Am Wahlabend in Berlin N.: Twilight Zones Edition Schlaf Johannes TEI encoding Schöfberger, Riccardo data modeling Scholger, Martina text compilation, text analysis Knaller, Susanne text compilation, text analysis Moebius, Stephan text editing, text correction Huber, Mario text editing, text correction Pachner, Marie-Therese digital implementation Stüger, Marie Twilight Zones Knaller, Susanne Moebius, Stephan Scholger, Martina Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System 2020 Graz o:liminal.schlaf.1890 context:liminal.texts Am Wahlabend in Berlin N. Freie Bühne für modernes Leben Schlaf Johannes 1890 1 Schlaf, Johannes. “Am Wahlabend in Berlin N.” Freie Bühne für modernes Leben 1 (1890): 109-112. Domains everyday culture politics society Frame urbanity Genre chronicle essay documentation Mode narrative documentary Transgression literature/journalism German Initial TEI encoding TEI encoding Terms Frame and Location public spaces streets Techniques Styles metaphoric observative Concepts Author Roles observer of culture, politics and society Perception observative Frame and Location urbanity
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Die Straßen dehnen sich lang und grau mit ihren graden, hohen, düsteren Häuserfassaden, ihren Laternenreihen und ihrem Verkehr. Es ist heute, wie an anderen Tagen. Nur hier und da macht sich eine Gruppe bemerklich. Man kommt mit untergehängten Armen breit über das Trottoir, oder hintereinander, lachend, laut rufend oder singend einher. Aber bald hat sich alles in dem Treiben des Verkehrs verloren, in dem Rollen der Droschken, in dem Gebimmel und Getrappel der Pferdebahnwagen und dem Gedränge an den hellen Schaufenstern hin, in dem Gepalter der Lastwagen und dem unermüdlichen Rauschen, das alle diese Laute in sich aufnimmt. Den Fahrdamm hinunter, weit, weit, bis dahin, wo die Häuserreihen in einen blaugrauen Nebel zusammenrinnen, aus dem nur wie kleine, gelbrothe Lichtfunken die Laternen sich herausheben, — heute, wie alle Abende, das gleiche sinnverwirrende Durcheinander der Fahrzeuge, untermengt mit sich entfernenden, heranschwimmenden, sich kreuzenden dunkelrothen, grünen oder orangefarbenen Lichtern. Und auf den Trottoirs und quer über den Fahrdamm in steter wogender Bewegung die unzähligen Gestalten der Passanten, bald schwarz, bald ins Helle gerückt durch das Licht aus einem Schaufenster oder einer Laterne. Heute wie alle Abend: immer dasselbe Getriebe. So verwirrend und so rätselhaft . .

Vor den teilweise durch ein sanfteres und androgynes ersammlungslokalen aber hat der Verkehr ein für den Wahltag charakteristisches Gepräge.

Vor dem ungeheuren, von zwei mächtigen, schneeweihen elektrischen Glaskugeln beleuchteten Portal der Brauerei Friedrichshain hat sich auf der anderen Seite des breiten Fahrdammes am Hain hin eine dicke, schwarze Menschenmenge angestaut. Jeden Augenblick wird sie noch durch eilig die Friedenstraße von beiden Seiten herauf kommende Gruppen vergrößert Immer in derselben Weise. Man will zunächst durch das Portal in den Versammlungssaal hinein und wird von den vielen hier stationirten Schutzleuten zurückgewiesen: „Der Saal ist voll!"

Und immer dichter staut sich die Menschenmenge an. Man plaudert, stampft mit den Füßen, um sich die Kälte zu vertreiben, geht auf und ab und blickt zu dem hohen, taghellen Portal hinüber, wie gebannt, in gespannter Erwartung irgend etwas von dem zu erfahren, was im Saal vor sich geht.

In einem dichten, dunklen Halbkreis drängt man sich so weit wie möglich über den breiten, von dem elektrischen Licht schneeweih beleuchteten Fahrdamm gegen die Brauerei vor.

Dahinter zieht sich lang und schwarz der Friedrichshain die Friedenstraße hinab, und seine Bäume und Büsche zacken sich in den sternfunkelnden, klaren, kalten Winterhimmel.

Jemand kommt aus dem Saal und macht dem wachthabenden Polizeilieutenant eine Meldung. Der Saal kann noch mehr Personen aufnehmen. Man darf eintreten. Und nun stürzt die ganze Masse, die bis dahin geduldig gewartet hat, wie unsinnig auf das Portal zu und die Stufen hinauf, die zum Saal führen. Die Schutzleute schreien und brüllen in die andringende Menschenmasse hinein. Sie haben schweren Stand. Aber schließlich kommt man doch in leidlicher Ordnung in den Vorsaal. Man steigt ein paar Stufen hinab und tritt in den Saal.

Vor Einem dehnt sich lang ein ungeheures, hohes, hohes Rechteck mit breiten, mächtigen, mattbunten Wandflächen zwischen kräftigen Strebepfeilern. Ueberall reiche, bunte, hier und da vergoldete Stuckverzierungen. Dazwischen elektrische Lichtdolden und breite Gemälde: Allegorische Figuren, halbnackte Nymphen, Faune, Früchte und Fabelthiere die Wände entlang dicht unter der mächtigen, holzgetäfelten Decke hin, von der elektrische Lichtkugeln herabhängen. An beiden Enden des Saales mächtige Gallerieen. Und über den ganzen, ungeheuren Saal hin an unzähligen Tischen Hunderte und aber Hunderte von Menschen, eine einzige, bunt bewegte, schwarze, tosende, rauschende Masse, auf welcher ein dicker Tabackdunst lagert, der sich in breiten Schichten die Wände und Pfeiler entlang zur Decke hinaufzieht.

Links vom Eingang auf einem erhöhten Orchesterraum, in dessen Hintergrund eine Anzahl Notenpulte aneinandergedrängt find und aufeinander hocken, steht ein langer Tisch. Drei Männer sitzen dahinter An einem anderen Tische, links von ihnen, sitzen zwei Polizeileute. Zwischen den beiden Tischen aber steht ein langer, breitschultriger, junger Mann. Er hat seinen Kopf mit dem wirren, schwarzen Kraushaar, den vorstehenden Backenknochen und tief liegenden, dunklen Augen ein wenig zur Seite gelegt, die rechte Hüfte ein wenig vorgeschoben. Das giebt ihm etwas plumpes, ungefüges. Er hat einen dunklen Arbeitsanzug an. Er hat weder Hemdtragen noch Cravatte. Mit dem linken Arm macht er ungelenke, scharfe Gesten, mit denen er seinen Worten mehr Nachdruck verschaffen will. Die rechte Faust, die einen bedruckten Zettel umballt, hat er aus die Kante des Präsidententisches gestützt Er spricht mit monotoner, etwas schleppender Stimme in die wogende, unruhige Versammlung hinein in der ein fortwährendes Gehen und Kommen, Lachen, Plaudern, Rufen, Bierseideltlappen, Rücken von Stühlen ist über den ganzen Saal hin. Ab und zu ein lauter, greller Zuruf. Der Redner spricht geläufig, ohne Stocken. Nur selten versteht man ein Wort, eine Stelle, hier hinten im äußersten Winkel des Saales, wo man noch einen Platz bekommen hat. „Meine Herren“ . . . „die freisinnige Partei“ . . . „Eugen Richter“ . . . und wieder „Meine Herren“ . . . „Meine Herren“ . . . Jetzt ein lautes Jauchzen und Bravorufen dicht unter dem Orchester, das sich, immer stärker anschwellend, durch den Saal verbreitet. Es handelt sich um die Kritik eines Wahlaufrufes einer der Gegenparteien. Zuweilen greift der Vorsitzende zu der großen Klingel vor ihm und setzt sie in Bewegung. Tann wird es für einen Augenblick etwas stiller. Nur vom Eingang her ein ununterbrochenes Kommen, das Klappen der Seidel, Stimmen, die nach dem Kellner rufen. Man interessirt sich nur halb für diese Reden, die nur dazu dienen sollen, die Zeit hinzubringen, bis die Wahlresultate angekommen sind. Und immer wieder und wieder schwillt das Brausen und Tosen, das Lachen, Plaudern und Rufen an, in dem sich die innere Erwartung und Aufregung, die einen Wahlsieg ahnt, Ausdruck verschafft. Hier und da verwandelt sich ein Gespräch an einem Tische, das immer lauter und lauter geworden ist, in ein beinah ausgelassenes Schreien. Die Versammlung ist in sehr guter Stimmung, im ganzen friedlich und nicht zu irgend welchen Excessen aufgelegt. An den langen Wänden hin stehen noch Hunderte in dichtgedrängten Reihen, die nachgekommen sind und keinen Sitzplatz mehr bekommen haben.

Alle diese Gesichter! Rothe und bleiche, runde und schmale, verbissene und ausgelassene, ernste und rohe, stumpfsinnige und intelligente, bärtige und glatte, alte und junge. Hier und da ein rothes Halstuch, ein schwarzer Schlapphut mit übermäßig großer Krampe, eine schmutzige Mütze, blaue Blousen, da und dort Festtagskleider, Cylinder, Pelzkragen, fettige Arbeitsröcke, schwielige Fäuste, auch magere, feine Hände. Man spricht hinüber und herüber, spricht von einem Tisch zum andern hin, steht auf und ruft über die Köpfe der Nachbarn einander zu: man fühlt sich eins, beinahe als ein einziges Wesen. Gedruckte Zettel gehen von Hand zu Hand. „Aufruf an alle Arbeiter Deutschlands" steht darüber mit fetter Schrift. „Werthe Genossen“ beginnt eine Aufforderung, nach welcher man nur Hüte kaufen soll, die mit einer Arbeitercontrollmarke versehen sind. Es gilt, Streikenden der Hutmacherbranche zu Hülfe zu kommen. Einige machen Witze, die meisten lesen den Aufruf mit ernsten Gesichtern, sehr sorgfältig, und fangen ein Gespräch an über den Inhalt.

Jetzt: ein lautes, tobendes, nicht endenwollendes Bravorufen. Ein Redner hat geendet. Was hat er gesprochen? Ab und zu drang eine grelle, scharfe Stimme herüber. Man hörte ein Wort wie: „Kampf um's Dasein“, „Darwin“, „Solidaritätsgefühl der Arbeiter“, „Internationale“. Es klingelt. Ein anderer tritt auf und theilt einige Curiosa aus dem Wahlkampfe mit, die an gewissen, besonders animirten Stellen des Saales ein schallendes Gelächter hervorrufen. Dann wieder ein anderer Redner. Ein kleiner, sehr sauber gekleideter Mensch, blond, mit schlauem Gesicht, Er beugt den Oberkörper vor, gestikuliert hastig, wie auffordernd mit beiden Armen in die Versammlung hinein. Seine Stimme ist grell und scharf, überall verständlich. Er bemüht sich augenscheinlich möglichst salopp zu sprechen. „Keen“, „Arbeeter" u. s. w. Hier und da johlt man belustigt. Ermunternde Zurufe und am Ende lauter, gröhlender Beifall, bei dem aber eine große Mehrzahl ernst bleibt und sich nicht betheiligt.

Der Vorsitzende klingelt. Eine Pause von 20 Minuten. Der Lärm steigert sich, die Gespräche werden lauter. Man geht hin und her. Der ganze Saal ist in Aufregung Mau treibt allerlei Scherze, ohne indeß Excesse aufkommen zu lassen.

Einer klopft mir auf die Schulter und theilt mir geheimnisvoll und vertraulich mit, daß in einem Nebenzimmer 40 Schutzleute und draußen in der Nähe des Locals eine Anzahl berittener stationirt seien. Er scheint sich darüber lustig zu machen. Am Tisch sprechen sie von einem adligen, conservativen Gutsbesitzer in Schlesien. „Der hat nich mehr wie wir! Er jab allens dem kleenen Mann!“ An einem anderen Tische macht einer sich wichtig, Er ist aufgestanden und hält eine Art Vortrag, dem man mit mehr oder weniger Aufmerksamkeit zu- hört. Hier schimpfen welche über die Christlichsocialen und Antisemiten, denen sie früher angehörten.

Ich stelle mich in die Höhe und sehe über die hundert und aber hundert Köpfe hin, über die ganze dunkle, wimmelnde Masse, die erhitzten Gesichter, die gestikulirenden Hände. Am anderen Ende des Saales verschwimmen die Gruppen in Tabaksrauch und alles scheint in eine compakte, dunkle, sich regende, tosende Masse zusammengewachsen. Mir kommt der Gedanke, wie es wäre, wenn diese gewaltige Menge plötzlich mit all den in ihr schlummernden Leidenschaften losbräche, diese hundert und aber hundert Menschen, die da jetzt plaudern, lachen, sich zerstreuen, ihre Hoffnungen, Wünsche und Ziele in allerlei bunten, krausen Phantasien gegenseitig austauschen . . .

Vom Präsidententisch wieder die Klingel. Es wird allmählich stiller. Man setzt sich und endlich herrscht ziemliche Ruhe. Man versteht jedes Wort des Vorsitzenden, der die eingelaufenen Wahlresultate verliest. Nach den meisten der Vorlesungen erhebt sich ein lauter, brausender Jubel. Zuweilen unterbricht er den Vorlesenden. Au einigen Stellen des Saales fängt man an, übermüthig zu werden. Andre zischen und gebieten Ruhe. Ein Mann mit langem, dichtem, schwarzem Vollbart tritt auf das Orchester und mahnt die Versammlung mit seiner verständigen, kräftigen Baßstimme: Es seien hier keine Kinder, sondern Männer und man müsse sich demgemäß betragen. — Die übrigen Verlesungen verlaufen nun ohne Störung. Nur nach Beendigung einer jeden lauter Jubel. Leute steigen hastig von beiden Seiten die Treppen zum Orchester herauf und legen Zettel auf den Tisch, immer mehr und mehr; und fast endlos wird der Jubel, als man aus einem bisher unzugänglichen Wahlkreis über einen bedeutenden Stimmenzuwachs berichtet. Man stößt vor Freude mit den Stöcken auf den Boden Man nickt sich über die Tische hin zu, man lacht sich an.

Die eingelaufenen Berichte sind verlesen. Eine neue Pause von 15 Minuten wird aus-gerufen. Wir erheben uns und zwängen uns mühsam dem Ausgange zu und nun sind wir wieder im Corridor und hinter uns, durch die offene Thür wieder der tosende Saal in diesem lilafarbenen, zarten Dunst mit den runden, weißen electrischen Monden dazwischen.

Die Straße ist still. Nicht mehr Verkehr wie gewöhnlich. Die Schuhleute stapfen hin und her, auf und ab, um sich zu erwärmen. Ein kalter, schneidender Luftzug fegt über die saubre Straße hin. Ueber dem schwarzen Hain funkeln die Sterne durch die kalte, klare Luft her.

Wir fahren bis zur Friedrichstraße.

Der Verkehr ist etwas, aber nur etwas lebhafter als sonst um diese Zeit. Wir mischen uns in den Menschenstrom, der ununterbrochen auf den Trottoirs hinwogt. Dieselben englischen Ueberzieher, spiegelglatten Cylinder, bunten Damenhüte mit dem hohen, phantastischen Feder- und Schleifenaufputz, dieselben modischen Bärte, Kneifer, Monocle, dasselbe eigenthümliche Parfum von türkischen, russischen, amerikanischen Tabaken, dasselbe fortwährende Rasseln und Rauschen der Droschken, Wagen und Omnibusse, das Donnern der Stadtbahnzüge, das ganze unruhige, nervöse Getriebe: alles was hier für die Passanten, für diesen ganzen Stadttheil charakteristisch ist.

Nirgends ist eine besondere politische Kampfesstimmung zu bemerken. Nur ab und zu in all den Verkehr hinein der Ruf der Extrablattverkäufer. Dieser und Jener, der sich auf Tumulte und Excesse gefaßt gemacht hatte, äußert sein Erstaunen. Aber alles bleibt ruhig, und ohne Erregung geht einer der stillsten Wahltage Berlins zu Ende.