Vor den teilweise durch ein sanfteres und androgynes ersammlungslokalen aber hat der Verkehr ein für den Wahltag charakteristisches Gepräge.
Vor dem ungeheuren, von zwei mächtigen, schneeweihen elektrischen Glaskugeln beleuchteten Portal der Brauerei Friedrichshain hat sich auf der anderen Seite des breiten Fahrdammes am Hain hin eine dicke, schwarze Menschenmenge angestaut. Jeden Augenblick wird sie noch durch eilig die Friedenstraße von beiden Seiten herauf kommende Gruppen vergrößert Immer in derselben Weise. Man will zunächst durch das Portal in den Versammlungssaal hinein und wird von den vielen hier stationirten Schutzleuten zurückgewiesen: „Der Saal ist voll!"
Und immer dichter staut sich die Menschenmenge an. Man plaudert, stampft mit den Füßen, um sich die Kälte zu vertreiben, geht auf und ab und blickt zu dem hohen, taghellen Portal hinüber, wie gebannt, in gespannter Erwartung irgend etwas von dem zu erfahren, was im Saal vor sich geht.
In einem dichten, dunklen Halbkreis drängt man sich so weit wie möglich über den breiten, von dem elektrischen Licht schneeweih beleuchteten Fahrdamm gegen die Brauerei vor.
Dahinter zieht sich lang und schwarz der Friedrichshain die Friedenstraße hinab, und seine Bäume und Büsche zacken sich in den sternfunkelnden, klaren, kalten Winterhimmel.
Vor Einem dehnt sich lang ein ungeheures, hohes, hohes Rechteck mit breiten, mächtigen, mattbunten Wandflächen zwischen kräftigen Strebepfeilern. Ueberall reiche, bunte, hier und da vergoldete Stuckverzierungen. Dazwischen elektrische Lichtdolden und breite Gemälde: Allegorische Figuren, halbnackte Nymphen, Faune, Früchte und Fabelthiere die Wände entlang dicht unter der mächtigen, holzgetäfelten Decke hin, von der elektrische Lichtkugeln herabhängen. An beiden Enden des Saales mächtige Gallerieen. Und über den ganzen, ungeheuren Saal hin an unzähligen Tischen Hunderte und aber Hunderte von Menschen, eine einzige, bunt bewegte, schwarze, tosende, rauschende Masse, auf welcher ein dicker Tabackdunst lagert, der sich in breiten Schichten die Wände und Pfeiler entlang zur Decke hinaufzieht.
Links vom Eingang auf einem erhöhten Orchesterraum, in dessen Hintergrund eine Anzahl
Notenpulte aneinandergedrängt find und aufeinander hocken, steht ein langer Tisch.
Drei Männer sitzen dahinter An einem anderen Tische, links von ihnen, sitzen zwei
Polizeileute. Zwischen den beiden Tischen aber steht ein langer, breitschultriger,
junger Mann. Er hat seinen Kopf mit dem wirren, schwarzen Kraushaar, den vorstehenden
Backenknochen und tief liegenden, dunklen Augen ein wenig zur Seite gelegt, die
rechte Hüfte ein wenig vorgeschoben. Das giebt ihm etwas plumpes, ungefüges. Er hat
einen dunklen Arbeitsanzug an. Er hat weder Hemdtragen noch Cravatte. Mit dem linken
Arm macht er ungelenke, scharfe Gesten, mit denen er seinen Worten mehr Nachdruck
verschaffen will. Die rechte Faust, die einen bedruckten Zettel umballt, hat er aus
die Kante des Präsidententisches gestützt Er spricht mit monotoner, etwas
schleppender Stimme in die wogende, unruhige Versammlung
Der Vorsitzende klingelt. Eine Pause von 20 Minuten. Der Lärm steigert sich, die Gespräche werden lauter. Man geht hin und her. Der ganze Saal ist in Aufregung Mau treibt allerlei Scherze, ohne indeß Excesse aufkommen zu lassen.
Einer klopft mir auf die Schulter und theilt mir geheimnisvoll und vertraulich mit,
daß in einem Nebenzimmer 40 Schutzleute und draußen in der Nähe des Locals eine
Anzahl berittener stationirt seien. Er scheint sich darüber lustig zu machen. Am
Tisch sprechen sie von einem adligen, conservativen Gutsbesitzer in Schlesien. „Der
hat nich mehr wie wir! Er jab allens dem kleenen Mann!“ An einem anderen Tische macht
einer sich wichtig, Er ist aufgestanden und hält eine Art Vortrag, dem man mit mehr
oder weniger Aufmerksamkeit zu
Vom Präsidententisch wieder die Klingel. Es wird allmählich stiller. Man setzt sich und endlich herrscht ziemliche Ruhe. Man versteht jedes Wort des Vorsitzenden, der die eingelaufenen Wahlresultate verliest. Nach den meisten der Vorlesungen erhebt sich ein lauter, brausender Jubel. Zuweilen unterbricht er den Vorlesenden. Au einigen Stellen des Saales fängt man an, übermüthig zu werden. Andre zischen und gebieten Ruhe. Ein Mann mit langem, dichtem, schwarzem Vollbart tritt auf das Orchester und mahnt die Versammlung mit seiner verständigen, kräftigen Baßstimme: Es seien hier keine Kinder, sondern Männer und man müsse sich demgemäß betragen. — Die übrigen Verlesungen verlaufen nun ohne Störung. Nur nach Beendigung einer jeden lauter Jubel. Leute steigen hastig von beiden Seiten die Treppen zum Orchester herauf und legen Zettel auf den Tisch, immer mehr und mehr; und fast endlos wird der Jubel, als man aus einem bisher unzugänglichen Wahlkreis über einen bedeutenden Stimmenzuwachs berichtet. Man stößt vor Freude mit den Stöcken auf den Boden Man nickt sich über die Tische hin zu, man lacht sich an.
Die eingelaufenen Berichte sind verlesen. Eine neue Pause von 15 Minuten wird aus-gerufen. Wir erheben uns und zwängen uns mühsam dem Ausgange zu und nun sind wir wieder im Corridor und hinter uns, durch die offene Thür wieder der tosende Saal in diesem lilafarbenen, zarten Dunst mit den runden, weißen electrischen Monden dazwischen.
Wir fahren bis zur Friedrichstraße.
Der Verkehr ist etwas, aber nur etwas lebhafter als sonst um diese Zeit. Wir mischen uns in den Menschenstrom, der ununterbrochen auf den Trottoirs hinwogt. Dieselben englischen Ueberzieher, spiegelglatten Cylinder, bunten Damenhüte mit dem hohen, phantastischen Feder- und Schleifenaufputz, dieselben modischen Bärte, Kneifer, Monocle, dasselbe eigenthümliche Parfum von türkischen, russischen, amerikanischen Tabaken, dasselbe fortwährende Rasseln und Rauschen der Droschken, Wagen und Omnibusse, das Donnern der Stadtbahnzüge, das ganze unruhige, nervöse Getriebe: alles was hier für die Passanten, für diesen ganzen Stadttheil charakteristisch ist.
Nirgends ist eine besondere politische Kampfesstimmung zu bemerken. Nur ab und zu in all den Verkehr hinein der Ruf der Extrablattverkäufer. Dieser und Jener, der sich auf Tumulte und Excesse gefaßt gemacht hatte, äußert sein Erstaunen. Aber alles bleibt ruhig, und ohne Erregung geht einer der stillsten Wahltage Berlins zu Ende.