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Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, 1964
Hans Blumenberg
Quelle
Hans Blumenberg: "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans", in: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen. 2. durchges. Auflage. München: Fink 1969, S. 9-27. ISBN 978-3-7705-0309-4.
Erstausgabe
"Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans", in: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen. München: Fink 1964, S. 9-27.
Genre
Aufsatz
Medium
Literatur
[9] Die Tradition unserer Dichtungstheorie seit der Antike läßt sich unter dem Gesamttitel einer Auseinandersetzung mit dem antiken Satz, daß die Dichter lügen, verstehen.1* Noch Nietzsche steht unter dem Einfluß dieses Satzes, – wenn er zur Behauptung der metaphysischen Würde der Kunst die Umkehrung verwenden muß, daß die Wahrhaftigkeit der Kunst im Gegensatz zur lügenhaften Natur stehe.2* Gleichsam auf hal[10]ber Strecke zwischen dem antiken Topos und der modernen Antithese steht die scholastische Zubilligung eines ‚minimum veritatis‘ an die Dichtung.
Fragen wir nun, wie sich die Bestreitung des antiken Axioms von der Lügenhaftigkeit der Dichtung denken läßt. Oder: was kann es heißen, in Antithese von den Dichtern zu behaupten, daß sie ‚die Wahrheit sagen‘? Zweierlei, wie ich meine: erstens, indem der Dichtung ein Bezug zu einer vorgegebenen Wirklichkeit – welcher Art auch immer – zugesprochen wird; zweitens, indem für die Dichtung die Erzeugung einer eigenen Wirklichkeit in Anspruch genommen wird. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß rein logisch auch die Möglichkeit bestand, aus der bezeichneten Antithese überhaupt herauszuspringen und die völlige Unverbindlichkeit des artistischen Gebildes in bezug auf Wahrheit oder Lüge, seine Unbetroffenheit durch das Kriterium des Wirklichkeitsbezuges, festzustellen. Aber der logische Katalog kongruiert nicht schon mit den historischen Möglichkeiten.
In der Geschichte unserer ästhetischen Theorie ist diese Disposition, das ästhetische Gebilde aus seinem Verhältnis zu ‚Wirklichkeit‘ zu legitimieren, niemals ernstlich verlassen worden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der traditionellen Ästhetik erfordert also eine Klärung, in welchem Sinne hier jeweils von ‚Wirklichkeit‘ gesprochen wird. Diese Klärung ist deshalb schwierig, weil wir gerade im Umgang mit dem, was uns als wirklich gilt, zumeist gar nicht bis zur prädikativen Stufe der ausdrücklichen Feststellung des Wirklichkeitscharakters vordringen. Andererseits: in dem Augenblick, in dem einem praktischen Verhalten, einem theoretischen Satz ihr Realitätsbezug bestritten wird, kommt zutage, unter welchen Bedingungen jeweils von Wirklichkeit gesprochen werden kann. Also gerade dadurch, daß dem poetischen Gebilde von allem Anfang unserer Tradition an seine Wahrheit bestritten worden ist, ist die Theorie von der Dichtung zu einem systematischen Ort geworden, an dem der Wirklichkeitsbegriff kritisch hereinspielen und aus seiner präformierten Implikation heraustreten muß. Im Grunde geht es dabei um das, was einer Epoche als das Selbstverständlichste und Trivialste von der Welt erscheint und was auszusprechen ihr nicht der Mühe wert wird, was also gerade deshalb die Stufe der überlegten Formulierung kaum je erreicht.
Ob ein Vordringen der begrifflichen Analyse hier möglich und ertragfähig ist, kann sich nur zeigen, wenn ich einige Versuche vorlege, historische Wirklichkeitsbegriffe zu bestimmen. Die erste historische Gestalt eines Wirklichkeitsbegriffes, von der ich sprechen möchte, läßt sich vielleicht bezeichnen als die Realität der momentanen Evidenz. Er ist nicht behauptet, aber vorausgesetzt, wenn z. B. Plato ohne Zögern davon ausgehen kann, daß der menschliche Geist beim Anblick der Ideen sofort und ohne Zweifel erfährt, daß er hier die letztgültige und unüberschreitbare Wirklichkeit vor sich habe, und zugleich ohne weiteres zu erkennen vermag, daß die Sphäre des empirisch-sinnlich Gegebenen eine solche Wirklichkeit nicht war und nicht sein kann. Es ist doch keineswegs selbstverständlich, daß die Dualität von empirischer und idealer Gegebenheit ohne die Gefahr einer Spaltung des Wirklichkeitsbewußtseins gesehen werden konnte, die wir in diesem Falle sogleich befürchten würden, wenn wir uns einen Verstand vorstellen wollten, der aus der uns umgebenden Welt in eine ganz andersartige Gegebenheit versetzt würde. Der antike Wirklichkeitsbegriff, wie er Platos Ideenlehre die Möglichkeit bietet, ohne mit ihr identisch zu sein, setzt voraus, daß das [11] Wirklche [sic] sich als solches von sich selbst her präsentiert und im Augenblick der Präsenz in seiner Überzeugungskraft unwidersprechlich da ist.3* Es ist dieser formale Merkmalskomplex, dem die Metaphorik des Lichtes zu seiner Artikulation so besonders angemessen ist. Auf diesem Wirklichkeitsbegriff beruht auch noch ein Denken, dem die biblischen und andere Berichte von der Erscheinung Gottes oder eines Gottes völlig unproblematisch bleiben konnten, in denen dieser Gott sich als solcher in der Erscheinung unmittelbar und momentan ausweist und für die Vermutung, Befürchtung oder Unterteilung einer Illusion überhaupt keinen Raum läßt.4* Der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz ist eben ein solcher, der augenblickliches Erkennen und Anerkennen von letztgültiger Wirklichkeit einschließt und gerade an dieser Implikation identifizierbar wird.
Ein zweiter Wirklichkeitsbegriff, der für das Mittelalter und die als sein Resultat ansetzende Neuzeit fundierend ist, läßt sich bezeichnen als die garantierte Realität. Wie spät die Philosophie die Implikationen des menschlichen Weltverstehens und Weltverhaltens erfaßt und ausdrücklich macht, zeigt sich gerade hier daran, daß von der [12] systematischen Formulierung dieses Wirklichkeitsbegriffes die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie ihren Anfang nimmt. Für Descartes gibt es keine momentane Evidenz des letztgültig Wirklichen, weder für das sich selbst in einem Quasi-Schluß erfassende Subjekt noch für den aus seinem Begriff als existent deduzierten Gott. Die gegebene Realität wird erst verlässig durch eine Garantie, deren sich das Denken in einem umständlichen metaphysischen Verfahren versichert, weil es nur so den Verdacht eines ungeheuerlichen Weltbetruges, den es aus eigener Kraft nicht zu durchschauen vermöchte, eliminieren kann. Gott als der verantwortliche Bürge für die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, dieses Schema der dritten Instanz, des absoluten Zeugen, ist in der ganzen Geschichte der mittelalterlichen Selbstauffassung des menschlichen Geistes seit Augustin vorbereitet. Dieses Schema schließt aus, daß es ein Merkmal geben könnte, das als solches das je Gegebene in seiner unüberbietbaren Realität ausweist. Die Merkmale der Klarheit und Deutlichkeit, die Descartes der Evidenz zuspricht, sind nur unter der metaphysischen Bedingung, die aus seinem Zweifelversuch resultiert, systematisch zu placieren; sonst – so ist mit Recht bemerkt worden – sind sie genauso gut die Merkmale des in der Paranoia Gegebenen. Das Schema der garantierten Realität, bei dem in das Verhältnis von Subjekt und Objekt noch eine vermittelnde Instanz eingebaut ist, hat auf die neuzeitliche Kunsttheorie eingewirkt. Es steckt noch in dem Versuch, die Wahrheit der künstlerischen Hervorbringung durch die Rückfrage auf das zugrundeliegende Erlebnis des Künstlers und die psychologische Aufrichtigkeit seiner Umformung zu sichern.
Eine dritte Form des Wirklichkeitsbegriffes läßt sich bestimmen als Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes.5* Dieser Wirklichkeitsbegriff unterscheidet sich von den vorhergehenden durch seinen Zeitbezug: Wirklichkeit als Evidenz weist sich je im gegenwärtigen Augenblick und seiner Gegebenheit aus, garantierte Wirklichkeit durch den Rückbezug auf die in der Einheit der Erschaffung der Welt und der Vernunft verbürgte Vermittlung, also auf einen immer schon vergangenen Grund dessen, was die Scholastik ‚veritas ontologica‘ genannt hatte; dieser dritte Wirklichkeitsbegriff nimmt Realität als Resultat einer Realisierung, als sukzessiv sich konstituierende Verläßlichkeit, als niemals endgültig und absolut zugestandene Konsistenz, die immer noch [13] auf jede Zukunft angewiesen ist, in der Elemente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen und das bis dahin als wirklich Anerkannte in die Irrealität verweisen könnten. Auch die abgeschlossene Lebenszeit eines Subjektes erlaubt erst zu sagen, seine Wirklichkeit sei ungebrochen gewesen, aber auch dieses und jenes seien seine Illusionen, Imaginationen, Selbsttäuschungen, „seine“ Wirklichkeit gewesen. Die Verbindung des Possessivpronomens mit dem Ausdruck Wirklichkeit ist für diesen Begriff charakteristisch. Der alle einzelnen Subjekte übergreifende und umgreifende Horizont der Zeit setzt das einzelne Subjekt mit „seiner“ Wirklichkeit entweder ins Unrecht oder gibt ihm die Noch-Zulässigkeit einer perspektivischen Position, eines topologisch zuordnungsfähigen Aspektes von Realität. Wirklichkeit als sich konstituierender Kontext ist ein der immer idealen Gesamtheit der Subjekte zugeordneter Grenzbegriff, ein Bestätigungswert der in der lntersubjektivität sich vollziehenden Erfahrung und Weltbildung. Es ist unschwer zu sehen, daß dieser Wirklichkeitsbegriff eine gleichsam ‚epische‘ Struktur hat, daß er notwendig auf das nie vollendbare und nie in allen seinen Aspekten erschöpfte Ganze einer Welt bezogen ist, deren partielle Erfahrbarkeit niemals andere Erfahrungskontexte und damit andere Welten auszuschließen erlaubt.6*
Ein letzter hier noch zu besprechender Wirklichkeitsbegriff orientiert sich an der Erfahrung von Widerstand. In diesem Wirklichkeitsbegriff wird die Illusion als das Wunschkind des Subjekts vorausverstanden, das Unwirkliche als die Bedrohung und Verführung des Subjekts durch die Projektion seiner eigenen Wünsche, und demzufolge antithetisch die Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Lei[14]stende, und dies nicht nur als Erfahrung des Berührens, der trägen Masse, sondern auch und in letzter Zuspitzung in der logischen Form des Paradoxes. Mit diesem Wirklichkeitsbegriff hat es z. B. zu tun, daß das Paradox zur bevorzugten Zeugnisform der Theologie werden konnte, die gerade in der Ärgerlichkeit und Anstößigkeit des logisch inkonsistenten Gehaltes den Ausweis einer letzten, das Subjekt niederzwingenden und zur Selbstaufgabe fordernden Realität sieht. Wirklichkeit ist hier das ganz und gar Unverfügbare, was sich nicht als bloßes Material der Manipulation und damit der ständig umsteuerbaren Erscheinung unterwerfen läßt, was vielmehr in der Technisierung nur scheinbar und zeitweise in Dienst genommen worden ist, um sich dann in seiner überwältigenden Eigengesetzlichkeit und einer seine Erzeuger tyrannisierenden Mächtigkeit zu enthüllen als ein ‚factum brutum‘, von dem nachträglich nur noch behauptet, aber nicht mehr vorgestellt werden kann, daß es aus einem freien und konstruktiven Prozeß des Erdachtwerdens einmal hervorgegangen sein könnte. In diesem Sinne ist das der Analyse nicht mehr Zugängliche, das nicht weiter Auflösbare, das – in einer charakteristischen Wendung – ‚atomic fact‘, die elementare Konstante, signifikativ für diesen Wirklichkeitsbegriff; aber auch solche Aussagen wie die, daß das Spielen mit zwei einander ausschließenden Bildern schließlich den richtigen Eindruck von einer bestimmten Realität geben könne (Heisenberg), oder daß „ein kompliziertes Stück Mathematik ebenso Realität repränsentiere [sic] wie ‚Masse‘, ‚Energie‘ usw“ (George Thomson). Vielleicht deutet sich dieser Wirklichkeitsbegriff zum ersten Mal darin an, daß für das Realitätsbewußtsein ein Instinkt in Anspruch genommen wird, dessen praktische Mechanik den theoretischen Zweifel zwar nicht ausschließt und aufhebt, aber gleichgültig für unsere Existenz- und Selbstbehauptung macht, wie es D'Alembert in der Einleitung zur Enzyklopädie ausgesprochen hat. Vielleicht auch in jenem fast gleichzeitigen Wort Lessings an Mendelssohn, daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern Grads unserer Realität bewußt sind,7 einer Formulierung, die das Wirklichkeitsbewußtsein vom Denken trennt und in die Sphäre der unverfügbaren Erfahrungen des Subjekts mit sich selbst verlegt. Jedenfalls müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß die Neuzeit nicht mehr die Epoche eines homogenen Wirklichkeitsbegriffes ist, oder daß die Herrschaft eines bestimmten ausgeprägten Realitätsbewußtseins sich gerade in der Auseinandersetzung mit einer anderen schon formierten oder sich formierenden Möglichkeit, von Wirklichkeit betroffen zu werden, vollzieht.
Zwischen den derart umrissenen Wirklichkeitsbegriffen in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und den Verständnisweisen für das Kunstwerk besteht ein Begründungsverhältnis. Ganz unzweifelhaft ist die Theorie der Nachahmung8* als die beherrschende [15] Konzeption in unserer ästhetischen Tradition fundiert in dem Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz . Die Nachahmungstheorie ist gebunden an zwei ontologische Voraussetzungen:
1. die Gegebenheit oder Annahme eines Bereiches eigentlicher und aus sich einleuchtender exemplarischer Realität;
2. die Vollständigkeit dieses Bereiches hinsichtlich aller möglichen Gehalte und Gestalten von Wirklichkeit.
Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich, daß alles Künstliche im weitesten Sinne das Natürliche nur wiederholen kann, weil es gar keinen Spielraum der ‚Überschreitung‘ gibt. Es liegt ferner im Sinne einer aus sich selbst exemplarischen Gegebenheit, daß sie nicht nur wiederholt werden kann, sondern auch wiederholt werden soll, daß sie also zu ihrer Nachahmung gleichsam herausfordert, weil sie in ihrer Urbildlichkeit ohne die erfolgte Veranlassung des Abbildes steril bliebe. So begründet die platonische Idealität, weshalb es künstliche und künstlerische Gebilde gibt, zugleich aber auch, weshalb in ihnen nichts Wesentliches ‚geleistet‘ sein kann. Hier ist die eigentümliche Ambivalenz des Platonismus in der Geschichte der Kunsttheorie angelegt: er war stets Rechtfertigung und Entwertung der künstlerischen Tätigkeit zugleich. Plato selbst belegt das im zehnten Buch seines Staates, wo er bekanntlich eine Polemik gegen die Dichtung und darstellende Kunst überhaupt führt, und zwar mit dem Argument, daß der Künstler in der Darstellung der gegebenen Gegenstände bereits aus der zweiten Hand schöpfe, indem das, woran er sich hält, doch selbst noch nicht das letzte und eigentliche Wirkliche sei, sondern dessen Nachahmung durch die Natur oder durch den Handwerker. Das Kunstwerk ist als Nachahmung zweiter Stufe bestimmt. Wenn also das Abbild des Abbildes ganz anders bewertet werden muß als das Abbild des Urbildes, so hängt auch das mit dem Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz zusammen: in der unübersteigbaren Evidenz des Urbildes ist Wirklichkeit als Verbindlichkeit zu erfahren, und das Abbild erster Stufe – also das Abbild des Urbildes – ist legitimiert dadurch, daß es sein soll, nicht nur dadurch, was es sein soll (eine Bestimmung, die nur dem Urbilde zukommt). Dieser Sachverhalt wird an dem von Plato gewählten Beispiel der künstlerischen Darstellung von elementaren Gebrauchsgegenständen durch die Malerei bestätigt. Den Tisch oder das Bett gibt es in der uns umgebenden Natur nicht; aber für Plato ist es ausgeschlossen, daß der Handwerker solche Gegenstände im Hinblick auf einen Gebrauchszweck erfunden haben könnte, denn das hieße, daß er ihre Idee authentisch hervorgebracht hätte. Vielmehr muß es nach Plato für alle sinnvollen Gestaltungen des Menschen bereits Urbilder in der Ideenwelt geben, anhand deren handwerkliche Produktion sich vollzieht. Das Abbild erster Stufe wird hier also von dem geleistet, der handwerklich den Tisch oder das Bett herstellt. Der Maler aber, der solche Dinge seinerseits darstellt, hält sich an das handwerklich schon produzierte Zeug, bildet also das Abbild nochmals ab.
Weshalb aber läßt Plato nicht zu, daß der Maler – genauso wie der Handwerker – auf die Idee selbst blickt, wenn er solche Gegenstände darstellt, und damit der For[16]derung genügt, ein unmittelbares Abbild des Urbildes zu geben? Diese Frage bleibt im Text des zehnten Buches des Staates unbeantwortet. Sie ist aber von Wichtigkeit, wenn man die Ambivalenz des Platonismus für die Theorie des Ästhetischen verstehen will. Sie wird auch nicht ohne Bedeutung sein, wenn man die These begründen will, daß es der platonische Restbestand in unserer ästhetischen Tradition ist, der dem Roman seine systematisch legitime Stelle in unserer traditionellen Ästhetik bestreitbar bzw. unsicher macht und ihn dadurch zu einer Gattung des schlechten ästhetischen Gewissens werden ließ, deren Überwindung oder deren Assimilation an andere legitime Gattungen die kaum je verstummende Forderung wurde.
Die platonischen Ideen fixieren einen Kanon dessen, was der Abbildlichkeit zugleich fordernd und lizenzierend vorgegeben ist. Die platonischen Ideen waren zunächst Begründungen für die Möglichkeit unserer abstrakten Begriffe, also noch nicht Urbilder von Gestalten, sondern Normen für Leistungen des Verstandes, etwa für die Herstellung von Relationen zwischen Gegenständen, für die Erfassung geometrischer Verhältnisse und schließlich für die Beurteilung des Wertes von Handlungen. In all diesem hatten die Ideen gebietenden Charakter; sie repräsentierten noch nicht Wirkliches, wie es sein soll, sondern das Seinsollen als solches. Die Tatsache, daß die ursprüngliche und präexistente Erfahrung der Ideen als Anschauung vorgestellt werden mußte, führte dazu, daß an den Ideen das eidetische Moment immer ausgeprägter wurde, daß sie sich zu Urgestalten alles dessen formierten, was wir in der sichtbaren Welt als einen Inbegriff vager Nachbildungen vor uns haben. Aber immer noch waren die Ideen nicht nur Bilder reiner Wesenheiten, sondern Urbilder mit dem der Idee genuinen Sollensgehalt der zum Nachbilden auffordernden Vorbildlichkeit. Die Begriffe ‚Urbild‘ und ‚Abbild‘ sind also nicht bloße Relationsbegriffe, die sich aus der vollzogenen Nachbildung ergeben, sondern sie haben entsprechend der Herkunft der Ideenlehre selbst ideale Qualität, d. h. Urbildlichkeit ist unabhängig von der tatsächlichen Nachbildung und vor ihr da als eine erst in der Tatsächlichkeit und Getreulichkeit des Abbildes sich erfüllende Norm. Diese Konsequenz der Ideenlehre, die sich schon im Staat in der Heraushebung des Guten zu einer Idee der Ideen bezeugt, zeigt sich in dem Dialog Timaeus vollends in ihrer Bedeutung, und zwar darin, daß die Tatsache der Weltherstellung gar keiner weiteren Motivierung bedürftig ist als derjenigen des bloßen Anblicks der Ideen durch einen, als zu dieser Verrichtung befähigt gedachten Handwerker, dem nur seine Werktreue bescheinigt werden muß, nicht aber eine besondere Disposition seines Willens, ein solches Werk auf sich zu nehmen und durchzuführen. Die sichtbare Welt ist danach eine Vollstreckung der Sollensimplikation der Urbilder, ihnen ihre Nachbildung als das ihren Sinn erfüllende Korrelat zu geben. Aber es zeigt sich auch sogleich, daß in diesem System nur das erste und unmittelbare Abbild als Erfüllung des Urbildgebotes legitimiert ist und darin ein Ende des Prozesses der Abbildung darstellt; der als reales Prädikat genommene Abbildcharakter schließt die Möglichkeit aus, wiederum verbindliches Vorbild werden zu können. Der darstellende Künstler bildet also nur das ab, was seinerseits schon Abbild ist und nur Abbild sein kann und erhebt es dadurch in die ihm nicht zukommende Funktion der Urbildlichkeit. Nicht jedes Abbild und nicht das Abbild als solches ist also bei Plato negativ gewertet, sondern nur das nicht unmittelbar nach dem Urbild entstandene, also nicht ‚reale‘ Abbild, das indirekte, schon auf Abbilder zurückgehende Nachbild. Es ist wohl eines der Mißver[17]ständnisse des Neuplatonismus, daß dort Nachahmung überhaupt in eine negative Wertung rückt und damit schon die Entstehung der Welt – und nicht erst die der Nachbildwerke der Kunst – ein zweifelhaftes Ereignis wird. Aber dieses neuplatonische Mißverständnis der Nachahmungskritik Platos macht zugleich den eigentümlichen Sachverhalt verständlich, daß Motive der platonischen Tradition an einer Entwicklung beteiligt sein konnten, durch die eine Überwindung der Nachahmungsformel in der Begründung der Möglichkeit künstlerischer Produktivität erreicht werden sollte.
Bei diesen Überlegungen darf nicht vergessen werden, daß die ästhetische Theorie der Nachahmung in die Aristoteles-Rezeption gehört.9* Indem bei Aristoteles die Ideen zu Formprinzipien der Natur selbst wurden, verschmolzen Tatsächlichkeit und Verbindlichkeit in der Welt so, daß der Künstler nun seine Aufgabe darin finden konnte, aus der Erscheinung das, was sein soll und wie es sein soll, zu erheben. Jetzt wird die künstlerische Darstellung Abbild erster und einziger Stufe. Die Würde der Nachahmung als des Inbegriffs künstlerischer Tätigkeit ist also nicht durch eine Umwertung der Mimesis herbeigeführt, sondern nur durch eine Verminderung der Zahl der Bezugsebenen: das Künstlerische ist nun genau an die Stelle getreten, an der bei Plato die Natur selbst bzw. der sie herstellende Demiurg gestanden hatten und durch deren Besetzung die künstlerische Tätigkeit dort wesensmäßig überflüssig, ja systemwidrig geworden war.
Freilich, es handelt sich hier nur um einen ‚platonischen Rest‘ im Aristotelismus, und dieser begründet zwar die Möglichkeit des Kunstwerkes, aber er rechtfertigt es nicht, gibt ihm keine Notwendigkeit. Daran liegt es, daß die aristotelische Tradition der Ästhetik darauf angewiesen ist, die künstlerische Tätigkeit zwar als Nachahmung der Natur zu definieren, sie aber zugleich fast ausschließlich von den Bedürfnissen des menschlichen Gemüts und von der Wirkung auf dieses Gemüt her zu begründen, zu verstehen und zu normieren. In einer aristotelisierenden Kunsttheorie ist daher der fundierende Begriff des Menschen wichtiger als der Wirklichkeitsbegriff; wir haben eine Ästhetik, die im Hinblick auf den affizierten Rezeptor konzipiert und systematisiert ist. Der ursprünglich böse Satz, daß die Künstler, insbesondere die Dichter, Lügner seien, verliert in diesem systematischen Rahmen seinen negativen, kritisch relevanten Gehalt, und dies schon deshalb, weil die aristotelische Definition des Künstlichen als Nachahmung nicht eine Bestimmung dessen ist, was getan werden soll, sondern dessen, was überhaupt nur getan werden kann.
Die Erneuerung des Platonismus in der Renaissance10* bedeutet nicht eine Umkehrung des Verhältnisses der Entstehung der aristotelischen Konzeption aus der pla[18]tonischen; die Kritik am Ideal der Nachahmung beruht auf einer Veränderung des metaphysischen Interesses. Mit dem Ausgang des Mittelalters gewann die Frage des Menschen nach sich selbst und nach seiner Stellung in der Welt und gegenüber der Welt Vorrang, und bei der Beantwortung dieser Frage gaben Leistung und Werk des Menschen den Ausschlag. Thema der Renaissance wurde mit der Würde des Menschenwerkes die Begründung der Dignität des Kunstwerkes. Der vornehmliche Hinblick einer Theorie der Kunst auf den affizierten Betrachter war dazu systematisch wenig geeignet. Die Vergleichbarkeit des menschlichen Werkes mit dem göttlichen Schöpfungswerk war die heimliche oder ausdrückliche Orientierung eines neu sich bildenden Begriffes vom Künstler, und das führte natürlich mit Vehemenz zurück auf die Frage nach dem Verhältnis des Kunstwerkes zur Naturwirklichkeit, nach der notwendigen oder zufälligen Abhängigkeit oder der Lösbarkeit dieses Bezuges. Wenn diese Auffassung von dem frühen Impuls für die Kunstauffassung der Neuzeit richtig ist, dann liegt in der Konsequenz des Ansatzes nicht nur eine Neubestimmung der Differenz ästhetischer und physischer Gegenstände, sondern die Idee der Konkurrenz des Künstlers mit der vorgefundenen Welt im ganzen, also nicht nur ihrer Abwandlung, Idealisierung, Variierung, sondern der künstlerischen Erschaffung weltebenbürtiger Werke. Sowohl nach dem antiken Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz als auch nach dem mittelalterlichen der Realitätsbürgschaft Gottes wäre eine solche Idee der künstlerischen Konkurrenz mit dem Gegebenen sinnlos und bodenlos gewesen. Erst ein neu sich durchsetzender Begriff von Wirklichkeit, der nichts anderes als die Konsistenz des Gegebenen im Räume und in der Zeit für die Intersubjektivität als den einzig möglichen Rechtstitel auf Anerkennung durch ein Wirklichkeitsbewußtsein bestimmte, ließ den Anspruch auf Totalität künstlerischer Setzungen neben dem Faktum Welt überhaupt tragbar, wenn nicht allererst verstehbar werden.
Derselbe Schöpfungsbegriff, der jetzt die Vorstellung von der möglichen Totalität eines Werkes nach sich zog, hatte – ohne daß das systematisch rechtzeitig ausdrücklich geworden wäre – der aristotelischen Konzeption des Künstlichen und Künstlerischen den Boden entzogen. Indem sich die gegebene Natur als Ausdruck eines mit allmächtiger Fähigkeit ausgestatteten göttlichen Willens darbot, war die Idealisierung als Aufgabe des Künstlers nicht nur zweifelhaft geworden, sondern fast dämonisiert durch die Implikation, daß die Natur nicht so sein müsse, wie sie sein sollte, sofern der Künstler [19] ihre Möglichkeiten gleichsam ‚einzuholen‘ und ihren Rückstand gegenüber ihrem Seinsollen auszugleichen hätte. Was konnte es jetzt nach der aristotelischen Definition noch bedeuten, daß Technik und Kunst vollenden, was die Natur nicht zu Ende zu bringen vermag? Für das mittelalterliche Weltverständnis hatte die gegebene Natur ihre selbsteigene, ihre authentische Evidenz als Wirklichkeit verloren. Das durch einen absoluten Willen gesetzte wie verbürgte Faktum war eine neue große Doppeldeutigkeit: es gewährte die Beruhigung der nicht zu stellenden Fragen und gab zugleich das Ärgernis, das in jeder Faktizität für die Vernunft steckt. Die Tatsache, daß aus den Voraussetzungen und Zusammenhängen der cartesischen Philosophie keine Ästhetik hervorgegangen ist, wird jetzt gerade daraus verständlich, daß diese Philosophie hinsichtlich ihres Wirklichkeitsbegriffs ‚mittelalterlich‘ gewesen ist und an das Bürgschaftsschema der Realität gebunden blieb. Eine Ästhetik des Cartesianismus hätte nichts anderes sein können als allenfalls eine Theorie der mittelalterlichen Kunst. Dieses historische Phänomen darf uns weder verblüffen noch irremachen; es ist ganz selbstverständlich, daß die versteckteste Implikation einer Epoche, nämlich ihr Wirklichkeitsbegriff, erst zur Explikation kommt, wenn jenes Wirklichkeitsbewußtsein bereits gebrochen ist.
Die Frage nach der Möglichkeit des Romans als eine ontologische, d. h. als eine die Fundierung im Wirklichkeitsbegriff aufsuchende, zu stellen, bedeutet also, nach der Herkunft eines neuen Anspruches der Kunst zu fragen, ihres Anspruches, nicht mehr nur Gegenstände der Welt, nicht einmal mehr nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren. Eine Welt – nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans.11* Es ist seltsam, daß die Voraussetzung für diesen Ansatz durch die Erneuerung des Platonismus geschaffen werden konnte, seltsam deshalb, weil der Platonismus damit in eine ihm ganz heterogene geschichtliche Funktion eintrat. Die in seiner Ambivalenz angelegte negative Bewertung der Nachahmung war der am Anfang der Neuzeit gleichsam ‚erwünschte‘ Effekt, dessen genuine Voraussetzungen freilich nicht zu erneuern waren: die Differenz zwischen Tatsächlichkeit und Seinsollen der Welt als Spielraum der Kunst war eine inzwischen ausgeschlossene Möglichkeit. Die Kunst sollte sich vielmehr im Raume des von Gott und der Natur nicht Verwirklichten [20] ansiedeln, und hier gab es keine Dualität mehr von vorgegebener Wirklichkeit und nachgestaltendem Werk; vielmehr war jedes sich an dem neuen Wirklichkeitsbegriff messende Werk immer schon die Wirklichkeit des Möglichen, dessen Nicht-Realität die Voraussetzung für die Relevanz seiner Realisierung sein mußte.
Wenn die Ausgangsthese dieser Überlegungen richtig ist, daß die Geschichte der Ästhetik eine einzige Auseinandersetzung mit dem antiken Satz darstellt, daß die Dichter lügen, so muß diese Geschichte immer mitabhängig sein von der Auffassung der menschlichen Möglichkeit, ‚die Wahrheit zu sagen‘. Die Wandlung des Wahrheitsbegriffes eröffnet erst einen neuen Spielraum für die Kunst, ‚wahr‘ zu sein. Der antike und noch weithin durch das Mittelalter festgehaltene Begriff von Wahrheit bestimmt, daß in der Erkenntnis ontisch dasselbe konstituierende Moment wirksam und präsent ist, das die Dinge selbst zu dem macht, was sie sind, aristotelisch gesprochen: ihre Wesensform. Zwischen dem Gegenstand und dem ihn erfassenden Erkenntnisakt besteht ein kausaler Zusammenhang eindeutig abbildender Repräsentation. Nun ist mit dem mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriff der transzendent garantierten Wirklichkeit eine neue Möglichkeit verbunden, diesen direkten Kausalzusammenhang preiszugeben und die Erkenntnissphäre als eine heterogene und eigengeartete Welt bloßer Zeichen für Dinge zu verstehen, die nur in ihrer inneren Ordnung in strenger Entsprechung zur inneren Ordnung der Elemente der Dinge stehen muß, damit Wahrheit erreicht werden kann. Die Konzeption einer nicht-abbildenden Erkenntnisleistung, in der Worte und Zahlen und deren Verhältnisse für die Dinge und deren Verhältnisse eintreten können, hat ihren metaphysischen Rückhalt in der Voraussetzung einer dritten Instanz, die jene strenge Entsprechung des ganz Heterogenen verbürgt. Der aristotelische Satz, daß die Seele der Möglichkeit nach alles sei, der das uralte Prinzip der Erkenntnis durch Ähnlichkeit und Verwandtschaft auf seine abstrakteste Formel brachte, erhält den neuen Sinn, daß der erkennende Geist in seiner Fähigkeit, Symbole für Dinge und Dingverhältnisse zu setzen, für jede Formulierung gegenständlicher Gegebenheiten disponiert sei. Das späte Mittelalter hat die Vorstellung von der Erkenntnis durch Ähnlichkeit und Abbildung vor allem deshalb aufgeben müssen, weil sie ihm den menschlichen Geist zu nahe an den göttlichen heranzurücken schien. Der neue Erkenntnisbegriff dagegen trennt den die Dinge unmittelbar und in ihrem Wesen erschauenden göttlichen Geist und den sie nur symbolisch repräsentierenden menschlichen Geist radikal, indem der menschliche Geist seine rezeptive Offenheit gegenüber den Dingen verliert und zu einem schöpferischen Prinzip seines eigenen symbolischen Instrumentariums wird.12* Die verschärfte Transzendenz des göttlichen Umgangs mit den Dingen erzwingt die Immanenz des neuen Begriffs menschlicher Bewältigung der Dinge. Die Entsprechung der Erkenntnis zu ihren Gegenständen ist nicht mehr material, sondern funktional. Die immanente Konsistenz des Zeichensystems der Begriffe bleibt die einzige, aber auch die zureichende ‚Adäquation‘ zu der gegebenen Wirklichkeit. Der Begriff des Bildes ist herausgenommen aus der bis dahin unlösbaren Verklammerung von Urbild und Abbild.13* Wahrheit im strengen Sinne von adaequatio bleibt nur noch [21] möglich für das, was der Mensch selbst geschaffen hat und was ihm dadurch vollkommen und ohne symbolische Vermittlung präsent sein kann: dazu gehören die Strukturgesetze seines symbolischen Erkenntnisinstruments selbst, die in der Logik erfaßt werden, die mathematischen Gegenstände, die Geschichte, die Sprache und schließlich und nicht zuletzt die Kunst. Nicht mehr zwischen dem darstellenden Kunstwerk und der Natur kann also jetzt ein Wahrheitsbezug absoluten Ranges gesehen werden, sondern zwischen dem verstehenden, mit Kunst umgehenden Subjekt und dem künstlerischen Gebilde, das es als ein von ihm wenigstens der Möglichkeit nach hervorgebrachtes Stück Wirklichkeit ansieht. Nicht mehr im Verhältnis zur Natur als einer ihm entfremdeten Schöpfung, sondern in seinen Kulturwerken konkurriert der Mensch mit der Unmittelbarkeit, in der Gott mit seinen Werken als Urheber und Betrachter umzugehen vermag. Die nie zuvor gekannte metaphysische Dignität des Kunstwerkes hat in dieser, Einschränkung und Intensivierung zugleich bedeutenden, Wandlung und Spaltung des Wahrheitsbegriffes ihr Fundament.
Die Konsequenzen dieser neuen Formulierung der geistigen Leistung des Menschen sind weitreichend. Wirklichkeit kann nicht mehr eine den gegebenen Dingen gleichsam anhaftende Qualität sein, sondern der Inbegriff des einstimmigen Sichdurchhaltens einer Syntax von Elementen. Wirklichkeit stellt sich immer schon und immer nur als eine Art von Text dar, der dadurch als solcher konstituiert wird, daß er bestimmten Regeln der inneren Konsistenz gehorcht. Wirklichkeit ist für die Neuzeit ein Kontext; und ein so wesentliches geistesgeschichtliches Phänomen, wie die Kritik der theologischen Vorstellung von den Wundern als Bezeugung des Göttlichen, steht ganz unter der Dringlichkeit, diesen Wirklichkeitsbegriff durchzuhalten. Wenn es nun so etwas wie eine Eigenwirklichkeit ästhetischer Gegenstände geben kann, so stehen auch diese nicht nur unter dem Kriterium des Kontextes als Wirklichkeitsausweis, sondern auch unter der bestimmenden Notwendigkeit, hinsichtlich des Umfanges, der Weite, des Reichtums der einbezogenen Elemente mit dem Kontext Natur zu konkurrieren, also zweite Welten zu werden – und das heißt: nicht mehr Wirklichkeiten aus der einen und einzigen Wirklichkeit nachahmend herauszuheben, sondern nur noch den Wirklichkeitswert der einen vorgegebenen Wirklichkeit als solchen nachzubilden.
Thema der Kunst wird in letzter Konsequenz der formale Wirklichkeitsausweis selbst; nicht der materiale Gehalt, der sich mit diesem Ausweis präsentiert. Unbezweifelbar wäre das Nicht-Mögliche die Erfüllung dieses Anspruches, nämlich der unendliche Kontext als das der physischen Erfahrung in ihrer Unabschließbarkeit allein formal Adäquate. Hier ist der Ansatz, von dem her sich sehen läßt, daß die Dichtung der Neuzeit – und die ihr zugeordnete ästhetische Reflexion – auf den Roman als die welthaltigste und welthafteste Gattung eines zwar in sich endlichen, aber Unendlichkeit voraussetzenden und auf sie verweisenden Kontextes tendiert. Die potentielle Unendlichkeit des Romans ist zugleich seine aus dem Wirklichkeitsbegriff bezogene Idealität und das ästhetische Ärgernis, das er unaufhebbar gibt, indem seine nur amorph [22] zu lösende Aufgabe wiederum unter dem ästhetisch unabdingbaren Prinzip der Form steht. Vielleicht macht gerade dies den humoristischen Roman zur genauesten Repräsentation der Problematik des Romans. Dann könnte man sagen, daß schon in Sterne‘s Tristram Shandy das Thema des Romans seine eigene Möglichkeit und Unmöglichkeit sei: das zunehmende Mißverhältnis zwischen dem gelebten und dem dargestellten Dasein bringt die Unendlichkeitsimplikation des Romans zum Ausdruck, sein Dilemma, als endlicher Text die Vorstellung eines unendlichen Kontextes zu evozieren. Der Roman durchbricht als endliches, faktisch abbrechendes Werk die Antizipation seines auf das Und-so-weiter gerichteten Lesers und macht gerade dadurch sein wahres Thema virulent, daß nicht der Fortgang angeschnittener Ereignisse und Begebenheiten das ist, wovon er letztlich zu handeln und woran er sich als Kunstwerk auszuweisen hat, sondern die Konkurrenz der imaginären Kontextrealität mit dem Wirklichkeitscharakter der gegebenen Welt. Ein anderer nicht nur faktisch unvollendeter, sondern wohl gar nicht vollendbarer humoristischer Roman, der Wirklichkeit selbst und als solche zum Thema hat, wäre Jean Pauls Komet.14* Hier ist das Thema die geradezu ‚experimentelle‘ Darstellung des Ineinandergreifens der illusionären Welt des vermeintlichen Erbprinzen Nikolaus Marggraf und der realen bzw. ebenfalls vermeintlich realen Welt des deutschen Duodezfürstentums, wobei die Prädikate des Illusionären und des Realen durch das Funktionieren der Berührungen beider Welten als vertauschbar erscheinen. Gerade dadurch erweist sich das, was wir am Roman als ‚Darstellung‘ bezeichnen mögen, als im Grunde ‚asemantisch‘, d. h. als nicht anderes darstellend, sondern sich darstellend, als die Doppelpoligkeit von Sein und Bedeuten, von Sache und Symbol, von Gegenstand und Zeichen zerbrechend, also gerade jene Korrespondenzen preisgebend, an die unsere ganze Tradition des Wahrheitsproblems gebunden gewesen war. Hier waltet eine auch im Bruch der Tradition immer noch an die Tradition gebundene Oppositionslogik der indirekten Erzwingung des nicht Herstellbaren durch Aufhebung der überlieferten Funktion: indem das Zeichen erkennen läßt, daß es keiner ‚Sache‘ entsprechen will, gewinnt es selbst die ‚Substantialität‘ der Sache. Das ist freilich ein Ansatz, der über den Roman und den ihn fundierenden Wirklichkeitsbegriff noch hinausweist auf ein am Widerstand sich konstituierendes Wirklichkeitsbewußtsein und die ihm entsprechende bzw. es bezeugende Kunstform der sich selbst zersprengenden, ihr Nicht-Bedeuten durch Inkonsistenz demonstrierenden Aussageweisen.15* Nochmals wird sich der Roman selbst zum Thema, an der Demonstration der Unmöglichkeit des Romans wird ein Roman möglich.
[23] Ich möchte diese formale Problematik erläutern. Der Begriff der Wirklichkeit als Kontext gibt dem Roman zunächst die Form der linearen Konsistenz in einem Raum-Zeit-System auf. Aber, wie ich schon ausgeführt habe, erfüllt sich dieser Wirklichkeitsbegriff erst in der Einstimmigkeit der Gegebenheit untereinander verständigungsfähiger Subjekte, also in der Intersubjektivität und ihren perspektivischen Möglichkeiten. Soweit ich sehen kann, hat der Roman ein perspektivisches Modell zum erstenmal bei Balzac angenommen, wo die Illusion der Wirklichkeit einer ganzen Menschengesellschaft strukturell durch die von Roman zu Roman des Gesamtzyklus perspektivisch jeweils verschobene Wiederkehr identischer Personen erzielt wird. Vom Wirklichkeitsproblem her ist ein entscheidender Unterschied zwischen der episch-linearen und der perspektivischen Wiederkehr von Personen; es entsteht ein ganz anderes Raumbewußtsein, eine subtilere Welthaftigkeit des Romans. Das perspektivische System des Balzac'schen Romans erlaubt die Übersetzung der linearen Episodenfolge in die Gleichzeitigkeit. Es ist hier mehr gefordert als die bloße Widerspruchsfreiheit mit bereits aufgetretenen Prädikaten, denn die perspektivische Einstimmigkeit hat weitere Toleranzen der Transformation der Prädikate auf einen verschobenen Aspekt, und damit wird das Problem der Abstimmung der einzelnen Aspekte aufeinander und auf die Identität des in ihnen gegebenen Gegenstandes höchst komplex. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die längst bekannte gleichzeitig sich vollziehende Vorbereitung der einzelnen Romanpersonen auf ihr schließliches Zusammentreffen im Schnittpunkt der Handlung. Nicht mehr nur und nicht mehr vor allem die Personen des Romans bewegen sich durch die Ereignispunkte der Handlung, sondern der Leser bewegt sich mit um das Massiv der imaginären Wirklichkeit und durchläuft die Möglichkeiten der Anblicke, die es zu bieten vermag. Balzac selbst hat geglaubt und es als eine seiner kühnsten Intentionen bezeichnet, er gebe durch die Wiederkehr einzelner Personen der Comédie Humaine der fiktiven Welt dieses Romankosmos mehr Leben und Bewegung;16* tatsächlich wird [24] nicht die Welt des Romans in Bewegung versetzt, sondern der durch die wechselnden Perspektiven tretende Leser, und die Romanwelt selbst bekommt vielmehr einen höheren Grad von Stabilität, von Substantialität, sie scheint dem Autor wie dem Leser einen gesteigerten Widerstand der Bewältigung zu leisten und ihnen eine Anstrengung abzunötigen, von der das imaginativ Gegebene nicht affiziert wird – je mehr die Wirklichkeit des Romans vom Standpunkt des vermittelnden Subjekts abhängig wird, um so weniger scheint sie von ihm selbst und seiner Imagination abhängig zu sein, um so mehr jenes von ihr.
Schon hier zeigt sich, daß der Wirklichkeitsbegriff des intersubjektiven Kontextes hinüberführen kann in einen Wirklichkeitsbegriff der erfahrenen Widerständigkeit des Gegebenen. Dieser Übergang tritt am Roman heraus als das Auseinanderbrechen der Bezogenheit und Beziehbarkeit der perspektivischen Aspekte aufeinander. Das deutete sich im humoristischen Roman Der Komet von Jean Paul an;17* es vollendete sich jenseits des Humoristischen etwa in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In diesem ungeheueren Romanfragment, bei dem man selbst bis zu dem uns vorliegenden Abschluß noch keine Konvergenz auf eine Vereinigung der getrennten Handlungsstränge oder ihre Bezogenheit aufeinander bzw. auf einen identischen Pol erkennen kann, ist der epische Perspektivismus gleichsam explodiert, an seiner eigenen Konsequenz der exakten Deskription gescheitert. 1932 notiert sich Musil zu dem Mann ohne Eigenschaften: Dieses Buch hat eine Leidenschaft, die im Gebiete der schönen Literatur heute einigermaßen deplaciert ist, die nach Richtigkeit und Genauigkeit. Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden soll, nicht erzählt wird. Die Steigerung der Genauigkeit des Erzählens führt dazu, daß die Unmöglichkeit des Erzählens selbst ihre Darstellung findet. Aber diese Unmöglichkeit wird ihrerseits als Index eines unüberwindlichen Widerstandes der imaginären Wirklichkeit gegen ihre Deskription empfunden, und insofern führt das dem Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz zugehörende ästhetische Prinzip an einem bestimmten Punkt des Umschlages in einen anderen Wirklichkeitsbegriff hinein. Hier liegt der Grund, daß die immer wieder angekündigte ‚Überwindung‘ des Romans [25] nicht erreicht worden ist, daß aber Ironie zur authentischen Reflexionsweise des ästhetischen Anspruches im modernen Roman geworden zu sein scheint, und zwar so, daß dieser gerade in seinem Realitätsbezug ironisch wird, den er weder aufgeben noch einlösen kann. Thomas Mann hat von der Schein-Genauigkeit gesprochen, die sich als eines ironischen Stilmittels der wissenschaftlichen Schreibweise bedient: im Vortrag über Josef und seine Brüder von 1942 bezeichnet er das als die Anwendung des Wissenschaftlichen auf das ganz Unwissenschaftliche, und eben dies als den reinsten Ausdruck der Ironie.
Noch auf einen letzten Gesichtspunkt zum Fundierungszusammenhang von Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans muß ich eingehen. Die Eignung des Begriffs von Wirklichkeit als phänomenal-immanenter Konsistenz zur Begründung des Kunstwerkes in seiner autonomen Realität habe ich zu zeigen versucht; was dabei noch unerwähnt blieb, aber erst die Konkurrenz der vom Menschen geschaffenen Realität mit der von ihm vorgefundenen Realität der Natur integriert, ist die Eigentümlichkeit, daß der Mensch einerseits sich in seinem Selbstbewußtsein reflektiert an der Verifikation seiner schöpferischen Potenz, daß er andererseits aber die Abhängigkeit der Kunstwerke von seinem eigenen Können und Wollen zu verschleiern suchen muß, und zwar deshalb, weil diese Werke nur so jene unfragwürdige Selbstverständlichkeit des Nicht-anders-sein-könnens gewinnen, die sie ununterscheidbar von den Produktionen der Natur macht. Man kann es daher als einen charakteristischen Zug an den künstlerischen Gebilden unserer weiteren Gegenwart ansehen, daß sie eine Art von Entgegenständlichung durchgemacht haben; die bekanntere Verfremdung ist nur ein Teilphänomen dieser Tendenz. Das Gebilde von Menschenhand soll weder als ‚nachgeahmte Natur‘ noch als ein ‚Stück Natur‘ vor uns stehen, aber es soll doch die Dignität des Natürlichen haben; es soll Werk des Menschen sein, aber nichts von der Zufälligkeit des Gewollten, von der Faktizität des bloßen Einfalls an sich haben. Es soll, um es so zu formulieren, Novität und Fossil zugleich sein. Wir wollen von uns selbst als der Bedingung der Möglichkeit dieser Werke absehen können, um sie nicht an unserer Bedingtheit und an der Geschichtlichkeit, auf die wir ebenso stolz sind wie wir an ihr leiden, teilnehmen zu lassen, d. h. wir wollen die Werke nicht als Gegenstände, sondern als Dinge. Die Werke sollen nicht ihrerseits schon Aspekte darstellen, sondern uns Aspekte gewähren. Aus der im Roman selbst systematisch vorbereiteten und angelegten Perspektivität kann eine erst jenseits des Werkes ansetzende, von ihm ebenso provozierte wie offengelassene perspektivische Potentialität hervorgehen; wir erfahren sie an der wesentlichen Kommentierbarkeit des modernen Kunstwerkes, an der seit der Romantik wesentlich zum Kunstwerk gehörenden vieldeutigen Interpretierbarkeit. Die hermeneutische Vieldeutigkeit hängt mit dem Realitätscharakter des Kunstwerkes insofern zusammen, als uns gerade darin seine Unabhängigkeit von unserer Subjektivität und ihrer Verfügung demonstriert wird. Deshalb etwa historisieren wir das Kunstwerk künstlich, um es seines Gegenstandsbezuges zu uns zu entkleiden und zu ‚verdinglichen‘. So wie es die archaisierende Plastik in der Landschaft gibt, die auf den grünen Rasen verschlagenen Dinge von Otterloo etwa, ebenso gibt es den sprachlich oder durch den Kunstgriff einer Rahmenerzählung distanzierten Roman, von dem wir nur ‚zuviel wissen‘, als daß er uns so verfremdet begegnen könnte, wie er auf uns wirken soll. Ebenso wie wir künstlich historisieren, naturalisieren wir künstlich, aber [26] nicht mehr, indem wir Natur darstellen und nachahmen, sondern indem wir Natürlichkeit für unsere Werke beanspruchen, also Dinge hinstellen, die wie Produkte von Eruptionen oder Erosionen aussehen, wie jenes objet ambigu im Eupalinos von Paul Valéry; ihnen entspricht im Roman die künstlich kunstlose Nachschrift der Bewußtseinsvorgänge und inneren Monologe, der Protokollroman, der die Erschaffung einer ganzen Welt beansprucht und zugleich verleugnet.
Der Wirklichkeitsbegriff des Kontextes der Phänomene stellt eine als Realität nie endgültig gesicherte, immer noch sich realisierende und auf Bestätigung angewiesene Wirklichkeit vor; diese Idee von Wirklichkeit, umgesetzt in eine Realitätsnorm des ästhetischen Gebildes, bleibt auch hier die in einem unendlichen Horizont offene Konsistenz, die auf immer neue Leistung, immer neue Bewährung angewiesen ist und nie die Endgültigkeit der Evidenz erreicht, die im Wirklichkeitsbegriff der Antike konzipiert war. Hier liegt eine Wurzel für das Unbehagen und das Ungenügen, das als kritische Unterströmung in der Geschichte des Romans sich fast immer bemerkbar gemacht hat. Ein Ausweg aus diesem Ungenügen konnte dahin führen, der Nötigung zur nie abschließbaren Realisierung zu widerstehen, und zwar gerade in der bewußten Durchbrechung der formalen Konsistenz, einer Durchbrechung, die schon in ihrer Handhabung erkennen läßt, daß sie nicht in einem Versagen oder einem Sicherschöpfen der produktiven Potenz gründet, sondern im Gegenteil als Äußerung einer Anstrengung gefaßt sein will, die sich die bewußte Mißachtung des immer noch als quasiobjektiv empfundenen Prinzips der formalen Konsistenz leisten kann. Daß die Dichter lügen, wird erst als vollends überwunden erachtet, wenn sie nicht einmal mehr das Gegenteil dieser These in Anspruch nehmen, nämlich ‚die Wahrheit zu sagen‘, sondern bewußt die Enge der Antithese und die Spielregeln von Wirklichkeit überhaupt durchbrechen. Die Bindung an Wirklichkeit wird als ein Formzwang abgeworfen, als eine in Authentizität verkleidete Heteronomie des Ästhetischen. Hier liegt der Ansatzpunkt für eine ästhetische Vorstellung, die das von allen Wirklichkeitsbegriffen her als unwirklich zu Qualifizierende nun als das ‚Eigentliche‘ ausgeben kann: das Paradox, die Inkonsistenz der Träume, die ostentative Sinnwidrigkeit, das kentaurische Mischgebilde, die unwahrscheinlichste Placierung der Gegenstände, die Umkehrung der natürlichen Entropie, in der Zivilisationsschrott zur Konstitution von Bildern, Zeitungsausschnitte zur Komposition von Romanen zusammengezwungen werden können oder die Sphäre der technischen Geräusche und Lärme eine musikalische Komposition herzugeben gezwungen wird.
Die moderne Kunst ist von dem Zwang zur ständigen Widerlegung ihrer Abhängigkeit von der vorgegebenen Natur nicht freigeworden; ihr Antiphysizismus bezieht sich nicht einmal auf eine konstante Natur als eine bekannte und definierte Größe. Die immer wieder, z. B. von Breton, proklamierte Befreiung der Vorstellungskraft gerät, indem sie den Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz in seiner (zwar nur noch formalen) Bindung an den Wirklichkeitswert einer Natur auch noch durchbrechen will, unter die Nötigung zu der verzweifelten Anstrengung, sich nun in der äußersten Unwahrscheinlichkeit doch in einer Art momentaner Evidenz zu realisieren. Die Zugehörigkeit des Romans zum Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz verrät sich an den Schwierigkeiten, die ihm aus einem heterogenen oder kontrierten Wirklichkeitsbegriff erwachsen: er kann sich nicht einfach am Widerspruch zu [27] dem, was jeweils der Wirklichkeit als signifikanter Ausweis zugeschrieben wird, realisieren. Das Ideal der perfetta deformitá ist für den Roman undurchführbar. Aber es ist bezeichnend, daß gerade dann der Roman seine eigene Möglichkeit zum Thema bekommt und dadurch seine Bindung an den Wirklichkeitsbegriff demonstriert. Ich brauche nur an das Stilmittel des mißlingenden Dialoges zu erinnern, um sofort zu erläutern, was ich meine: das Scheitern des Gesprächs, seine Hypertrophie im nichts-sagenden Geschwätz, das Mißverständnis als konstitutives Produkt der Sprache – das alles bleibt im Roman gattungsnotwendig immer noch in zuviel imaginativ vorausgesetzte und miterzeugte Welt eingebettet, als daß die blanke Absurdität wirklich je zum Thema werden könnte. Der Roman hat seinen eigenen, aus seiner Gattungsgesetzlichkeit heraus entwickelten ‚Realismus‘, der nichts mit dem Ideal der Nachahmung zu tun hat, sondern gerade an der ästhetischen Illusion hängt, die dem Roman wesentlich ist. Welthaftigkeit als formale Totalstruktur macht den Roman aus. Als das Absurde zum Programm künstlerischer Produkte erhoben wurde, hat man seine Funktion als die „Überwindung des Fundaments“ formuliert, und es eignete sich schließlich sogar die Architektur zur Darstellung dieser Funktion des Absurden. Aber der Roman war viel früher, viel selbstverständlicher zur Überwindung des Fundaments – und das heißt zur Aufhebung des Gegensatzes von Realität und Fiktion – vorgestoßen und hatte sich, wie ich gezeigt habe, seine eigene Möglichkeit nicht als Fiktion von Realitäten, sondern als Fiktion der Realität von Realitäten zum Thema gemacht. Den Vorrang des Romans in der Verwirklichung der ästhetischen Grundideen der Neuzeit versteht man nur dann, wenn man begreift, daß er die Absurdität als das neue Merkmal des absolut Poetischen nicht aufnimmt, weil er dieses Stigmas nicht bedarf. Der Roman erfüllt die ästhetische Norm, die nach den Aufzeichnungen Boswells Samuel Johnson in jenem berühmten Gespräch im Literarischen Klub über den zu hohen Preis eines antiken Marmorhundes zuerst ausgesprochen hat: die „Erweiterung des Bereiches des Menschenmöglichen“ (3. April 1778), während noch die großzügigste Auslegung des aristotelischen Ideals der Nachahmung, etwa bei Breitinger, auf den Bereich des der Natur Möglichen verweist.18*
1* Für die Wirkungsgeschichte dieser Formel ist ihr Ursprung kaum relevant; für das Sachverständnis ist es aufschlußreich, daß am Anfang nicht die generelle Abwertung steht, sondern die kritische Mahnung an die Wahrheitspflicht des epischen Vortrages, der nicht die Erdichtungen der Vorzeit unnütz hervorholen, sondern Edles kraft der Erinnerung zum Vorschein bringen (ἐσϑὰ ἀναφαίνει) soll (Xenophanes, fr. B I 1923 Diels). Der Vorwurf der Unwahrhaftigkeit hebt sich also vor dem Hintergrund der Voraussetzung ab, daß das Epos Wahrheit zu vermitteln habe. Wie B. Snell gezeigt hat (Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1946, p. 87 sq.), kommt es zur Generalisierung des Vorwurfs erst durch die Problematik der szenischen Illusion beim Drama: seine Vergegenwärtigungstechnik, entstanden aus der mythischen Repräsentanz des lyrischen und tragischen Chores, kommt mit dem das Epos fundierenden Wirklichkeitsbewußtsein nicht mehr ins reine. Der Übergang von der ekstatischen Identifizierung im Dionysoskult zur technisch gehandhabten Darstellung reißt die Differenz von Wirklichkeit und Kunst auf, und zwar bis zu der für die Griechen immer naheliegenden theoretischen Konsequenz: schon für Aeschylus malt ein Agatharch nicht nur eine perspektivische Dekoration, sondern hinterläßt auch eine Abhandlung darüber (Diels 59 A 39; Bd. I 14 sq.). Von Gorgias (fr. B 23 Diels) besitzen wir noch ein Stück moralisierender Rechtfertigung der Täuschung in der Tragödie, die durch den Effekt beim Zuschauer entschuldigt erscheint. Der Ausgangspunkt der Reflexion auf die dichterische Illusion war also in der Antike, wie im 18. Jahrhundert bei Diderot, das Drama. Aber dort wie hier wurde dieser Ausgangspunkt schnell verlassen. Für die Tradition des Topos vom Lügen der Dichter wurden zwei Momente bedeutsam: die platonische Kritik am Wahrheitsgehalt darstellender Kunst überhaupt und die stoisch-christliche Allegorese, die darauf angewiesen war, einen Wahrheitsrest in der Dichtung zu verteidigen, um ihn sodann aus seiner Zerstreuung und Verdeckung retten zu können.
2* Der Philosoph. Betrachtungen über den Kampf von Kunst und Erkenntnis (Entwürfe von 1872) (WW, Musarion-Ausg., VI 31). Der Begriff von Natur ist nun ganz orientiert an der naturwissenschaftlichen Objektivierung und ihrer Herrschaft über den Wahrheitsbegriff, der sich in der Zerstörung der anthropomorphen Immanenz erfüllt. Aber mit der Bändigung der Wissenschaft ist der Notwendigkeit der Illusion eine fragwürdige Rechtfertigung zuteil geworden (WW VI 12); diese Art von Wahrheit kommt im Grunde von der Tradition der imitatio nicht los, sondern verpflichtet nur auf eine als Schein gedeutete Welt, die den Erkenntniswillen freiläßt: Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr (WW VI 98). Die so gefaßte Bedeutung der Kunst als des wahrhaftigen Scheines bleibt gebunden an die metaphysische Tradition der Kunsttheorie, indem sie die Kunst auf den Gegebenheitscharakter des Wirklichen festlegt, auch wenn dieser Unerkennbarkeit heißt. Angesichts der Funktion, die der Kunst bei der Reversion der Geschichte zugedacht ist, kann dies auch gar nicht anders sein: solche Anstrengungen stehen immer unter den Prämissen dessen, was sie wiederholen wollen.
3* Ohne also zu behaupten, die platonische Ideenwelt sei repräsentativ für den antiken Wirklichkeitsbegriff, möchte ich doch meinen, daß sie ohne seine Implikationen kaum denkbar wäre. Es ist oft genug gesagt worden, daß der Zugang der Griechen zu ihrer Welt nicht nur Sehen war, sondern auch am Sehen in seinem Selbstverständnis orientiert blieb. Vielleicht sollte man aber das noch verschärfen und bemerken, daß es das ruhende Sehen und das Sehen des ruhenden Gegebenen ist, dem die Griechen den Vorzug gaben: δρᾶν ist das Ruhenlassen des Blickes auf dem Aussehen von etwas, der Gestalt, dem Bild, wie ich in B. Snells Vorlesungen „Homerische Bedeutungslehre“ gelernt habe. Schon Aristoteles hat die Momentaneität des Sehens als Analogon der Lust herangezogen (Eth. Nic. X 3; 1174a 13 sq.): die ὅρασις ist in jedem Augenblick vollendet und des integrierenden Hinzukommens in der Zeit unbedürftig wie die ἡδονή. Gegebenheit für das Sehen konstituiert sich nicht in der Zeit; obwohl natürlich Gegenstände sich summieren, tragen sie doch aus dem Erlebnisverlauf nichts davon, was ein Mehr ihres Gegebenheitscharakters ausmachen könnte. Im Jetzt ist das Sehen ohne jede ϒένεσις ein Ganzes (1174 b 9-13). Das hat seine unmittelbare Konsequenz im Begriff des Schönen als gleichsam einer Spezifität der momentanen Evidenz jeder αἴσϑησις (X 4; 1174b 14-17). Daß Sehen sich im Durchlaufen von Aspektfolgen vollzieht, daß es selbst Prozeß ist und im wesentlichen Ereignisse, Relationen, Etwas-an-etwas erfaßt, schafft hier weder eine Problematik noch wird es maßgebend für die Begriffsbildung.
4* Einen späten, ironischen Reflex solcher momentanen Evidenz findet man in einem Roman, der sich das Ineinandergreifen von Fiktion und Realität, ihre Äquivalenz für das menschliche Schicksal und damit die praktische Gleichgültigkeit ihrer Identifikation zum Thema gemacht hat, in André Gides Caves du Vatican. Nach der Trauerfeier für den armen Kreuzfahrer Amadeus, der an der Aufdeckung der vermeintlichen Vertauschung des Papstes gescheitert war, kommt es in der Kutsche zu einem Gespräch zwischen Julius Baraglioul und Anthimos, dem der Graf eröffnet, der amtierende Papst sei tatsächlich nicht der echte. Anthimos, der einstige und dann ebenso bekehrte wie vom Hinken geheilte Atheist, wird am Nachdenken über diese Eröffnung im Handumdrehen wieder zum Ungläubigen: wer könne ihm jetzt noch versichern, daß nicht auch Amadeus Fleurissoire beim Eintritt ins Paradies erkennen müsse, sein Gott sei gleichfalls nicht der echte? Die Antwort des Grafen impliziert den ungetrübten Glauben, in einem solchen Falle gebe es nichts als momentane Evidenz: der Gedanke sei bizarr, daß es von Gott eine unechte Präsentation geben könne, eine Verwechslung, als wenn ein anderer da zu denken wäre. Aber das macht auf Anthimos bezeichnenderweise nicht den geringsten Eindruck. Er hat zweifellos nicht mehr diesen Wirklichkeitsbegriff, läßt halten, verläßt die Kutsche und – hinkt wieder.
5* Mit Recht ist in der Diskussion des Kolloquium gesagt worden, dies sei der Wirklichkeitsbegriff der Phänomenologie Husserls. Vielleicht hätte ich auf der Prämierung bestehen sollen: der von der Phänomenologie explizierte Wirklichkeitsbegriff. Aber ich bezweifle, daß es sich hier um eine jederzeit möglich gewesene Deskription der Wirklichkeitskonstitution handelt; deshalb war es mir wichtig, die Bestimmung zu versuchen, was eine solche phänomenologische Thematisierung voraussetzt, seit wann sie hätte geschrieben und verstanden werden können. Den Nachweis, daß diese Thematisierung in der Kritik des Cartesianismus bei Leibniz (von den Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum 1692 bis zum Entwurf des Remond-Briefes vom Juli 1714) in der Auseinandersetzung mit der Vorstellung von der garantierenden dritten Position erfolgt ist, habe ich in dem noch ungedruckten Vortrag Antiker und neuzeitlicher Wirklichkeitsbegriff (zuerst Jungius-Gesellschaft Hamburg, Februar 1961) unternommen. Gerade in diesem Zusammenhang zeigt sich auch, daß Wirklichkeitsbegriffe sich nicht wie mutierende Typen ablösen, sondern daß die Ausschöpfung ihrer Implikationen, die Überforderung ihrer Befragungstoleranzen in die Neufundierung treiben. Daß ich mich hier auf eine typisierende Aufreihung beschränke, ist durch das thematische Interesse an der vertikalen Fundierungsstruktur bedingt.
6* Der Wirklichkeitsbegriff des „offenen“ Kontextes legitimiert die ästhetische Qualität der novitas, des überraschend-unvertrauten Elementes, während die „garantierte“ Realität das Unvertraute und Neuheitliche nicht wirklich werden läßt, der Tradition und Autorität eine schon bewältigte, als Summa des Erkennbaren aufgearbeitete Welt zuschreibt und damit zum Postulat des nihil novum dicere (z. B. Petrarca, Epist. fam. VI 2; cf. X 1) führen muß. Der Wandel des Wirklichkeitsbegriffs nimmt dem Neuen sein Suspektes, die terra incognita, der mundus novus werden möglich und als Reiz menschlicher Aktivität wirksam; paradox formuliert: die Überraschung wird erwartbar. Das greift auch in die Geschichte des Topos von der Lügenhaftigkeit der Poesie ein; das ästhetische Vergnügen an den falsa wird legitim, insofern sie sich als nova (also: mögliches, noch jenseits des Horizontes liegendes Wirkliches) deuten lassen. Julius Caesar Scaliger, Verfasser einer heute viel angerufenen Poetik (1561), verhandelt in seinem noch interessanteren Werk De subtilitate ad Hieronymum Cardanum (1557; ich benutze die Ausg. von 1582) den Satz des Cardano Falsa delectant quia admirabilia (Exerc. 307, 11; p. 936 sq.). Scaliger verwahrt sich gegen den Zusatz, es seien nur die Kinder und Toren, die solches Vergnügen am Unwahren hätten, und zwar deshalb, weil sie noch plus veritatis darin vermuteten, so daß es letztlich doch wieder die (wenn auch nur vermeintliche) Wahrheit wäre, was Vergnügen bereitet. Dagegen: einem seiner Natur nach unendlichen Verstand kann die Kunst unerschöpflicher genügen als die Natur; jene falsa, an denen doch auch sapientes Gefallen finden (e. g. an den Homerica phasmata), erweisen sich als der überschießende Reichtum der Kunst über den (noch) konstanten Naturbestand hinaus. At quare delectant admirabilia? Quia movent. Cur movent? Quoniam nova. Nova sane sunt, quae nunquam fuere neque dum existunt ... Mentem nostram esse natura sua infinitam. Quamobrem et quod ad potentiam attinet aliena appetere, et quod spectat ad intellectionem, etiam e falsis ac monstrorum picturis capere voluptatem. Propterea quod exsuperant vulgares limites veritatis ... Mavultque pulchram imaginem, quam naturali similem designatae. Naturam enim in eo superat ars.
7 Lessing, Gesammelte Werke, Berlin 1957, Bd. IX p. 105 (Brief vom 2. Febr. 1757).
8* Die folgende Darstellung der Herkunft und historischen Rolle der Mimesis-Theorie referiert nicht nur, sondern korrigiert z. T. auch den entsprechenden Abschnitt meiner Studie Nachahmung der Natur (in: Studium Generale X, 1957, 266-283; spez. 270 ff.). Vor allem habe ich mich nicht mehr mit der Feststellung der Ambivalenz des platonischen Schemas begnügt, sondern möchte zeigen, daß positive und negative Wertung, Betonung der Partizipation bzw. der Defizienz, verschiedenen Bezugsebenen zugehören, die als reale Abbildlichkeit und bloß relationale Nachbildlichkeit gekennzeichnet sein mögen. Dadurch wird sowohl verständlich, was in der aristotelischen Kunsttheorie geschieht, die diese Differenzierung nicht haben kann und der nur die positive Wertung der Mimesis offenbleibt, als auch, was eigentlich der Neuplatonismus und die platonisierende Gnosis ‚ausgelassen‘ haben.
9* Dabei darf nicht übersehen werden, daß in dieser Tradition die allgemeine metaphysische Auslegung von Kunst (τέχνη) im weistesten Sinne beherrschend geworden ist, bevor das, was wir Ästhetik des Aristoteles nennen würden, mit der Wiederentdeckung der Poetik wirksam werden konnte. Die Kommentierungsarbeit des Mittelalters hatte einen Aristotelismus abzüglich der Poetik (die nur über die arabische Linie der Tradition läuft) zum Ergebnis; welche Folgen das gehabt hat, müßte dringend näher untersucht werden.
10* Was an dieser Erneuerung wirklich ‚platonisch‘ ist, läßt sich im einzelnen nur schwer bestimmen. Bei begriffsgeschichtlichen Untersuchungen darf nicht übersehen werden, daß der ‚Platonismus‘ der Renaissance seit Petrarca aus einer Cicero-Rezeption hervorgeht und in seiner Verständniskapazität durch sie bestimmt wird. Dieser Umstand macht z. B. idea als Leitfaden ungeeignet, um Platonismen aufzuspüren, wie man an Erwin Panofskys Idea (Studien der Bibl. Warburg 1924; 2. Aufl. 1960) nachprüfen kann: mit der Wahl von species als lateinischem Äquivalent hatte Cicero dem Ausdruck jede Spezifität genommen (obwohl er ihn auch griechisch stehen ließ), den der Humanismus zum philosophischen Allerweltswort nivellierte. Wenn Panofsky z. B. Melanchthons ausdrückliche Gleichsetzung von idea und notitia für die in animo des Apelles eingeschlossene pulcherrima imago humani corporis anführt, um die Immanentisierung des Platonismus zu belegen, so spricht dagegen Melanchthons eigene Verlegenheit, wenn er einmal gezwungen ist, einen authentisch platonischen Gedanken wiederzugeben, und z. B. die mit notitia kaum systematisierbare imitatio verwendet: so hat der statuarius in sich eine certa notitia seines Werkes, die seine Verrichtungen reguliert, donec efficiatur similitudo eius archetypi quem imitatur (Corp. Ref. XIII 305). Wäre idea wirklich hier „beinahe als ein spezifisch kunsttheoretischer“ Begriff genommen, brauchte nicht archetypus hereingeheimnist zu werden; aber idea ist eben schon das angenehme Bildungswort, das man gerade dann nicht mehr brauchen kann, wenn man etwas Platonisches bezeichnen muß.
11* Die Formel von Georg Lukács, der Roman sei die „Epopöe der gottverlassenen Welt“ (Die Theorie des Romans, Berlin 1920, p. 84), also das Epos unter den Bedingungen des neuzeitlichen Weltverständnisses, findet in den hier entwickelten Zusammenhängen eine gewisse Entsprechung. Die ersehnte Erneuerung des griechischen Epos wie die Behauptung seiner absoluten Maßstäblichkeit brachen sich an einem Wirklichkeitsverständnis, für das die Welt ‚eine‘ Welt, der Kosmos ein Universum geworden war. Der mit Leibniz und Wolff endgültig gescheiterte Versuch, der faktischen Welt die ratio sufficiens zu sichern, öffnete die Schleusen für eine Kritik des Faktischen vom Möglichen und Rationalen her, die auch die Imagination affizieren und zur Sinnhaltigkeitserprobung ihrer ‚Welten‘ innervieren mußte. Die Einzigkeit ihres Kosmos und die Verbindlichkeit des Epos für die Weltauslegung der Griechen waren nur zwei Aspekte der in momentaner Evidenz gegebenen Wirklichkeit gewesen. Der Roman konnte keine ‚Säkularisierung‘ des Epos nach der Entgöttlichung der Welt sein; im Gegenteil, gerade auf die Theologisierung der Welt geht ihre Kontingenz, die Faktizität des unbestimmten Artikels, der Zudrang der possibilia zurück. Die ‚Welten‘, denen das ästhetisch eingestellte Subjekt jeweils nur auf Widerruf zu gehören bereit ist, in der verfügbaren Endlichkeit eines Kontextes, sind der Inbegriff der Realitätsthematisierung durch den Roman und die ihm essentielle ‚Einstellung‘ der Ironie.
12* Zur similitudo divini intellectus in creando verweise ich auf meine Einführung zu Nikolaus von Cues: Die Kunst der Vermutung, Bremen 1957 (Slg. Dieterich Bd. 128) p. 47 sq.
13* Schon in dem (umstritten) platonischen VII. Brief sind εἴδωλον und ὄνομα hinsichtlich ihres Abstandes vom wahrhaft Seienden auf eine Linie gebracht (342 sq.), aber dies im abwertenden Sinne als Provisorien zu einer dann unüberbietbaren Weise der Unmittelbarkeit. Die neuzeitliche Nivellierung der Differenz von Bild und Begriff als adäquationsfreier Suppositionen kennt keine weitergehende Annäherung oder gar Unmittelbarkeit zum Wirklichen an sich selbst. Es gehört eben zu den Merkmalen des neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffes, daß er den „ontologischen Komparativ“ (W. Bröcker) ausschließt.
14* Jean Paul selbst gibt in der einleitenden Investitur des Lesers mit der Geschichte diese Thematisierung zu verstehen, indem er Historie und Roman so auf einander projiziert, daß er sich für sein vorgegeben historisches Sujet die Fähigkeit des Romanciers erwünscht, mit einem Allmachtsschlage das Dasein seines Helden voll gegeben sein zu lassen: und ich werde mein Ziel erreichen, wenn ich die historischen Wahrheiten dieser Geschichte so zu stellen weiß, daß sie dem Leser als glückliche Dichtungen erscheinen, und daß folglich, erhoben über die juristische Regel fictio sequitur naturam (die Erdichtung oder der Schein richtet sich nach der Natur), hier umgekehrt die Natur oder die Geschichte sich ganz nach der Erdichtung richtet, und also auf Latein natura fictionem sequatur.
15* Solche Substantialisierung durch Sprengung der Funktion der ‚Bedeutungsmittel‘ ist nicht in der immanenten Geschichte des Romans entdeckt worden; die im Widerstand okkurrierende Wirklichkeit ist, gattungsästhetisch betrachtet, fundierend für die Lyrik. Die an der Poesie im engsten und strengsten Sinne gewonnenen ästhetischen Erfahrungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind prototypisch geworden u. a. auch für die Wendung der Romanästhetik zur Thematisierung der ‚Unmöglichkeit‘ des Romans. Jene prototypische Entdeckung der Lyrik definiere ich vielleicht am besten mit der Stelle eines Briefes von Paul Valéry an J.-M. Carré vom 23. Februar 1943 (Lettres à quelques-uns, Paris 1952, p. 240), in der er seine mehr als fünfzig Jahre zurückliegende Erfahrung des Schocks der llluminations Rimbauds auf eine systematische Formel zu bringen sucht: …le système, conscient ou non, que supposent les passages les plus virulents de ces poèmes. Il me souvient d'avoir résumé ces observations – et, en somme, mes défenses – par ces termes: R. a inventé ou découvert la puissance de l'incohérence harmonique. Arrivé à ce point extrême, paroxystique de l'irritation volontaire de la fonction du langage, il ne pouvait que faire ce qu'il a fait – fuir. Die Peripetie der ‚Realisierung‘, die Erschöpfbarkeit der ontischen Basis dieses Wirklichkeitsbewußtseins, gehören zu den Voraussetzungen der Verlagerung des Prinzips in andere Gattungen und Künste (z.B. Aufgabe der Tonalität); dabei hat sich der Roman (in anderer Weise das Drama) als besonders resistent gegen die paroxystische Konsequenz des Prinzips – und damit als experimentell höchst belastbar wie ertragreich – erwiesen.
16* „Es handelt sich um etwas, das man ein ‚Romanmobile‘ nennen könnte, ein Ganzes, das aus einer gewissen Zahl von Teilen besteht, die wir nahezu in einer von uns gewünschten Reihenfolge zur Kenntnis nehmen können. ... Man erkennt, daß die Wiederkehr der Personen oder ihr Fortbestehen von einem Roman zum anderen sich bei Balzac von viel größerer Tragweite erweist als in dem sogenannten roman-fleuve. ...“ (Michel Butor, Balzac et la réalité, 1959, dt. in: Neue Rundschau 74, 1963, 65) „... der endgültige Sieg Balzacs über seinen großen Vorgänger (Walter Scott) und seine Befreiung von ihm zeigt sich in einer außerordentlichen Neuerung, die die Struktur seines Werkes vollständig verwandelt ... die Wiederkehr der Personen“ (p. 64).
17* Man beobachte die Dialoge des Komet daraufhin, wie sie immer nur durch das Mißverständnis ‚funktionieren‘ und den Fiktionskontext nicht zerplatzen lassen. Aber indem die Verständigungsstruktur der Intersubjektivität als vermögend gezeigt wird, noch die Unwirklichkeit zur Quasi-Wirklichkeit zu hypostasieren, ist nicht nur der Wirklichkeitsbegriff mitthematisiert, sondern auch als ästhetisches Element verwendet, ja instrumentalisiert. Unausbleiblich ist, daß die ästhetische Instrumentalisierung kritisches Bewußtsein überhaupt schafft, wenn nicht voraussetzt: der Verdacht der Manipulierbarkeit der Realität als solcher und in beliebiger Zwecksetzung ist hier schon impliziert, und er steckt in der unerwarteten gesellschaftskritischen Virulenz des Romans, in der unablässigen Erprobung der Deformierbarkeit der Realitätskonstituentien bis zur Entdeckung ihrer Grenzbelastung etwa in den solipsistischen Dialogen von Kafka bis Beckett – der (noch zu wenig verstandene) Triumph, schließlich doch wieder auf eine Konstante gestoßen zu sein, gibt dieser Entwicklung ihre Phrasierung: der Funktionszusammenbruch der Intersubjektivität gibt einen neuen Wirklichkeitsbegriff frei.
18* Die dem Text des Referates nachträglich beigegebenen Anmerkungen berücksichtigen dankbar Anregungen, Zweifel und Stiche, die am Rande des Kolloquiums ausgetauscht wurden und in den Diskussionsprotokollen keinen Niederschlag fanden, ohne daß ich diesem oder jenem namentlich Verantwortung aufbürden möchte.
Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, 1964