Zitiervorschlag: Anonymus (Hrsg.): "VI.", in: Leipziger Spectateur, Vol.2\006 (1723), S. 91-96, ediert in: Ertler, Klaus-Dieter / Doms, Misia Sophia / Hahne, Nina (Hrsg.): Die "Spectators" im internationalen Kontext. Digitale Edition, Graz 2011- . hdl.handle.net/11471/513.20.2563 [aufgerufen am: ].


Ebene 1►

VI.

Zitat/Motto► Les Sexes sont sans doute établis a propos,
Mais en cela la nature eut en vüe
Ses interêts plus que nôtre repos. ◀Zitat/Motto

Fable de la Motte XII. Liv. V.

Zitat/Motto► Da unter Mann und Weib ein Unterschied gemacht,
So hat uns die Natur viel gutes zugedacht.
Und dabey hat sie uns den Possen doch gerissen,
Daß ihrem Nutzen wir die Ruh aufopffern müssen.
◀Zitat/Motto

Ebene 2► DJe grosse Begierde zu heyrathen, ist etwas, welches die meisten Menschen unglücklich macht, der menschlichen Gesellschafft unerträgliche Lasten und Elend aufbürdet, und ihr hingegen viel nützliche Dienste entziehet, ja welches unter die . hauptVerderben alles Guten mit dem grösten Recht zu rechnen. Jch verwerffe das Heyrathen nicht, ich halte es vielmehr vor etwas natürliches, [92] welches von GOtt zur Vermehrung des menschlichen Geschlechts also geordnet, und von der Obrigkeit mit gewissen höchstnöthigen Gesetzen umschräncket ist. Allein die ungezähmte Begierde, sich mit der andern Person anderes Geschlechts zu vermischen, welche von der verderbten Lust und Aufferziehung den Ursprung nimmt, von dem Müßiggange, liederlichem Leben, delicaten Essen und Trincken ernehret wird, und endlich durch die Verführung, oder allerhand ersonnene viehische Anreitzungen, Vorurtheile und aufgebrachte Neigungen ausbricht, ist, ihres Schadens wegen, verdammlich. Man sehe nur, was diese Begierde für Schaden und Unruhe anstifftet, denn man wird aller Orten davon erbarmenswürdige Spuren antreffen. Ebene 3► Exemplum► Lucilia war eine alte Jungfer, sie lebte in guter Renomée, in aller Zufriedenheit, ihre Mittel waren hinlänglich, daß sie sich ihrem Stande gemäß aufführen, Köchin, Magd und Laquay halten konte, und alle Commoditäten hatte; Allein sie wolte heyrathen, und also machte sie so lange, bis sie einen jungen Kerl ertappte, der sie zwar ehlichte, aber ihr ietzo zum Recompens alle Tage Prügel giebt, mit andern zuhält, und alles Jhrige gar liederlich durchbringet. Wann die alten Weiber noch auf die Thorheit gerathen, einen jungen Kerl zu nehmen, so geht es ihnen nicht viel besser, und sie werden wohl gar mit einer wohlgegerbten Haut zu Grabe geschickt. Geht es ihnen so arg nicht, so haben sie doch lauter Verdruß, und Olorena sagt, sie wolte tausendmahl vergnügter seyn mit dem Unglück, wenn sie zur Hure wor-[93]den, als daß sie ietzo einen Mann mit vielen Kindern genommen, der sie in ihrer Kranckheit liegen, verschmachten und fast verzweiffeln läst, ihr das Gesinde wegnimmt, und in seinen Diensten brauchet, und hingegen die Kinder läst, die ihr ietzo, an statt daß sie selbige ehemahls gekleidet, gewartet und groß gezogen, alles gebrannte Hertzeleid anthun. ◀Exemplum ◀Ebene 3 Ebene 3► Exemplum► Capricornus ist sonsten ein ehrlicher verständiger Mann, der Ansehen, Hertz und Vermögen genung hat, aber er hat sich die Liebe blenden lassen, und eine Courtesie-Schwester genommen, die ihn auf alle Weise zu hintergehen suchet, ob sie ihm schon vorwarts schmeichelt, so betrügt sie ihn doch hinterwärts, dieses kräncket ihn, daß er fast von Sinnen kommt, er wird verdrießlich, macht sich andere dadurch zu Feinden, und da die Frau auf der einen Seiten ausschleppet, so schlept er auf der andern auch weg, dieses sehen die Kinder, thun es dem Vater und der Mutter nach, so werden in kurtzen alle mit einander in der gantzen Familie höchst elend daran seyn. ◀Exemplum ◀Ebene 3 Mancher Studiosus Theologiæ läufft und rennt, daß er eine Pfarre erwischt, mancher Studiosus anderer Künste arbeitet, daß er, wie er spricht, zur Ruhe kommen möge, beyde sprechen, sie thäten es, um desto besser Gelegenheit zu haben, ihrem Nächsten zu dienen, GOttes Ehre zu befördern; aber man frage sie auf ihr Gewissen, ob sie es nicht darum thun, daß sie können Weiber nehmen? Hernach hat der Theologus etwas, das rufft immer: Schreibt, lieber Herre, schreibt, daß ihr bey der Pfarre bleibt: und der andere prediget ohne Unterlaß, [94] er müsse doch seine arme Frau und Kinder bedencken, so nimmt jener Brey ins Maul, und dieser macht krumme Hände. Das ist etwas elendes, wenn den Leuten die Lust vor der Zeit zu heyrathen ankömmt, daraus entsteht tausendfältiges Unglück. Denn solche Leute bemühen sich entweder auf eine unverantwortliche Art die Harmonie der Eheleute zu stöhren, oder bringen ein unschuldiges Mädgen in den elendesten Affect, zernichten ihre Unschuld, ihre Ehre und Renommée, und machen sie auf ihr lebetage, ja wohl auf ewig unglückselig, oder sie lauffen in der schändlichen Brunst gemeinen Huren nach, (ich will diese Laster theologice ietzo nicht censiren) ruiniren ihre Gesundheit leichtfertiger weise, daß sie selbige nicht zu erhalten vermögend seyn, sie verschwenden ihre Kosten mit ihrer grösten Schande und ihrer Eltern höchstem Verdruß, sie verderben ihre Zeit, stöhren ihre und anderer Leute Gemüths-Ruhe, schwächen ihren Verstand, ihre Fähigkeiten, die artigen, freyen, angenehmen, ungezwungenen Manieren, als die Kennzeichen der Unschuld und Redlichkeit verliehren sie, und nehmen hingegen ein stöckisches, albernes, läppisches, oder verhurtes und brutales Wesen an, welches allein unglückseelig machen kan, ohngeachtet alle andere Dinge, die ich erzehlet ebenfalls unwiederbringliche Schäden seyn. Endlich ist dieses ein grosses Unglück bey der Lust zu heyrathen, daß man auf die unrechten Qualitäten fällt, oder sich muß zwingen lassen. Und da geht es gemeiniglich über das arme Frauenzimmer aus, da müssen sie wehlen, sich feil bieten und verkauffen [95] lassen, daß man ein hertzliches Mittleiden mit ihnen haben muß. Ebene 3► Exemplum► Euphrosina war ein tugendhafftes, schönes, vornehmes, zartes, reiches, verständiges, kurtz ein vollkommenes Frauenzimmer, ihr Vater zwang sie, einen Menschen zu nehmen, der vornehm, reich, aber weder liebreich, noch tugendhafft, noch verständig war. Er hat in kurtzen alles liederlicher Weise verthan und gantz auf vilaine Art seine Frau nichts geachtet, daß endlich sie vor Kummer und Gram gestorben, und er in den grösten Armuth, und Elend an einer abscheulichen Kranckheit auch den Weg alles Fleisches gegangen. ◀Exemplum ◀Ebene 3 Es wäre kein Wunder, wen̄ man bey so vielen Ungelegenheiten des Ehestandes sich entschlösse, niemahls zu heyrathen; aber man würde sich auch dazu entschliessen, Ehloß zu bleiben, wann man an sich selbst gedächte, nicht den Müßiggang, liederliche Gesellschafft und die delicaten Bißgen liebte; Oder zum wenigsten würde man nicht so plötzlich zufahren und sich zwingen lassen, oder so unvernünfftig seyn und andere zwingen, sondern vielmehr sich wohl bedencken, und hernach in seiner Wahl nicht eben auf Reichthum, Schönheit, Ehre, hohe Familie, Jugend und dergleichen sehen, sondern auf Tugend, Tendresse, Verstand, auf die unumgängliche, nothwendige, natürliche Sympathie, und wahrhafftige Güter, und sodann würde das Heyrathen ein Weg zum Himmel auf Erden seyn, welches ohne rechte Wahl eine Bahn zur Höllen ist. 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AVERTISSEMENT

derer Verleger.

AN dieser zweyten Speculation des Leipziger Spectateurs wird der vernünfftige Leser hoffentlich sein Vergnügen finden, auch die Intention, so man bey dieser Arbeit führet, gar deutlich daraus ersehen. Warum man diese Arbeit den Spectateur genennet, das werden diejenigen leichtlich begreiffen, denen die Englische Arbeit des Herrn Steelen bekannt ist. Daß man aber solche den Leipziger Spectateur betittult, darzu hat man seine Ursachen, die künfftig sollen gemeldet werden; protestiret aber übrigens wider den irrigen Concept einiger Leser, als wenn man nur die Fehler, Schwachheiten und Laster der Leipziger durch zu ziehen bemühet wäre. Diese Arbeit ist auf gantz Teutschland, ja auf die gantze Welt gerichtet, derselben ihre Vorurtheile, Laster, Fehler und Schwachheiten auf eine ohnpassionirte und modeste Art zu zeigen,

Adieu. ◀Ebene 2 ◀Ebene 1