossene Augen für jene Denkvorgänge, die ich glaubte dem Leser vorenthalten zu müssen. Das war nicht etwa Betrug von mir, sondern Lust zu brüskieren. Ich gewann die Illusion einer möglichen Mitschuld, auf die ich immer weniger verzichten konnte. Ich hatte begonnen, übermäßig vorsichtig und sparsam mit den Worten umzugehen, um des freien Raums willen, den sie um sich gewähren, um ihrer Berührung willen mit unnennbaren anderen Worten, die ich nicht aussprach. Das Gedicht FORÊT-NOIRE* entspricht genau dieser geistigen Einstellung. Ich brauchte sechs Monate, um es zu schreiben, und man darf mir glauben, daß ich mich nicht einen Tag ausgeruht habe. Aber es ging um die Hochschätzung, die ich mir damals selbst schuldete, man wird mich wohl richtig verstehen. Ich mag diese verblüffenden Konfessionen. – Zu dieser Zeit versuchte die kubistische Pseudo-Dichtung sich durchzusetzen, aber sie war ohnmächtig dem Haupte Picassos entsprungen, und was mich anging, so galt ich für so langweilig wie ein Regentag (woran sich bis heute nichts geändert hat). Ich ahnte übrigens, daß ich mich in dichterischer Hinsicht auf einem Irrweg befand, aber ich wahrte mein Gesicht, so gut es ging, bekämpfte den Lyrismus mit Erklärungen und Rezepten (Dada und die Folgen zeigten sich am Horizont), und angeblich beabsichtigte ich, die Dichtung in der Werbung zu verwenden (ich behauptete, daß die Welt nicht etwa mit einem schönen Buche, sondern mit einer schönen Reklame für die Hölle oder den Himmel enden werde).

Zur gleichen Zeit schrieb ein Mann, mindestens ebenso langweilig wie ich, Pierre Reverdy:

Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. [23] Es kann nicht aus einem Vergleich entstehen, vielmehr aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten. Je entfernter und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten Wirklichkeiten sind, um so stärker ist das Bild – um so mehr emotionale Wirkung und poetische Realität besitzt es... usw.1

Diese – wenngleich für den Uneingeweihten sibyllinischen – Worte waren äußerst aufschlußreich, und ich dachte lange darüber nach. Aber das Bild floh mich. Reverdys Ästhetik, durch und durch eine Ästhetik a posteriori, veranlaßte mich, die Wirkungen für die Ursachen zu halten. Und so kam es, daß ich endgültig auf meinen Standpunkt verzichtete.

Eines Abends also, vor dem Einschlafen, vernahm ich, so deutlich ausgesprochen, daß es mir unmöglich war, ein Wort daran zu ändern, abgetrennt jedoch vom Klang irgendeiner Stimme, einen recht merkwürdigen Satz; er hatte keinen Bezug zu irgendwelchen Geschehnissen, in die ich nach bestem Gewissen zu diesem Zeitpunkt verwickelt war, es war ein Satz, der mir eindringlich erschien, ein Satz, möchte ich sagen, der ans Fenster klopfte. Rasch nahm ich davon Kenntnis und wollte es dabei belassen, als mich sein organischer Aufbau stutzig machte. Dieser Satz setzte mich wirklich in Erstaunen; ich habe ihn leider nicht bis heute behalten können, er lautete etwa so: „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“, doch war das durchaus eindeutig gemeint, da er von der schwachen bildhaften Vorstellung2 eines gehenden Mannes begleitet war, der in der Mitte senkrecht zu seiner Körperachse von einem Fenster durchschnitten wurde. Ohne Zweifel handelte es sich einfach [24] um die aufrechte Stellung eines Mannes, der sich aus dem Fenster gelehnt hat. Da aber dieses Fenster die räumliche Veränderung des Mannes mitgemacht hatte, wurde mir klar, daß ich es hier mit einem Bild ziemlich seltener Art zu tun hatte, und sogleich hatte ich keinen anderen Gedanken, als es meinen poetischen Baumaterialien einzuverleiben. Kaum hatte ich es derart aufgezeichnet, als es auch schon von einer fast ununterbrochenen Reihe von Sätzen abgelöst wurde, die mich kaum weniger überraschten und mir den Eindruck einer solchen Willkürlichkeit vermittelten, daß die Selbstkontrolle, mit der ich bis zu diesem Tag gelebt hatte, mir illusorisch erschien und ich nur noch daran dachte, dem endlosen Streit in meinem Innern ein Ende zu bereiten.1

Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können, und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre. Ich hatte den Eindruck, und ich habe ihn noch – die Art, in der mir der Satz vom zerschnittenen Mann gekommen war, beweist es –, daß das [25] Tempo des Denkstroms nicht größer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert. Mit dieser Auffassung begannen wir – Philippe Soupault, den ich in diese ersten Folgerungen eingeweiht hatte, und ich –, Mengen von Papier zu beschreiben, voller Verachtung für das, was dabei literarisch herauskommen würde. Die Leichtigkeit der Ausführung tat das ihre. Am Ende des ersten Tages konnten wir uns um die fünfzig so gewonnene Seiten vorlesen und unsere Ergebnisse vergleichen. Im ganzen gesehen wiesen Soupaults und meine Seiten eine bemerkenswerte Analogie auf: die gleichen Konstruktionsfehler, Schwächen gleicher Art, bei beiden aber auch die Illusion von außerordentlichem Elan, starker Emotion, eine bemerkenswert große Auswahl derartig guter Bilder, wie wir auch nur ein einziges bei langer Vorbereitung nicht zustande gebracht hätten, etwas eigenartig Malerisches und hie und da irgendeinen äußerst komischen Einfall. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Texten schien mir wesentlich in unserer jeweiligen Stimmung zu liegen – die Soupaults war ungleichmäßiger als meine – und darin, daß Soupault (wenn er mir diese leise Kritik erlauben will) den Fehler begangen hatte, manche Seiten mit Titeln zu versehen, ohne Zweifel aus Spaß an der Mystifikation. Hingegen muß ich gerechterweise betonen, daß er sich immer mit allen Kräften der geringsten Überarbeitung, der geringsten Korrektur von Stellen widersetzte, die mir in ihrer Art nicht gelungen erschienen. Und darin hatte er völlig recht.1 Es ist in der Tat sehr schwierig, die verschiedenen vorhandenen Elemente in gerechter Weise zu beurteilen, ja man kann sagen, daß es unmöglich ist, sie beim ersten Lesen zu beurteilen. Ihnen, der Sie schreiben, sind diese Elemente scheinbar ebenso fremd wie jedem andern, und Sie mißtrauen ihnen natürlicherweise. Poetisch betrachtet, zeichnen sie sich vor allem durch einen sehr hohen Grad von unmittelbarer Absurdität aus, wobei das Spezifische dieser Absurdität sich bei näherem Hinsehen als Platzmachen erweist für alles nur Zulässige, auf der Welt Gültige: die Ausbreitung einer gewissen Zahl von Eigenschaften und Tatsachen – die schließlich genauso objektiv sind wie die anderen.

Zu Ehren Guillaume Apollinaires, der gerade gestorben war und der, wie uns schien, sich mehrmals einer solchen Übung unterzogen hatte – ohne dafür allerdings die üblichen literarischen Möglichkeiten aufzuge[26]ben –, bezeichneten Soupault und ich diese neue Form des reinen Ausdrucks mit dem Namen SURREALISMUS und beeilten uns, was wir an Erkenntnissen gewonnen hatten, unseren Freunden zugänglich zu machen. Ich glaube, daß ich heute nicht mehr auf dieses Wort einzugehen brauche und daß die Auffassung, die wir davon haben, im großen ganzen das Apollinairesche Verständnis desselben verdrängt hat. Zweifellos hätten wir mit noch größerer Berechtigung das Wort SUPERNATURALISMUS übernehmen können, das Gérard de Nerval in der Widmung zu seinen Töchtern der Flammen1 verwendet hat. Es scheint, als sei Nerval der Geist, auf den wir uns berufen, aufs wundervollste zu eigen gewesen, während Apollinaire noch unvollkommen erst über die Vokabel Surrealismus verfügte, unfähig, eine für uns verbindliche theoretische Betrachtung daran zu knüpfen. Hier zwei Textstellen bei Nerval, die mir in dieser Hinsicht höchst bedeutsam erscheinen:

„Ich werde Ihnen das Phänomen erklären, mein lieber Dumas, das Sie zuvor erwähnt haben. Es gibt, wie Sie wissen, einige Erzähler, die nichts erfinden können, ohne sich mit den Personen ihrer Phantasie zu identifizieren. Sie wissen, mit welcher Überzeugung unser alter Freund Nodier erzählte, er habe das Unglück gehabt, zur Zeit der Revolution guillotiniert zu werden; er überzeugte einen dermaßen, daß man sich fragte, wie er sich habe den Kopf wieder aufsetzen lassen.

...Und da Sie so leichtsinnig waren, eines der Sonette zu zitieren, das ich in jenem Zustand der SUPERNATURALISTISCHEN Träumerei, wie die Deutschen sagen würden, verfaßt habe, müssen Sie sie alle hören. Sie finde [sic] sie am Ende dieses Bandes. Sie sind kaum dunkler als die Metaphysik von Hegel oder die MEMORABILIA von Swedenborg, und sie würden ihren Zauber verlieren, wollte man sie erklären, wenn dies möglich wäre – gestehen Sie mir zumindest das Verdienst des Ausdrucks zu...“2

Sehr unredlich wäre es, wollte man uns das Recht streitig machen, das Wort SURREALISMUS in dem besonderen Sinne, wie wir ihn verstehen, zu gebrauchen; denn es ist offenkundig, daß vor uns dieses Wort nicht angekommen ist. Ich definiere es also ein für allemal:

SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.

ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glau[27]ben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen. Zum ABSOLUTEN SURREALISMUS haben sich bekannt: Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.

Das scheinen bis heute die einzigen zu sein, über die man sich nicht täuschen kann, wäre da nicht noch der Fall Isidore Ducasse, über den mir jedoch Einzelheiten fehlen. Und gewiß könnte, bei nur oberflächlicher Betrachtung ihres Schaffens, eine stattliche Anzahl von Dichtern als Surrealisten bezeichnet werden, angefangen bei Dante und, in seinen besten Tagen, Shakespeare. Die verschiedenen Versuche, die ich unternahm, um auf das zurückzukommen, was man mißbräuchlich Genie zu nennen pflegt, haben mir keine andere Methode geliefert, als schließlich nur diese hier.

Die NÄCHTE von Young sind surrealistisch von Anfang bis Ende; leider spricht hier ein Priester, ein schlechter Priester, gewiß, aber ein Priester.

Swift ist surrealistisch in der Bösartigkeit.

Sade ist surrealistisch im Sadismus.

Chateaubriand ist surrealistisch im Exotischen.

Constant ist surrealistisch in der Politik.

Hugo ist surrealistisch, wenn er nicht dumm ist.

Desbordes-Valmore ist surrealistisch im Lieben.

Bertrand ist surrealistisch in der Vergangenheit.

Rabbe ist surrealistisch im Tod.

Poe ist surrealistisch im Abenteuer.

Baudelaire ist surrealistisch in der Moral.

Rimbaud ist surrealistisch im praktischen Leben und anderswo.

Mallarmé ist surrealistisch im Verschweigen.

Jarry ist surrealistisch im Absinth.

Nouveau* ist surrealistisch im Kuß.

Saint-Pol-Roux ist surrealistisch im Symbol.

Fargue ist surrealistisch in der Stimmung.

Vaché ist surrealistisch in mir.

Reverdy ist surrealistisch zu Hause.

Saint-John Perse ist surrealistisch in der Ferne.

Roussel ist surrealistisch in der Anekdote.

Usw.

Ich wiederhole, sie sind nicht immer surrealistisch, insofern, als ich bei jedem von ihnen eine gewisse Anzahl vorgefaßter Ideen aussondern [28] kann, an denen sie – auf sehr naive Weise! – hingen. Sie hingen daran, weil sie nicht die surrealistische Stimme gehört hatten, die noch vor dem Tode und über Gewitter hinweg zu predigen nicht aufhört; weil sie sich damit begnügen wollten, die wunderbare Partitur zu orchestrieren. Es waren zu stolze Instrumente, und deshalb haben sie nicht immer einen harmonischen Klang hervorgebracht.1

Wir jedoch, die wir uns mit keiner Art von Filtrierung abgegeben haben, die wir uns in unseren Werken zu tauben Empfängern so vielen Widerhalls gemacht haben, zu bescheidenen Registriermaschinen, welche nicht wie hypnotisiert auf ihre eigene Aufzeichnung starren – wir dienen vielleicht einer noch größeren Sache. Und so geben wir in aller Rechtschaffenheit das „Talent“ zurück, das man uns zuspricht. Redet doch meinetwegen über das Talent von diesem Metermaß aus Platin, von diesem Spiegel, von dieser Tür und vom Himmel.

Wir haben kein Talent, fragen Sie Philippe Soupault:

„Die anatomischen Fabriken und billigen Wohnsiedlungen werden die vornehmsten Städte zerstören.“

Fragen Sie Roger Vitrac:

„Kaum hatte ich den Marmor-Admiral angerufen so drehte dieser sich auf den Absätzen wie ein Pferd das sich vor dem Polarstern bäumt und bezeichnete mir mit seinem Zweispitz auf dem Plan ein Gebiet wo ich mein Leben verbringen sollte.“

Fragen Sie Paul Éluard:

„Eine wohlbekannte Geschichte erzähle ich, ein berühmtes Gedicht lese ich wieder: ich lehne an einer Mauer, mit grünenden Ohren und verdorrten Lippen.“

Fragen Sie Max Morise:

„Der Höhlenbär und sein Geselle, der Windbeutel und sein windiger Diener, der große Kanzler mit seiner Kanzlerin, die Vogelscheuche fürs Geflatter und das Mönchlein ihr Gevatter, das Reagenzglas und seine Nadeltochter, der Karnevore und sein Bruder, der Karneval, der Straßenkehrer [29] und sein Monokel, der Mississippi und sein kleiner Hund, die Koralle und ihr Milchtopf, das Wunder und sein lieber Gott – brauchen nur noch von der Meeresoberfläche zu verschwinden.“

Fragen Sie Joseph Delteil:

„Leider! Ich glaube an die Macht der Vögel. Und es genügt eine Feder, damit ich mich totlache.“

Fragen Sie Louis Aragon:

„Das Spiel wurde unterbrochen, und während sich die Spieler um eine Feuerzangenbowle vereinten, fragte ich den Baum, ob er noch immer sein rotes Band trage.“

Und mich selbst, der ich nicht anders konnte, als die verwirrenden Serpentinen dieses Vorworts zu schreiben.

Fragen Sie Robert Desnos, denjenigen unter uns, der der surrealistischen Wahrheit vielleicht am nächsten gekommen ist, der in noch unveröffentlichten Werken1 und im Verlaufe vielfacher Experimente, denen er sich widmete, voll und ganz die Hoffnung gerechtfertigt hat, welche ich auf den Surrealismus setzte – und der mich noch viel davon erwarten läßt. Desnos redet surrealistisch heute, nach Belieben. Die fabelhafte Behendigkeit, mit der er seinem Denken sprechend folgt, ist uns um so mehr er, als wir seine prächtigen Reden wieder verlieren; denn Desnos hat besseres zu tun, als sie schriftlich zu fixieren. Er liest in sich wie in einem offenen Buch, und keine Geste hält die Blätter fest, die im Wind seines Lebens davonwehen. […]

* :Anmerkungen zur deutschen Ausgabe

* „De l‘Intelligence“: Philosophisches Hauptwerk Hippolyte Taines (1870), in dem er die Psychologie durch die Ergebnisse der Physiologie und der Naturwissenschaften zu erklären versucht.

1 [14] Dostojevskij: ‚Schuld und Sühne‘

2 Pascal

1 [15] Barrès, Proust

1 [16] Man muß sich die Dichte des Traumes vor Augen halten. Im allgemeinen behalte ich nur, was von seinen äußersten Schichten stammt. Was ich mir besonders an ihm merken möchte, ist das, was beim Erwachen untergeht, alles, was nicht Tagesrest ist, dunkles Laub, dummes Gezweig. Aber ich ziehe es auch in der „Realität“ vor, zu fallen.

* Matthew Gregory Lewis (1775 bis 1818): Englischer Schriftsteller, vor allem berühmt geworden durch seinen „phantastischen“ Roman „The Monk“ (1795) („Der Mönch“), in späteren Auflagen unter dem Titel „Ambrosio, the Monk“ erschienen.

1 [19] Das Bewundernswerte am Phantastischen ist, daß es nichts Phantastisches daran mehr gibt: es gibt nur noch das Wirkliche.

* „Peau d’Âne“: Märchen in Versform von Charles Perrault (1628 bis 1703), der durch seine Märchensammlung „Contes de ma mère l‘Oye“ (1697) Weltruhm erlangte.

* „Dissimulons“ (Laßt uns heucheln!): Titel eines Gedichtbandes des französischen Schriftsteller [sic] J. P. R. Cuisin.

* Vogelgleichungen: Anspielungen auf Benjamin Pérets Gedichte in Form von Gleichungen.

1 [21] Siehe ‚Les Pas perdus’, N.R.F.*

* „Mont de Pieté“: Erster Gedichtband André Bretons (1919)

* „Forêt-Noire“: Gedicht André Bretons in „Mont de Pieté“:

1 [23] Nord-Sud, März 1918

2 [23] Als Maler hätte ich dieser visuellen Erscheinung zweifellos den Vorzug vor der anderen gegeben. Es waren wohl meine bisherigen Neigungen, die den Ausschlag gaben. Seit jenem Tag konzentriere ich zuweilen meine Aufmerksamkeit auf ähnliche Erscheinungen, und ich weiß, daß sie an Genauigkeit in nichts den hörbaren Phänomenen nachstehen. Mit Bleistift und Papier wäre es mir ein Leichtes, ihren Umrissen zu folgen. Weil es sich hier wieder einmal nicht darum handelt, zu zeichnen – es handelt sich nur darum, durchzupausen. Ich könnte auf diese Weise sehr gut einen Baum, eine Welle, ein Musikinstrument darstellen, alle Dinge, von denen ich jetzt nicht einmal die schematische Ansicht liefern könnte. Überzeugt, mich zurechtzufinden, würde ich eintauchen in einen Wirrwarr von Linien, die zunächst nirgends hinführen. Und ich würde, wenn ich die Augen öffnete, eine äußerst starke Empfindung eines „jamais vu“ verspüren. Robert Desnos hat oftmals den Beweis für diese Behauptung erbracht: man braucht, um sich davon zu überzeugen, nur in Nummer 36 der Feuilles libres* zu blättern, die einige seiner Zeichnungen enthält (‚Roméo et Juliette‘, ‚Un homme est mort ce matin‘ usw.); die Redaktion hatte sie für Zeichnungen von Wahnsinnigen gehalten und in aller Unschuld als solche veröffentlicht. - *Feuilles libres: Literarische Zeitschrift, die um 1920 in Paris erschien; zu ihren präsurrealistischen, dadaisten sowie „kubistischen“ Mitarbeitern gehörte unter anderen Jean Cocteau.

1 [24] Knut Hamsun bringt diese Art von Offenbarung, der ich ausgesetzt war, mit dem Hunger in Zusammenhang, und er hat vielleicht nicht unrecht. (Tatsache ist, daß ich zu dieser Zeit nicht regelmäßig jeden Tag gegessen habe.) Ohne Frage sind es genau dieselben Phänomene, von denen er wie folgt berichtet: „Gegen Morgen erwachte ich sehr früh. Es war noch ziemlich dunkel, als ich die Augen aufschlug, und erst lange danach hörte ich die Uhr in der Wohnung unter mir fünfmal schlagen. Ich wollte wieder einschlafen, aber es gelang mir nicht mehr, ich wurde immer munterer und lag wach und dachte an tausend Dinge. Plötzlich fallen mir ein oder zwei gute Sätze ein zu einer Skizze, einem Feuilleton, feine sprachliche Glückstreffer, wie ich noch nie ihresgleichen gefunden hatte. Ich liege da und wiederhole diese Worte vor mich hin und finde, daß sie ausgezeichnet sind. Bald fügen sich mehr hinzu, ich werde mit einem Mal vollkommen wach und stehe auf und greife nach Papier und Bleistift, die auf dem Tisch hinter meinem Bett liegen. Es war, als sei eine Ader in mir aufgesprungen, ein Wort folgt dem anderen, die Worte ordnen sich im Zusammenhang, bilden sich zu Situationen; Szene häuft sich auf Szene, Handlungen und Repliken quellen in meinem Gehirn auf, und ein wundervolles Behagen erfaßt mich. Ich schreibe wie ein Besessener und fülle eine Seite nach der anderen, ohne einen Augenblick Pause. Gedanken kommen so plötzlich über mich und strömen weiterhin so reichlich, daß ich eine Menge Nebensächlichkeiten verliere, weil ich sie nicht schnell genug niederschreiben kann, obwohl ich aus allen Kräften arbeite. Immer noch dringt es auf mich ein, ich bin von meinem Stoff erfüllt, und jedes Wort, das ich schreibe, wird mir in den Mund gelegt.“* Apollinaire versicherte, daß Chirico seine ersten Bilder unter dem Einfluß von inneren Beschwerden (Migräne, Koliken) gemalt hat. - *Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Knut Hamsuns Roman „Hunger“ (München 1921).

1 [25] Ich glaube immer mehr an die Unfehlbarkeit meines Denkens in bezug auf mich selbst, und das ganz zu Recht. Allerdings, in diesem Gedanken-Diktat, in dessen Verlauf man der erstbesten Störung von außen ausgesetzt ist, können einige „Luftblasen“ entstehen. Es wäre unverzeihlich, sie zu kaschieren. Das Denken ist per definitionem stark und unfähig, sich einen Fehler durchgehen zu lassen. Man muß diese evidenten Schwächen auf das Konto der von außen kommenden Suggestionen setzen.

1 [26] Und ebenso auch Thomas Carlyle in: ‚Sartor Resartus‘ (Kapitel VIII: Natürlicher Supernaturalismus), 1833/34

2 [26] Siehe auch den IDEOREALISMUS von Saint-Pol-Roux

* Germain Marie Bernard Nouveau (1851 bis 1920): Französischer Lyriker, mit der „ständigen Tendenz, einen neuen Aspekt der Dinge zu suchen“ (Breton), von Rimbaud und Verlaine beeinflußt.

1 [28] Das gleiche könnte ich von einigen Philosophen und von einigen Malern sagen; von den letzteren seien nur genannt Uccello in früherer Zeit und für die moderne Epoche Seurat, Gustave Moreau, Matisse (in ‚La Musique‘ zum Beispiel), Derain, Picasso (bei weitem der reinste), Braque, Duchamp, Picabia, Chirico (so lange bewundernswert), Klee, Man Ray, Max Ernst und, uns so nahe, André Masson.

1 [29] „Nouvelles Hébrides“, „Désordre formel“, „Deuil pour deuil“

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André Breton: Erstes Manifest des Surrealismus, 1924

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