Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Was ist Film?, 1975

André Bazin

Quelle

André Bazin: Was ist Film?, hrsg. von Robert Fischer. Mit einem Vorwort von Tom Tykwer und einer Einleitung von François Truffaut. Aus dem Französischen von Robert Fischer und Anna Düpee. Berlin: Alexander Verlag Berlin 2004, S. 33-37, 39-42, 90-109, 306-312, 391-402. ISBN: 3-89581-062-2.

Erstausgabe

Qu’est-ce que le cinéma? Vierbändige von Bazin selbst vorgenommene Auswahl seiner Schriften zum Kino: 1. Ontologie et Langage [1958], 2. Le cinéma et les autres arts [1959], 3. Cinéma et sociologie [1961], 4. Une esthétique de la verité. Le néo-realisme [1962]. Paris: Les Éditions du Cerf 1975.

Genre

Buch

Medium

Fotografie, Film

[33] I. ONTOLOGIE DES PHOTOGRAPHISCHEN BILDES

Eine Psychoanalyse der bildenden Kunst könnte als wesentliche Ursache für deren Entstehung die Praxis des Einbalsamierens in Betracht ziehen. Sie würde am Ursprung von Malerei und Skulptur einen „Mumienkomplex“ finden. Für die ägyptische Religion, die ganz und gar gegen den Tod ausgerichtet war, hing das Überleben vom materiellen Fortbestand des Körpers ab. So befriedigte sie ein fundamentales Bedürfnis der menschlichen Psyche: nach Schutz vor der Zeit. Denn der Tod ist nichts anderes als ein Sieg der Zeit. Und die fleischliche Erscheinung eines Wesens künstlich festzuhalten hieß, es dem Strom der Zeit zu entreißen: es am Leben zu vertäuen. So war es nur natürlich, die Erscheinung noch in der Wirklichkeit des Toten, in seinem Fleisch und seinen Knochen zu erhalten. Die Mumie des in Natron gegerbten, erstarrten Menschen ist die erste ägyptische Statue. Aber die Pyramiden und das Labyrinth ihrer Gänge boten keinen ausreichenden Schutz vor möglichen Grabschändungen; gegen diese Gefahr mußten weitere Vorkehrungen getroffen, die Rettungschancen vervielfacht werden. Also stellte man außer dem Weizen, der zur Nahrung für die Toten bestimmt war, Terrakottastatuetten neben den Sarkophag, eine Art Ersatzmumien, die an die Stelle des Körpers treten konnten, falls dieser zerstört wurde. So enthüllt sich in den religiösen Ursprüngen der Bildhauerkunst deren wesentliche Funktion: das Wesen durch die Erscheinung zu retten. Und wahrscheinlich ist der von Pfeilen durchbohrte Bär an den Lehmwänden der prähistorischen Höhle nur ein anderer Aspekt dieses Vorhabens, der magische Ersatz des lebendigen Wildes als Garant für die erfolgreiche Jagd.

Natürlich hat die parallele Entwicklung von Kunst und Zivilisation die bildende Kunst von ihrer magischen Funktion befreit (Louis XIV. ließ sich nicht einbalsamieren, er begnügte sich mit seinem Portrait von [34] Lebrun). Doch diese Entwicklung konnte das unbezwingbare Bedürfnis, die Zeit zu bannen, nur sublimieren, um es logischem Denken anzupassen. Heute glaubt man nicht mehr an die ontologische Identität von Modell und Portrait, doch man nimmt immer noch an, daß dieses uns hilft, uns an jenes zu erinnern und es damit einem zweiten, geistigen Tod zu entreißen. Sogar von allem anthropozentrischen Utilitarismus hat sich die Produktion von Bildern inzwischen befreit. Es geht nicht mehr um das Überleben des Menschen, sondern weit allgemeiner um die Schaffung eines ideellen Universums nach dem Bilde des wirklichen, das eine von diesem unabhängige Zeitlichkeit hat. „Wie eitel ist doch die Malerei“1 – verriete sich hinter unserer absurden Bewunderung nicht das primitive Bedürfnis, die Zeit durch das Fortbestehen der Form zu besiegen! Ist also die Geschichte der bildenden Kunst nicht nur die Geschichte ihrer Ästhetik, sondern zuerst die Geschichte ihrer Psychologie, dann ist sie wesentlich eine Geschichte der Ähnlichkeit oder, wenn man so will, des Realismus.

Aus dieser soziologischen Perspektive sind Photographie und Film eine natürliche Erklärung für die geistige und technische Krise der modernen Malerei, die etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte.

André Malraux schrieb in seinem Verve-Artikel2, daß „der Film lediglich der am weitesten entwickelte Aspekt des bildnerischen Realismus ist, der mit der Renaissance entstand und in der Barockmalerei seinen äußersten Ausdruck gefunden hat“.

Zwar hat Malerei insgesamt stets ein wie auch immer geartetes Gleichgewicht zwischen Symbolik und Realismus der Formen gefunden; aber im 15. Jahrhundert wendeten sich die abendländischen Maler allmählich von dem ursprünglich ausschließlichen Ziel ab, die geistige Wirklichkeit mit eigengesetzlichen Mitteln auszudrücken; statt dessen kombinierten sie diesen Ausdruck zunehmend mit einer mehr oder weniger vollkommenen Imitation der äußeren Welt. Entscheidend war hier wohl die Entdeckung des ersten wissenschaftlichen, in gewisser Weise schon mechanischen Systems: der Perspektive (Leonardo da Vincis Camera Obscura nimmt bereits die von Niepce3 vorweg). Sie ermöglichte es dem Künstler, [35] die Illusion eines dreidimensionalen Raumes zu erwecken, indem er die Dinge so anordnete, wie sie in unserer unmittelbaren Wahrnehmung erscheinen.

Von da an war die Malerei zwischen zwei Ansprüchen hin- und hergerissen: dem eigentlich ästhetischen – auf Ausdruck einer geistigen Wirklichkeit, der das Modell durch die Symbolik der Formen transzendiert – und dem ausschließlich psychologischen Bedürfnis, die äußere Welt durch ihr Duplikat zu ersetzen. Dieses Bedürfnis, das ebenso rasch wieder nachwuchs, wie es befriedigt wurde, verschlang die bildende Kunst nach und nach. Da indes die Perspektive nur das Problem der Form, nicht das der Bewegung gelöst hatte, mußte der Realismus natürlich weitersuchen, und zwar nach einem dramatischen Ausdruck des Augenblicks, einer Art vierter, psychologischer Dimension, die der gequälten barocken Unbeweglichkeit Leben einflößen konnte.4

Sicher, die großen Künstler haben immer eine Synthese zwischen beiden Bestrebungen gefunden: Sie haben sie in eine Rangordnung gebracht, indem sie die Realität ihrem Willen unterwarfen und in der Kunst aufgehen ließen. Doch der Tatbestand bleibt, daß wir zwei grundsätzlich verschiedenen Phänomenen gegenüberstehen, die eine objektive Kritik auseinanderhalten muß, wenn sie die Entwicklung der Bilder verstehen will. Seit dem 16. Jahrhundert hat das Bedürfnis nach Illusion nicht aufgehört, die Malerei im Inneren zu beschäftigen; ein Bedürfnis, das an und für sich nicht ästhetisch, sondern rein mental ist und dessen Ursprung allein im magischen Denken zu suchen ist – doch es ist so anziehend und wirkungsmächtig, daß es das Gleichgewicht in der bildenden Kunst von Grund auf zerstört hat.

Der Realismusstreit in der Kunst ist aus diesem Mißverständnis hervorgegangen, aus der Verwechslung von Ästhetischem und Psychologischem, von wahrhaftem Realismus, das heißt dem Bedürfnis, die zugleich konkrete und essentielle Bedeutung der Welt auszudrücken, und jenem Pseudorealismus der Sinnestäuschung (oder Geistestäuschung), der sich mit der Illusion der Formen zufrieden gibt.5 Darum scheint etwa die mittelalterliche Kunst nicht unter diesem Konflikt gelitten zu haben; diese zugleich leidenschaftlich realistische und hoch spirituelle Kunst wußte [36] noch nichts von dem Drama, das erst die neuen technischen Möglichkeiten enthüllten. Die Perspektive war der Sündenfall der abendländischen Malerei.

Niepce und Lumière waren ihre Erlöser. Indem die Photographie das Barock vollendete, hat sie die bildende Kunst von ihrer Ähnlichkeitsbesessenheit befreit. Denn die Malerei strengte sich im Grund vergeblich an, uns zu täuschen – diese Täuschung genügte der Kunst; Photographie und Film hingegen sind Erfindungen, die das Verlangen nach Realismus ihrem Wesen nach endgültig befriedigen. Denn so geschickt ein Maler auch sein mochte, sein Werk blieb doch immer mit der Hypothek einer unvermeidlichen Subjektivität belastet. Ein Zweifel lag auf dem Bild, weil ein Mensch es geschaffen hatte. So ist das Wesentliche beim Übergang von der Barockmalerei zur Photographie nicht einfach die technische Vervollkommnung (bei der Nachahmung der Farben blieb die Photographie lange Zeit weit hinter der Malerei zurück), sondern ein psychologischer Tatbestand: Unseren Hunger nach Illusion befriedigt vollständig nur eine mechanische Reproduktion, in der der Mensch keinerlei Rolle spielt. Die Lösung lag nicht im Ergebnis, sondern in der Entstehung.6

Deshalb ist der Konflikt zwischen Stil und Ähnlichkeit auch ein relativ junges Phänomen, von dem vor der Erfindung der lichtempfindlichen Platte kaum etwas zu bemerken ist. Die faszinierende Objektivität eines Chardin ist natürlich nicht die der Photographie. Erst im 19. Jahrhundert setzte jene Krise des Realismus wirklich ein, deren Mythos heute Picasso ist und durch die mit den Bedingungen ihrer formalen Existenz zugleich auch die soziologischen Hintergründe der bildenden Kunst ins Bewußtsein rückten. Der moderne Maler, vom Ähnlichkeitskomplex befreit, überläßt diesen dem Volk7, das Ähnlichkeit seitdem zum einen mit der Photographie, zum anderen mit einer Malerei gleichsetzt, die der Photographie sehr nahekommt.

Die Eigenheit der Photographie im Unterschied zur Malerei besteht also darin, daß sie ihrem Wesen nach objektiv ist. So heißt denn auch die Linsenkombination, die bei der Photographie das menschliche Auge ersetzt, [37] treffend „Objektiv“. Zum ersten Mal schiebt sich lediglich ein anderes Objekt zwischen das Ausgangsobjekt und seine Darstellung. Zum ersten Mal entsteht ein Bild von der uns umgebenden Welt automatisch, ohne schöpferische Vermittlung des Menschen und nach einem strengen Determinismus. Die Persönlichkeit des Photographen spielt nur in der Auswahl und Anordnung des Gegenstands und bei der beabsichtigten Wirkung eine Rolle: So sichtbar seine Persönlichkeit im fertigen Werk sein mag, so ist sie doch weit weniger maßgeblich als die des Malers. Alle Künste gründen auf der Anwesenheit des Menschen; nur in der Photographie genießen wir seine Abwesenheit. So wirkt die Photographie auf uns wie ein „natürliches“ Phänomen, wie eine Blume oder eine Schneeflocke, deren Schönheit von ihrem pflanzlichen oder tellurischen Ursprung nicht zu trennen ist.

Diese automatische Entstehung hat die Psychologie des Bildes radikal erschüttert. Die Objektivität der Photographie verleiht ihr eine Überzeugungsmacht, die allen anderen Bildwerken fehlt. Welche kritischen Einwände wir auch haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des wiedergegebenen Gegenstands zu glauben, der ja tatsächlich wiedergegeben, das heißt in Raum und Zeit wieder gegenwärtig gemacht wird. Die Photographie profitiert von einer Wirklichkeitsübertragung vom Ding auf seine Reproduktion.8 Obgleich eine sehr getreue Zeichnung weit mehr Auskünfte über das Modell gibt, wird sie, unserem kritischen Geist zum Trotz, doch nie die irrationale Macht der Photographie besitzen, der wir Glauben schenken.

Und ist nicht zugleich die Malerei nur noch eine unvollkommenere Methode, Ähnlichkeit herzustellen, ein Ersatz für die Reproduktionsverfahren? Nur das Objektiv gibt uns ein Bild von dem Gegenstand, das imstande ist, jenes Bedürfnis in der Tiefe unseres Unterbewußtseins „auszutoben“, den Gegenstand durch etwas zu ersetzen, das besser ist als eine annähernde Kopie: diesen Gegenstand selbst, doch befreit von den Zufällen seiner Zeitlichkeit. Das Bild mag verschwommen sein, verzerrt, farblos, ohne dokumentarischen Wert, es gründet durch die Art seiner Entstehung im Dasein des Modells; es ist das Modell. Daher der Charme der Photoalben. Diese grauen oder sepiafarbenen Schatten, phantomhaft, [39] fast unentzifferbar, sind nicht länger die traditionellen Familienportraits; sie sind die verstörende Gegenwart eines in seinem Ablauf angehaltenen Lebens, von seiner Vergänglichkeit befreit nicht durch die Größe der Kunst, sondern kraft einer leidenschaftslosen Mechanik; denn die Photographie erschafft nicht, wie die Kunst, Ewigkeit, sondern sie balsamiert die Zeit ein, entzieht sie bloß ihrem Verfall.

In dieser Perspektive erscheint der Film wie die Vollendung der photographischen Objektivität in der Zeit. Der Film hält den Gegenstand nicht mehr nur in einem Augenblick fest, wie der Bernstein den intakten Körper von Insekten aus einer fernen Zeit; er befreit die Barockkunst von ihrem Starrkrampf. Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer9, es ist gleichsam die Mumie der Veränderung.

Die Kategorien10 der Ähnlichkeit, die das photographische Bild kennzeichnen, sind also, anders als bei der Malerei, auch für seine Ästhetik bestimmend. Das ästhetische Wirkungsvermögen der Photographie liegt in der Enthüllung des Wirklichen. Der Reflex auf dem nassen Trottoir, die Geste eines Kindes – ich hätte sie im Gewebe der Welt um mich herum nicht zu entdecken vermocht; nur die Leidenschaftslosigkeit des Objektivs, das den Gegenstand von den Gewohnheiten, Vorurteilen, dem ganzen spirituellen Dunst befreit, in den ihn meine Wahrnehmung hüllte, ließ ihn wieder jungfräulich werden, so daß ich ihm meine Aufmerksamkeit und meine Liebe schenkte. Auf der Photographie, diesem natürlichen Bild einer Welt, die wir nicht zu sehen verstanden oder vermochten, tut die Natur endlich mehr, als die Kunst nachzuahmen: sie ahmt den Künstler nach.

Sie kann ihn an schöpferischer Kraft sogar übertreffen. Das ästhetische Universum des Malers ist völlig anderer Art als das Universum, das ihn umgibt. Der Bildrand umschließt einen in Substanz und Wesen verschiedenen Mikrokosmos. Die Existenz des photographierten Gegenstandes ist, wie ein Fingerabdruck, Teil der Existenz des Modells. Und deshalb fügt die Photographie der natürlichen Schöpfung etwas hinzu, anstatt sie durch eine andere zu ersetzen.

Der Surrealismus hat das geahnt, als er die lichtempfindliche Platte zu [40] Hilfe nahm, um seine bildnerischen Mißgeburten zu erzeugen. Denn für den Surrealismus ist der ästhetische Zweck unlöslich an die mechanische Einwirkung des Bildes auf unseren Geist gebunden. Die logische Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Realen verschwindet mehr und mehr. Jedes Bild muß als Gegenstand und jeder Gegenstand als Bild empfunden werden. Die Photographie war also eine bevorzugte Technik der surrealistischen Kunst, weil sie ein Bild verwirklicht, das der Natur angehört: eine Halluzination, die zugleich wahr ist. Die Gegenprobe darauf ist die Verwendung des Trompe-l‘œil und die akribische Genauigkeit der Details in der surrealistischen Malerei.

Die Photographie scheint also das wichtigste Ereignis in der Geschichte der bildenden Kunst zu sein. Gleichzeitig Befreiung und Vollendung hat sie es der abendländischen Malerei ermöglicht, sich endgültig vom zwanghaften Realismus zu befreien und zu ihrer ästhetischen Autonomie zurückzufinden. Der impressionistische „Realismus“ ist, seiner wissenschaftlichen Ausflüchte entschleiert, der vollkommene Gegensatz zum Trompe-l‘œil. Im übrigen konnte die Farbe die Form nur in dem Maß verschlingen, als diese keine nachahmende Funktion mehr hatte. Und als mit Cézanne die Form die Leinwand zurückeroberte, so ohne die illusionistische Geometrie der Perspektive. Mit dem mechanischen Bild sah sich die Malerei einer Konkurrenz gegenüber, die über die barocke Ähnlichkeit hinaus die Identität mit dem Modell erreichte, so daß der Malerei nur der Ausweg blieb, sich ihrerseits in ein Objekt zu verwandeln.

Seither ist Pascals Verdammungsurteil über die Malerei hinfällig, weil die Photographie uns einerseits ermöglicht, in der Reproduktion das Original zu bewundern, das unsere Augen allein uns nicht lieben gelehrt hätten, und andererseits in der Malerei das reine Objekt zu schätzen, dessen Beziehung zur Natur nicht mehr entscheidend ist.

Andererseits ist der Film eine Sprache.11

1945

[90] VII. DIE ENTWICKLUNG DER FILMSPRACHE

Im Jahr 1928 erreichte die Kunst des Stummfilms ihren Höhepunkt und ihr Ende. Die Verzweiflung ihrer besten Vertreter, die miterleben mußten, wie diese vollkommene Bilderwelt zerstört wurde, ist vielleicht nicht berechtigt, aber doch verständlich. Für sie war der Film mit den ästhetischen Mitteln, die er gefunden hatte, eine Kunst, die mit dem „erlesenen Makel“ des Schweigens zutiefst im Einklang stand – der Realismus des Tonfilms konnte sie nur ins Chaos zurückstürzen.

Heute, da die Verwendung des Tons hinlänglich bewiesen hat, daß er das Alte Testament des Kinos nicht vernichtet, sondern vollendet hat, ist es an der Zeit, sich zu fragen, ob die technische Revolution durch die Tonspur tatsächlich auch eine ästhetische Revolution war, mit anderen Worten, ob zwischen 1928 und 1930 wirklich ein neues Kino entstanden ist. Was Schnitt und Auflösung betrifft, ist in der Geschichte des Films tatsächlich kein so schroffer Kontinuitätsbruch zwischen Stummfilm und Tonfilm zu erkennen, wie man glauben könnte. Es ließe sich sogar eine Verwandtschaft zwischen bestimmten Regisseuren aus der Zeit um 1925 und solchen um 1935 und insbesondere aus der Zeit zwischen 1940 bis 1950 entdecken. Etwa zwischen Erich von Stroheim und Jean Renoir oder Orson Welles, zwischen Carl Theodor Dreyer und Robert Bresson. Diese mehr oder weniger deutlichen Ähnlichkeiten beweisen zunächst, daß die Kluft, die sich in den dreißiger Jahren aufgetan hatte, nicht unüberbrückbar war, daß bestimmte Werte des Stummfilms im Tonfilm weiterleben, vor allem aber, daß es nicht so sehr um die Gegenüberstellung von Stumm- und Tonfilm geht; einander gegenüberstellen sollte man vielmehr Stilfamilien, grundsätzlich verschiedene Konzeptionen filmischen Ausdrucks im einen wie im anderen.

Der Umfang dieser Studie zwingt mich zu Vereinfachungen, die meine Aussagen natürlich relativieren; daher will ich es auch nicht so sehr als objektive Feststellung einer Tatsache, sondern als Arbeitshypothese verstan[91]den wissen, wenn ich im Kino der Jahre 1920 bis 1940 zwei große gegensätzliche Tendenzen unterscheide: Regisseure, die an das Bild, und andere, die an die Realität glauben.

Unter „Bild“ verstehe ich ganz allgemein alles, was die Darstellung auf der Leinwand dem dargestellten Gegenstand hinzufügen kann. So vielfältig dieser Anteil ist, man kann ihn im wesentlichen in zwei Gebiete unterteilen: die Gestaltung des Bildes selbst und das Hilfsmittel der Montage (die ja nichts anderes ist als die Anordnung der Bilder in der Zeit). Unter Bildgestaltung ist der Stil von Dekor und Maske zu verstehen, in gewissem Maß auch der des Spiels der Darsteller, hinzu kommen natürlich das Licht und schließlich die Wahl des Bildausschnitts, welcher die Komposition des Bildes vollendet. Über die Montage, die, wie man weiß, hauptsächlich auf die Meisterwerke von Griffith zurückgeht, schrieb André Malraux in „Psychologie du cinéma“1, daß in ihr der Film als Kunst geboren wurde: Sie sei das, was ihn wirklich von der einfachen animierten Photographie unterscheidet, nämlich tatsächlich eine Sprache.

Die Anwendung der Montage kann „unsichtbar“ sein, wie es im klassischen amerikanischen Film vor dem Zweiten Weltkrieg meist der Fall war. Die Zerstückelung der Einstellungen hatte keinen anderen Zweck, als das Geschehen der inhaltlichen oder dramatischen Logik der Szene folgend zu analysieren. Es ist ihre Logik, die diese Analyse unmerklich macht; der Zuschauer nimmt ganz natürlich den vom Regisseur vorgeschlagenen Blickpunkt ein, weil dieser in der Geographie der Handlung oder in der Verlagerung des dramatischen Schwerpunkts begründet ist.

Doch mit der Neutralität dieser „unsichtbaren“ filmischen Auflösung sind keineswegs sämtliche Möglichkeiten der Montage erschöpft. Diese sind im Gegenteil erst in drei Verfahren vollkommen erfaßt, die als „Parallelmontage“, „Beschleunigungsmontage“ und „Attraktionsmontage“ bekannt sind. Mit der Erfindung der Parallelmontage gelang es Griffith, die Gleichzeitigkeit zweier räumlich auseinanderliegender Handlungen darzustellen, indem er abwechselnd Einstellungen der einen und der anderen Aktion aneinanderfügte. Abel Gance täuscht in La Roue die Beschleunigung einer Lokomotive vor, ohne tatsächlich Bilder von Geschwindigkeit einzusetzen (denn schließlich hätten sich die Räder ja auch auf der Stelle [92] drehen können), sondern lediglich durch sehr viele, immer kürzer werdende Einstellungen. Die von Eisenstein erfundene Attraktionsmontage schließlich ist nicht einfach zu beschreiben; man könnte sie grob als Verstärkung der Bedeutung eines Bildes durch die Kombination mit einem anderen definieren, das nicht notwendig zum selben Ereignis gehören muß, zum Beispiel das Feuerwerk in Generalnaja linija (Die Generallinie), das auf das Bild des Stiers folgt. In dieser extremen Form ist die Attraktionsmontage – auch von ihrem Erfinder — selten verwendet worden, doch vom Prinzip her stehen ihr die sehr viel häufigeren Verfahren der Ellipse, des Vergleichs und der Metapher sehr nahe, etwa die auf den Stuhl am Fußende eines Betts geworfenen Damenstrümpfe oder auch die überlaufende Milch (Quai des Orfèvres [Unter Falschem Verdacht] von Henri-Georges Clouzot). Und natürlich können die drei Verfahren beliebig kombiniert werden.

Ihnen allen ist ein Zug gemeinsam, der zugleich die Definition der Montage an und für sich ist: Sie schaffen einen Sinn, den die Bilder nicht schon objektiv enthalten, der allein aus ihrer Beziehung hervorgeht. Das berühmte Experiment von Kuleschow mit ein und derselben Einstellung von Mosjoukine, dessen Lächeln je nach dem vorangegangenen Bild seinen Ausdruck zu verändern scheint, faßt die Möglichkeiten der Montage vollständig zusammen.

Die Montagen von Kuleschow, von Eisenstein und Gance zeigten nicht das Ereignis, sie spielten darauf an. Zwar waren die Bestandteile, zumindest zum größten Teil, der Realität entliehen, die sie beschreiben wollten, doch die endgültige Bedeutung erhielt der Film weit eher von der Anordnung dieser Bestandteile als von ihrem objektiven Inhalt. So realistisch das einzelne Bild auch sein mag, der Inhalt der Erzählung entsteht wesentlich aus diesen Beziehungen (lächelnder Mosjoukine + totes Kind = Mitleid), das heißt, das Ergebnis ist abstrakt und in keinem seiner konkreten Elemente enthalten. So kann man sich auch vorstellen: junge Mädchen + blühende Apfelbäume = Hoffnung. Es gibt unzählige Kombinationen. Doch allen ist gemein, daß sie die Idee mit Hilfe einer Metapher oder Assoziationskette ausdrücken. So schiebt sich zwischen das eigentliche Drehbuch, letztendlich Objekt der Erzählung, und das unbearbeitete Bild [93] ein zusätzlicher Verstärker, ein ästhetischer „Transformator“. Der Sinn liegt nicht im Bild, sondern die Montage projiziert dessen Schatten ins Bewußtsein des Zuschauers.

Fassen wir zusammen: Ob durch die Gestaltung des Bildinhalts oder mit den Mitteln der Montage, der Film verfügt über ein ganzes Arsenal von Verfahren, um dem Zuschauer eine bestimmte Interpretation des dargestellten Geschehens aufzudrängen. Dieses Arsenal war am Ende des Stummfilms vollständig entwickelt. Der sowjetische Film hat die Montage in Theorie und Praxis bis zu ihren letzten Konsequenzen vorangetrieben, während die deutsche Schule die Bildgestaltung (Dekor und Licht) allen denkbaren Belastungsproben unterzogen hat. Es gibt natürlich nicht nur den deutschen oder den sowjetischen Film, doch ob in Frankreich, Schweden oder Amerika, der Sprache des Films scheint es nicht an Mitteln zu fehlen, zu sagen, was sie zu sagen hat. Wenn das, was Bildgestaltung und Montage einer gegebenen Realität hinzufügen können, das Wesen der Filmkunst ausmachen würde, wäre der Stummfilm eine vollkommene Kunst. Der Ton würde dann höchstens eine untergeordnete, ergänzende Rolle spielen: als Kontrapunkt zum visuellen Bild. Aber diese mögliche Bereicherung, die auch im besten Falle nur gering wäre, könnte unter Umständen den Ballast an zusätzlicher Realität, den der Ton mit sich bringt, nicht aufwiegen.

Im bisherigen gingen wir von der Annahme aus, daß das Wesen der Filmkunst in der Ausdruckskraft von Bild und Montage liege. Doch gerade diese allgemein anerkannte Auffassung wird schon seit der Stummfilmzeit von Regisseuren wie Erich von Stroheim, Friedrich Wilhelm Murnau und Robert Flaherty implizit in Frage gestellt. Die Montage spielt in ihren Filmen praktisch keine Rolle, es sei denn die rein negative und unvermeidliche, aus der Fülle der Realität auszusondern. Die Kamera kann nicht alles zugleich sehen, doch zumindest bemüht sie sich, von dem, was sie aussucht, nichts zu verlieren. Für Flaherty zählt bei Nanuks Jagd auf den Seehund nur die Beziehung zwischen Nanuk und dem Tier, die wirkliche Länge des Wartens. Er hätte die Zeit durch die Montage suggerieren können, doch Flaherty beschränkt sich darauf, uns das Warten zu zeigen, die [94] Dauer der Jagd ist der eigentliche Gehalt des Bildes, sein wahrer Gegenstand. Daher besteht diese Episode im Film aus einer einzigen Einstellung. Wer würde bestreiten, daß gerade das sie sehr viel bewegender macht als eine „Attraktionsmontage“?

Murnau interessiert sich weniger für die Zeit als für die Realität des dramatischen Raums: weder in Nosferatu noch in Sunrise spielt die Montage eine entscheidende Rolle. Man könnte meinen, die Bildgestaltung nähere sich dem Expressionismus; aber das wäre eine oberflächliche Betrachtungsweise. Murnaus Bilder sind keineswegs wie Gemälde aufgebaut. Sie fügen der Wirklichkeit nichts hinzu, verzerren sie auch nicht, bemühen sich im Gegenteil, Tiefenstrukturen freizulegen, Bezüge sichtbar zu machen, die für das Drama konstitutiv werden. So ist in Tabu das Auftauchen eines Schiffs am linken Bildrand absolut eins mit dem Verhängnis, ohne daß Murnau vom rigorosen Realismus des ganz in natürlicher Umgebung gedrehten Films abweicht.

Doch der entschiedenste Gegner von Bildexpressionismus und Montagekunstgriffen zugleich ist Stroheim. Bei ihm gesteht die Wirklichkeit ihren Sinn wie der Verdächtige im unermüdlichen Verhör durch den Kommissar seine Tat. Das Prinzip seiner Mise-en-scène ist einfach: die Welt so nah und so eindringlich zu betrachten, daß sie schließlich ihre Häßlichkeit und Grausamkeit enthüllt. Wenn man es recht bedenkt, könnte man sich sehr gut einen Stroheim-Film vorstellen, der aus einer einzigen Einstellung besteht, so lang und so nah wie nur möglich.

Die drei genannten Regisseure sind lediglich eine Auswahl. Auch bei anderen würden wir zweifellos Elemente eines nicht expressionistischen Kinos entdecken, bei dem auch die Montage keine Rolle spielt. Selbst bei Griffith übrigens. Aber diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß es mitten im Herzen des Stummfilms eine Filmkunst gibt, die genau das Gegenteil dessen ist, was man als das „Kino par excellence“ betrachtet; eine Sprache, deren semantische und syntaktische Einheit keineswegs die Einstellung ist; eine Kunst, in der das Bild vor allem zählt, weil es die Realität enthüllt, nicht weil es ihr etwas hinzufügt. Für diese Richtung war der Stummfilm tatsächlich verkrüppelt: die Wirklichkeit, der einer ihrer Bestandteile fehlte. Greed (Gier) von Stroheim und La Passion de [95] Jeanne d'Arc (Die Passion der Jungfrau von Orleans) von Dreyer sind deshalb virtuell schon Tonfilme. Wenn man aufhört, die Montage und die gestalterische Komposition des Bildes für die eigentliche Essenz der Filmsprache zu halten, bedeutet das Auftauchen des Tons nicht mehr die ästhetische Verwerfungslinie, die die siebte Kunst in zwei völlig verschiedene Bereiche trennt. Ein bestimmtes Kino glaubte, es würde am Ton sterben, doch es war keineswegs „das Kino“. Die tatsächliche Trennlinie lag anderswo, sie zog und zieht sich ohne Unterbrechung durch fünfunddreißig Jahre Geschichte der Filmsprache.

Nachdem wir die ästhetische Einheit des Stummfilms in Zweifel gezogen und ihn in zwei zuinnerst gegensätzliche Richtungen geteilt fanden, wollen wir die Geschichte der letzten zwanzig Jahre noch einmal überprüfen.

Von 1930 bis 1940 scheint sich überall auf der Welt, vor allem von Amerika ausgehend, eine gewisse gemeinsame Ausdrucksform in der Sprache des Films entwickelt zu haben. Der triumphale Erfolg von fünf oder sechs Genres sicherte damals Hollywood seine erdrückende Überlegenheit: die amerikanische Komödie (Mr. Smith Goes to Washington [Mr. Smith geht nach Washington], 1936) und Burleske (die Marx-Brothers), der Revue- und Musicalfilm (Fred Astaire und Ginger Rogers, Ziegfeld Follies), der Kriminal- und Gangsterfilm (Scarface, I am a Fugitive from a Chain Gang [Jagd auf James A.], The Informer [Der Verräter]), psychologisches beziehungsweise Sittendrama (Back Street, Jezebel [Jezebel – Die boshafte Lady]), der phantastische und der Horrorfilm (Dr. Jekyll and Mr. Hyde [Dr. Jekyll und Mr. Hyde], The Invisible Man [Der Unsichtbare], Frankenstein) und schließlich der Western (Stagecoach [Ringo/Höllenfahrt nach Santa Fé], 1939). Den zweiten Platz nahm in diesem Zeitraum ohne jeden Zweifel der französische Film ein; seine besondere Leistung zeigte sich nach und nach in einer Richtung, die man grob als schwarzen oder poetischen Realismus bezeichnen kann und die von vier Namen beherrscht wird: Jacques Feyder, Jean Renoir, Marcel Carné und Julien Duvivier. Wir wollen hier keine Rangliste aufstellen und gehen deshalb nicht näher auf den sowjeti[96]schen, englischen, deutschen und italienischen Film ein, für die diese Zeit weniger bedeutsam war als die darauffolgenden zehn Jahre. An den amerikanischen und französischen Produktionen läßt sich hinlänglich deutlich machen, daß die Kunst des Tonfilms vor dem Krieg bereits voll ausgereift war und ihr Gleichgewicht gefunden hatte. Zunächst vom Inhalt her: große Genres mit ausgearbeiteten Regeln, die geeignet sind, sowohl einem breiten internationalen Publikum zu gefallen, als auch eine gebildete Elite zu interessieren, vorausgesetzt, diese steht dem Kino nicht von vornherein ablehnend gegenüber.

Dann in der Form: Photographie und Schnitt sind sehr klar und dem Thema angemessen; Bild und Ton sind vollkommen aufeinander abgestimmt. Wenn man heute Filme wieder sieht wie Jezebel von William [97] Wyler, Stagecoach von John Ford oder Le jour se lève (Der Tag bricht an) von Marcel Carné spürt man, daß hier eine Kunst ihr vollkommenes Gleichgewicht, ihre ideale Ausdrucksform gefunden hat. Umgekehrt bewundert man die dramatischen und moralischen Themen, die das Kino zwar nicht hervorgebracht hat, denen es jedoch zu einer Größe und künstlerischen Wirkungsmacht verhalf, die sie sonst nicht gefunden hätten. Kurz, alle Merkmale der Reife einer „klassischen“ Kunst.

Ich bin mir bewußt, daß die Besonderheit des Nachkriegsfilms im Vergleich zu dem vor 1939 zu Recht im Aufstieg bestimmter nationaler Produktionen gesehen wird – besonders ist hier an die glanzvollen italienischen Filme und die Entwicklung eines eigenständigen, von Hollywoodeinflüssen befreiten britischen Kinos zu denken. Ebenso zu Recht läßt sich daraus schließen, daß das wirklich wichtige Phänomen der Jahre 1940 bis 1950 die Zufuhr frischen Blutes, noch unerforschter Stoffe ist; kurz, daß die wahre Revolution eher auf der Ebene der Sujets als des Stils stattgefunden hat; eher in dem, was das Kino der Welt zu sagen hat, als in der Art und Weise, es zu sagen. Ist der „Neorealismus“ nicht in erster Linie eine humanistische Weltanschauung und dann erst ein Regiestil? Und ist dieser Stil selbst nicht wesentlich dadurch bestimmt, daß er ganz hinter die Realität zurücktritt?

Es ist auch gar nicht meine Absicht, irgendein Primat der Form über den Inhalt zu predigen. Das L'art pour l'art ist im Kino nicht weniger ketzerisch als anderswo. Noch ketzerischer vielleicht! Doch ein neues Thema fordert eine neue Form. Außerdem versteht man vielleicht besser, was der Film zu sagen versucht, wenn man weiß, wie er es sagt.

1938 oder 1939 also hatte der Tonfilm, besonders in Frankreich und Amerika, eine Art klassische Vollkommenheit erreicht, die einerseits in der Reife der dramatischen Genres begründet war, die seit zehn Jahren ausgearbeitet oder vom Stummfilm übernommen worden waren, andererseits in der Stabilisierung der technischen Fortschritte. Die dreißiger Jahre waren zugleich die des Tons und des panchromatischen Filmmaterials2. Die Ausrüstung der Studios wurde immer perfekter, doch diese Verbesserungen waren unwesentlich, keine von ihnen eröffnete der Regie grundsätzlich neue Möglichkeiten. Diese Situation hat sich übrigens seit [98] 1940 nicht geändert, außer vielleicht, dank der höheren Empfindlichkeit des Filmmaterials, die Bildqualität. Der panchromatische Film erschütterte das bisherige Gleichgewicht der Struktur des Bildes, ultraempfindliche Emulsionen haben es ermöglicht, seine Zeichnung zu beeinflussen. Der Kameramann konnte nun die Aufnahmen im Studio mit viel kleinerer Blende machen und die – sonst zwangsläufige – Unschärfe des Hintergrunds ausschalten. Für die Anwendung der Schärfentiefe lassen sich aber auch frühere Beispiele finden (bei Jean Renoir etwa); denn bei Außenaufnahmen und selbst im Studio war sie mit einigem Geschick immer schon möglich. Man mußte nur wollen. Im Grunde geht es also weniger um ein technisches Problem – dessen Lösung in der Tat eine große Erleichterung war –, sondern um die Suche nach einem Stil. Darauf werden wir noch zurückkommen. Kurz, die für die Filmkunst nötigen und ausreichenden technischen Voraussetzungen waren seit 1930 gegeben – seit der panchromatische Film allgemein verwendet wurde, jeder mit den Möglichkeiten des Mikrophons vertraut war und der Kran zur Standardausrüstung der Studios gehörte.

Da die technischen Beschränkungen also praktisch beseitigt waren, müssen wir die Anzeichen und Grundsätze für die Entwicklung der Filmsprache anderswo suchen, indem wir die Sujets daraufhin untersuchen, welche Stile zu ihrem Ausdruck nötig waren. 1939 war der Tonfilm an einem Punkt angelangt, den die Geographen das Gleichgewichtsprofil eines Flusses nennen. Das heißt jene ideale mathematische Kurve, die das Ergebnis ausreichender Erosion ist. Hat der Fluß sein Gleichgewichtsprofil erreicht, fließt er mühelos und ohne sein Bett weiter auszuhöhlen von der Quelle bis zur Mündung. Wird aber infolge einer geologischen Bewegung diese Beinahebene angehoben, so daß sich die Höhe der Quelle verändert, arbeitet das Wasser wieder, dringt in tieferliegende Erdschichten, sickert ein, unterspült und höhlt aus. Handelt es sich um Kalkschichten, entsteht vielleicht ein ganz neues Relief, das an der Oberfläche fast unsichtbar, doch vielschichtig und zerklüftet ist, wenn man dem Weg des Wassers folgt.

[99] Die Entwicklung des Filmschnitts seit dem Tonfilm

1938 also finden wir fast überall dieselbe Art der filmischen Auflösung. Wenn wir die auf Bildgestaltung und auf Kunstgriffen der Montage basierenden Stummfilmtypen ein wenig konventionell „expressionistisch“ beziehungsweise „symbolistisch“ nennen, könnten wir die neue Form der Erzähltechnik als „analytisch“ und „dramatisch“ bezeichnen. Nehmen wir, um bei dem Experiment Kuleschows zu bleiben, einen gedeckten Tisch und einen ausgehungerten armen Teufel. Für 1936 ist folgender Schnittablauf vorstellbar:

1. Totale auf Schauspieler und Tisch;

2. Kamerafahrt vorwärts bis zu einer Großaufnahme des Gesichts, das eine Mischung aus Verzückung und Verlangen ausdrückt;

3. eine Folge von Großaufnahmen von den Speisen;

4. Halbtotale der Person, wie sie langsam auf die Kamera zukommt;

5. leichte Rückfahrt der Kamera, um eine amerikanische Einstellung auf den Schauspieler zu ermöglichen, der nach einem Hähnchenflügel greift.

So viele Varianten dieser Schnittfolge auch vorstellbar sind, alle hätten folgende Gemeinsamkeiten:

1. die Glaubhaftigkeit des Raums und die eindeutige Situierung der Figur darin, selbst wenn bei einer Großaufnahme das Dekor nicht zu sehen ist.

2. Absicht und Wirkung der filmischen Auflösung sind ausschließlich dramatisch und psychologisch.

Mit anderen Worten: Diese Szene hätte genau dieselbe Bedeutung, wenn man sie im Theater vom Parkett aus sehen würde, das Geschehen wäre objektiv dasselbe. Veränderungen der Kameraperspektive fügen ihm nichts hinzu. Sie zeigen die Wirklichkeit lediglich effektiver. Zunächst deshalb, weil sie schlicht deutlicher zu sehen ist, zum anderen, weil sie Akzente setzen.

Sicherlich hat der Filmregisseur genau wie der Theaterregisseur einen Interpretationsspielraum, den Sinn der Handlung abzuwandeln. Doch ist dies nur ein Spielraum, und die Logik des Geschehens wird nicht angeta[100]stet. Nehmen wir dagegen die Montage mit den steinernen Löwen in Bronenosez Potjomkin (Panzerkreuzer Potemkin): Geschickt hintereinandermontiert, vermittelt eine ganze Reihe von Skulpturen den Eindruck eines einzigen Tiers, das sich (wie das Volk) erhebt. Ein solcher bewunderungswürdiger Montageeinfall ist seit 1932 undenkbar. Zwar zeigt Fritz Lang noch 1935 in Fury nach einer Einstellungsfolge schwatzender Frauen gackernde Hühner im Hühnerhof. Doch das ist ein Überbleibsel der Attraktionsmontage, das damals schon Anstoß erregte und heute aus dem übrigen Film heraussticht. So maßgeblich die Kunst eines Carné auch ist – in der Umsetzung der Drehbücher zu Quai des brumes (Hafen im Nebel) oder Le jour se lève beispielsweise –, seine filmische Auflösung bleibt auf der Ebene der Realität, die er analysiert, sie ist nur ein Mittel, sie deutlich zu sehen. So erleben wir also das fast völlige Verschwinden aller optischen Tricks wie etwa Überblendungen und, vor allem in Amerika, sogar von Großaufnahmen, die wegen ihrer allzu starken Körperlichkeit auf die Montage aufmerksam machen. In der typischen amerikanischen Komödie zeigt der Regisseur die Darsteller wann immer möglich von den Knien aufwärts, eine Einstellung, die, wie sich herausgestellt hat, der unwillkürlichen Erwartungshaltung des Zuschauers, dem natürlichen Gleichgewicht seiner geistigen Anpassungsfähigkeit am besten entspricht.3

Diese Schnittpraxis hat ihre Ursprünge im Stummfilm. Sie spielt annähernd dieselbe Rolle wie bei Griffith, in Broken Blossoms (Gebrochene Blüten) etwa. In Intolerance vertrat er schon jene synthetische Auffassung von der Montage, die das sowjetische Kino dann bis zur letzten Konsequenz vorantrieb und die am Ende des Stummfilms, wenn auch nicht mehr ausschließlich, fast überall wiederzufinden ist. Im übrigen ist es leicht zu verstehen, daß das sprechende Bild, sehr viel weniger leicht formbar als das stumme, die Montage zum Realismus zurückgeführt hat und der gestalterische Expressionismus und die symbolischen Beziehungen der Bilder untereinander nach und nach daraus verschwunden sind.

So wurden um 1938 die Filme tatsächlich fast einheitlich nach denselben Prinzipien geschnitten. Die Geschichte wurde in einer Folge von Einstellungen erzählt, deren Anzahl – rund sechshundert – relativ wenig va[101]riierte. Charakteristisch für diese filmische Auflösung war das Schuß-Gegenschuß-Verfahren, das heißt, in einem Dialog etwa, der Logik des Textes folgende, vom einen zum anderen Gesprächspartner wechselnde Einstellungen.

Diese Art der filmischen Auflösung, die den besten Filmen zwischen 1930 und 1939 vollkommen angemessen war, wurde durch die Schärfentiefentechnik von Orson Welles und William Wyler in Frage gestellt.

Die Bedeutung von Citizen Kane kann hier gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dank der Schärfentiefe sind ganze Szenen in einer einzigen Aufnahme gedreht, sogar mit unbewegter Kamera. Alle dramatischen Effekte, die früher mit der Montage erzielt wurden, entstehen hier durch die Verlagerung der Darsteller innerhalb einer einmal gewählten Kadrierung. Natürlich hat Orson Welles die Schärfentiefe sowenig „erfunden“ wie Griffith die Großaufnahme; schon die Pioniere des Films benutzten sie, und das aus gutem Grund. Die Unschärfe im Bild tauchte erst mit der Montage auf. Sie war nicht nur eine aus technischen Gründen zwangsläufige Folge von Nahaufnahmen, sondern geradezu die logische Konsequenz aus der Montage, ihre bildhafte Entsprechung. Wenn der Regisseur in einem bestimmten Moment der Handlung, zum Beispiel in der Schnittfolge von vorhin, in Großaufnahme eine Obstschale zeigt, ist es normal, daß er sie durch Scharfeinstellung des Objektivs auch räumlich isoliert. Die Unschärfe des Hintergrunds verstärkt also die Wirkung der Montage, sie gehört nur bedingt zum Kamerastil, aber wesentlich zum Erzählstil. Das hatte schon Jean Renoir vollkommen verstanden, als er 1938 – also nach La Bête humaine (Bestie Mensch) und La Grande Illusion (Die grosse Illusion) und vor La Règle du jeu (Die Spielregel) – schrieb: „Je länger ich in meinem Beruf bin, desto mehr neige ich dazu, in die Tiefe der Leinwand hinein zu inszenieren; ich verzichte mehr und mehr auf die Gegenüberstellung von zwei Schauspielern, die ordentlich vor der Kamera aufgebaut sind wie beim Photographen.“ Und in der Tat, wenn man nach einem Vorläufer von Orson Welles sucht, ist das weder Louis Lumière noch Zecca4, sondern Jean Renoir. Bei Renoir entspricht die Suche nach der Komposition in der Bildtiefe einer teilweisen Verdrängung der Montage, an deren Stelle häufige [102] Schwenks und Auftritte ins Bild hinein treten. Sie setzt die Respektierung der Einheit des Ortes und natürlich der Dauer des Geschehens voraus.

Für jeden, der sehen kann, liegt es auf der Hand, daß die Plansequenzen von Welles in The Magnificent Ambersons kein passives „Registrieren“ einer im gleichen Bildausschnitt aufgenommenen Handlung sind; im Gegenteil ist die Weigerung, das Geschehen zu zerstückeln, seinen dramatischen Gehalt in der Zeit zu analysieren, ein positives Verfahren, dessen Wirkung der des klassischen Schnitts überlegen ist.

Es genügt, zwei Schärfentiefenphotogramme zu vergleichen, eines von 1910 und das andere aus einem Welles- oder Wyler-Film, um allein durch die Betrachtung des Einzelbilds, sogar losgelöst vom Film, zu begreifen, daß sie völlig verschiedene Funktionen haben. Die Kadrierung von 1910 ist praktisch identisch mit dem der im Theater fehlenden vierten Wand oder, bei Außenaufnahmen, zumindest mit dem besten Blick auf das Geschehen, während das zweite Bild durch Dekor, Lichtgestaltung und Kamerawinkel eine ganz andere Art von Lesbarkeit verliehen erhält. Regisseur und Kameramann haben auf der Leinwandoberfläche ein dramatisches Schachbrett arrangiert, auf dem jedes Detail zählt. Die deutlichsten, vielleicht sogar originellsten Beispiele dafür finden sich in Wylers The Little Foxes (Die kleinen Füchse), dessen Regiestil die Strenge einer Konstruktionszeichnung hat (bei Welles macht die barocke Überladenheit die Analyse komplexer). Ein Gegenstand ist im Verhältnis zu den Personen so plaziert [sic], daß dem Zuschauer seine Bedeutung nicht entgehen kann. Die Montage hätte diese Bedeutung nur in der Abfolge von einzelnen Einstellungen darstellen können.

Mit anderen Worten: Der moderne Regisseur verzichtet mit den in Schärfentiefe gedrehten Plansequenzen nicht auf die Montage — wie könnte er auch, ohne ins Stottern der Anfänge zu verfallen –, er integriert die Montage in seine Gestaltung. Bei Welles oder Wyler ist die Erzählung nicht weniger explizit als bei John Ford, doch sie ist diesem insofern voraus, als sie nicht auf die besonderen Effekte verzichtet, die der räumlichen und zeitlichen Einheit des Bildes abzugewinnen sind. Es ist durchaus nicht gleichgültig (zumindest nicht in einem Werk, das seinen Stil gefun[103]den hat), ob ein Ereignis in Bruchstücken analysiert oder in seiner physischen Einheit wiedergegeben wird. Natürlich wäre es absurd, die bedeutenden Fortschritte zu leugnen, welche die Filmsprache der Montage verdankt, doch sie wurden auf Kosten anderer, nicht weniger spezifisch filmischer Eigenschaften erzielt.

Deshalb ist die Schärfentiefe nicht nur eine Mode des Kameramanns wie die Verwendung von Filtern oder ein bestimmter Beleuchtungsstil, sondern eine wesentliche Errungenschaft der Mise-en-scène: ein dialektischer Fortschritt in der Geschichte der Filmsprache.

Und es handelt sich nicht nur um einen Fortschritt in der Form! Richtig eingesetzt, ist die Schärfentiefe nicht nur eine ökonomischere, einfachere und subtilere Art, ein Geschehen zur Geltung zu bringen; mit den Strukturen der Filmsprache beeinflußt sie auch die intellektuelle Beziehung des Zuschauers zum Bild und damit den Sinn des Schauspiels.

Die psychologische Beschaffenheit dieser Beziehung oder gar ihre ästhetischen Konsequenzen zu untersuchen, geht über das Ziel dieses Artikels hinaus; einige allgemeine Feststellungen mögen genügen:

1. Die Schärfentiefe versetzt den Zuschauer in eine Beziehung zum Bild, die derjenigen, die er zur Realität hat, viel näher ist. Zu Recht kann man also sagen, daß die Struktur des Bildes, unabhängig von seinem Inhalt, realistischer ist.

2. Daher setzt sie ein aktiveres Mitdenken voraus, fordert sogar einen aktiven Beitrag des Zuschauers zur Mise-en-scène. Während er bei der analytischen Montage sich nur der Führung überlassen muß und seine eigene Aufmerksamkeit in der des Regisseurs aufgeht, der für ihn auswählt, was et sehen soll, ist hier ein Minimum an persönlicher Auswahl erforderlich. Ob das Bild einen Sinn erhält, hängt zum Teil von der Aufmerksamkeit und dem Willen des Zuschauers ab.

3. Aus diesen beiden eher psychologischen Behauptungen leitet sich eine dritte ab, die man metaphysisch nennen könnte:

Ihrem Wesen nach setzt die Montage bei ihrer Realitätsanalyse einen eindeutigen Sinn des dramatischen Geschehens voraus. Sicher wäre eine [104] andere Art der Analyse möglich gewesen, doch dann wäre ein anderer Film entstanden. Kurz, die Montage eignet sich grundsätzlich und gemäß ihrer Natur nicht dazu, Mehrdeutigkeit ausdrücken [sic]. Das Experiment von Kuleschow führt dies vor, wenn dem Gesichtsausdruck jedesmal eine präzise Bedeutung zugeschrieben wird, wobei absurderweise gerade die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks diese drei aufeinanderfolgenden, für sich jeweils eindeutigen Interpretationen ermöglicht.

Die Schärfentiefe hingegen führt die Mehrdeutigkeit wieder in die Struktur des Bildes ein, zwar nicht notwendigerweise (die Filme Wylers sind kaum mehrdeutig), aber als Möglichkeit. Deshalb ist es keine Übertreibung zu sagen, Citizen Kane definiere sich einzig und allein in der Schärfentiefe. Die Ungewißheit, in der man zurückbleibt, was den geistigen Schlüssel oder die Interpretation betrifft, ist zuallererst in den Aufbau der Bilder selbst eingeschrieben.

Nicht daß Welles sich den Rückgriff auf die Ausdrucksmittel der Montage überhaupt versagte, doch gerade ihre sporadische Verwendung zwischen den in Schärfentiefe gedrehten „Plansequenzen“ verleiht ihnen einen neuen Sinn. Früher bildete die Montage das eigentliche Material des Films, das Grundgewebe des Drehbuchs. In Citizen Kane steht dem Kontinuum einer in einer einzigen Aufnahme wiedergegebenen Szene eine Abfolge von Überblendungen als eine andere, ausdrücklich abstrakte Erzählform gegenüber. Anders jedoch als die Beschleunigungsmontage, die mit zeitlichen und räumlichen Tricks arbeitete, versucht Welles‘ Montage nicht, uns zu täuschen, sie wirkt im Gegenteil, vergleichbar dem französischen Imperfekt oder dem englischen Frequentativ, wie ein Kondensat von Zeit. So fand neben der „Beschleunigungsmontage“ und der „Attraktionsmontage“ auch die Überblendung, die im Tonfilm seit zehn Jahren nicht mehr verwendet worden war, im Verhältnis zum Zeitrealismus eines Kinos, das im wesentlichen ohne Montage auskommt, neue Einsatzmöglichkeiten. Wir haben uns deshalb ausführlicher mit Orson Welles beschäftigt, weil sein Erscheinen am Filmfirmament (1941) ziemlich genau den Beginn einer neuen Ära markiert und er selbst noch in seinen Exzessen der aufschlußreichste und spektakulärste Fall ist. Doch Citizen Kane ist Teil einer umfassenden Bewegung, die das Kino in sei[105]nen Grundlagen erschütterte, Zeugnis für die Revolution der Sprache, die auf die eine oder andere Weise überall stattfand.

Auch im italienischen Kino ließe sich, wenn auch auf anderen Wegen, eine Bestätigung dafür finden. Mit Filmen wie Paisà (Paisa) und Germania anno zero (Deutschland im Jahre Null) von Roberto Rossellini und Ladri di biciclette (Fahrraddiebe) von Vittorio De Sica, die auf jeden Expressionismus und ganz besonders auf alle Montage-Effekte verzichten, stellt sich der italienische Neorealismus gegen alle vorangegangenen Formen realistischen Kinos. Wie Welles und trotz der stilistischen Gegensätze zu ihm ist der Neorealismus bestrebt, dem Kino den Sinn für die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit zurückzugeben. So bemüht sich Rossellini bei den Aufnahmen des Kindergesichts in Germania [106] Anno zero mit großer Sorgfalt, ganz im Gegensatz zu Kuleschow bei den Großaufnahmen von Mosjoukine, das Geheimnis dieses Gesichts zu wahren. Daß die Entwicklung des Neorealismus sich nicht zuerst in irgendwelchen revolutionären Techniken der filmischen Auflösung wie in Amerika ankündigt, soll uns nicht in die Irre führen. Man kann auf verschiedenen Wegen dasselbe Ziel erreichen. Die Methoden von Rossellini und De Sica sind weniger spektakulär, aber auch ihr Ziel ist es, die Montage auf ein Minimum zu reduzieren, die Wirklichkeit in ihrer tatsächlichen Kontinuität auf die Leinwand zu bringen. Zavattini träumt von nichts anderem, als neunzig Minuten aus dem vollkommen ereignislosen Leben eines Mannes zu filmen! Und in La terra trema (Die Erde bebt), einem fast nur aus Plansequenzen bestehenden Film, der das Geschehen in seiner Gesamtheit mittels Schärfentiefe und sehr langer Schwenks zu erfassen versucht, gibt der größte „Ästhet“ unter den Neorealisten, Luchino Visconti, das Grundanliegen seiner Kunst so deutlich zu erkennen wie Welles.

Doch wir können hier nicht alle Filme Revue passieren lassen, die an der Weiterentwicklung der Filmsprache seit 1940 beteiligt waren. An dieser Stelle wollen wir versuchen, unsere Überlegungen zusammenzufassen. In diesen letzten zehn Jahren wurden bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet filmischen Ausdrucks gemacht. Wenn wir die insbesondere von Erich von Stroheim, Murnau, Flaherty und Dreyer vertretene Richtung des Stummfilms seit 1930 außer acht gelassen zu haben scheinen, so war das Absicht. Nicht etwa, daß ich der Meinung wäre, sie sei mit dem Tonfilm obsolet geworden. Ganz im Gegenteil halte ich sie für die fruchtbarste Ader des sogenannten stummen Kinos, eine Richtung, die, gerade weil ihre Ästhetik nicht an die Montage gebunden war, als einzige im Realismus des Tons eine natürliche Weiterentwicklung sah. Doch der Tonfilm zwischen 1930 und 1940 hat ihr fast nichts zu verdanken, mit der rühmlichen und, im Rückblick gesehen, prophetischen Ausnahme von Jean Renoir, des einzigen Regisseurs, der sich in seinen Arbeiten bis zu La règle du jeu bemühte, unabhängig von den Mitteln der Montage das Geheimnis einer filmischen Erzählform wiederzufinden, die alles ausdrücken kann, ohne die Welt zu zerstückeln, und den Sinn hinter den [107] Dingen und Lebewesen herauszuarbeiten vermag, ohne deren natürliche Einheit zu zerstören.

Doch geht es hier nicht darum, das Kino der Jahre 1930 bis 1940 in Mißkredit zu bringen; die Existenz einer Reihe von Meisterwerken würde einen solchen Versuch von vornherein scheitern lassen. Ich möchte lediglich die Vorstellung eines dialektischen Prozesses festhalten, der in den vierziger Jahren am ausgeprägtesten war. Zwar bedeutete der Ton für eine bestimmte Ästhetik der Filmsprache den Tod, doch nur für die, die sich am weitesten von der realistischen Bestimmung des Films entfernt hatte. Von der Montage hingegen bewahrte der Tonfilm das Wesentliche: die [108] diskontinuierliche Beschreibung und die dramatische Analyse des Geschehens. Er verzichtete auf Metaphern und Symbolik, um sich mit allen Kräften um den Eindruck objektiver Wiedergabe zu bemühen. Expressive Montagetechniken sind nahezu vollständig verschwunden, doch der um 1937 vorherrschende vergleichsweise realistische Stil der filmischen Auflösung implizierte eine Einschränkung, die in der Natur der Sache lag und die wir nicht wahrnahmen, solange die behandelten Sujets ihr vollkommen entsprachen. So erreichte die amerikanische Komödie ihre Vollkommenheit mit Hilfe einer Schnittechnik, für die zeitlicher Realismus keinerlei Rolle spielt. Von Grund auf logisch wie das Vaudeville und das Wortspiel, in ihrem moralischen und soziologischen Gehalt völlig konventionell, konnte die amerikanische Komödie von der strengen, linearen Deskriptivität und dem Rhythmus der klassischen Auflösung nur profitieren.

Seit etwa zehn Jahren knüpft der Film mehr oder weniger bewußt wieder an die Richtung von Stroheim bis Murnau an, die zwischen 1930 und 1940 fast ganz aufgegeben worden war. Aber er setzt sie nicht einfach fort; er findet in ihr das Geheimnis einer Wiedergeburt realistischen Erzählens, das imstande ist, die wirkliche Zeit der Dinge, die Dauer des Geschehens in sich aufzunehmen, die der klassische Filmschnitt klammheimlich durch eine intellektuelle, abstrakte Zeit ersetzt hatte. Weit davon entfernt, die Errungenschaften der Montage völlig aufzugeben, verleiht er ihnen im Gegenteil Verhältnismäßigkeit und Sinn. Nur weil das Bild realistischer wird, sind abstrakte Zusätze möglich. Das stilistische Repertoire eines Regisseurs wie Hitchcock zum Beispiel reicht von der Kraft des rein Dokumentarischen bis zu Doppelbelichtungen und Detailaufnahmen. Doch Hitchcocks Großaufnahmen sind nicht die von Cecil B. De Mille in The Cheat (Das Brandmal der Rache). Bei ihm sind sie nur eines von zahlreichen Stilmitteln. Mit anderen Worten, zur Zeit des Stummfilms beschwor die Montage, was der Regisseur sagen wollte, 1938 beschrieb der Schnitt, und heute schließlich, könnte man sagen, schreibt der Regisseur unmittelbar auf Film. Das Bild – seine äußere Struktur, seine Organisation in der Zeit – verfügt, weil es sich auf einen größeren Realismus stützt, über sehr viel mehr Mittel, die Wirklichkeit zu beugen und von in[109]nen her zu verändern. Der Filmemacher ist nicht mehr nur ein Konkurrent des Malers und des Dramatikers, sondern steht endlich auch gleichberechtigt neben dem Romanautor.

1951/1952/1955

[306] (XX. DER FILMISCHE REALISMUS UND DIE ITALIENISCHE SCHULE) […]

Ästhetizismus, Realismus und Wirklichkeit

Die Aktualität des Drehbuchs, die Wahrhaftigkeit des Darstellers liefern jedoch erst das Rohmaterial zu einer Ästhetik des italienischen Films.

Man sollte sich hüten, ästhetisches Raffinement irgendeiner rohen, unmittelbaren Wirkung eines Realismus gegenüberzustellen, der sich damit begnügt, die Wirklichkeit zu zeigen. Meiner Meinung nach ist es ein Hauptverdienst des italienischen Films, einmal mehr daran erinnert zu haben, daß es in der Kunst nie einen „Realismus“ gab, der nicht zuallererst und zutiefst „ästhetisch“ war. Man ahnte es zwar, vergaß es aber lieber nach der Hetzkampagne gegen jene Künstler, die im Verruf stehen, einen Pakt mit dem Dämon des L‘art pour l'art geschlossen zu haben. In der Kunst gehört das Reale genauso wie das Imaginäre ausschließlich dem Künstler, Fleisch und Blut der Wirklichkeit lassen sich nicht leichter in den Netzen von Literatur oder Film einfangen als die willkürlichsten Phantasien. Mit anderen Worten, selbst wenn sich Ideenreichtum und Komplexität der Formen nicht mehr direkt auf den Inhalt des Werkes auswirken, haben sie doch weiterhin Einfluß auf die Wirksamkeit der Mittel. Weil der sowjetische Film dies ein wenig zu sehr aus den Augen verlor, ist er innerhalb von zwanzig Jahren in der Gruppe der großen Filmländer vom ersten auf den letzten Rang gerutscht. Wenn Bronenosez Potjomkin das Kino revolutionierte, so nicht nur wegen seiner politischen Botschaft, nicht einmal weil er die Studiokulissen durch reale Schauplätze und den Star durch die anonyme Masse ersetzte, sondern weil Eisenstein der größte Montage-Theoretiker seiner Zeit war; weil er mit Tissé, dem besten Kameramann der Welt, arbeitete; weil Rußland das Zentrum der Filmtheorie war; mit einem Wort: weil die „realistischen“ Filme, die es hervorbrachte, weit mehr ästhetisches Bewußtsein erkennen [307] ließen als Dekor, Licht und Schauspielkunst der artifiziellsten Werke des deutschen Expressionismus.

Dasselbe gilt heute für den italienischen Film. Sein Realismus führt keineswegs zu einem ästhetischen Rückschritt, sondern bewirkt im Gegenteil einen Fortschritt der Ausdrucksfähigkeit, eine triumphale Weiterentwicklung der Sprache des Films und eine Erweiterung seiner stilistischen Möglichkeiten.

Zunächst muß man genau betrachten, wo das Kino heute steht. Seit dem Ende der expressionistischen Irrlehre und vor allem seit Beginn des Tonfilms läßt sich auf der Leinwand eine deutliche Tendenz zum Realismus [308] erkennen. Grob gesagt, will der Film dem Zuschauer eine möglichst perfekte Illusion der Wirklichkeit verschaffen, unter Berücksichtigung der logischen Erfordernisse der filmischen Handlung und der neuesten technischen Möglichkeiten. Damit steht das Kino deutlich im Widerspruch zur Dichtung, zur Malerei und zum Theater und nähert sich immer mehr dem Roman. Ich habe nicht die Absicht, dieses ästhetische Grundanliegen des modernen Films hier in seinen technischen, psychologischen und ökonomischen Voraussetzungen zu erklären. Man möge mir nachsehen, wenn ich dies einfach als gegebene Tatsache hinstelle, ohne deshalb im voraus über die innere Bedeutung dieser Entwicklung oder ihren endgültigen Charakter zu urteilen. Doch natürlich basiert der Realismus in der Kunst ausschließlich auf artifiziellen Methoden. Jede Ästhetik muß zwangsläufig eine Auswahl treffen zwischen dem zu Bewahrenden, dem zu Verwerfenden und dem, was verlorengehen kann; tritt sie aber, wie der Film es tut, mit dem Anspruch an, eine Illusion der Wirklichkeit zu erzeugen, so steht das in einem grundsätzlichen, zugleich inakzeptablen und notwendigen Widerspruch zum Auswählen. Notwendig, weil die Kunst nur durch diese Auswahl existiert. Ohne sie würden wir – angenommen, der totale Film sei schon heute technisch möglich – schlicht und einfach zur Realität zurückkehren. Inakzeptabel, weil die Auswahl letzten Endes auf Kosten jener Wirklichkeit geht, die das Kino doch vollständig wiedergeben möchte. Es wäre also wenig sinnvoll, grundsätzlich jede technische Neuerung abzulehnen, welche darauf zielt, den Realismus im Film zu verstärken: Ton, Farbe, 3-D. Tatsächlich lebt die Film-„Kunst“ gerade von diesem Widerspruch, sie nutzt die Möglichkeiten der Abstraktion und der Symbolik, die ihr die temporären Grenzen des Kinos bieten, so gut sie kann. Doch der Einsatz dieses Restbestands an Konventionen, den der technische Fortschritt verschonte, kann sowohl zum Nutzen als auch zum Schaden des Realismus eingesetzt werden; er kann die Wirkung der von der Kamera eingefangenen Realitätspartikel verstärken oder neutralisieren. Man kann die verschiedenen Filmstile nach dem Grad ihres Realitätsgewinns klassifizieren, wenn nicht gar hierarchisieren. Als realistisch werden wir also jedes System von Ausdrucksformen und jedes Erzählverfahren bezeichnen, das tendenziell mehr Wirklichkeit auf [309] die Leinwand zu bringen sucht. „Wirklichkeit“ darf natürlich nicht quantitativ verstanden werden. Ein und dasselbe Ereignis, ein und derselbe Gegenstand kann auf mehrere, unterschiedliche Arten dargestellt werden. Jede von ihnen läßt einige der Eigenschaften weg und rettet andere, an denen wir den Gegenstand auf der Leinwand wiedererkennen, jede von ihnen führt zu didaktischen oder ästhetischen Zwecken mehr oder weniger zersetzende Abstraktionen ein, die vom Original nicht alles vollständig bewahren. Am Ende dieses unvermeidlichen, notwendigen chemischen Prozesses steht anstelle der ursprünglichen Wirklichkeit eine Illusion der Wirklichkeit, die sich aus einer Mischung von Abstraktion (das Schwarzweißbild, die Zweidimensionalität), Konvention (die Gesetze der Montage zum Beispiel) und authentischer Realität zusammensetzt. Diese Illusion ist notwendig, doch sie führt schnell dazu, daß man das Bewußtsein für die eigentliche Wirklichkeit verliert, die im Kopf des Zuschauers eins wird mit ihrer filmischen Darstellung. Hat der Regisseur diese unbewußte Komplizenschaft des Publikums einmal gewonnen, ist die Versuchung groß, die Wirklichkeit mehr und mehr zu vernachlässigen. Gewohnheit und Trägheit tragen dazu bei, daß er bald selbst nicht mehr deutlich unterscheidet, wo seine Lügen anfangen und aufhören. Es kann nicht darum gehen, ihm vorzuwerfen, daß er lügt, denn die Lüge ist grundlegender Bestandteil seiner Kunst, wohl aber, daß er die Lüge nicht mehr beherrscht und selbst darauf hereinfällt und so jede neue Eroberung von Realität verhindert.

Von Citizen Kane zu Farrebique

In den letzten Jahren hat die Ästhetik des Films sich sehr stark zum Realismus hin entwickelt. Die beiden Ereignisse, die in dieser Hinsicht die Filmgeschichte seit 1940 unstreitig am deutlichsten kennzeichnen, waren Citizen Kane und Paisà. Beide haben den Realismus einen entscheidenden Schritt vorangebracht, wobei sie ganz verschiedene Wege einschlugen. Wenn ich an dieser Stelle Orson Welles‘ Film ins Gedächtnis zurückrufe, bevor ich den Stil der italienischen Filme analysiere, dann deshalb, weil sich an Citizen Kane die Richtung dieses Stils besonders [310] gut verdeutlichen läßt. Orson Welles hat die filmische Illusion um eine wesentliche Eigenschaft des Realen bereichert: die Kontinuität. Der klassische Filmschnitt, der auf Griffith zurückgeht, zerlegte die Wirklichkeit in aufeinanderfolgende Einstellungen, die lediglich aus einer Abfolge von logischen oder subjektiven Blickwinkeln auf das Geschehen bestanden. Ein Mensch, eingesperrt in einem Zimmer, wartet, daß ihn der Henker holen kommt. Angsterfüllt starrt er auf die Tür. Unfehlbar wird der Regisseur in dem Moment, da der Henker eintritt, eine Großaufnahme des sich langsam drehenden Türknaufs zeigen; diese Großaufnahme hat ihre psychologische Begründung in der extremen Anspannung, mit der das Opfer dieses äußere Zeichen seiner Not erwartet. Eine derartige Folge von Einstellungen – konventionelle Analyse einer kontinuierlichen Wirklichkeit – ist es, die die aktuelle Filmsprache definiert.

Der Schnitt führt also zu einer deutlichen Abstraktion innerhalb der Wirklichkeit. Diese Abstraktion ist, da wir völlig daran gewöhnt sind, als solche nicht mehr spürbar. Orson Welles‘ revolutionäre Neuerung liegt in der Verwendung einer vorher nicht üblichen Bildtiefe. Während bei der klassischen Kameraführung das Objektiv nacheinander auf verschiedene Stellen der Szene scharfgestellt wird, erfaßt es bei Orson Welles mit gleicher Schärfe den gesamten visuellen Raum, der damit zugleich zum dramatischen Raum wird. Nicht mehr der Schnitt wählt für uns die Sache aus, die wir sehen sollen, und verleiht dieser dadurch a priori Bedeutung, sondern der Zuschauer selbst wird gezwungen, in dieser Art Parallelepiped4 kontinuierlicher Realität, dessen Schnittfläche die Leinwand bildet, das besondere dramatische Spektrum der Szene zu erkennen. Citizen Kane verdankt seinen Realismus also der intelligenten Anwendung eines spezifischen technischen Fortschritts. Dank der Schärfentiefe des Objektivs hat Orson Welles der Realität ihre wahrnehmbare Kontinuität zurückgegeben.

Wir sehen also, um welche Elemente der Wirklichkeit das Kino reicher geworden ist; in anderer Hinsicht hat es sich aber ebenso offensichtlich von der Wirklichkeit entfernt oder ist ihr zumindest nicht näher gekommen als die klassische Ästhetik. Indem er es sich aufgrund der Komplexität seiner Technik versagt, gerade auf die natürlichen Elemente der [311] Wirklichkeit, also auf Originalschauplätze, Außenaufnahmen,5 natürliches Licht und Laiendarsteller zurückzugreifen, verzichtet Orson Welles zugleich auch auf die absolut unnachahmlichen Eigenschaften des authentischen Dokuments, die, ebenfalls Teil der Wirklichkeit, genauso einen „Realismus“ begründen können. Als das genaue Gegenteil zu Citizen Kane ließe sich Farrebique einordnen, wo der systematische Vorsatz, nichts außer natürlichem Rohmaterial zu verwenden, wiederum Rouquier ins Hintertreffen geraten ließ, was die technische Perfektion angeht.

Die realistischste aller Künste teilt also doch deren gemeinsames Los. Sie kann nicht die ganze Wirklichkeit einfangen, ein Zipfel entwischt ihr immer. Gewiß kann der technische Fortschritt bei richtigem Einsatz die Maschen des Netzes enger knüpfen, doch man wird sich immer zwischen der einen oder der anderen Wirklichkeit entscheiden müssen. Mit der Kamera ist es ein wenig so wie mit der Empfindlichkeit der Netzhaut. Farbe und Lichtintensität werden nicht von denselben Nervenenden registriert; die Dichte der einen steht gewöhnlich im umgekehrten Verhältnis zu der der anderen; Tiere, die in der Nacht ihre Beute mit größter Sicherheit ausmachen, sind dafür fast farbenblind.

Zwischen den sich eigentlich widersprechenden, aber dennoch in gleichem Maße puren Formen des Realismus, wie sie Farrebique auf der einen und Citizen Kane auf der anderen Seite verkörpern, sind natürlich viele Mischformen möglich. Der Rest an Realitätsverlust, den jede Entscheidung für einen bestimmten „Realismus“ mit sich bringt, erlaubt es zudem dem Künstler in vielen Fällen, mit Hilfe konventioneller ästhetischer Mittel die Lücke zu füllen und so die Wirkung der gewählten Realismusform zu steigern. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist eben das neuere italienische Kino. Mangels technischer Ausrüstung waren die Regisseure gezwungen, Geräusche und Dialoge im nachhinein aufzunehmen: ein Verlust an Realismus. Doch da sie nun frei waren, ohne Rücksicht auf das Mikrophon mit der Kamera zu spielen, machten sie sich diesen Umstand zunutze und vergrößerten den Spielraum und die Beweglichkeit der Kamera: Sofort stieg der Wirklichkeitskoeffizient an.

Die technische Perfektionierung, die es ermöglichen wird, andere At[312]tribute der Realität zu erobern – etwa Farbe und Dreidimensionalität –, wird den Abstand zwischen den beiden Polen des Realismus, die heute ziemlich genau bei Farrebique und Citizen Kane liegen, im übrigen nur noch vergrößern. Die Qualität von Studioaufnahmen wird immer abhängiger werden von einem komplizierten, empfindlichen und sperrigen Apparat. Man wird der Wirklichkeit immer einen Teil der Wirklichkeit opfern müssen.

[...] [391] XXVI. PLÄDOYER FÜR ROSSELLINI

Brief an Guido Aristarco, Chefredakteur von „Cinema Nuovo“

Mein lieber Aristarco,

schon seit langem will ich diesen Artikel schreiben und schiebe es wegen der Bedeutung des Problems und seiner zahlreichen Auswirkungen von Monat zu Monat vor mir her. Außerdem ist mir bewußt, daß ich im Vergleich zu dem Ernst und der Ausdauer, mit denen die linke italienische Kritik den Neorealismus studiert und vertieft, theoretisch nur unzureichend gerüstet bin. Auch wenn ich den italienischen Neorealismus vom Moment seines Erscheinens in Frankreich an begrüßt und, wie ich meine, nicht aufgehört habe, ihm seitdem unermüdlich den besten Teil meiner kritischen Aufmerksamkeit zu widmen, kann ich nicht den Anspruch erheben, Ihrer Theorie eine kohärente eigene gegenüberzustellen und das Phänomen des Neorealismus so vollkommen wie Sie in die italienische Kulturgeschichte einzuordnen. Wenn Sie außerdem bedenken, daß ich riskiere, mich lächerlich zu machen, wenn ich den Italienern eine Lektion über ihr eigenes Kino erteilen wollte, so haben Sie die hauptsächlichen Gründe, warum ich nicht früher auf Ihren Vorschlag geantwortet habe, in Cinema Nuovo die kritischen Positionen zu diskutieren, die Sie und Ihre Mitarbeiter zu einigen neueren Filmen formuliert haben.

Bevor ich zur Sache komme, möchte ich Sie daran erinnern, daß selbst unter Kritikern derselben Generation, die sich sonst in allem so nahezustehen scheinen, häufig internationale Divergenzen zu beobachten sind. Diese Erfahrung haben wir, d. h. die Cahiers du cinéma, beispielsweise mit den Kollegen von Sight and Sound1 gemacht, und ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß Lindsay Andersons Hochachtung für Jacques Beckers Casque d'or (Goldhelm), der in Frankreich ein Mißerfolg war, mich dazu veranlaßte, meine eigene Meinung noch einmal zu überprüfen und die verborgenen Qualitäten dieses Films zu entdecken, die mir entgangen [392] waren. Natürlich geht das Urteil eines Ausländers bisweilen auch fehl, weil er den Kontext der Produktion nicht kennt oder ihn mißversteht. So beruht etwa der Erfolg, den manche Filme von Duvivier oder Pagnol außerhalb Frankreichs genießen, ganz offenbar auf einem Mißverständnis. Man bewundert in ihnen eine bestimmte Darstellung Frankreichs, die dem Ausländer wunderbar treffend erscheint, und hält diese Exotik für die eigentliche filmische Qualität des Films. Derartige Divergenzen sind natürlich vollkommen unfruchtbar, und ich nehme an, daß der Auslandserfolg gewisser italienischer Filme, für die Sie zu Recht nichts übrig haben, auf demselben Mißverständnis beruht. Doch ich glaube nicht, daß dies grundsätzlich auch für die Filme gilt, über die wir verschiedener Meinung sind, und sicher auch nicht für den Neorealismus im allgemeinen. Zunächst einmal werden Sie bestimmt zugeben, daß die französische Kritik nicht unrecht hatte, als sie die Filme, die heute diesseits und jenseits der Alpen unbestritten Italiens Ruhm ausmachen, zu Anfang weit enthusiastischer aufnahm als die italienische. Ich bin jedenfalls stolz darauf, einer der wenigen französischen Kritiker gewesen zu sein, die die Renaissance des italienischen Films immer mit dem „Neorealismus“ verknüpft sahen, selbst zu einer Zeit, als es zum guten Ton gehörte zu behaupten, dieses Wort bedeute gar nichts; und bis heute sehe ich in diesem Begriff die treffendste Bezeichnung für das Beste und Fruchtbarste innerhalb der italienischen Schule.

Doch eben deshalb bereitet mir die Art und Weise Sorgen, wie Sie das Wort verteidigen. Darf ich es wagen, lieber Aristarco, Ihnen zu sagen, daß die strengen Maßstäbe, die Cinema Nuovo anlegt, wenn es um gewisse Tendenzen geht, die Sie für Rückbildungserscheinungen des Neorealismus halten, mich befürchten lassen, daß Sie, ohne es zu merken, Ihr Kino gerade um das beschneiden, was daran am lebendigsten und reichsten ist? Ich selbst bewundere den italienischen Film nicht bedingungslos, und es gibt auch strenge Maßstäbe, die mir einleuchten, wenn sie aus Italien kommen. Daß beispielsweise der Erfolg von Pane, amore e gelosia (Liebe, Brot und Eifersucht) in Frankreich Sie irritiert, verstehe ich, es geht mir mit Duviviers Filmen über Paris ganz ähnlich. Wenn ich hingegen sehe, wie Sie am zerzausten Kopf Gelsominas2 kein gutes Haar lassen [393] oder den letzten Film von Rossellini behandeln, als sei er weniger als nichts, so muß ich zu dem Schluß kommen, daß Sie unter dem Deckmantel theoretischer Integrität dazu beitragen, die lebendigsten, vielversprechendsten Triebe dessen, was ich auch weiterhin Neorealismus nenne, im Keim zu ersticken.

Sie sagen, der relative Erfolg von Viaggio in Italia (Reise in Italien/ Liebe ist stärker) in Paris habe Sie erstaunt, vor allem die nahezu einhellige Begeisterung der französischen Kritik. Den Triumph von La Strada kennen Sie. Diese beiden Filme haben dem italienischen Kino, das in den letzten ein, zwei Jahren an Tempo verloren hatte, nicht nur das Interesse des Publikums, sondern auch die Hochachtung der Intellektuellen zur rechten Zeit neu verschafft. Der Fall liegt bei diesen beiden Filmen aus vielen Gründen anders. Weit entfernt, sie als Bruch mit dem Neorealismus oder gar als Rückentwicklung zu empfinden, vermochten wir in ihnen einen schöpferischen Erfindungsreichtum zu entdecken, der aber unmittelbar aus dem Geist der italienischen Schule stammt. Ich will zu erklären versuchen, warum.

Zunächst aber muß ich gestehen, daß mir eine Auffassung von Neorealismus widerstrebt, die ihn ausschließlich im Hinblick auf einen einzigen seiner gegenwärtigen Aspekte definiert und so die Möglichkeiten seiner künftigen Weiterentwicklungen a priori begrenzt. Vielleicht ist mein Denken dazu nicht theoretisch genug. Wahrscheinlich liegt es aber eher daran, daß ich darauf bedacht bin, der Kunst ihre natürliche Freiheit zu lassen. In Zeiten der Unfruchtbarkeit ist die Theorie ein Mittel, um die Ursachen dieser Dürre zu analysieren und die Bedingungen für eine Renaissance zu schaffen; wer jedoch das Glück hatte, die erstaunliche Blüte des italienischen Kinos in den letzten zehn Jahren mitzuerleben, begreift es vielleicht eher als Gefahr denn als Vorteil, mit theoretisch begründeten Ausschlüssen um sich zu werfen. Nicht, daß man nicht streng sein sollte; im Gegenteil, Anspruch und Strenge der Kritik scheinen mir nötiger denn je, doch sie sollten eher kommerzielle Kompromisse, Demagogie, das gesunkene Niveau der Ansprüche anprangern, als den schöpferischen Geist a priori in einen feststehenden ästhetischen Rahmen zu zwängen. Jedenfalls bin ich der Meinung, daß ein Regisseur, dessen ästhetisches [394] Ideal Ihren Auffassungen sehr nahe kommt, der aber bei seiner Arbeit prinzipiell davon ausgeht, daß er nur zehn oder zwanzig Prozent seiner Idealvorstellung in jedes der kommerziellen Drehbücher einbringen kann, die er verfilmt, nicht so verdienstvoll ist wie ein Regisseur, der so gut wie möglich die Filme dreht, in denen er seine Idealvorstellung voll verwirklichen kann, selbst wenn diese sich von Ihrer Auffassung von Neorealismus unterscheidet. Bei ersterem begnügen Sie sich damit, jenen Teil objektiv zu würdigen, der dem Kompromiß entgangen ist, und billigen ihm in Ihrer Kritik noch zwei Sterne zu, während Sie letzteren unwiderruflich in Ihre ästhetische Hölle verdammen.

Rossellini wäre in Ihren Augen wahrscheinlich weniger schuldig, wenn er statt Giovanna d'Arco al rogo oder La Paura (Angst) etwas gedreht hätte, was mit Stazione Termini (Rom, Station Termini) oder La spiaggia (Der Skandal) zu vergleichen wäre. Ich will hier den Regisseur von Europa '51 nicht zu Lasten Lattuadas und De Sicas verteidigen; bis zu einem gewissen Punkt, den ich hier nicht festlegen will, ist die Politik des Kompromisses zu verteidigen, doch ich finde, daß die Unabhängigkeit Rossellinis seinem Werk, was man auch sonst davon halten mag, eine stilistische Integrität und moralische Einheit verleiht, die im Kino allzu selten sind und mehr noch als Bewunderung vor allem Respekt abnötigen.

Aber ich will Rossellini gar nicht auf diesem methodologischen Feld zu verteidigen versuchen. Mein Plädoyer soll sich um den Kern der Diskussion drehen: Ist Rossellini tatsächlich je Neorealist gewesen, und ist er es noch? Daß er es war, scheinen Sie ihm zuzugestehen. Wie könnte man auch die entscheidende Rolle von Roma, città aperta und Paisà bei der Entstehung und Entwicklung des Neorealismus bestreiten? Doch Sie entdecken eine „Rückentwicklung“, die schon in Germania anno zero zuspüren gewesen und seit Stromboli und Francesco, giullare Di Dio (Franziskus, der Gaukler Gottes) ganz deutlich und in Europa '51 und Viaggio in Italia katastrophal geworden sei. Aber was genau bemäkelt man eigentlich an diesem ästhetischen Verlauf? Daß immer deutlicher die Bemühung um gesellschaftlichen Realismus, um eine Chronik der Gegenwart aufgegeben worden ist zugunsten einer zugegebenermaßen immer deutlicheren moralischen Botschaft, die man, je nachdem, wie [395] böswillig man ist, einer der beiden großen politischen Richtungen in Italien zurechnen kann. Ich weigere mich kategorisch, die Diskussion auf dieses allzu zweifelhafte Gebiet abgleiten zu lassen. Selbst wenn er Sympathien für die Christdemokraten hätte (wofür ich weder private noch öffentliche Zeugnisse kenne), wäre es doch deshalb nicht a priori ausgeschlossen, daß Rossellini als Künstler dem Neorealismus zuzurechnen ist. Aber lassen wir das. Trotzdem hat man natürlich das Recht, den moralischen oder geistigen Anspruch zu verwerfen, der in seinem Werk immer deutlicher zutage tritt, was aber nur dann auch für die Ästhetik, in der sich die Botschaft ausdrückt, Gültigkeit hätte, wenn Rossellinis Filme Thesenfilme wären, sich also auf die Dramatisierung vorgegebener Ideen beschränkten. Doch es gibt keinen italienischen Regisseur, bei dem man Absicht und Form weniger voneinander trennen könnte, und genau von diesem Punkt aus möchte ich den Neorealismus Rossellinis charakterisieren.

Wenn der Begriff einen Sinn hat – wie immer auch die Meinungsverschiedenheiten sein mögen, die sich aus seiner Interpretation ergeben können – und wenn man von einem Minimalkonsens über seine Bedeutung ausgeht, so scheint mir, daß der Neorealismus zunächst und grundsätzlich nicht nur traditionellen dramatischen Systemen, sondern auch den verschiedenen bekannten Aspekten des Realismus im Film wie in der Literatur widerspricht, indem er eine gewisse Globalität der Wirklichkeit geltend macht. Diese Definition, die mir zutreffend und praktisch erscheint, habe ich mir von Abbé A. Ayfre (vgl. Cahiers du cinéma Nr. 17)3 ausgeliehen. Der Neorealismus ist eine globale Beschreibung der Wirklichkeit durch ein globales Bewußtsein. Darunter verstehe ich, daß der Neorealismus sich von realistischen Ästhetiken, die ihm vorausgegangen sind, insbesondere vom Naturalismus und vom Verismus, dadurch unterscheidet, daß sein Realismus sich nicht so sehr auf die Themenwahl bezieht als vielmehr auf die geistige Haltung. Das Realistische an Paisà ist, wenn Sie so wollen, der italienische Widerstand, das Neorealistische hingegen Rossellinis Regie, die zugleich elliptische und synthetische Präsentation der Ereignisse. Um es noch anders auszudrücken: Der Neorealismus verweigert sich per Definition der Analyse der Figuren und ihres Handelns, sei diese politisch, moralisch, psychologisch, logisch, gesell[396]schaftlich oder was auch immer. Er betrachtet die Realität als einen vielleicht nicht unbegreiflichen, aber unteilbaren Block. Insbesondere deshalb ist der Neorealismus zwar nicht notwendigerweise gegen das Schauspielhafte (obwohl es ihm tatsächlich fremd ist), aber radikal antitheatralisch, denn das Spiel des Theaterschauspielers setzt eine psychologische Analyse der Gefühle und eine körperliche Expressivität voraus, die eine ganze Reihe moralischer Kategorien symbolisieren.

Was nicht heißen soll, der Neorealismus reduziere sich auf irgendeine Art von objektivem Dokumentarismus – ganz im Gegenteil. Rossellini sagt gern, sein Regiekonzept basiere auf der Liebe nicht nur zu seinen Figuren, sondern zur Wirklichkeit als solcher, und eben diese Liebe verbietet es ihm zu trennen, was die Wirklichkeit zusammengefügt hat: den Menschen und seine Umgebung. Der Neorealismus ist demnach keine Weigerung, Stellung zu beziehen oder ein Urteil über die Welt abzugeben, sondern er verlangt sogar eine geistige Haltung; es geht immer um die Wirklichkeit, gesehen durch die Augen eines Künstlers, gebrochen durch sein Bewußtsein – durch sein ganzes Bewußtsein indessen, nicht nur durch seinen Verstand oder seine Leidenschaft oder seinen Glauben – und dann aus den getrennten Elementen neu zusammengesetzt. Der traditionell realistische Künstler (Zola beispielsweise) analysiert die Wirklichkeit und führt sie dann in einer Synthese wieder zusammen, die seiner moralischen Weltanschauung entspricht, während das Bewußtsein des neorealistischen Regisseurs die Wirklichkeit filtert. Natürlich nimmt sein Bewußtsein, wie jedes Bewußtsein, nicht die ganze Wirklichkeit auf, doch seine Auswahl ist weder logisch noch psychologisch: Sie ist ontologisch in dem Sinn, daß das Bild von der Wirklichkeit, die uns wiedergegeben wird, global bleibt, auf dieselbe Art, um eine Metapher zu benutzen, wie eine Schwarzweißphotographie kein Bild ist, das die Wirklichkeit auseinandergenommen und „ohne Farbe“ wieder zusammengesetzt hat, sondern ein echter Abdruck des Wirklichen, eine Art Lichtgußform, auf der die Farbe nicht erscheint. Es gibt eine ontologische Übereinstimmung zwischen dem Gegenstand und seiner Photographie. Vielleicht kann ich mich durch ein Beispiel besser verständlich machen, das ich ganz bewußt Viaggio in Italia entnehme. Das Publikum ist von dem Film leicht ent[397]täuscht, weil Neapel dort nur unvollständig und fragmentarisch auftaucht. Diese Realität ist tatsächlich nur ein winziger Bruchteil von dem, was man zeigen könnte, doch das wenige, was man sieht – einige Statuen in einem Museum, schwangere Frauen, Ausgrabungen in Pompeji, ein Stück aus einer Prozession zu Ehren des Heiligen Januarius –, besitzt nichtsdestoweniger jenen globalen Charakter, der mir wesentlich erscheint. Es ist ein Neapel, das durch das Bewußtsein der Heldin „gefiltert“ ist, und wenn die Landschaft karg und begrenzt ist, dann deshalb, weil dieses durchschnittliche bürgerliche Bewußtsein selbst von seltener geistiger Armut ist. Dennoch ist das Neapel des Films nicht verfälscht (was in einem dreistündigen Dokumentarfilm durchaus passieren könn[398]te); es ist eine geistige Landschaft, die gleichzeitig die Objektivität der reinen Photographie und die Subjektivität des reinen Bewußtseins hat. Wir begreifen, daß die Haltung Rossellinis gegenüber seinen Figuren und ihrem geographischen und gesellschaftlichen Milieu auf einer tieferen Ebene die seiner Heldin gegenüber Neapel ist – mit dem Unterschied, daß sein Bewußtsein das eines äußerst gebildeten, meiner Meinung nach mit einer seltenen geistigen Vitalität begabten Künstlers ist.

Verzeihen Sie, daß ich mit einer Metapher fortfahre; ich bin kein Philosoph und kann mich nicht unmittelbarer verständlich machen, weshalb ich es mit einem weiteren Vergleich versuche. Von den Formen der klassischen Kunst und des traditionellen Realismus möchte ich behaupten, daß sie ihre Werke konstruieren, wie man ein Haus baut, mit Ziegeln und [399] Quadersteinen. Es geht nicht darum, den Nutzen der Häuser zu bestreiten, ihre mögliche Schönheit oder die vollkommene Eignung der Ziegelsteine zu diesem Zweck; worin man mir aber zustimmen wird, ist, daß die Wirklichkeit des Ziegelsteins weniger in seiner Zusammensetzung liegt als in seiner Form und seiner Widerstandsfähigkeit. Es käme einem nicht in den Sinn, ihn als ein Stück Lehm zu definieren, sein mineralischer Ursprung interessiert kaum, was zählt, ist, daß er paßt. Der Ziegelstein ist ein Bestandteil des Hauses. Das drückt sich schon in seiner Erscheinungsform aus. Die gleichen Überlegungen gelten beispielsweise auch für die Quadersteine, die eine Brücke bilden. Sie greifen auf vollkommene Weise ineinander, um den Bogen zu formen. Felsbrocken aber, die verstreut in einer Furt liegen, sind und bleiben Felsbrocken, deren steinerne Wirklichkeit es nicht berührt, daß ich mich ihrer bediene, um von Stein zu Stein hüpfend den Fluß zu überqueren. Wenn sie mir vorübergehend zum selben Zweck dienen wie die Brücke, so weil ich ihre zufällige Verfügbarkeit findig mit meiner Bewegung verbunden habe und ihnen dadurch provisorisch Sinn und Nutzen gab, ohne deshalb ihr Wesen und ihre Erscheinung zu verändern.

Auf dieselbe Art hat auch der neorealistische Film einen Sinn; jedoch erhält er ihn erst a posteriori, insoweit als er es unserem Bewußtsein ermöglicht, von einer Tatsache zur anderen zu springen, von einem Fragment der Wirklichkeit zum nächsten, während in der klassischen künstlerischen Komposition der Sinn a priori vorgegeben ist: Das Haus ist im Ziegelstein schon enthalten.

Wenn meine Analyse richtig ist, folgt daraus, daß der Begriff Neorealismus nie als Substantiv gebraucht werden sollte, es sei denn als Bezeichnung für die Gruppe der neorealistischen Regisseure. Der Neorealismus als solcher existiert nicht, es gibt nur neorealistische Regisseure, ob sie nun Materialisten, Christen, Kommunisten oder irgend etwas anderes sind. Visconti ist neorealistisch in La terra trema, der zur sozialen Revolte aufruft, und Rossellini ist neorealistisch in Francesco, giullare di Dio, der eine rein geistige Wirklichkeit veranschaulicht. Ich würde dieses Attribut nur dem verweigern, der, um mich zu überzeugen, trennt, was die Wirklichkeit vereint hat.

[400] Ich behaupte also, daß Viaggio in Italia neorealistisch ist, weit mehr als beispielsweise L'Oro di Napoli (Das Gold von Neapel), ein von mir sehr bewunderter Film, der sich jedoch eines psychologischen und subtil theatralischen Realismus bedient, trotz aller realistischen Formeln, die uns darüber hinwegtäuschen sollen. Ich würde noch weitergehen und behaupten, daß von allen italienischen Regisseuren Rossellini die neorealistische Ästhetik am weitesten vorangetrieben hat. Ich habe gesagt, es gebe keinen reinen Neorealismus. Die neorealistische Haltung ist ein Ideal, dem man mehr oder weniger nahe kommt. In allen als neorealistisch bezeichneten Filmen gibt es noch Spuren des traditionellen schau[401]spielhaften, dramatischen oder psychologischen Realismus. Man könnte sie auf folgende Weise analysieren: die dokumentarische Wirklichkeit plus etwas anderes, wobei dieses andere je nachdem die Schönheit der Bilder, das soziale Empfinden, Poesie, Komik usw. sein kann. Bei Rossellini wird man vergeblich versuchen, das Geschehen von der gesuchten Wirkung auf diese Art zu trennen. Bei ihm gibt es nichts Literarisches oder Poetisches, auch nichts „Schönes“ im gefälligen Sinn des Wortes: Er setzt nur Tatsachen in Szene. Seine Figuren sind wie verfolgt vom Dämon der Beweglichkeit, die kleinen Mönche des Heiligen Franziskus können Gott nur im Laufschritt lobpreisen. Und erst der entsetzliche Lauf des Jungen in den Tod in Germania anno zero! Denn für Rossellini ist die Geste, die Veränderung, die physische Bewegung die Quintessenz der menschlichen Wirklichkeit. Dazu gehört auch das Durchqueren von Dekors, von denen jedes seinerseits die Figur durchdringt. Das Universum Rossellinis ist ein Universum reiner, für sich genommen bedeutungsloser Handlungen, die auf die plötzliche, strahlende Offenbarung ihres Sinns vorbereiten, als habe nicht einmal Gott davon gewußt. So verhält es sich auch mit dem Wunder am Ende von Viaggio in Italia, das für die beiden Helden und praktisch auch für die Kamera unsichtbar und zudem zweifelhaft bleibt (denn Rossellini behauptet nicht, daß es ein Wunder ist, sondern zeigt nur das Geschrei und Gedränge um etwas, das man so nennt), dessen Kollision mit dem Bewußtsein der Figuren jedoch unvermittelt ihre Liebe neu entfacht. Niemand außer dem Autor von Europa '51, scheint mir, ist es gelungen, Ereignisse von einer derartig strengen, unbestechlichen und transparenten Struktur zu inszenieren, daß man darin nichts anderes als das Ereignis selbst erkennt. Ganz so, wie ein Körper im amorphen oder im kristallisierten Zustand auftreten kann. Es ist die Kunst Rossellinis, daß er den Tatsachen zugleich ihre dichteste und ihre eleganteste Struktur zu geben vermag; nicht die lieblichste, sondern die ausgeprägteste, unmittelbarste und schneidendste. Durch ihn findet der Neorealismus auf vollkommen natürliche Weise wieder zu Stil und Mitteln der Abstraktion. Das Reale zu respektieren, heißt eben nicht, Erscheinungsformen anzuhäufen, sondern es im Gegenteil von allem zu entkleiden, was nicht das Wesentliche ist, es bedeutet, in der Einfachheit zur [402] Gesamtheit zu gelangen. Die Kunst Rossellinis ist gleichsam linear und melodisch. Es stimmt, manche seiner Filme erinnern an eine Skizze, der Strich deutet eher an, als daß er malt. Doch darf man einen derart sicheren Strich als Armut oder Faulheit auslegen? Das müßte man dann auch Matisse vorwerfen. Vielleicht ist Rossellini tatsächlich eher Zeichner als Maler, eher Novellenschreiber als Romanautor, doch es gibt keine Rangordnung zwischen den Kunstgattungen, es gibt sie nur zwischen den Künstlern.

Ich hoffe nicht, mein lieber Aristarco, Sie überzeugt zu haben. Man überzeugt überhaupt nur selten mit Argumenten. Die Überzeugung, die dahinter steckt, zählt oft mehr. Ich wäre schon glücklich, wenn die meine, in der Sie auch das Echo der Bewunderung einiger meiner Kritikerfreunde für Rossellini wiederfinden, die Ihre zumindest ein wenig ins Wanken bringen könnte.

1955

1 (Ab hier Anmerkungen zu I. Ontologie des photographischen Bildes) Pascal, Gedanken 705, Basel: Verlag Schibli-Doppler, S. 341. (A. d. Hg.)

2 Malraux, André, „L’Esquise d’une psychologie du cinéma“, 1940 in der Zeitschrift Verve veröffentlichter Aufsatz, in dem er die Parallelen zwischen Film und modernem Roman aufzeigte; 1947 zum Buch erweitert bei Gallimard erschienen. Dt. „Versuch einer Psychologie des Films“, in: Joseph Rovan (Hg.) DOK 50, Sondernummer Film und Kultur, Stuttgart: Blüchert-Verlag 1950, S. 2-7. (A. d. Hg.)

3 Dem französischen Erfinder Joseph Nicéphore Niepce (1765-1833) gelang es 1816 als erstem, auf einer lichtempfindlichen Platte in der Camera Obscura ein Abbild der Natur herzustellen. (A. d. Hg.)

4 Es wäre interessant, unter diesem Gesichtspunkt in den Illustrierten zwischen 1890 und 1910 die Konkurrenz zwischen der noch in ihren Anfängen steckenden Photoreportage und der Zeichnung zu verfolgen. Letztere befriedigte vor allem das barocke Bedürfnis nach Dramatik (siehe Le Petit Journal Illustré). Der Sinn für das photographische Dokument hat sich nur nach und nach entwickelt. Im übrigen ist, nach einer gewissen Übersättigung, die Rückkehr zu dramatischen Zeichnungen vom Typ Radar festzustellen.

5 Vielleicht sollte besonders die kommunistische Kritik, statt dem Ausdruck von Realismus in der Malerei soviel Bedeutung zuzumessen, aufhören über die Malerei zu reden, wie man es vielleicht im 18. Jahrhundert, vor der Erfindung von Photographie und Film, hätte tun können. Vielleicht spielt es keine Rolle, daß die Malerei in Sowjetrußland schlecht ist, solange dort gute Filme gemacht werden: Eisenstein ist ihr Tintoretto. Dagegen spielt es sehr wohl eine Rolle, wenn Aragon uns einreden will, ihr Tintoretto sei Repin.

6 In diesem Zusammenhang sollte man indes die Psychologie kunsthandwerklicher Skulpturgattungen wie die der Totenmasken untersuchen, bei deren Reproduktionen gleichfalls ein gewisser Automatismus eine Rolle spielt. In diesem Sinn ließe sich die Photographie als ein mit Hilfe des Lichts genommener Abguß oder Abdruck des Gegenstandes betrachten.

7 Doch steht wirklich das „Volk“ am Ursprung jener Trennung zwischen Stil und Ähnlichkeit, die wir heute beobachten? Fällt diese Trennung nicht eher mit dem Auftauchen des „bürgerlichen Geistes“ zusammen, der mit der Industrie entstand und den Künstlern des 19. Jahrhunderts gerade als Folie diente, eines Geistes also, der sich als Reduktion der Kunst auf ihre psychologischen Kategorien definieren ließe? Und hat nicht die Photographie, historisch gesehen, nur unmittelbar die Wachablösung des barocken Realismus übernommen? Und stellt nicht Malraux zu Recht fest, daß sie zunächst keine andere Sorge kennt, als „die Kunst nachzuahmen“, indem sie naiv deren Bildstil kopiert? Niepce und die meisten Pioniere der Photographie versuchten so übrigens, Radierungen nachzumachen. Sie träumten davon, Kunstwerke zu schaffen, auch wenn sie selbst keine Künstler waren – durch Abziehbilder. Ein typisch bürgerliches Vorhaben, doch es bestätigt meine These, treibt sie in gewissem Sinn sogar auf die Spitze. Es war natürlich, daß dem Photographen zunächst der Kunstgegenstand das als der Nachahmung würdigste Modell erschien, weil er in seinen Augen schon die Natur imitierte, „aber besser“. Erst nach einer gewissen Zeit, als er selbst Künstler geworden war, begriff der Photograph, daß er nichts anderes nachahmen konnte als die Natur.

8 Hier müßte man eine Psychologie der Reliquie und der „Andenken“ einführen. Beide profitieren gleichfalls von einer Wirklichkeitsübertragung, hervorgegangen aus dem „Mumienkomplex“. Hier sei nur kurz auf die Synthese von Reliquie und Photographie im Turiner Grabtuch hingewiesen.

9 Der der Philosophie Henri Bergsons entlehnte Begriff der „durée“ („Dauer“) ist in Bazins Werk so zentral – vgl. Kap. XII, XIII und besonders die zum italienischen Neorealismus, Kap. XX ff. –, daß er in diesem Band durchgehend als „Dauer“ übersetzt werden wird, auch wenn sich an manchen Stellen eher Begriffe wie „erlebte“ oder „gelebte Zeit“ oder schlicht „Zeit“ aufdrängen. Bazin gebraucht ihn nicht immer im Sinne Bergsons; dennoch sei hier eine kurze Definition der „durée“ Bergsons zitiert: „Dauer, das Fortbestehen der Dinge in der Zeit. – Bergson sagt von der Wirklichkeit, daß sie weder räumlich noch zählbar, daß sie hingegen ‚reine Dauer‘ und von Raum und Zeit durchaus verschieden ist. Die Dauer wird nicht mit dem Verstande (der nur zerschneiden, analysieren, messen und zählen kann) aufgefaßt, sondern mit der Intuition. (Vgl. Henri Bergson, Durée et simultaneité, 1923).“ (Philosophisches Wörterbuch, hg. v. G. Schischkoff, Stuttgart 1982.) (A. d. Hg.)

10 Ich gebrauche den Begriff „Kategorie“ im selben Sinn wie Henri Gouhier, der in seinem Buch L'Essence du théâtre (Paris: Plon 1943) zwischen ästhetischen und dramatischen Kategorien unterscheidet. Ebensowenig, wie die dramatische Spannung für sich irgendeinen künstlerischen Wert begründet, ist die perfekte Nachahmung mit Schönheit gleichzusetzen; sie ist lediglich Rohmaterial.

11 Bazins Schlußsatz ist gleichzeitig Parodie und Reaktion auf jenen Spruch, mit dem André Malraux seinen oben zitierten Aufsatz beendete: „Im übrigen ist der Film eine Industrie.“ (A. d. Hg.)

1 (Ab hier Anmerkungen zu VII. Die Entwicklung der Filmsprache) Siehe Kapitel I, Anm. 2.

2 Schwarzweißfilm, der für alle Farben sensibilisiert ist, Rot aber etwas zu hell wiedergibt. Wird auch als superpanchromatisch bezeichnet. Panchromatische Filme sind sämtlich höchstempfindliche Filme. (A. d. Hg.)

3 Die Einstellungsgröße, die eine Person etwa von den Knien aufwärts zeigt, nennt man daher auch „Amerikanische“. (A. d. Hg.)

4 Ferdinand Zecca (1864-1947), französischer Filmpionier, angestellt bei der Firma Pathé, wo er zwischen 1901 und 1914 als Produktionschef und rechte Hand Charles Pathés auch zahlreiche eigene Filme drehte. (A. d. Hg.)

4 (Ab hier Anmerkungen zu XX. Der filmische Realismus und die italienische Schule) Geometrischer Körper, dessen Oberfläche von sechs Parallelogrammen gebildet wird, von denen je zwei kongruent sind und in parallelen Ebenen liegen. Spezielle Formen sind der Quader und der Würfel. (A. d. Hg.)

5 Die Dinge liegen komplizierter, wenn es sich um einen städtischen Schauplatz handelt. Hier sind die Italiener unstreitig im Vorteil: Die italienische Stadt, ob alt oder modern, ist ungemein photogen. Schon seit dem Altertum ist die italienische Architektur theatralisch und dekorativ. Das Stadtleben ist ein Schauspiel, eine von den Italienern für sich selbst veranstaltete Commedia dell'arte. Selbst in den ärmsten Vierteln bieten die wie Korallenbänke ineinander verschachtelten Häuser mit ihren Terrassen und Balkonen hervorragende szenische Möglichkeiten. Der Hof ist ein elisabethanisches Bühnenbild, wo man das Schauspiel von unten betrachtet und wo es die Zuschauer auf den Balkonen sind, die zu Komödianten werden. In Venedig hat man einen poetischen Dokumentarfilm gezeigt, der ausschließlich aus einer Montage von Aufnahmen solcher Höfe besteht. Und was soll man erst sagen, wenn sich opernhafte Wirkung der theatralischen Palazzo-Fassaden mit der Bühnenarchitektur der Elendshäuser verbindet? Nehmen wir noch die Sonne und den wolkenlosen Himmel dazu (Wolken sind der ärgste Feind von Außenaufnahmen), und wir haben die Erklärung für die Überlegenheit italienischer Filme, was städtische Originalschauplätze angeht.

1 (Ab hier Anmerkungen zu XXVI. Plädoyer für Rossellini) In London erscheinende, vom British Film Institute herausgegebene Zeitschrift für Film (damals vierteljährlich, heute monatlich), in mancher Hinsicht das britische Gegenstück zu den Cahiers du cinéma. (A. d. Hg.)

2 Gemeint ist natürlich die von Giulietta Masina gespielte Hauptfigur aus Fellinis Film La Strada. (A. d. Hg.)

3 Ayfre, Amédée, „Neo-Réalisme et Phénoménologie“, in: Cahiers du cinéma Nr. 17 (November 1952), S. 6-18. (A. d. Hg.)

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André Bazin: Was ist Film?, 1975

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