Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, 1980

Roland Barthes

Quelle

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übersetzt von Dietrich Leube. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 86-87, 92-99. ISBN 3-518-57731-X.

Erstausgabe

La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard/Seuil 1980.

Genre

Buch

Medium

Fotografie

[86] 32

Was ich zu Beginn ganz unbefangen, unter dem Deckmantel der Methode, bemerkt hatte, daß nämlich jedes Photo in gewisser Hinsicht die zweite Natur seines Referenten ist, entdeckte ich erneut – neu, sollte ich sagen –, überwältigt von der Wahrheit des Bildes. Ich mußte mich folglich von nun an damit abfinden, daß ich zwei Tonlagen vermengte: die der Banalität (das sagen, was jedermann sieht und weiß) und die der Einzigartigkeit (diese Banalität mit dem ganzen Elan einer Emotion beflügeln, die ausschließlich zu mir gehörte). Es war, als suchte ich die Natur eines Verbs, das keinen Infinitiv hätte und das man nur in der Verbindung mit Tempus und Modus anträfe.

Ich mußte zunächst deutlich erfassen und damit, wenn möglich, deutlich sagen (auch wenn es etwas Einfaches ist), inwieweit der Referent der Photographie nicht von der gleichen Art ist wie das der anderen Darstellungssysteme. „Photographischen Referenten“ nenne ich nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv plaziert war und ohne die es keine Photographie gäbe. Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiß Referenten haben, aber diese Referenten können „Chimären“ sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der Photographie nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als das Wesen, den Sinngehalt (noema) der Photographie ansehen. Worauf ich mich in einer [87] Photographie intentional richte (vom Film wollen wir noch nicht sprechen), ist weder die Kunst noch die Kommunikation, sondern die Referenz, die das Grundprinzip der Photographie darstellt. Der Name des Noemas der Photographie sei also: „Es-ist-so-gewesen“ oder auch: das Unveränderliche, Im Lateinischen (eine Pedanterie, die notwendig ist, da sie Nuancen erhellt) hieße dies zweifellos: „interfuit“: das, was ich sehe, befand sich dort, an dem Ort, der zwischen der Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt (operator oder spectator) liegt; es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden. Das alles ist in dem Verb intersum enthalten.

Es ist möglich, daß in der alltäglichen Bilderflut, in den tausenderlei Formen von Interesse, die sie hervorzurufen scheint, das Noema des „Es-ist-so-gewesen“ zwar nicht verdrängt wird (ein Noema kann nicht verdrängt werden), aber daß es doch mit einer gewissen Indifferenz erfahren wird, als ein Merkmal, das sich von selbst versteht. Aus dieser Indifferenz hatte mich die Photographie aus dem Wintergarten geweckt. Ich war einer paradoxen Bahn gefolgt, als ich unter dem Eindruck einer mir neuen Erfahrung von Eindringlichkeit aus der Wahrheit des Bildes auf die Realität seines Ursprungs schloß, versichert man sich doch gewöhnlich der Dinge, ehe man sie für „wahr“ erklärt; ich hatte Wahrheit und Realität in einer einzigartigen Gefühlsbewegung miteinander verwechselt, in der ich seitdem die Natur – den Geist – der Photographie ansiedelte, denn schließlich hätte mir kein gemaltes Porträt, auch wenn es mir als „wahr“ erschienen wäre, zu suggerieren vermocht, sein Referent habe wirklich existiert.

[92] […] 35

Die Photographie ruft nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück (nichts Proustisches ist in einem Photo). Die Wirkung, die sie auf mich ausübt, besteht nicht in der Wiederherstellung des (durch Zeit, durch Entfernung) Aufgehobenen, sondern in der Beglaubigung, daß das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist. Dies ist allerdings eine wahrhaft anstößige Wirkung. Stets versetzt mich die Photographie in Erstaunen, und dieses Erstaunen hält an und erneuert sich unaufhörlich. Vielleicht reicht dieses Erstaunen, dieses Beharren tief in die religiöse Substanz, aus der ich geformt bin; wie man es auch dreht und wendet: die Photographie hat etwas mit Auferstehung zu tun: kann man von ihr nicht dasselbe sagen, was die Byzantiner vom Antlitz Christi sagten, das sich auf dem Schweißtuch der Veronika abgedrückt hat, nämlich daß sie nicht von Menschenhand geschaffen sei, acheiropoietos?

[93] Da sehen wir polnische Soldaten auf freiem Feld Rast machen (Kertész, 1915); nichts Besonderes, es sei denn der Beleg, den kein realistisches Gemälde mir erbringen könnte – daß sie dagewesen sind; was ich sehe, ist keine Erinnerung, keine Phantasie, keine Wiederherstellung, kein Teil der Maja, wie die Kunst sie in verschwenderischer Fülle bietet, sondern das Wirkliche in vergangenem Zustand: das Vergangene und das Wirkliche zugleich. Die Nahrung, welche die Photographie meinem Geist gibt (ohne ihn je damit zu sättigen), ist, durch einen kurzen Impuls, dessen Anstoß nicht in Träumereien abschweifen läßt (was vielleicht die Definition des satori ist), das schlichte Geheimnis der Gleichzeitigkeit. Eine anonyme Photographie zeigt eine Hochzeit (in England): fünfundzwanzig Personen jeden Alters, zwei kleine Mädchen, ein Säugling; ich lese das Datum und rechne flüchtig nach: 1910; also müssen sie alle tot sein, außer vielleicht den kleinen Mädchen und dem Säugling (alte Damen heute und ein alter Herr). Wenn ich den Strand von Biarritz im Jahre 1931 (Lartigue) oder den „Pont des Arts“ von 1932 (Kertész) sehe, sage ich mir: „Vielleicht war ich dort“; vielleicht bin ich unter den Badenden oder den Passanten, an einem jener Sommernachmittage, an denen ich von Bayonne aus mit der Straßenbahn zum Schwimmen an die Grande Plage fuhr, oder an einem jener Sonntagmorgen, an denen ich, von unserer Wohnung in der Rue Jacques Callot kommend, die Brücke überquerte, um in den Temple de l'Oratoire zu gehen (in der christlichen Phase meiner Jugend). Das Datum ist Teil des Photos: nicht weil es auf einen bestimmten Stil hinweist (das berührt mich nicht), sondern weil es aufmerken, das Leben, den Tod, das unausweichliche Verschwinden der Generationen überdenken läßt: es ist möglich, daß Ernest, der kleine Schüler, den Kertész 1931 pho[95]tographiert hat, heute noch lebt (doch wo? wie? welch ein Roman!). Jede Photographie hat mich als Bezugspunkt, und eben dadurch bringt sie mich zum Staunen, daß sie die fundamentalen Fragen an mich richtet: warum lebe ich hier und jetzt? Zwar setzt die Photographie, mehr als jede andere Kunst, eine unmittelbare Präsenz in die Welt – eine Ko-Präsenz; doch ist diese Präsenz nicht nur politischer Natur („durch das Bild an den Ereignissen teilnehmen“), sondern auch metaphysischer Natur. Flaubert hat sich über Bouvard und Pécuchet mokiert (aber hat er sich wirklich mokiert?), wenn sie sich über den Himmel, die Sterne, die Zeit, das Leben, die Unendlichkeit und so weiter Gedanken machen. Es ist die Art von Fragen, die mir die Photographie stellt: Fragen, die einer „dummen“ oder simplen Metaphysik entstammen (die Antworten sind das Komplizierte daran): wahrscheinlich die wahre Metaphysik.

36

Die Photographie sagt (zwangsläufig) nichts über das, was nicht mehr ist, sondern nur und mit Sicherheit etwas über das, was gewesen ist. Diese feine Unterscheidung ist ausschlaggebend. Beim Anblick eines Photos schlägt das Bewußtsein nicht unbedingt den nostalgischen Weg der Erinnerung ein (wie viele Photos stehen außerhalb der individuellen Zeit), sondern, bei jedem überhaupt auf der Welt existierenden Photo, den Weg der Gewißheit: das Wesen der Photographie besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt. Einmal erhielt ich von einem Photographen ein Photo von mir, dessen Entstehungsort mir trotz aller Bemühungen unerfindlich blieb; ich [96] musterte die Krawatte, den Pullover, um herauszufinden, bei welcher Gelegenheit ich sie getragen hatte; vergebliche Mühe. Und trotzdem, weil es eine Photographie war, konnte ich nicht bestreiten, daß ich da gewesen war (auch wenn ich nicht wußte, wo). Diese Verzerrung zwischen der Gewißheit und dem Vergessen verursachte mir eine Art Schwindel, so etwas wie die Angst vor der Aufdeckung (das Thema von Blow-up war nicht fern); ich ging zur Ausstellungseröffnung wie zu einer Ermittlung, um endlich herauszufinden, was ich von mir nicht mehr wußte.

Nichts Geschriebenes kann mir diese Gewißheit geben. Darin liegt das Übel (vielleicht aber auch die Wonne) der Sprache: daß sie für sich selbst nicht bürgen kann. Das Noema des Sprachlichen besteht vielleicht in diesem Unvermögen oder, um es positiv zu wenden: die Sprache ist ihrem Wesen nach Erfindung; will man sie zur Wiedergabe von Tatsächlichkeit befähigen, so bedarf es eines enormen Aufwands: wir bemühen die Logik oder, wenn es daran mangelt, den Schwur; die Photographie aber verhält sich gleichgültig gegenüber jeder Vermittlung: sie erfindet nicht; sie ist die Bestätigung selbst; die Kunstgriffe, die sie in seltenen Fällen zuläßt, haben keine Beweiskraft; im Gegenteil, es sind Trickaufnahmen: die Photographie ist nur dann diffizil, wenn sie betrügt. Sie ist eine umgekehrte Prophezeiung: wie Kassandra, den Blick jedoch auf die Vergangenheit gerichtet, lügt sie niemals: oder vielmehr kann sie lügen, was die Bedeutung der Sache anlangt, da sie von Natur aus tendenziös ist, niemals jedoch kann sie über deren Existenz hinwegtäuschen. Ohnmächtig gegenüber allgemeinen Vorstellungen (der Fiktion), ist ihre Kraft gleichwohl allem überlegen, was der menschliche Geist zu ersinnen vermag und vermocht hat, um uns der Wirklichkeit zu versichern – doch ist diese Wirklichkeit [97] auch nichts anderes als ein Zufall („so und nichts weiter“).

Jegliche Photographie ist eine Beglaubigung von Präsenz. Diese Beglaubigung ist das neue Gen, das diese Erfindung in die Familie der Bilder eingeführt hat. Die ersten Photos, die ein Mensch betrachtete (Niepce vor dem Gedeckten Tisch beispielsweise), mußten ihm Gemälden zum Verwechseln ähnlich erscheinen (immer noch die gleiche camera obscura); dennoch wußte er, daß er es mit einem Mutanten zu tun hatte (ein Marsmensch kann einem Menschen ähneln); sein Bewußtsein stellte das Objekt, dem er begegnete, außerhalb jeder Analogie, als sei es das Ektoplasma „dessen, was gewesen war“: weder Bild noch Wirklichkeit, ein wahrhaft neues Wesen: etwas Wirkliches, das man nicht mehr berühren kann.

Vielleicht hindert uns ein unbezwinglicher Widerstand, an die Vergangenheit, an die Geschichte zu glauben, es sei denn in der Form des Mythos. Die Photographie hat, zum ersten Mal, diesen Widerstand zum Schwinden gebracht: von nun an ist die Vergangenheit so gewiß wie die Gegenwart, ist das, was man auf dem Papier sieht, so gewiß wie das, was man berührt. Das Auftreten der Photographie – und nicht, wie gesagt worden ist, das des Films – schafft die Zäsur, die die Geschichte der Welt spaltet.

Gerade weil die Photographie ein anthropologisch neuer Gegenstand ist, muß sie sich, wie mir scheint, den gängigen Diskussionen über das Bild entziehen. Bei den heutigen Kommentatoren der Photographie (Soziologen und Semiologen) steht die semantische Relativität hoch im Kurs: nichts „Reales“ gibt es (groß ist die Verachtung für die „Realisten“, die nicht sehen, daß eine Photographie immer codiert ist), nur das Artefakt: Thesis, nicht Physis; die Photographie, sagen sie, ist kein Analogon der Welt; was sie [99] wiedergibt, ist künstlich erzeugt, weil die photographische Optik der (ganz und gar historischen) Perspektive Albertis untergeordnet ist und die Belichtung der Filmschicht aus einem dreidimensionalen Gegenstand ein zweidimensionales Bild macht. Diese Debatte ist fruchtlos: das analogische Wesen der Photographie läßt sich nicht von der Hand weisen; gleichzeitig aber ist das Noema der Photographie mitnichten in der Analogie zu suchen (ein Merkmal, das sie mit allen Techniken der Abbildung gemein hat). Die Realisten, zu denen ich gehöre und bereits gehörte, als ich die Behauptung aufstellte, die Photographie sei ein Bild ohne Code – obschon Codes selbstverständlich ihre Lektüre steuern –, betrachten eine Photographie keineswegs als eine „Kopie“ des Wirklichen – sondern als eine Emanation des vergangenen Wirklichen: als Magie und nicht als Kunst. Die Frage, ob die Photographie analogisch oder codiert sei, hilft uns bei der Analyse nicht weiter. Wichtig ist, daß das photographische Bild eine bestätigende Kraft besitzt und daß die Zeugenschaft der Photographie sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht. Phänomenologisch gesehen, hat in der Photographie das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiedergabe. […]

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Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, 1980

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