Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Der Dichter greift in die Politik

Ludwig Rubiner

Source: Rubiner, Ludwig. “Der Dichter greift in die Politik.” Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 2, no. 21/23 (1912): 645-715.
First edition: “Der Dichter greift in die Politik.” Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 2, no. 21/23 (1912): 645-715.
Cite as: Rubiner, Ludwig. “Der Dichter greift in die Politik.” Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 2, no. 21/23 (1912): 645-715, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.73

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Domains: everyday culture, literature, politics

Frame: contemporary world, urbanity

Genre: manifesto

Mode: essayistic, proclamatory

Transgression: literature/essay

[645]

Der Dichter greift in die Politik

Die Legende ist der erste Schritt zur Wahrheit.

Dostojewski

Ein kritischer Dichter griff in die Politik, ein Literat. Viele wollen mich belehren, dass dies gleichgültig sei, dass der Fall überschätzt werde. Ich kann es nicht finden. Es ist zu bedenken, dass hier ein Mann Politik lehrt, der das Kunstdenken einer Generation erzogen hat. Wenn sein Psychologenblatt in einiger Zeit die Öffentlichkeit gewinnt (was nur eine Frage der Beharrlichkeit ist), so wird diese Politik auch wirken.

Gar nicht erst einlassen kann ich mich mit andern Leuten, Schweinen einer skeptischen Naivtuerei, die fragen: Wozu überhaupt man denn Politik treibe – und das Leben – und es komme doch alles von allein ...

Politik ist die Veröffentlichung unserer sittlichen Absichten. Und wenn es irgendwo eine Wahrheit gäbe, die beweisen liesse, dass unsere sittliche Absicht keine sittliche Pflicht ist – so sind noch hunderttausend Menschen da und bereit, sie für eine sittliche Pflicht zu halten. Das ist ausschlaggebend.

Ich weiss einiges, über das zu diskutieren ich nicht mehr bereit bin. Ich weiss, dass es nur ein sittliches Lebensziel gibt: Intensität, Feuerschweife der Intensität, ihr Bersten, Aufsplittern, ihre Sprengungen. Ihr Hinausstieben, ihr Morden und ihr Zeugen von ewiger Unvergessenheit in einer Sekunde. Ich kenne die Kanonaden der Erdkruste, Staub zerfliegt, alte [646]Dreckschalen werden durchschlagen, heraus siedet das Feuerzischen des Geistes. Ich weiss, dass es keine Entwicklung gibt. Ich weiss, dass das Anhäufen von Massen nicht die Motive dieses Anhäufens (im Menschen) ändert. Dass aus Quantitäten nie durch Addition Qualitäten werden (Entwicklungslehre). Sondern dass nur unsere Zivilisation fortschreitet (ohne Hohn!). Wobei zu sagen wäre, dass Zivilisation die Technik ist, unsere Ermüdungen abzulenken. Dass Zivilisation weder zu bekämpfen noch zu erstreben ist, sondern etwas Vorhandenes, welches uns umfängt, uns verbindlich macht, uns gefangenhält – aber nie beherrscht. Genau zu sprechen: der Fortschritt (unserer) Zivilisation wird uns immer mehr verhindern, unserm Tischnachbar ein paar Ohrfeigen runterzuhauen, aber er wird uns nie verhindern, dies zu wollen.

Ich weiss, dass es nur Katastrophen gibt. Feuersbrünste, Explosionen, Absprünge von hohen Türmen, Licht, Umsichschlagen, Amokschreien. Diese alle sind unsere tausendmal gesiebten Erinnerungen daran, dass aus dem fletschenden Schlund einer Katastrophe der Geist bricht. Nur ein sittliches Lebensziel gibt es: von diesen Erinnerungen die neuen sanften Süssigkeiten der kurz vergangenen Zeiten herabzuhauen. Den Fortschritt der Zivilisation aufzuhalten; herauszustossen die Selbstverständlichkeit und Sicherheit des Getragenwerdens von der Umwelt. Einen schnellen Augenblick die Inten- [647]sität ins Menschenleben zu bringen: Unter Erschütterungen, Schrecknissen, Bedrohungen das Verantwortlichkeitsgefühl des Einzelnen in der Gemeinschaft bewusst machen!

Es gibt Helden, und noch wenn sie krepieren, drohen sie Bewegungen des Schreckens an. Die Scharen der Zivilisation, dröhnende Legionen von Gemüsehändlern, Portiers, Journalisten, Bankbeamten, Premierenbesuchern, unglücklichen Lotteriespielern und patriotischen Hurenwirten treten ihre Leichen mit den Stiefelabsätzen zu Brei.

»Wir?«

Nein. Ich bin nicht allein.

Obzwar dies kein Beweis ist. Aber eine Freude.

Wer sind Wir?

Wer sind die Kameraden? Prostituierte, Dichter, Zuhälter, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfrasse, Pennbrüder, Einbrecher, Erpresser, Kritiker, Schlafsüchtige. Gesindel. Und für Momente alle Frauen der Welt. Wir sind Auswurf, der Abhub, die Verachtung. Wir sind die Arbeitslosen, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen.

Wir wollen nicht arbeiten, weil das zu langsam geht. Wir sind unbelehrbar über den Fortschritt, der ist für uns nicht da. Wir glauben an das Wunder, an das Abtun alles Fliessenden in uns, daran, dass unsere Körper plötzlich vom feurigen Geist brennend gefressen werden, an eine ewige Sättigung in einem einzigen Moment. Wir suchen Feuerscheine aus unserem Gedächtnis das ganze Leben lang, stürzen hinter jeder Farbe her, wollen in fremde Räume hinein, hinein mit uns in fremde Körper; verwandeln wir uns in Orgelstimmen, ins Schwingen von Instrumenten, schlüpfen wir durch alle Zellklumpen der Musik, heraus und wieder drinnen, wie Blitze.

Wir zünden eine Zigarette an, wir passen uns in einen neuen Rock, wir trinken Schnaps; Frauen lassen sich mit zuen Augen und wirren Armen ins Wasser fallen (auch sind anbetungswürdige brandstiftende Frauen da). Wir stürzen uns, mit vier Armen, grinsend verkrümmt auf lächerliche Chaiselongues, über Gebirge von Röcken hinweg dringen wir ineinander; es sind für uns Wunder. Und wir tun das alles immer wieder, weil wir nie bis ans Ende enttäuscht sind. [648] Unsere Hoffnung ist unermesslich, dass die übermässige Pressung der Seligkeit das tägliche Leben der Zivilisation in Trümmer sprenge.

Wer sind wir? Wir sind die Menschen aus den grossen Städten. Herausgetrieben in die Luft gepfeilte Silhouetten zwischen Jahrhunderten. Wir sind die, denen ein Aufenthalt auf der Haut schmerzt; Sekunden der Enttäuschung würden unvergesslich brennende Wunden der Langeweile fürs Leben. Es muss alles so schnell vorüber, dass die Vergangenheit zischend wie ein Staubschweif hinter Motoren in die Luft fährt. Um uns die Luft muss zittern. Niemals warten! Hindurch durch die schnellen Freundschaften und die Wutausbrüche Russlands, die gelbgoldenen Trompeten-Sermone Frankreichs, unter italienisches Misstrauen, blitzschnelles Aufdecken zwischen Konventionen, Hingegebenheit, stechende Worte, Sympathien, Überfälle – hindurch durch Englands Docks, morgens um fünf, unter einem stinkenden Berg von Menschen, die auf Arbeit warten, bereit vorzuspringen und den Nebenmann niederzutreten; hindurch durch den heulenden grauen Staub von Whitechapel ... Wir wollen nicht länger warten. Wir können es nicht länger aushalten.

Wir lieben diesen politischen Dichter so, weil er es nicht aushalten kann. Wir waren noch Schuljungen, da hat uns dieser Europäer gelehrt, dass man nicht zu warten braucht. Und dass »Geduld, alles wird sich schon entwickeln«, eine Stammtischparole ist. Der Mann, Deutschland von Gnaden geschenkt, war immer eine lebendige Katastrophe. Sein Leben ist ein schon mythenhaftes Beispiel unseres Nichtwarten-Könnens. Er kam immer mit Sprengungen in eine deutsche Öffentlichkeit, die gewöhnt ist, Schweinereien so lange entrüstet zu bemurmeln, bis sie sich einkalken. Sein Leben wäre klar, wenn man sich diese folgerecht gebaute Spirale ausdenken könnte: Er beseitigt in der grossen Stadt Tschikähgo Existenzen; einen herrschenden Kritiker, der von Kritisierten bar Geld und Viktualien erpresst. Einen herrschenden Dichtersmann, dessen Fett die Beef-Fabrikanten zum Applaudieren bringt. Einen Polizeiregenten, einen Boss, den überhaupt niemand mehr erträgt. Folgerecht ist dies Leben! Wie, und nur, weil dieses Wirken in der fernen Stadt Tschikähgo abläuft, durch die Ferne exotisch umhaucht ist, sollt es uns mehr angehen als, sagen wir, in Berlin? Wär in Berlin nicht dieser Weg viel Unsriger: vom Kritiker Tappert, [649]dem gesellschaftlichen Fall; über den Dichter Sudermann, dem öffentlichen Fall; zum Dirigenten Jagow, dem politischen Fall?

Ich muss immer lachen, wenn ein Synthet ängstet: Destruktion. Uns macht nur die (einzig!) sittliche Kraft der Destruktiven glücklich. Beweis: Dieser politische Dichter hat jedesmal die deutsche Sprache bereichert. Er hat Rüdigkeiten gelehrt, die im deutschen Bereich noch keiner ausgedacht hatte. Immer, wenn er auffliegen liess, wurden einzig unzerstörbare Geistigkeiten freigelegt; Beziehungen unserer (sorgfältig versteckt gehaltenen) täglichen Erfahrungen zu, ja, zu Seelischem.

Gewöhnung, Konservierung, Einpökelung, Abwendung, Schwindel ist es, wenn man den Fall dieses Europäers aus der Stadt erledigen will: »Er hat Mut, zugegeben!« Schwindel. Mut ist ein Symptom. Mut hat jeder Literat, wenn er dreimal um den Schreibtisch läuft. Es kommt darauf an, den Mut (oder den Unmut) zu wollen. Ich schrieb, vor etwa einem Jahr, und davon werde ich nichts zurücknehmen können.

»Dieser Mann, der Eindrücke empfangen und geben kann wie die Dichter, opfert selbst und bewusst das eilende, helle Leben; er mordet seine Lust. Mit einer ungeheuren Konzentration von Energie wandelt er Gefühlsformen völlig zu Zielen um, macht alle seligen Gleichgewichtsgenüsse seines Relativismus zunicht; und dieser von der Natur Eingesetzte, dieser herrliche ethische Jude – blond mit blauen Augen, ihr Rassentrottel – gibt Werte

Es kommt auf die Umwandlung der Energie an. Sittlich ist es, dass Bewegung herrscht. Intensität, die unser Leben erst aus gallertiger Monadigkeit löst, entsteht nur bei der Befreiung psychischer Kräfte. Umsetzung von Innenbildern in öffentliche Fakta. Kraftlinien brechen hervor, Kulissen werden umgeschmissen, Räume werden sichtbar, Platz, neue Aufenthaltsorte des Denkens; bis zur nächsten Katastrophe. Wir leben erst aus unsern Katastrophen, Störer ist ein privater Ehrentitel, Zerstörer ein religiöser Begriff. Und darum ist es gut, dass die Literatur in die Politik sprengt.

Jedoch:

In Deutschland hält man einen Universitätsprofessor für einen Genius, wenn er irgendwie auf das Jahr 1912 Bezug nimmt. So viel Mensch- [650]lichkeit traut diesem Gewerbe niemand zu. In Deutschland hält man einen Reichstagsabgeordneten für eine Individualität, weil er seit zehn Jahren immer dasselbe Buch von Anatole France zitiert. So viel Intelligenz hat niemand von einem Parlamentarier erwartet. In Deutschland hält man einen Revisionisten für den künftigen Leiter der Geschicke, weil er in Frisur und studierter Haltung Lassalle ähnlich sieht. So viel Impetuoso hat man von einem Sozialdemokraten nie erwartet.

Die bescheidenste Öffentlichkeit imponiert in Deutschland so ungeheuer, weil man sie zunächst, insgeheim, von Geburt aus für minderwertig erachtet. Die Möglichkeit, dass einer unter Umständen gezwungen sein könnte, sich unverhalten zu benehmen, gilt schon als die (durchaus vollendete) Tatsache der Unverhaltenheit. Darauf fallen wir alle in Deutschland rein; immer wieder. Alle. Als, nur eins vieler Beispiele, Hermann Wendel, ein wertvoller Publizist deutscher Sprache, in den Reichstag kam, haben wir uns alle gefreut. Wir trauten ihm zu, damals, dass er das Ungeschäftsmässige, den gutgeschriebenen Satz, Ahnungen vom Blut und die präzis tötende Glosse der Polemik in die Politik bringe. Wir haben uns natürlich getäuscht. Aus Gedankenlosigkeit; wir hatten den ersten Hauptsatz zur Politik vergessen: Verhaltenheit ist unsympathisch, aber die Atmosphäre der Öffentlichkeit macht in Deutschland die Leute dämlich.

Die Geschichte ist lächerlich. Wer in Deutschland die Öffentlichkeit besteigt, wird »fortschrittlich.« Er fühlt nicht mehr die Verpflichtung zu helfen, sondern hat die Unverschämtheit, erziehen zu wollen. Hier sagt, in der Öffentlichkeit politischer Läufte, kein Mensch mehr, wie er sich die Dinge denkt, sondern wie er ... wünscht ... dass man verstehen soll ... wohin eine Vorbereitung zielt ... die bewirkt ... dass man einmal verstehen wird ... was er jetzt verschwiegen hat. Fortschritt.

Politiker, die auch anständige Menschen sind, halten oft das Gelächter über ihre Politik für Symptom verstandloser Indifferenz. Indifferenz für Gemeinheit. Sie irren. Es ist nur Ablehnung einer Unterschätzung; Verachtung dessen, der einen unterschätzt. Nicht billige Überlegenheit, sondern eine, die uns trauert und die wir sehr wegwünschten. Beispiele wären: Ein Musiker hat den Ruf des gewaltigsten Kontrapunktikers, und man kennt nur Metropolliedchen von [651]ihm. Ein Dichter heisst genial und hat etwa nur Karl-May-Romane veröffentlicht; und ein geheimnisvoll schaffender grosser Maler hat beide mit Illustrationen versorgt.

Wir wünschen, uns mit unsern Politikern zu unterreden; nicht, von ihnen erzogen zu werden. Wir verwehren dem deutschen Politiker den Zutritt zu unserer Gesellschaft. Er schreibt zu schlecht. Er verwechselt Verständlichkeit (die ist Anrühren von Dingen, als welche von Geburt an in uns allen liegen) mit Unwichtigkeit. Und er ist sehr anständig, wenn er unter Parenthesen durchscheinen lässt, dass diese unwichtigen, weitmaschig gestrickten Reden nicht seine Angelegenheiten sind. In Momenten der Bewusstheit. Dies ist die Atmosphäre der deutschen Politiker. Währenddem in Frankreich die Politik den Menschen hebt, einen kaufmännischen Angestellten zu einem europäischen Schriftsteller macht, die (ewig erstrebenswerte) Kunst der Konzentration in die Menge bringt (man denke an die Szene: Herr Clemenceau, niemals ein Genie, doch ein Vertreter, deutet in einem höflichen Sätzchen von fünf Worten auf einen Quidam. In den Gängen laufen die Leute umher; ein Minister ist gestürzt. Und hinter diesem Mot stand nur ein Fragezeichen, wonach eine geformte Rede weiterging). Herr Bürger Cochon, ein Obdachloser, sieht aus seiner Wohnungslosigkeit das »Syndikat der Von-Hauswirten-vor-die-Tür-Gesetzten« erstehen, er gedenkt nunmehr Stadtrat zu werden. Er redet gut, und witzig zum Brüllen. Dabei ist kein Zweifel, dass dieser Mann, der jetzt bewegliche Phantasie und Handlungsfähigkeit übt, einmal mit der berühmten »Rente« sehr zufrieden sein wird; kein Zweifel, dass Clemenceau ein Gauner ist. Allein in diesen Grenzen der französischen Sprache ist das Schöne, dass die Politiker an ihren Leuten nicht Pädagogik treiben, sondern Injektionen machen. Sie steigern. Sie haben ihre gegenwärtigsten Privatwünsche im Herzen (gleichviel ob aus Schurkismus oder Notlage), und ihre Intensität steckt die Luft in Brand.

Da möcht ich etwas Herrliches von Robert Musil hersetzen. Und ein Satz, moralisch und undeutsch wie schöne Brückenbogen. Lehrhaft wie von einem Enzyklopädisten, psychologisch wie von einem Jesuiten; tatsächlich und als runde Erkenntnis gesprochen wie von einem Visionär. Er sagt – in dem unschätzbaren, menschenfreundlichen, darum unermesslich lie- [652]benswerten Novellenbuch »Vereinigungen« – er sagt: »Es kommt ja nur darauf an, dass man wie das Geschehen ist und nicht wie die Person, die handelt.«

[...] [709]II.

Es ist zu fragen: Wie kann ein Mann unseres Verstandes den Entwicklungsschwindel stützen? (Man antwortet sich selbst: aus Güte versickernd in geduldetes Missverständnis!)

Aber wo ist die berühmte »Entwicklung« und – wo nicht?

Entwicklung – Jargon des neunzehnten Jahrhunderts; gleich – Steigerung von Fähigkeiten aus einer Summierung von Mengen. (Qualitäten aus Quantitäten. Die Nuance als Stufe.) Wirkt re vera nur bei dem, was man, physikalisch gesprochen, »Masse« nennt. Also in der Zivilisation. Alles Technische steht unter der Entwicklung; die beliebten Fabrikschornsteine (in den netten Beleuchtungen populärer Maler), die Eisenbahnen (»das gewaltige Schienennetz«), die Telephone, die Rekorde der Titanics, die Drahtlosigkeiten, Seifen, Setzmaschinen, Kunstweine, die Gummiartikel, Photographien, Polizeiverwaltungen, die Kanonen, Luftschiffe, Konservenfabriken, Füllfederhalter, Mittagsblätter, die Anweisungen zu hypnotisieren, die gut imitierten Teppiche, Akkumulatoren, Gartentische, Gipsabdrücke, Rotationsdruck, Volksheere, Harrod, Duval, Aschinger und Sir Thomas Lipton – alle können sich entwickeln. Oder ist dies ein ungenaues Wort? Etwa so: alle können sich verfeinern und vermannigfaltigen; fortschreiten – Atome umlagern unter Druck und Widerdruck. Nur kann sich nicht entwickeln, was die Entwicklung macht; der – entschuldigen Sie – Geist. Einer kann Groschen- [710]semmeln an eilige Gäste verkaufen, um zwanzig Jahre später die Wirtschaft des pleitegegangenen Ausstellungsparks zu übernehmen.[1]Das ist eine Entwicklung. Der Weg vom Wurschtbrötchen bis zur neuen Millionpleite ist kontinuierlich, ein Fortschritt.

Aber Ideen kriechen nicht so auseinander heraus. Zwischen der Idee, nun, des Luftschiffes und der Idee des Aeroplans gibt es weder eine Entwicklung noch einen Fortschritt. Sie sind ganz unabhängig voneinander. Ideen sind immer da, und immer neu. Und jede Idee ist eine Katastrophe, wie jeder neue Mensch, den man kennenlernt.

Einmal, als der kritische Dichter seine Wut bekam (in der er instinktiv zum Geist gegen die Zivilisation hält), brauchte er auf den typischen Zivilisationsdichter dieses Wort: »In Deutschland nennt man jeden, der das Messer nicht in den Rachen stopft, einen Ästheten.« Man kann die (begreifliche, doch komische) Absicht der Zivilisationsrepräsentanten: ihre Entwicklungswelle für die der Welt zu halten, nicht stärken, witziger: sittlicher bescheinwerfen.

Zivilisation kann man lernen. Essen, sich in Grenzen aussprechen, unanstössig sein: [711]Geschmack. Alles zu lernen. Dies vom Geist zu sagen, wirkt sofort komisch. Nicht vielleicht aus mangelnder Gewohnheit.

Sondern aus sicherster Überlegenheit vor dem rein Quantitativen, Zusammenklebenden, Massigen, naturkundlich geredet, dem Beharrensvermögen der Zivilisation.

Man sieht, es gilt hier nicht, gegen die Zivilisation zu sein. Dies wäre ein entsetzlicher Unsinn. Ebensogut könnte man gegen »Quantität« oder gegen »Materie« sein wollen. Verse, gesäumet von der Farbe Rousseauscher Prismatik »seht, wir Wilden sind doch ...« oder »wir Kokotten sind doch bessere Menschen« oder »seht, wir Künstler ...« sind Quatsch. Die Zivilisation ist etwas Vorhandenes. Aber dies Vorhandene ist eine sehr partielle Angelegenheit der Welt. Im übrigen gibt es noch den Geist, den Geist, den Geist.

Der gute Dichter dichtert nicht von den Fabriken, den Telefunkenstationen, den Automobilen, sondern von den Kraftlinien, die aus diesen Dingen im Raume umherlaufen. Das Ding ist für Menschen da. Wir sind keine Idylliker. – Nun, nachdem das Maulaufreissen vor der Technik vorbei ist, weil man sie als etwas Selbstverständliches eingeordnet hat; nun ist kein prinzipieller Unterschied mehr zwischen der »Ilias« und H. Manns »Kleiner Stadt«. Kein prinzipieller. Was die »Ilias« näherrückt! – Kraftlinien bauen eine Dichtung. (Und nur solang man glauben konnte, dass Zivilisation die ganze Welt vollfüllt und dass nicht ein Marconisender der blosse Ausdruck einer Idee, sondern ein Ding für sich ist; und solang man diesen Niggerglauben hatte, war Homer »veraltet«. Indessen: bloss die Marconisender veralten!)

Ein Telephon ist angenehm, aber es muss manchmal zerstört werden.

Die Zivilisation ist wohltuend, aber sie trägt zu viel Zinsen. Wenn's nach der Zivilisation ginge, würde der grösste Bauch prämiiert, doch scheint sich dagegen etwas im Menschen zu wehren.

Denn wenn nicht mal die ganze Kiste klafft und alle Leute einen Todesschreck kriegen, dann ist das Leben langweilig. Ich zitiere den Dichter: »Immer Salamiwurst ...«

Wir freuen uns über jeden Kerl, der einen Moment lang die ganze Entwicklungssituation [712]der Zivilisation zum Gerinnen bringt. Einfältige etwa schwindeln »Weil die Geste schön ist«. Nein – weil er Bewegung in Zusammenhängendes bringt. Herrlich, wer die Kontinuität stört. Höhnungen gegen Gewöhnungen. Krater gegen Demokrater.

Unwürdig ist es des politischen Literaten, des Störers, des Geistigen, des Grundgestaltweisenden, unwürdig ist es seiner, zu glauben, für uns müsse er unter sein Können herab. Der marxistische (Evolutions-) Nachweis, dass die Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts einmal allen verfügbar sein muss – ist eine Überschätzung dieser Zivilisation.

Wir wollen, dass der Dichter hineinstösst in die kommerziellen Gleise, diese Eckchen voll Augenzwinkern, diese Pressfehden voll geschwindelter Aufregung, diese Geheimnis'chen, wo alles längst klar ist, dieses Verschleppen von Krisen. In die Sordinen dieser Immer-ruhig-Blut-Taktik nebst diätarisch bezahlter Aufregung auf Wochen, Tage und Stunden. In diese Bergwerks-, Eisenbahnen-, Petroleum-Interessenschübe. Hinein soll er in die Pathetophon-Vorstellung, so man Politik nennt. Und selbst, wenn Hemmungen sich vorschieben; wenn er seinem eigenen Leben nicht recht glauben will, sein Wüten nicht sieht, seine Katastrophen nicht erkennt; nicht mehr weiss, dass er um sich geschlagen hat, dass ihn der Wirbel seiner Aktionen auf Spiralen mitriss (und nicht auf sanften Ebenen). Selbst wenn ihm Naturwissenschaften imponieren, wenn er sonntags in die Entwicklungskirche geht; wenn er an die Marxisme glaubt, gehäufte Zivilisationen gäben gehäuften Geist. Selbst wenn er sich einer fixen Idee von himmlischen Hinaufstufungen der Umwelt mehr verpflichtet fühlte als den Zeichen seines eigenen Lebens: so tut er Unermessliches, dieweil er in die Politik greift.

Man hat russische Revolutionäre angegriffen, die in fernen Dörfern sagten: Heraus, der Zar hat befohlen, dass ihr Revolution macht! – Man hat denen vorgeworfen, sie stützten das absolutistische Prinzip. Falsch, falsch, Rederei! Sie haben gut getan. (Wertvoll ist doch in diesem Spass: Durch Stützen Stürzen!) Es kommt darauf an, Erschütterungen zu erzeugen.

Wenn der Dichter, der Erschütterer, zur Politik kommt – bei diesem Umwandeln der [713]Selbstgenüsse und Selbstzerfleischungen in Ekel des Handelns, beim tiefen seligen Auskosten der Schweinerei: Volksmann zu sein; beim unermesslichen Glücksgefühl, wehrlos, im Wind eine Stimme für andere zu sein (wenn man bis dahin seine eigene war); – bei dieser unschätzbaren Selbstaufgabe, die nur für den konzentriertesten Mann da ist, und also von neuem: bei dieser Umwandlung der Kräfte wird Unmessbares an sittlicher Energie frei. Dies strahlt in den Raum, fährt mit Brisanzeffekt unter die Stühle von Literaten, Geniessern, Politikern. Soundsoviel Stuben sind plötzlich, in denen man merkt, dass es in der Welt klafft. Man nennt das die moralische Wirkung.

Darf ich reden, wie sie einmal zu spüren war, als in einer verängstigten Volksversammlung – weil nur zwei dünne Bogenlampen mit vielen Schatten grünlich flammten – der Politerat zu uns sprach. Wie er plötzlich uns kannte, als es um die Sache ging, wie er die ängstlichen Bedürfnisse einer Masse nach Pathos, Würde, Abwehr durchschaute. Mit unerwartet tiefer Stimme, sinnlicher Vergeistigung, tiefe schwingende Metallzungen hinter blauen Samtvorhängen: pfefferte er eine Bombe voll Assoziationen unter uns. So konnt er auf einmal zitieren, sagen wir, einen Philipp II.; wir erinnern uns unter erschrecklichem Lächeln an Klassenzimmer, Wut, Ekel. Und wir greifen Wut und Ekel in unser Gefühl auf, um sie gegen jene Institution zu kehren, die von der Versammlung bekämpft wurde. Nun musste er nur noch Deutungen bestimmen. Nennen, wie von einem Transparent herab, die »moralische Wirkung«. Und sie stand wahrhaft da.

Aber nur Der erzielt das, der von dem geistigen, freien Schweben freiwillig sich herabschleudern lässt auf die Platt-Form des Volksmanns. Der Geistige, der zum Volksmann wird, gibt von dem Geist ab. Er fühlt, er »schraubt sich herab«. Aber in Wahrheit setzt er das Verlorene um. Der Dichter wirkt tausendmal stärker als der Politiker, der im Moment vielleicht fetter effektuiert. Der Dichter ist der einzige, der hat, was uns erschüttert, Intensität.

Doch muss man ihn bitten, nicht schon das Herabschrauben allein für erschütternd zu halten. Er soll wissen, dass er ein Erzieher ist, auch ohne die Umstände eines solchen zu machen. Und er wird erinnert, dass es seiner [714]unwürdig ist, etwa einen Justizrat Dr. Spiesser vom Hamsterbund für einen Lebensmenschen zu halten, menschlicher und leeblicher, als er selber sei. Wir wissen, auch er überschaut beispielsweise, dass die Leute, welche in Abendtoilette Volksstimmung markieren, dieweil sie mit den Stiefelabsätzen sterbende Aufrührer zu Brei treten, von ein paar (demokratischen) Bankiers gemietet sind. Gemietet sind Empörung zu produzieren. Er weiss, dass diese öffentliche Meinung, diese Matins, Figaros, Petits Journaux, gekauft sind von Bänkern, die ihre allgemeine Existenz bedroht fühlen.

Das alles weiss er. Und – welche Pietät kann ihn verpflichten, das Leben in die Länge zu ziehen? Seinen Geist seine Katastrophen, sein Nicht – mehr – aushalten – Können pädagogisch aufzuwenden in milderen Marxismen für das wählerische, doch indifferente Bürgertum? Diese Horde, die ihn füttert, gewöhnt; verbraucht –: Nieder mit den Demokraten!

Er weiss, Dichter, Polites, Mann der Stadt, weiss, wie dankbar wir ihm für seine Existenz sind. Dass unsere Willen geneigt sind, in seinen Schwingungen zu stossen. Doch er höre uns. Er glaube uns. Er wisse, dass ihn sein Körper nicht täuscht; dass sein Leben recht hatte, wenn es ihn über Katastrophen, Ermüdungen, Wutausbrüche, und über Ungeduld, die tötete, geführt hat. Dies alles braucht er heute nicht mehr umzuschalten. Wir sind da, zu denen er direkt sprechen kann, ohne Umwege über Bequemlichkeiten und Wissenschaften. Er spreche auch zu denen, die nicht warten können – wie er nie warten konnte. Zu denen, die an ihm die Unbedingtheit lieben, die in ihm Zerstörerisches fanden, Intensität. Zu seinen Brüdern, den Ungeduldigen. Den Sittlichen. Er verhalte nicht seine heisse Haut hinter den Verteidigungstheorien der Zivilisation (Evolutionsmythen mit nunmehr kirchlichem Klimbim). Er spreche von den Katastrophen, die er zu sehen uns gelehrt hat. Er glaube uns, dass wir nicht Umschweife über Versprechungen hören müssen, um überhaupt hören zu können. Wir sind so ungeduldig wie er. Drum sprech er von sich, wir werden angerührt.

Der Fall liegt so: Verknotung von Wissen um Menschen mit Pflichten für Menschen. (Ein Augenblick der Verlegenheit.) Aber schon von der Möglichkeit dieser Kreuzung steigt sittliche Kraft aus dem Dichter. Doch welch eine Wirkung müsst es haben, wenn unter dem Druck [715]der politischen Pflicht auch das Gewusste ganz gesagt wird!

Für einen politischen Fall der politischen Versprechungen, der Vertröstung auf Kommendes; der Herabstufung von lebendigem Dasein in Entwicklungskonfessionelles – für diesen Fall setzt ich die Formel Dostojewskis hin. (Eines Aufrührers, der sein Ich auf Jahrhunderte ins Volk gesprengt hat.)

Die Legende. Nichtisoliertsein. Gemeinsames Suchen. Umhergreifen. Dabei hinfassen, wo die Luft bebt, hinein ins Geäder der Kraftstrahlen. Zusammenballen zur Form der Idee, aus der sie springen: Gestalten.

Und sei dies auch Erfundenes, Unmessbares. So ist es doch das Brennen, in dem gewisslich wir leben. (Brennen, Feuer, Wunden, Abenteuer. Intensität statt bibbernder Zukunft. Denn Altwerden ist Schwindel oder Gemeinheit!)

Aber wie aus Illusionen Realismen springen, so steht drüben, auf der andern Seite, unglaubhaft schwebend aus der Legende die Wahrheit als himmlisches Jerusalem.

»Die Legende ist der erste Schritt zur Wahrheit.«

Doch täuschungslos gesprochen: sie macht nie den zweiten Schritt.

Der politische Dichter glaube an sein Leben, an seinen Körper, an seine Bewegung. Der Dichter greift in die Politik, dieses heisst: er reisst auf, er legt bloss. Er glaube an seine Intensität, an seine Sprengungskraft. Es geht ja weder um unsere Zivilisation noch um ihre Entwicklung. Der politische Dichter soll nicht seine Situation in Erkenntnissen aufbrauchen, sondern er soll Hemmungen wegschieben. In Deutschland, wo meine Brüder sich verfluchten, als diese Zeilen noch nicht geschrieben waren (und wo man mit manchem, den man liebt, verkracht, da sie geschrieben wurden), in diesem Lande der Verdammnis und der Geisselungen geht es jetzt nicht drum, von unserer Legende zu irgendeiner Wahrheit zu kommen. Es gilt nur, dass wir schreiten. Er gilt jetzt die Bewegung. Die Intensität, und den Willen zur Katastrophe.

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