Reichtum, Chaos und Form: Twilight Zones Edition Lukács Georg TEI encoding Schöfberger, Riccardo data modeling Scholger, Martina text compilation, text analysis Knaller, Susanne text compilation, text analysis Moebius, Stephan text editing, text correction Huber, Mario text editing, text correction Pachner, Marie-Therese digital implementation Stüger, Marie Twilight Zones Knaller, Susanne Moebius, Stephan Scholger, Martina Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System 2020 Graz o:liminal.lukacs.2011a context:liminal.texts Reichtum, Chaos und Form <title type="main">Die Seele und die Formen Essays Lukács Georg Butler Judith Benseler Frank 2011 Bielefeld Aisthesis Lukács, Georg. Die Seele und die Formen. Essays. Berlin: Egon Fleischel, 1911. Domains literature sciences education gender Frame academic life Genre dialogue Mode essayistic scenic Transgression literature/science German Initial TEI encoding Initial TEI encoding Terms Genre miscellaneous small forms talk Emotions emotion types love shame feeling pain description and paraphrase of emotions Tools media press plurimedial forms Frame and Location private and institutional spaces private spaces Movement medial practices reading Fields sciences humanities arts literat Techniques Styles emphatic antagonistic discursive Intertextual Patterns quotes names notions works Concepts Author Roles observer of everyday life Emotions observation of emotions Genre and Forms art and life Values life being human Reality becoming life Perception immersive Me/We-Relation experience self-awareness gender
Reichtum, Chaos und Form Ein Zwiegespräch über Lawrence Sterne

Die Szene ist ein einfach-bürgerliches Mädchenzimmer, wo das Ganzneue mit dem Ganzalten sonderbar anorganisch vermengt erscheint. Die Wände deckt eine bunte und gewöhnliche Tapete, die Möbel sind klein, weiß und unbequem; die eines durchschnittsmäßigen bürgerlichen Mädchenzimmers, nur der Schreibtisch ist schön, groß und bequem, und in der Ecke, hinter einer japanischen Wand, das große Messingbett. An der Wand dasselbe anorganische Wesen. Familienbilder und japanische Holzschnitte, Reproduktionen moderner Gemälde und alter, die heute modern sind; Whistler, Velasquez, Vermeer. Über dem Schreibtisch die Photographie eines Fresko des Giotto.

Beim Schreibtisch sitzt ein auffallend schönes Mädchen. In ihrem Schoß liegt ein Buch: die Sprüche Goethes; sie blättert darin und scheint zu lesen; sie erwartet jemanden. Es läutet. Da vertieft sich das Mädchen in die Lektüre, so daß sie erst das zweite Klopfen hört; sie steht auf, um den Eintretenden zu begrüßen. Es ist ein Kollege von der Universität. Er ist etwa im gleichen Alter, wie sie, vielleicht ein klein wenig jünger: ein zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre alter, gutgewachsener, blonder junger Mann, den Scheitel auf der Seite; er trägt Klemmer und bunte Weste, studiert moderne Philologie und ist in das Mädchen verliebt. Er hat einige abgegriffene Lederbände unter dem Arm - Engländer vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts - legt sie auf den Schreibtisch. Sie schütteln sich die Hände; setzen sich.

S i e. Wann halten Sie Ihren Vortrag im Seminar?

E r. Ich weiß noch nicht bestimmt. Ich muß noch Verschiedenes nachsehen; ich muß auch noch ein paar Jahrgänge „Spectator“ und „Tatler“ durchblättern.

S i e. Was plagen Sie sich - für diese Leute? Es ist gut genug, so wie es heute ist - bemerkt einer, was noch daran fehlt?

E r. Das mag sein. Aber Joachim ...

S i e (unterbricht ihn). Ja, weil Sie immer alles mit ihm besprechen.

Er (lächelt). Vielleicht nicht bloß darum. Und wenn auch. Ich mache es mir zuliebe. Die Arbeit macht mir jetzt Freude. Sie gefällt mir. Es ist so nett, mit den kleinen Tatsachen zu hantieren. Sie bringen mich auf vieles, was ich ohne ihre Hilfe wahrzunehmen zu faul gewesen wäre. Und doch denke ich nicht nach und muß mich nicht anstrengen. Ich lebe bequem - und nenne das „mein wissenschaftliches Gewissen“ und bin glücklich, ein „strenger Gelehrter“ zu heißen.

S i e (der die Sache sehr gefällt). Seien Sie nicht zynisch, Vincenz. Ich weiß sehr wohl, wie ernst und wichtig Ihnen - zutiefst - diese Abrundung ihrer Materie ist.

V i n c e n z (ist zwar nicht sehr überzeugt, doch gibt er sich gern mit dieser für ihn schmeichelhaften Erklärung zufrieden. Dann nach einer kleinen Pause): Möglich, daß Sie recht haben. Gewiß. (Wieder eine kleine Pause.) Ich habe Sterne mitgebracht. Wie Sie sehen, hab ich nicht daran vergessen.

S i e (nimmt das Buch in die Hand, streichelt den Einband). Eine schöne Ausgabe.

V i n c e n z. Ja, die von 1808. Fein. Haben Sie vorne den Reynolds angesehen? Fein, nicht wahr?

S i e. Und die übrigen Stiche, wie hübsch. Sehen Sie mal! (Eine Weile betrachten sie die Stiche.) Was werden Sie mir daraus vorlesen?

V i n c e n z. Vielleicht fange ich mit der „Sentimental Journey“ an. „Tristram Shandy“ werden Sie dann, wenn Sie Lust darauf kriegen, allein lesen. Einverstanden? (Er spricht mit einer sehr guten, doch bewußt affektierten englischen Aussprache.) Hören Sie bitte! (Er liest den Anfang der Reise, die erste kleine sentimentale Episode mit dem Bettelmönch, die humoristische Einteilung der Reisenden, den Ankauf der Chaise, das erste platonisch-sentimentale Abenteuer mit der Unbekannten. Er liest rasch und nervös, mit scharfem und reinem Akzent, ohne jede Sentimentalität, und gerade die sentimentalen Stellen, wenn auch leise und fast unmerklich, mit ironischem Tonfall. Er liest so, daß man bei jedem Satze merkt, es handelt sich hier nicht um Angelegenheiten, die ihm sehr wichtig sind, sondern um etwas, das ihm, unter all den vielen schönen Dingen, die ihm in den Weg gekommen sind, gerade gefiel, und auch darin, wie es ihm gefällt, ist viel Laune und Verliebtheit in die eigenen Launen. Als sie beide schon tief in die Lektüre versunken sind, klopft es von neuem, stark und bestimmt, und gleich darauf tritt Joachim ein, beider Kollege von der Universität. Er ist so alt, wie sie, vielleicht ein klein wenig älter. Er ist größer als Vincenz, schwarz, einfach, fast ärmlich gekleidet. Er hat harte, fast unbewegte Züge. Auch er studiert moderne Philologie und auch er ist in das Mädchen verliebt. Darum mißfällt ihm diese Stimmung ruhiger Eintracht, die er zwischen den beiden fühlt. Er tritt zu ihnen und begrüßt sie. Dann nimmt er Vincenz das Buch aus der Hand.) Was lesen Sie?

V i n c e n z (ein wenig nervös, teils weil er sie gestört hat, teils weil er die in der Frage versteckte Opposition herausfühlt). Sterne.

J o a c h i m (geht auf den Ton ein; lächelt). Hab ich etwa gestört?

V i n c e n z (ebenfalls lächelnd). Jawohl. Der ist nichts für Sie. Schön ist er. Amüsant. Reich. Und gar nicht regelmäßig.

S i e (böse über die Unterbrechung). Wollen Sie wieder einmal disputieren?

J o a c h i m. Nein. Ich wenigstens nicht. Nie. Und heute am wenigsten. (Zu Vincenz.) In einem nur hatten Sie unrecht - haben Sie keine Angst, ich will nicht disputieren - nicht zu mir paßt Sterne nicht, - obgleich ich ihn nicht liebe, das haben Sie erraten - sondern zu diesem hier. (Er zeigt auf den Band Goethe, der noch immer im Schoß des Mädchens liegt.) Den haben Sie gelesen, bevor Sie mit Sterne anfingen?

S i e (dankbar, daß es endlich jemand bemerkt hat und deshalb warm zu Joachim mit verborgener Spitze gegen Vincenz). Ja, ich habe Goethe gelesen. Warum fragen Sie danach?

J o a c h i m. Weil Sie gewiß, während Sie Sterne lasen, gefühlt haben: was hätte er dazu gesagt? Wäre er diesem Durcheinander heterogener Elemente nicht gram gewesen? Hätte er das, was Sie da lasen, nicht verachtet, wegen seines Ungeordnetseins, seines Unverarbeitetseins? Hätte er Ihren Dichter nicht einen Dilettanten genannt, weil er die Gefühle so gibt, wie sie sind, als rohe, unverarbeitete Materie, und gar nicht nach einer einheitlichen Gestaltung ringt, nach einer Form, wäre sie noch so minderwertig. Sie haben doch gelesen, was er über die Dilettanten sagt? Erinnern Sie sich? „Fehler der Dilettanten: Phantasie und Technik unmittelbar verbinden zu wollen.“ Sollte man nicht jeder Kritik Sternes diese Worte vorsetzen? Und müßte nicht die Erinnerung an das unmittelbare Erleben solcher Worte eine hingebende Versenkung in irgend eine Formlosigkeit hindern?

S i e (ein wenig unsicher, was sie mit angenommener Festigkeit der Stimme maskieren will). Es ist ja gewiß etwas daran, an dem was Sie sagen, gewiß, doch Goethe hat doch nicht ganz so ...

V i n c e n z. Ich glaube zu wissen, was Sie sagen wollen, und, bitte, erlauben Sie mir zu vollenden, was Sie angefangen haben: Goethe war nie Dogmatiker, „Laßt uns doch vielseitig sein!“ sagt er und das wollten Sie anführen, nicht wahr?

S i e (nickt ein dankbares und warmes Ja und ebenso, wie früher, vor dem Intermezzo, gibt ihr Schweigen Vincenz recht, was beide Männer fühlen).

V i n c e n z (weiter sprechend). „Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien, und diese beiden edlen Früchte wachsen weit auseinander!“ Und noch tausend andere Stellen könnte ich anführen. - Nein! Im Namen Goethes gegen solche Genüsse zu sprechen, geht nicht an. Gegen keinen Genuss, gegen keine Lust. Gegen nichts, was uns bereichert, was unserm Leben etwas Neues geben kann!

J o a c h i m (ein wenig ironisch). Was Sie nicht sagen!

V i n c e n z (dessen Gereiztheit sich immer offener kundgibt). Und wenn ich gar nicht wüßte - und es ist ausgeschlossen, daß Sie es nicht ebenfalls wissen - was Sterne Goethe bedeutet hat, mit welch dankbarer Liebe er immer von ihm spricht, als von einem der wichtigsten Erlebnisse seines Lebens. Erinnern Sie sich nicht? Und können Sie sich nicht an die Stelle erinnern, wo er sagt, daß auch das XIX. Jahrhundert erfahren müsse, was es Sterne schuldet und einsehen lernen, wo es ihm überall noch verpflichtet werden könne? Erinnern Sie sich nicht? Und entsinnen Sie sich nicht der Stelle, wo er sagt: „Yorick Sterne war der schönste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn liest, fühlt sich sogleich frei und schön!“ Erinnern Sie sich nicht?

J o a c h i m (scheinbar sehr ruhig und überlegen). Zitate beweisen nichts. Das wissen Sie ebenso gut wie ich. Ich weiß, daß Sie noch eine halbe Stunde lang in dieser Richtung weiter zitieren könnten, und gewiss wissen Sie selbst, daß auch ich - ohne mich von Goethe zu entfernen - für meinen Standpunkt beliebig lange weiter zitieren könnte. Und jeder von uns würde für sich seinen resignierten Spruch anführen, daß man keinen überzeugen könne, weil die falschen Urteile tief unten im Leben eines Jeden wurzeln, nur müsse man ihnen gegenüber fortwährend die Wahrheit wiederholen. Und dem Andern gegenüber jenen ebenso resignierten, daß unsere Gegner uns widerlegt zu haben glauben, wenn sie ihre Meinung wiederholen und auf unsere nicht achten. Nein! Zitate stützen alles und unterstützen eigentlich gar nichts! Und wenn ich auch alle Zitate der Weltliteratur gegen mich hätte, - trotzdem weiß ich: in diesem Streite stände Goethe neben mir. Und wenn auch nicht - vieles konnte er sich erlauben, was wir uns nicht erlauben dürfen - mein erstes Gefühl wird wahr bleiben: es ist eine Stillosigkeit, nach Goethe Sterne zu lesen. Und vielleicht habe ich noch mehr Recht, als ich vorhin glaubte: Goethe und Sterne kann man nicht zugleich lieben. Und der liebt nicht den wahren Goethe oder versteht seine eigene Liebe nicht, dem auch die Schriften Sternes viel bedeuten.

V i n c e n z. Ich glaube, Sie sind es, der Goethe mißversteht, nicht ich (er sieht das Mädchen an), nicht wir. Sie lieben etwas in ihm, was ihm selbst nebensächlich in sich war. Doch in einem haben Sie Recht: sprechen wir nicht in seinem Namen. Er wird keinem von uns Recht geben können, sondern bloß Argumente; und überhaupt wäre es ihm, glaub ich, ziemlich gleichgültig, wer von uns recht behält. Es ist auch wirklich durchaus gleichgültig, wer überhaupt Recht hat.

Recht haben! Unrecht haben! Was für eine kleinliche, unwürdige Frage! Und wie wenig berührt sie die Punkte, von denen die Rede ist! Das Leben! Die Bereicherung! Angenommen, ich gäbe zu - ich tu es freilich nicht - Sie hätten Recht: wir wären inkonsequent gewesen, die zwei Gegenstände, mit denen wir uns beschäftigt haben, reimten sich nicht zusammen - was dann? Wenn wir die Dinge nur ein bischen stark erleben, widerlegt die Intensität unserer Erlebnisse jede uns von außen aufgedrängte Theorie. Es ist einfach unwahr, daß zwischen starken Erlebnissen ein starker, einschneidender Widerspruch denkbar ist. Es ist unwahr: denn das Wesentliche ist eben dort, wo ich die Dinge einmal gepackt habe, in der Kraft des Erlebnisses: die Möglichkeit, daß Beides uns ein tiefes Erlebnis werden konnte, schließt die Möglichkeit eines Widerspruches aus. Der Widerspruch ist irgendwo draußen, außer ihnen, außerhalb alles dessen, was wir über sie wissen können – im Nichts, in der Theorie.

J o a c h i m (ein wenig ironisch). So findet sich freilich Alles in Allem, so -

V i n c e n z (unterbricht ihn heftig). Und warum denn nicht? Wo ist das Gemeinsame und wo der Widerspruch? Das sind nicht Eigenschaften der Dinge, es sind nur die Grenzen unserer Möglichkeiten. Und es gibt kein a priori den Möglichkeiten gegenüber, und es ist nichts mehr an ihnen zu kritisieren, wenn sie aufgehört haben, Möglichkeiten zu sein; wenn sie sich verwirklicht haben. Einheitlichkeit bedeutet, daß etwas beisammen bleibt, und das Beisammensein ist hier das einzige Kriterium der Wahrheit; über seinem Urteil gibt es keine Instanz mehr.

J o a c h i m. Sehen Sie nicht, dass dies, zu Ende gedacht, zur vollständigsten Anarchie führt?

V i n c e n z. Nein! Denn nicht vom Zu-ende-denken ist hier die Rede, sondern vom Leben. Nicht von Systemen, sondern von neuen, sich niemals wiederholenden Wirklichkeiten. Von Wirklichkeiten, wo jede folgende nicht Fortsetzung der vorangehenden ist, sondern etwas ganz Neues, etwas, was auf keine Art voraus zu sehen, etwas, was mit Theorien, mit „konsequentem Zu-ende-denken“ nicht einzufangen ist. Und Grenze und Widerspruch sind nur in uns, ebenso wie die Möglichkeit einer Vereinheitlichung. Wenn wir irgendwo einen unlösbaren Widerspruch verspüren, so sind wir an den Grenzen unseres Selbst angelangt; und wenn wir diesen feststellen, sprechen wir von uns, nicht aber von den Dingen.

J o a c h i m. Freilich ist das wahr. Doch wir dürfen nie vergessen, daß es Grenzen in uns gibt, die nicht unsere Schwäche, Feigheit oder Empfindungslosigkeit gegen unsere Eindrucksmöglichkeiten ziehen, sondern das Leben selbst. Unser Leben. Und wenn eine mahnende Stimme in uns sie zu überschreiten verbietet, so ist sie die Stimme des Lebens und nicht die des Zurückschreckens vor seinem Reichtum. Wir fühlen: nur innerhalb dieser Grenzen liegt unser Leben und was außer ihnen ist, ist nur Krankheit und Auflösung. Die Anarchie ist der Tod. Darum hasse ich sie und bekämpfe ich sie. Im Namen des Lebens. Im Namen des Reichtums des Lebens.

V i n c e n z (höhnisch). Im Namen des Lebens und seines Reichtums! Das klingt ganz schön, solange Sie Ihre Theorie auf nichts anwenden wollen. Sobald Sie mit ihr aus der Einsamkeit des ewig Abstrakten heraustreten, wird eine Theorie daraus, die die Tatsachen brutalisiert. Vergessen Sie nicht, daß wir von Sterne sprechen und gegen ihn erheben Sie Einspruch - im Namen des Lebens und seines Reichtums?

J o a c h i m. Ja.

V i n c e n z. Aber merken Sie denn nicht, daß es keinen Punkt gibt, wo Sterne weniger angreifbar wäre, als eben hier? Daß, wenn wir ihm auch alles auf der Welt absprechen, wir ihm dies nimmer nehmen können: den Reichtum, die Fülle, das Leben. Ich will jetzt nicht von der Fülle seiner kleinen stilistischen Bijoux reden und von jenem wogenden Reichtum, womit jede kleinste Lebensoffenbarung in seinen Schriften überschüttet ist. Denken Sie, bitte, nur an das strotzende Leben einiger Gestalten des „Tristram Shandy“ und bei diesen Gestalten an die in tausendfarbigen Reflexen leuchtenden Lichter ihrer Beziehungen zueinander. Heine verehrte ihn als Bruder Shakespeares und Carlyle liebte ihn, wie er nur Cervantes liebte. Und Hettner verglich das Verhältnis der Brüder Shandy zueinander mit dem zwischen Don Quixote und Sancho Pansa. Und er hat auch gesehen, daß bei Sterne dieses Verhältnis vertieft ist - und fühlen Sie nicht, welch reiches Leben es eben durch die Vertiefung gewinnt? Der spanische Ritter und sein dicker Knappe: sie stehen nebeneinander, wie Schauspieler und Kulisse und jeder ist bloß Kulisse für den anderen. Sie ergänzen einander. Gewiß; aber nur für uns. Ein geheimnisvolles Schicksal hat sie nebeneinander gestellt und führt sie das ganze Leben hindurch nebeneinander her. Und jedes Erlebnis des einen wird ein Zerrspiegel von allen Lebensmomenten des andern und dieses fortwährende Nacheinander der entsprechenden Zerrbilder ist das Symbol des Lebens. Ein Zerrbild der nie zu lösenden Inadäquatheit des Verhältnisses der Menschen untereinander. Schön, aber Sie merken doch: Don Quixote und Sancho Pansa haben trotzdem keine Beziehungen zu einander; als Menschen wenigstens nicht. Es findet keine Wechselwirkung zwischen ihnen statt, nur eine solche, die zwischen den Menschen eines Bildes zu bestehen pflegt: eine lineare und eine koloristische - keine menschliche. Daumier konnte ihr ganzes Verhältnis, ihren ganzen Charakter rein linear ausdrücken. Und nicht allzu paradox klänge die Behauptung: alles, was Cervantes geschrieben hat, alle Abenteuer, die er seine Helden durchmachen läßt, all dies ist nur ein erläuternder Text zu diesen Bildern, nur eine Emanation der Idee, des a priorischen, an Kraft und Lebendigkeit das reale Leben überschreitenden Lebens, das in diesem Linienverhältnisse auszudrücken möglich war. Und Sie wissen auch, was es zu besagen hat, daß diese Schicksalsbeziehung so auszudrücken war? Es besagt, daß hier die Monumentalität und zugleich die Intensitätsgrenze der Konzeption des Cervantes ist. Daß in seinen Gestalten etwas Maskenhaftes ist: der eine ist groß und der andere klein, der eine dünn, der andere dick, und die also geartete Existenz eines jeden ist absolut und das Gegenteil von vornherein ausschließend. Daß der Relativismus, das Schwanken aller Verhältnisse nur noch im Leben, im Abenteuer zu finden ist, und die Menschen noch ganz ungebrochen sind. Ihre Geste dem Leben gegenüber ist einheitlich, ihr Charakter maskenartig, und zwischen diesen verschiedenen Menschen ist nichts Gemeinschaftliches und keine Möglichkeit einer Berührung.

Sterne hat nun in seine Menschenbetrachtung die Relativität hineingebracht. Beide Brüder Shandy sind Don Quixote und Sancho Pansa zugleich. Und in jedem Augenblick erneuert sich dieses Verhältnis, kehrt sich um und verwandelt sich wieder zurück. Jeder von ihnen besteht Windmühlenkämpfe und jeder ist verständnislosnüchterner Zuschauer bei den fruchtlosen und ziellosen Kämpfen des anderen. Dieses Verhältnis auf irgend eine Formel zurückzuführen, ist unmöglich. Keiner der Brüder Shandy trägt die typische Maske eines ständigen Weltgefühles. Was sie tun, worin sie als Enkel des edlen Ritters erscheinen, alles wird so nebensächlich neben der erhaben-grotesken Inadäquatheit der Verhältnisse. Man pflegt nicht ohne Recht zu sagen, Walter Shandys ohnmächtige Fremdheit den Dingen gegenüber sei das ewige Unvermögen des Theoretikers vor den Realitäten. Ich weiß, daß man dies sagen kann und vielleicht hat noch niemand die gewaltige Symbolik dieses Verhältnisses mit genügender Schärfe und Tiefe ausgedrückt. Und doch sind die Verhältnisse der Menschen zu einander hier das wirklich Tiefe, nicht die einzelnen Menschen; die alles umfassende Mannigfaltigkeit und Fülle des Kreises, den sie bilden, ob er gleich nur aus einigen Menschen besteht. Wie reich ist allein das Verhältnis der Brüder zu einander! Ist es nicht rührend, wie sie ihrer Zusammengehörigkeit bewußt sind, wie das Gefühl einer inneren Gleichheit - in einer dem Gedanken unzugänglichen Tiefe - in ihnen lebt, wie der große Schmerz in ihnen zittert, daß eben dieses sie auf immer hoffnungslos trennen wird? Rührend, wie sie manchmal auf die Don Quixoterie des andern einzugehen trachten und wie sie ihn ein andermal kurieren wollen - aus dem Inhalt seines Lebens. Und doch gibt es keine Gelegenheit, wo sich ihr Verhältnis nicht in grotesker Komik offenbarte; meistens mit solcher Kraft, daß aus dem großen Gelächter die Ursache des Lachens, das tiefe seelische Nicht-zueinander-kommen-können nur als leise Begleitung herausklingt. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, in welchem Maße das Wortspiel in dieser Welt zum Lebenssymbol wird. Zum Symbol der nur andeutenden, vermittelnden Beschaffenheit der Wörter, zum Symbol dessen, daß sie das Erlebnis weiterzugeben nur dann imstande sind, wenn der Zuhörende dasselbe erlebt hat. Doch die Brüder Shandy sprechen nur mit einander, nicht zu einander, und jeder achtet nur der eigenen Gedanken und hört nur Worte aus dem Munde des anderen, nicht Gedanken und Gefühle. Und bei jedem Wort, das seine Gedanken nur von weitem berührt, stellen sich gleich diese ein und der andere nimmt den Faden ebenso wieder bei den eigenen Gedanken auf. Die Wortspiele sind hier Kreuzwege, wo die einander Suchenden schmerzvoll-unerkannt an einander vorübergehen. Und das Verhältnis Walter Shandys zu seiner Frau ist ein ähnliches, voll der selben grotesk-tragischen Schmerzen und melancholischen Freuden. Voll des Philosophenschmerzes darüber, daß sein Weib, wenn sie schon von dem, was er spricht, nichts versteht, sich nie wenigstens dieses Nicht-verstehens bewußt wird, nicht doch hie und da sich mit Fragen an ihn wendet, böse wird, sich gegen ihn ereifert. Der verwickeltste Gedankenapparat kann diese Frau in ihrer ruhigen Trägheit nicht stören, jener Trägheit, womit sie alles gutheißt, was der Philosoph, den sie zum Mann hat, sagt, - und infolgedessen alles so geschieht, wie die Frau es sich wünscht. Der Philosoph schreibt ein Buch, wie sein Sohn erzogen werden soll, damit er nicht unter den Einfluß seiner Mutter gerate, und während er schreibt - erzieht natürlich die Mutter ihren Sohn. Und die paar traurig-fröhlichen Genugtuungen: als die Frau zum Beispiel bei der Liebesszene von „uncle Toby“ und „Mrs. Wadman“ horchen will, ihrem Gemahl sagt, daß sie neugierig sei und ob sie horchen darf und die Antwort des glücklichen Philosophen: „Call it my dear, by its right name and look through the keyhole as long as you will.“ Und die andere große Inadäquatheit, die große, ursprüngliche Güte, „uncle Tobys“, dessen Güte vom Leben und von den Menschen nichts weiß; durch dessen Ratlosigkeit jeder Realität gegenüber unter einfachsten, ganz normalen Leuten die peinlichsten Störungen, die größten Mißverständnisse hervorgerufen werden. Und in der Nacht des Einander-nicht-verste- hen-könnens flackert doch das Licht einer Gemeinschaft: von „uncle Toby“ und seinem Diener „Corporal Trim“, mit dem er zusammen gedient hat, der ebenso beschränkt ist wie er, doch dessen passive, zum Dienen geborene gütige Natur ohne Bedenken auf jeden Unsinn seines einstigen Hauptmanns eingeht. Auf der ganzen Welt verstehen einander nur zwei beschränkte Narren - und auch diese nur, weil der Zufall sie mit derselben Zwangsidee ausgestattet hat!

Diese Welt hat Sterne gesehen und hat den Reichtum aus ihr herausgesehen, das Tieftraurige und das Lächerliche auf einmal und beides als unzertrennlich. Und er sah den Reichtum, den die Allseitigkeit dieses aus zwei Seiten verschlungenen Kreises in sich schließt: das Weinen, das zum Lachen wird, und das Lachen, woraus ein Weinen entsteht; das Leben, das zum wahren Leben eben durch diese Allseitigkeit wird und dem ich wirklich und ganz nie gerecht werden kann, weil ich das Zentrum des Kreises nicht auf einmal von allen Punkten seiner Peripherie beobachten kann.

(Pause.)

D a s M ä d c h e n (plötzlich). Wie schön! Das Zentrum ... (Vincenz sieht sie an, auf die fällige Begeisterung wartend; das Mädchen wird rot, weil es merkt, daß es sich verredet hat; in großer Verwirrung). Ja - die Zentrumtheorie - die romantische Zentrumtheorie ...

J o a c h i m (ist ebenfalls verlegen; aber er, weil er fühlt, daß er auf Grund aller seiner Überzeugungen und besonders auf Grund der augenblicklichen Situation, vom Prinzip der abstrakten Form her, Vincenz widersprechen muß; nur weiß er noch nicht, wie. Es geht ihm vieles im Kopfe herum, doch fühlt er, daß jeder Widerspruch gegen diese schöne und aufrichtige Begeisterung kleinlich wäre, und fürchtet, daß er sich dem Mädchen gründlich verleidet, wenn auch es seinen Widerspruch als kleinlich empfindet; andererseits weiß er aber, daß er sich aus dem nämlichen Grunde doch mit seinen Einwänden hervorwagen muß und daß er eine von Vincenz heraufbeschworene Stimmung nicht sich festsetzen lassen darf; er spricht also leise und ein wenig unsicher, mit vielen kleinen Pausen). Wie schön. Ja ... Wie schön ... wäre dieser Roman ... wenn er so wäre ... wenn er wirklich so wäre ... Was für ein wirklich großer Roman hätte daraus werden können.

V i n c e n z (ist im Grunde auch verlegen. Er spürt berechtigte Gegenargumente in der Luft und - weil er Joachim kennt - ahnt er auch, von welcher Seite ungefähr der Angriff kommen kann. Nur weiß er freilich doch nicht bestimmt, wie der Angriff sein wird und noch weniger, wie er sich verteidigen soll. Er hat die dumpfe Empfindung, daß seine Worte ihn zu weit getragen haben, aber er fühlt auch, daß er jetzt - schon des Mädchens wegen - nichts von seiner Begeisterung aufgeben darf. Darum fängt er sehr nervös, abgerissen, in der Form hingeworfener Bemerkungen zu sprechen an). Hätte werden können! Lächerlich! (Er trachtet das Gespräch so lange als möglich vom Formproblem fernzuhalten). Sie wissen ganz gut, daß ich aus diesem unendlichen Reichtum nur einige Details gezeigt habe. Hätte werden können! Lächerlich!

J o a c h i m (gleichfalls unsicher und sehr vorsichtig). Ja. Sie haben nicht alles gesagt, was in diesen Schriften ist und gewiß mußten Sie vieles beiseite lassen, was Ihre Begeisterung für sie noch hätte steigern können. (Das Mädchen, das der Rede Vincenz’ mit Begeisterung zugehört hat, jetzt jedoch bemerkt, daß ihr Inhalt vielleicht doch fragwürdig ist, will vorderhand nicht Stellung nehmen und macht eine Kopfbewegung, gekränkt darüber, daß Joachim wegen ihres begeisterten Zustimmens sie einfach mit Vincenz identifiziert. Joachim, diese Bewegung als Zustimmung deutend, spricht freier weiter - und doch gilt das Gefühl des Gekränktseins ihm, wegen der unbequemen Situation, in die er sie versetzt hat), doch vergessen Sie bitte nicht, daß Sie manches andere daraus ebenfalls verschwiegen haben. Daß Sie manches beiseite gelassen haben, dessen Fehlen - Sie dürfen mir glauben - ihrem Standpunkt viel genützt hat.

V i n c e n z (hat gleich Joachim die Bewegung des Mädchens mißverstanden. Er spricht jetzt noch heftiger, um die Stimmungsüberlegenheit, die sich von ihm abzuwenden droht, zurückzugewinnen). Ich glaube zu verstehen, wohin Sie zielen, doch - Sie verzeihen - ich halte Ihren Einwurf für sehr kleinlich.

J o a c h i m (ihn unterbrechend). Ich bin noch nicht zu Ende ...

V i n c e n z (einfach fortfahrend). Sie sagten ungefähr: welch schöner Roman wäre aus „Tristram Shandy“ geworden, wenn Sterne ihn bloß geschrieben hätte. Und daß ich ihn ganz und rund gefälscht hätte, als ich von ihm sprach, indem ich alles weggelassen hätte, was dieser großen Rundung Abbruch ...

J o a c h i m. Aber ich -

V i n c e n z. Verzeihen Sie einen Augenblick. Sie denken gewiß an die Exkurse Sternes, an seine scheinbar gar nicht zur Sache gehörigen Episoden, an seine grotesk philosophischen Einlagen und noch an vieles andere - ich weiß. Aber wie oberflächlich ist es, alles, was im ersten Moment, vielleicht nur auf Grund eines vorgefaßten, allzu theoretischen Gesichtspunktes nicht am Platze erscheint, gleich als die Konzeption störend und ihre Größe beeinträchtigend anzusehen. Bedenken Sie, daß eine, vielleicht nur Ihnen nicht klargewordene, doch tiefe und richtige Absicht vorhanden sein kann, wo Sie nur Verwirrung und Unordnung sehen. Ich glaube, Sterne wußte sehr wohl, was er machte, und er hat seine - zugegeben, recht individuelle - Gleichgewichtstheorie: „to keep up that just balance betwixt wisdom and folly," schreibt er im „Tristram“, „without which a book would not stand together a single year!‘ Und ich glaube zu wissen, welche Gefühle diesen Gleichgewichtsgedanken geradezu forderten. Sie erinnern sich vielleicht, was ich über die Allseitigkeit seiner Menschenbetrachtung gesagt habe. Nun also: zur Einführung und später zur Bewegung solcher Menschen ist seine Methode die einzige oder - einzig hin, einzig her! - zum mindesten eine sehr vorzügliche Methode. Am kürzesten könnte ich sie vielleicht so charakterisieren: eine Tatsache und drumherum ein ungeordneter Schwarm von Assoziationen, die sie heraufbeschwört. Ein Mensch tritt hervor, spricht ein Wort, macht eine Geste, oder wir hören bloß seinen Namen und er verschwindet in der Wolke von Bildern, Einfällen, Stimmungen, die um seine Erscheinung herum entstanden ist. Er verschwindet, damit alle unsere Gedanken von jeder Seite her ihn umgehen können, und wenn sein neuerliches Erscheinen auch vieles zerstört von der Mannigfaltigkeit, die das Frühere in uns aufsteigen ließ, so entsteht um den neuen Moment herum derselbe Reichtum, nur noch reicher durch die Erinnerung an das Vorhergegangene. Das ist der Seelenzustand des Dichters, wenn er eine Geste seiner Gestalt erblickt; des Tagebuchschreibers, wenn er über seine Erlebnisse nachdenkt und seine Erinnerungen ordnet; der Seelenzustand des wahren, nicht bloß Buchstaben sehenden Lesers, wenn er die ihm fremden Gestalten nachempfinden will. Und solcherart ist die Technik all unseres Menschenerkennens im Leben.

J o a c h i m (spricht noch immer ein wenig unsicher und gerät nur langsam während des Sprechens in Schwung). Es ist vielleicht etwas daran, an dem. was Sie sagen. Doch mein Gefühl sagt auch jetzt noch dasselbe wie zuvor: wie schön hätte dieser Roman werden können. Denn Sie helfen auch hier mit Weglassungen dem Dichter - und sich selber. Sie sprechen von Sterne, als ob Ihre Worte nur den immanenten Rhythmus seines scheinbaren Chaos offenbar machten und doch entnehmen Sie ihm bloß das, was mit Ihrer Hilfe zu rhythmisieren ist und werfen das übrige beiseite - vielleicht ohne es zu bemerken.

V i n c e n z (nervös). Das ist nicht wahr.

J o a c h i m. Nur ein Beispiel, doch eines von prinzipieller Wichtigkeit; die vielen toten, heute schon unlesbaren Stellen würden hier sowieso meinen Standpunkt stützen. Ich habe einmal bei einem englischen Literarhistoriker gelesen, daß Sterne das Wort „humour“ auch noch im alten Sinne braucht, im Sinne des elisabethanischen Zeitalters. Und wirklich, was sonst ist in jeder einzelnen seiner Gestalten die ewige Melodie der Blindheit und des Unsinns, der „Hobby Horse“, als der „humour“ der Gestalten Ben Jonsons? Die feststehende Eigenschaft des Menschen, die sich mit solcher Kraft durch alle seine Taten zieht, daß Sie schon fast auffiört, seine Eigenschaft zu sein, daß der ganze Mensch nicht mehr anders wirkt, als wie wenn alle seine Lebensäußerungen nur Eigenschaften dieses „humours“ wären. Eine Eigenschaft, die nicht der Mensch an sich trägt, sondern die den Menschen trägt. Ich könnte auch sagen: der „humour“ ist die Maske, die aus der uralten, noch ganz allegorischen Typik des Lebens und des Schauspiels übrig geblieben ist. Jene Prägung, kraft welcher das ganze Wesen eines Menschen in eine Aufschrift, in ein Epigramm gedrängt war; und er konnte keinen Augenblick heraustreten solange das Schauspiel dauerte. Und dies nur nebenbei: jede Maske, sei sie noch so fadenscheinig und durchlöchert, wie etwa die der Menschen Sternes, verhindert doch immer die Wechselwirkungen zwischen den Menschen; Sterne ist hier also prinzipiell doch nicht über Cervantes hinausgekommen.

V i n c e n z (triumphierend). Versuchen Sie einmal ganz unbefangen das zu durchdenken, was Sie soeben gesagt haben. Ich meine nicht sein Verhältnis zu Cervantes: nur begrifflich schließen sich Gesicht und Maske aus; in Wirklichkeit sind es bloß Pole und man kann nie präzis feststellen, wo der Übergang vom einem zum anderen stattfindet.

J o a c h i m (rasch einfallend). Doch eben hier ja!

V i n c e n z. Aber das ist, wie gesagt, nicht eigentlich wichtig. Haben Sie denn nicht bemerkt, in welchem Grade alles, was Sie über den „humour“ sagten, eine Ergänzung dazu ist, wie ich seine Menschenbetrachtung zu charakterisieren versuchte? Nur daß Sie (ein wenig ironisch), c‘est votre métier, mein Sehen auch formell begründet haben. Was Sie „humour“ nennen, das ist das Zentrum, um das alles gruppiert ist, was Sterne von unendlich vielen Seiten zeigt, damit er dem Leben nur irgend gerecht wird. Doch dieses Zentrum mußte auch ich voraussetzen, wenn ich auch nicht ausdrücklich davon sprach; denn ohne es wäre alles in sich zusammengestürzt. Und wenn ich es definiere - was Sie ja bereits getan haben - so mache ich den Zusammenhang von allem nur fester und die Substanz dieser Welt nur reicher, aus mehr Stoffen zusammengesetzt: weil es so auch feste Materie in ihr gibt und immer veränderliche auch, und wir die beiden nur in der Abstraktion von einander trennen können; so wie das Gesicht von der Luft, die es umgibt, von ihren Lichtern und Schatten für unser Auge modelliert wird.

J o a c h i m. Ich sagte schon: ich will nicht streiten ( Vincenz lächelt und Joachim spricht erst nach einer kleinen Pause weiter) - und streite auch nicht. (Vincenz lächelt von neuem, doch fällt sein Blick dann auf das Mädchen; er sieht, daß sie nicht mitgelächelt hat, und für einen Moment hat er das Gefühl: wie weit sind wir jetzt beide von ihr entfernt, und beide in gleicher Entfernung. Er erschrickt und möchte dem ganzen Streite ein Ende machen. Darum hört er Joachim ungeduldig zu und wartet auf die Gelegenheit, um dieser Stimmung Ausdruck geben zu können. Joachim hat aber inzwischen immer weiter gesprochen): Nur eine Bemerkung möchte ich noch machen. Wie schön wäre all das, wovon wir da sprechen, - wenn es so wäre. Wenn das, was Sie Sternes Methode nennen, tatsächlich seine Methode wäre; wenn Sterne seine Menschen überhaupt ein wenig folgerichtig aus derselben Perspektive betrachtete. Bitte, unterbrechen Sie mich jetzt nicht! Nehmen Sie den Begriff „aus derselben Perspektive betrachten“ so weit, wie Sie irgend wollen, doch denken Sie dabei immer noch an ein bestimmtes Sehen - und ohne das keine Kunst! - und versuchen Sie, es anzuwenden, - Sie werden sehen, wie weit Sie damit kommen. Sterne selbst wußte das übrigens sehr gut. Als er über die Gutherzigkeit des alten Toby spricht, fühlt er, daß er es nicht in demselben Stil gestalten kann, wie er Tobys Narretei mit dem Festungsbau, seine unschuldigen Lebenslügen geschildert hatte, daß es hier unmöglich ist, seine „hobby horsical“-Methode anzuwenden.

V i n c e n z (spricht nun nervös und sehr ungeduldig. Er möchte den Disput irgendwie beenden, nur kann er auch jetzt nicht umhin, eine einzige Bemerkung, die er selbst für die alleserledigende hält, vorzubringen. Jedes weitere Wort aber reißt ihn unwillkürlich mit, so daß es ihm schwer fällt, seinen Standpunkt nur in einigen Sätzen anzudeuten). Sie laufen wieder der souveränen Verschwendung mit Rechnereien nach! Und dazu immer mit denselben Rechnereien! Sterne durfte sich erlauben, einen Fehler seiner Methode selbst aufzudecken - der gar nicht vorhanden war. Empfinden Sie denn nicht, wie unsagbar tief diese zwei Züge „uncle Tobys“ trotzdem Zusammenhängen? Und daß die Souveränität Sternes, die tausend Seiten, Möglichkeiten und Grenzen einer Methode gleichzeitig erblickt, auf diesem Punkte mit der natürlichen Beschränktheit seiner Methode, jeder Methode, spielt? Die Souveränität Sternes -

J o a c h i m. Oder besser: die Impotenz ...

V i n c e n z (hätte alles andere eher erwartet, als diesen Zwischenruf. Sein Entschluß, der Debatte ein Ende zu machen, schwindet immer mehr und er geht immer tiefer auf die Sache selber ein, alles andere vergessend, und sagt mit starker „sachlicher“ Entrüstung): Nein! Wie können Sie das nur sagen? Man muß doch einen Unterschied machen können zwischen Spiel und Schwäche, zwischen Wegwerfen und Fallen-lassen!

J o a c h i m. Gewiß, doch eben darum -

V i n c e n z (unterbricht ihn). Ja, aber ich sehe hier dasselbe Raffinement von naiver Sicherheit, wie in allen seinen Kompositionen. Die Auflösung der Einheit nur darum, daß die Einheit in allem noch stärker zu fühlen sei - gleichzeitig zu fühlen mit all dem, was die Dinge auseinanderreißt. Spielen können: das ist die einzige wahre Souveränität! Wir spielen mit den Dingen - aber wir bleiben die selben und die Dinge bleiben, was sie waren. Nur sind beide gesteigert worden, während des Spiels, durch das Spiel. Sterne spielt immer und immer mit den schwersten Menschen- und Schicksalskonzeptionen. Und seine Menschen und ihre Schicksale bekommen eine unglaubliche Schwere dadurch, daß das ganze Spiel - im Grunde genommen - sie nicht vom Platze rückt, es brandet nur an sie heran, wie Wellen an Felsen, doch die Felsen stehen fest im Spiele der Wellen, und desto stärker fühlen wir ihre Festigkeit, je heftiger die Wellen sie von allen Seiten umtosen. Und doch: er spielt nur mit ihnen! Nur sein Wille gab ihnen diese Schwere und wenn er ihnen auch nicht nehmen kann, was er schon einmal gegeben hat, so ist dieser Wille noch immer stärker, als seine Kinder, er könnte sie bewegen und spielen mit ihrer Zentnerlast, wenn er nur wollte, wann immer er wollte. Und diese unendliche Kraft nannten Sie -

J o a c h i m. Impotenz, ja. Denn bei jedem solchen Falle ist zu fragen: womit spielt der Dichter und wann und warum? Dort, wo man nicht mehr weiter zu gehen braucht, oder dort, wo er nicht mehr weiter gehen kann? Ist tatsächlich die Unmöglichkeit, die überströmende Kraft zu meistern, Grund dieses Spieles oder ist das Ganze ein geschicktes Verdecken der Schwäche? Denn, sehen Sie, es gibt nichts auf der Welt, was jede Unfähigkeit sicherer zudeckte, als die spielerische Geste der Souveränität. Und - ich kann mir nicht helfen - ich fühle etwas dergleichen aus der Geste Sternes heraus, etwas, was nicht Kraft ist. Jedes Spiel hat nur dann Daseinsberechtigung - weil es eben nur dann aus der Kraft und nicht aus der Unfähigkeit geboren ist - wenn es nur scheinbar Spiel ist. Weil wir nur dann auf einmal abbrechen dürfen mit dem Ausruf: „Wozu all das Gerede?“, wenn ... ja, wenn schon alles gesagt ist. Und ich habe nie den Eindruck, daß Sterne, auch nur in einem einzigen Falle, wirklich alles gesagt hätte. Sie haben scheinbar recht, wenn Sie mein eigenes Beispiel gegen mich kehren. Doch eben nur scheinbar. Weil die Einheit, die Sie in Tobys Charakter trotzdem erblicken, höchstens in Ihnen vorhanden ist. Vielleicht ist sie - ich glaube es sogar – auch in Sternes Vision vorhanden. Aber ich leugne, daß sie im Werk vorhanden ist. Im Leben kann man, man soll sogar seinen Gesichtspunkt zu den Dingen fortwährend ändern; das Bild gebietet uns souverän, woher wir es zu betrachten haben; doch wenn wir uns einmal auf diesen Platz gestellt haben, ist es aus mit seiner Macht. Wenn es nötig ist, diesen Teil von hier, jenen von dort zu betrachten, so ist das nicht die Folge einer Souveränität mehr, sondern einer Impotenz. Und eine Impotenz empfinde ich hier, wie auch oft anders bei diesem Dichter. Und in mancher anderen Beziehung auch noch ...

V i n c e n z. Zum Beispiel?

J o a c h i m. Zum Beispiel darin, daß sein Werk uns nie eine Befriedigung gibt.

V i n c e n z. Absichtlich natürlich -

J o a c h i m. Nicht immer. In den seltensten Fällen sogar. Glauben Sie nicht, daß ich den Humor solcher Stellen nicht empfinde, wie etwa die, wo Tristram nach langen und die Spannung immer mehr steigernden Vorbereitungen endlich beim Grabe der unglücklichen Liebenden anlangt, um dort, in Tränen aufgelöst, sentimentale Sensationen zu erleben - und es sich auf einmal zeigt, daß das berühmte Grab gar nicht existiert. Nein, ich denke an solche Stellen - ich will nur ein kleines Beispiel geben - wo er in eine angefangene und nie zu Ende geführte Erzählung fein und lang die Liebesepisode des Korporals Trim mit der belgischen Nonne einflicht - um dann mit einem entsetzlich schwachen und banalen Satze allem sorgfältig Vorbereiteten die Wirkung zu nehmen. So empfinde ich vieles in den Abenteuern Tobys und der Witwe, die Coleridge, der doch viele Partien Sternes liebte, „stupid and disgusting“ nannte. Überall dies: dort, wo er zum wirklich entscheidenden Punkt gekommen ist, läßt er das Wichtige fallen und verwandelt es in ein Spiel. Weil er es nicht gestalten kann, tut er, als ob er es nicht gestalten wolle.

V i n c e n z. Sie vergessen, daß beide Bücher, so wie wir sie heute haben, Bruchstücke sind. Wer weiß, wohin Sterne den Roman von „uncle Toby“ und „Widow Wadmann“ geführt hätte, wenn er so lange gelebt hätte, um sie fertig schreiben zu können.

J o a c h i m. So lange hätte er eben niemals gelebt. Seine Werke sind als Fragmente konzipiert, wenn sie überhaupt konzipiert sind. Einmal meint er im Scherz: - Kerr zitiert es bei Gelegenheit von „Godwi“ – er würde seinen Roman ins Unendliche fortsetzen, wenn er mit seinem Verleger einen vorteilhaften Kontrakt abschließen könnte.

V i n c e n z (fühlt die Überlegenheit Joachims während der letzten Repliken und wartet darum gespannt darauf, daß sein Gegner sich eine Blöße gibt; er hört deshalb sozusagen nur die Worte). Nun ja, wenn Sie’s so erklären, dann ist alles so, wie Sie meinen, dann lesen Sie aber ganz anders und -

J o a c h i m. Sie haben mich mißverstanden. Auch ich weiß – glauben Sie mir – daß es sich hier nur um einen Spaß handelt. Doch eben hinter solchen Späßen sehe ich die Geste Sternes, von der ich vorhin gesprochen habe. Sterne zeigt sich hier - und das ist wohl immer die Technik seiner (höhnisch) spielenden Souveränität - nur in einer anderen Richtung zynisch, als in welcher er es in der Tat ist. Er entblößt eine Schwäche seiner selbst und seiner Werke, die doch, wie Sie so richtig bemerkt haben, gar keine Schwäche ist; aber er tut es nur, um unsere Aufmerksamkeit von den dort vorhandenen, andersgearteten, wirklichen Schwächen abzulenken. Ganz und gar nicht aber, um seine Kraft fühlen zu lassen. Er ist hier überlegen zynisch, weil wir nicht sehen dürfen, daß er auch dann nicht komponieren könnte, wenn er es wirklich wollte.

V i n c e n z (fühlt Joachim noch stärker im Vorteil, aber er will es sich nicht eingestehen und lenkt darum die Debatte wieder den entscheidenden Punkten zu). Sie haben da vorhin eine Stelle aus dem Tristram Shandy zitiert; Sie haben aber vergessen, anzugeben, was Kerr damit belegen will -

J o a c h i m (hat das Gefühl, als wenn er schon alles, was zu sagen war, gesagt hätte, und empfindet – wenn auch nur vorübergehend – eine starke Abneigung gegen alles Sprechen. Während Vin- cenz nun spricht, sieht er das Mädchen, das er während der letzten Repliken ganz vergessen hatte, aufmerksam an, und eine Stimmung, wie sie Vincenz vorher hatte, hat ihn plötzlich überfallen; er sagt darum gleichgültig): Weil ich es nicht für wichtig hielt.

V i n c e n z. Es ist aber sehr wichtig. Es handelt sich hier darum, was die von Ihnen so stark beanstandete Komposition eigentlich hätte ausdrücken sollen. Und über die seelischen Grundlagen, die den Ausdruck zustande bringen, läßt sich nicht streiten, und eine Debatte hat nur Sinn, wenn diese Grundlagen festgestellt sind. Die Debatte darüber, ob ihm dieses auszudrücken gelungen ist und inwiefern und warum. Kerr spricht von der romantischen Ironie - Sie erinnern sich gewiß - und führt dabei ein paar Mal Sterne an. Er zeigt die Hauptetappen in der Entwickelungsgeschichte der romantischen Ironie auf, von Cervantes über Sterne und Jean Paul bis Clemens Brentano. Der romantischen Ironie, deren Hauptthese die sei, „daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.“ Was übrigens auch Sterne dort ausdrückt, wo er zwei Kapitel aus der Reihenfolge ausläßt – Kapitel achtzehn und neunzehn des neunten Bandes – um sie erst nach dem fünfundzwanzigsten einzufügen; er sagt da: „All I wish, that it may be a lesson to the world to let people tell their Stories their own way!‘ Sie haben diese Willkür vorhin Impotenz genannt und ich verstehe wohl, daß Sie es von Ihrem Standpunkte aus so sehen müssen. Doch ist da nicht viel Doktrinarismus mit im Spiel, der die Tatsachen brutalisiert? Möglich, daß Sterne deshalb nicht komponieren wollte, weil er - in Ihrem Sinne - nicht konnte, doch hier ist die Frage, ob er eine solche Komposition überhaupt nötig hatte? Konnte sie wichtig für ihn sein, wenn diese grenzenlose Subjektivität, dieses romantisch ironische Spiel mit allem, Weltanschauung war, unmittelbare Form der Lebensoffenbarung, eine Art des Empfindens und Ausdrückens der Welt? Und jeder Schriftsteller und jedes Werk gibt mir nur ein Spiegelbild der Welt in einem Spiegel, der würdig war, alle Strahlen der Welt zurückzuwerfen.

J o a c h i m (möchte am liebsten immer noch nicht antworten; aber er hat es doch nicht fertiggebracht, nicht achtzugeben, und so fühlt er bei dem Wort „würdig“ die Überlegenheit seines Standpunktes und Vincenz’, wenn auch unbewußte Anerkennung, so stark, daß er ihn doch unterbricht). Ja, ein Spiegel, der würdig ist ...

V i n c e n z. Wenn wir bis zur Weltanschauung zurückgehen und es uns gelungen ist, irgend etwas als Weltanschauung zu begreifen, dann sind alle Ihre Einwürfe über angebliche Impotenz entkräftet. Dann kann nur davon die Rede sein: die Intensität dieser Kräfte zu fühlen und ihre Wirkungen geniessen und lieben zu können. Und Sternes souveränes Spiel mit allem ist Weltanschauung. Kein Symptom, sondern der geheimnisvolle Mittelpunkt von allem, der alle Symptome sogleich verständlich macht und in dessen Symbolik alle Paradoxie sich sofort auflöst. Alle romantische Ironie ist Weltanschauung. Und ihr Inhalt ist immer die Steigerung des Ich-Gefühls ins mystische All-Gefühl. Denken Sie an die Athenäum-Fragmente, an Tieck, Hoffmann und Brentano. Sie kennen doch jene berühmte und schöne Strophe Tiecks aus dem „William Lowell“?

„Die Wesen sind weil wir sie dachten.

Im trüben Schimmer liegt die Welt,

Es fällt in ihre dunklen Schachten Ein Schimmer, den wir mit uns brachten:

Warum sie nicht in wilde Trümmer fällt?

Wir sind das Schicksal, das sie aufrecht hält!“

Fühlen Sie nicht diese erhabene Steigerung zum Spiel und Herabwürdigung zum Spiel von allem, die einem solchen Lebensgefühl entwachsen muß? Alles ist wichtig, gewiß, denn das alles-schaffende Ich kann aus allem etwas schaffen, doch aus demselben Grunde kann nichts in Wahrheit wichtig sein, weil es aus allem alles schaffen kann. Die Dinge sind gestorben, nur ihre Seelenmöglichkeiten sind lebendig geblieben, nur diejenigen ihrer Momente, auf welche das allein lebenspendende Ich seine Sonnenstrahlen fallen ließ. Und fühlen Sie nicht, daß dieses Gefühl keinen andern adäquaten Ausdruck finden kann, als den Sternes und den seiner Vorläufer und Nachfolger: die romantische Ironie, das souveräne Spiel? Das Spiel als Gottesdienst, wo jedes Ding einem Opfer gleich am Altäre des heiligen Ichs glüht; das Spiel als Lebenssymbol, als stärkster Ausdruck des einzig wichtigen Lebensverhältnisses, des Verhältnisses von Ich und Welt. Dies ist die einzige souveräne Wertung: nur ich lebe wirklich auf der ganzen Welt und spiele mit allem, weil ich mit allem spielen kann - weil ich mit allem doch bloß spielen kann. Fühlen Sie nicht den melancholischen Hochmut, den diese Souveränität ausdrückt, die Entsagung, die in dieser Herrschaft über alles steckt? Auch nicht jene letzte Souveränität seiner Geste, mit der er Quellen tiefster Fröhlichkeit springen läßt, indem er mit dem Stabe seines Spieles an den Felsen unserer Unrauer rührt? Ja, aus jedem Werk können wir nur ein Spiegelbild der Welt bekommen, doch die Dichter der wahren Subjektivität wissen das, und durch ihr Spiel geben sie uns ein echteres Bild, als diejenigen, die mit ernster Würde blutiges Leben in leere Schatten hineinlügen.

J o a c h i m. Sie haben zweimal den Spiegel als Symbol für die Weltgestaltung des Dichters gebraucht, doch beim ersten Male haben Sie dem Worte ein Epitheton gegeben, und mit Hilfe dieses Epithetons werde ich wieder auf Sterne zurückkommen, von dem Ihre Worte Sie so weit weggeführt haben.

V i n c e n z. Ich habe immer von ihm gesprochen. Von ihm allein!

J o a c h i m. Sie wollten die Kritik der Ausgangspunkte aus der

Debatte fortschaffen, doch ganz unwillkürlich - ich kann mich auf ihre eigenen Worte berufen - waren Sie gezwungen, die Möglichkeit einer solchen Kritik zuzulassen. Die Strahlen, sagten Sie, werden von einem Spiegel reflektiert, der würdig ist, daß alle Strahlen von ihm zurückgeworfen werden. Des Zurückwerfens würdig - was heißt das? Ich könnte nun davon sprechen, wer zu uns reden darf; denn nicht wahr, auch hier gibt es doch Grenzen, auch hier besteht ein Würdig und Nicht-Würdig ?

V i n c e n z. Sie übertreiben zu sehr die Wichtigkeit dieses Epithetons.

J o a c h i m. Vielleicht unterschätzen Sie seine wahre Bedeutung.

V i n c e n z (ungeduldig, aggressiv). Sie haben dem, was ich sagte, ebenso zugehört, wie die Brüder Shandy sich zuhören. In ihrem Munde wird alles zum Wortspiel, denn Sie hören nur das Wort - und die Möglichkeit zu einem Einfall.

J o a c h i m (ebenfalls ein wenig ungeduldig). Kann sein. Aber mir ist hier doch dieses das einzig Wichtige: welcher Teil eines menschlichen Ichs würdig ist, einen Spiegel für alle Strahlen dieser Welt abzugeben?

V i n c e n z. Das ganze Ich! Sonst hat’s keinen Sinn. Sonst ist es Fälschung, bewußte oder feige Verleugnung, was als „Stil“, als „wirklich Gestaltetes“ zustande kommt.

J o a c h i m. Natürlich das Ganze; es ist nur die Frage, wessen Ganzes. Ich werde sehr kurz und - scheinbar - sehr dogmatisch sein, damit Sie mich gut verstehen. Kant macht einen Unterschied zwischen „intelligiblem“ und „empirischem Ich“. Ganz kurz gefaßt: der Künstler darf das ganze Ich ausdrücken - er muß es sogar - doch nur das „intelligible Ich“, nicht das „empirische“.

V i n c e n z. Das ist leere Dogmatik.

J o a c h i m. Vielleicht doch nicht ganz leere. Sehen wir uns die Berechtigung der vollständigen Subjektivität - wenn Sie wollen ihre Unentbehrlichkeit - einmal näher an. Weshalb ist sie da und wozu ist sie zu gebrauchen! Vielleicht ist doch nur das ihr Recht zur Existenz – als Sie darüber sprachen, spielten Sie auch hierauf an – daß wir ohne sie niemals etwas von der Wahrheit erfahren könnten. Also daß sie der einzige Weg zur Wahrheit ist. Doch nie dürfen wir vergessen: nur der Weg zur Wahrheit ist sie, nicht das Ziel, dem der Weg entgegenführt; nur immer der Spiegel, der die Strahlen zurückwirft.

V i n c e n z. Wie Sie das arme Wort tothetzen!

J o a c h i m. Das Wort ist gut und bezeichnend. Sehen Sie, mit seiner Hilfe kann ich vielleicht noch genauer und verständlicher das, was ich sagen will, ausdrücken: das Ich ist der Spiegel, der uns die Strahlen der Welt zurückwirft, und -, er sollt doch alle Strahlen zurückwerfen?

V i n c e n z (ungeduldig).Ja.

J o a c h i m. Dann also - sehen Sie, wie sich die ganze Frage durch ein Bild von trivialer Einfachheit beleuchten läßt - dann also ist es gar nicht fraglich, welcher Teil des Spiegels die Strahlen zurückwirft? Freilich, der ganze! Doch fraglich ist es: wie muß der Spiegel beschaffen sein, damit er alle Strahlen zurückwerfe, damit er von der Welt ein vollständiges Bild gebe?

V i n c e n z. Es kann ein Zerrspiegel sein.

J o a c h i m. Möglich. Doch er darf nicht trübe sein. Die höchste Kraft der Subjektivität ist, daß nur sie wirkliche Lebensinhalte mitteilen kann. Doch gibt es Subjektivitäten – und die Sternes ist meinem Gefühl nach eine solche, – die anstatt dieses allein Wesentliche mit einer nicht mehr zu überbietenden Intensität zu geben, sich vielmehr zwischen mir und den Lebensinhalten als Hindernis aufstellen, so daß jede wichtige und wahre Subjektivität eben ihrethalben und durch sie verloren geht. Thackeray -

V i n c e n z. Sie wollen ihn doch nicht etwa zitieren!

J o a c h i m. Ich kann mir denken, Sie lieben nicht, was er über Sterne schreibt, auch mir ist vieles an seiner spießbürgerlichen Moralisiererei unangenehm, doch wichtiger als das erscheint mir, daß hierin er und ich übereinstimmen: „He fatigues me,“ schreibt er, „with his perpetual disquiet and his uneasy appeals to my risible or sentimental faculties. He is always looking in my face, watching his effect.“ Hier, sehen Sie, ist einmal ganz präzis gesagt, was mich an Sterne und an den Schriftstellern ähnlichen Stiles so sehr ärgert. Daß sie keinen Takt haben und kein Gefühl für das wirklich Wertvolle - auch was die eigenen Einfälle angeht, für diese sogar am allerwenigsten. Daß sie glauben: darum, weil in ihrer Seele etwas ist, das seiner weltvermittelnden Kraft wegen wichtig und interessant ist, daß darum jede zufällige und uninteressante Äußerung ihres zufälligen und uninteressanten Wesens ebenso wichtig und ebenso interessant sei. Und sie drängen sich zwischen die eigene Vision und unser Staunen; verderben ihre Größe mit ihren kleinlichen Zutaten; kompromittieren ihre Tiefe mit schalen Bekenntnissen; nehmen ihr die Unmittelbarkeit der Wirkung mit ihrem der Wirkung entgegenspähenden Grinsen.

V i n c e n z (will etwas sagen).

J o a c h i m (rasch fortfahrend). Ich weiß, was Sie denken. Aber ich spreche jetzt nicht von den wenigen Stellen, wo es symbolisch ist - wie Sie es nannten: Symbol des großen Spieles - daß Sterne sich selbst vordrängt; ich spreche jetzt von tausend anderen Stellen, wo dieses der Wirkung seiner Symbole im Wege steht. Und nicht so sehr von den Einzelfällen, als vielmehr von jener stil-ethischen Verkommenheit, die sie im Gefolge hat, will ich sprechen. Daß diese fortwährende Koketterie sich in alle seine Bilder und Gleichnisse eingefressen hat, daß er keine Zeile geschrieben hat, die von diesem Gifte heil wäre. Seine Beobachtungen, Erlebnisse, Schilderungen: immer muß ich daran denken, was Nietzsche den Psychologen als Moral verkündet hat: „Keine Kolportage-Psychologie treiben! Nie beobachten um zu beobachten! Das gibt eine falsche Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertreibendes. Erleben als Erleben wollen - das gerät nicht. Man darf nicht im Erlebnis nach sich hinblicken, jeder Blick wird da zum bösen Blick“ Sehen Sie, dieses Kolportage-mäßige, diese tiefe Unvornehmheit spüre ich in jeder Schrift Sternes -, besonders in den Briefen Yoricks an Elisa. Und das ist nicht bloß eine Aversion gegen Sterne, den „Menschen“ - obzwar ich auch eine solche für ganz berechtigt hielte -, sondern es ist der tiefste künstlerische Tadel, den man seinen Werken gegenüber erheben kann. Sie sind unorganisch. Fragmente. Nicht, weil er sie nicht vollenden konnte, sondern weil er nirgends Wert und Unwert sah und weil er nie unter ihnen wählte. Er komponierte seine Werke nicht, denn die elementarste Vorbedingung jeder Konzeption, das Wählen- und Werten-können ging ihm ab. Sternes in trüber Wahllosigkeit hinflutende Schriften sind formlos, weil er sie bis ins Unendliche hätte fortsetzen können, und sein Tod – den Werken – nur ein Ende, keinen Abschluß bedeutet. Sternes Werke sind formlos, weil sie bis in[s] Unendliche dehnbar sind; aber unendliche Formen gibt es nicht.

V i n c e n z (sehr rasch). O doch!

J o a c h i m. Wieso?

V i n c e n z (wünscht eigentlich, daß die Debatte zu Ende ginge, - aber die letzten Bemerkungen lassen ihn doch nicht ruhen, und so versucht er wenigstens das Mädchen hineinzuziehen). Sie werden freilich, was ich jetzt sagen will, allzu paradox finden, doch Sie (er wendet sich dem Mädchen zu), werden mich gewiß verstehen.

D a s M ä d c h e n (ist zwar dankbar, daß sich wieder jemand mit ihm beschäftigt, es fürchtet aber, sich in irgend einer Weise zu exponieren; um doch etwas zu sagen, wirft es ein): Sie meinen die unendliche Melodie, nicht wahr?

V i n c e n z (ist ein wenig verlegen, denn diese Bemerkung findet er etwas nichtssagend). Im großen und ganzen, ja.

J o a c h i m (ganz im Thema aufgehend, empfindet die Bemerkung des Mädchens als durchaus leer, und in seiner „sachlichen“ Ereiferung darüber ruft er vorschnell, zugleich mit Vincenz’ Worten aus): Die unendliche Melodie?!

D a s M ä d c h e n (ist verletzt).

V i n c e n z (bemerkt das natürlich sofort und macht sich ihren Standpunkt heftig zu eigen und zunutze). Ja - die unendliche Melodie als Lebenssymbol - daran dachten Sie doch?

D a s M ä d c h e n. Natürlich.

V i n c e n z. Als Symbol des Ins-Unendliche-Greifens, der Unbegrenztheiten des Lebens und seines extensiven Reichtums. Unendliche Melodie ist hier nur Metapher, doch eine tiefe Metapher, denn sie deutet mit geschlossener Prägnanz Dinge an, die man sonst selbst mit vielen Worten nicht sagen könnte. Trotzdem versuche ich es vielleicht auseinanderzusetzen, was wir darunter verstehen.

J o a c h i m (hat gleich nach seiner letzten Bemerkung gemerkt, wie ungeschickt und beleidigend sie war, und zuckt jetzt bei dem Wort „wir“ nervös zusammen; doch sieht er am Gesicht des Mädchens, daß Protestieren schon keinen Zweck mehr hat und schweigt).

V i n c e n z. Wie gesagt, wenn der Begriff Kunstform einen wirklichen Sinn hat, so habe ich das Wesen von Sternes Form bereits dargelegt. Jetzt müßte ich noch hinzufugen: die Form ist eine so weit verdichtete Essenz alles zu Sagenden, daß wir nur mehr die Verdichtung herausfühlen, und kaum mehr, wovon sie die Verdichtung ist. Vielleicht wäre das noch besser so zu sagen: die Form ist Rhythmisierung des zu Sagenden und der Rhythmus wird dann - nachher - etwas Abstrahierbares, etwas selbständig Erlebbares, und manche empfinden ihn sogar - immer nachher - als ewiges Apriori jedes Inhalts. Ja: die Form ist die Steigerung der letzten, mit größter Kraft erlebten Gefühle zu selbständiger Bedeutung. Und es gibt keine Form, die man nicht auf solche ganz letzte, ganz primitiv erhabene und einfache Gefühle zurückführen könnte; deren jede Eigenschaft man - jedes Gesetz würden Sie sagen - aus den Eigenartigkeiten dieses Gefühls ableiten könnte. Und jedes solche Gefühl, auch das durch die Tragödie erweckte, ist ein Gefühl unserer Kraft und des Reichtums der Welt, ein Tonikum, wie Nietzsche sagen würde. Nur eben dadurch unterscheiden sich die einzelnen Kunstformen von einander, daß die Gelegenheiten verschieden sind, an denen sie diese Kraft offenbar werden lassen, und es wäre eine unfruchtbare Spielerei, diese Gefühle aufzuzählen und zu ordnen. Für uns hier genügt es, zu wissen, daß es Werke gibt, welche dieses Besinnen, dieses Sich-aufs- Leben-besinnen von metaphysischer Tiefe und Kraft, das die meisten Schriften nur mittelbar geben können, unmittelbar geben. Wo ganz einfach alles diesem Gefühl entwachsen ist: wie bunt doch die Welt ist und wie reich in dieser ihrer Buntheit und wie stark und reich wir sind, denen gegeben ist, alles dessen inne zu werden. Und die Formen, die aus diesem Gefühl geboren sind, geben nicht die große Ordnung, sondern die große Vielheit; nicht die große Verknüpftheit des Ganzen, sondern die große Buntheit jedes seiner Winkel. Diese Werke sind aus diesem Grunde direkte Symbole des Unendlichen: sie sind selbst unendlich. Unendliche Variationen unendlicher Melodien (er sieht das Mädchen an), wie Sie sagten (das Mädchen gibt dankbar den Blick zurück). Denn zur Form macht sie nicht eine innere Abrundung wie alle anderen Werke, sondern das Verschwimmen ihrer Grenzen im Nebel der Ferne, gleich Meeresküsten am Horizont; die Grenzen unseres Sehens - und nicht ihre Grenzen. Denn sie, ebenso wie die Gefühle, die sie schufen, haben keine Grenzen. Und die Verknüpfungen zwischen ihren Teilen hat unser Unvermögen zu einem Leben ohne Verknüpfungen geschaffen und nicht ihre luftige spielerische Leichtigkeit. Weil sie, ebenso wie die Gefühle, aus denen sie geboren sind, durch keine festere Spange zusammengehalten werden, als die jagenden Bilder unserer Träume. Das sind die Werke der wahrhaften Ungebrochenheit und Frische, des sich an sich berauschenden Reichtums: die Dichtungen des frühen Mittelalters waren solcher Art. Abenteuer, Abenteuer und wieder Abenteuer, und wenn der Held gestorben war nach tausend Abenteuern, so lebte sein Sohn, die unzähligen Abenteuer zu vermehren. Und nichts hielt diese unendliche Reihe der Abenteuer zusammen als: die Gefühlsgemeinschaft, die Erlebnisgemeinschaft, das unendlich starke Erleben des bunten Reichtums, der dem Menschen die Welt in der vielfarbigen Kette der endlosen Abenteuer zeigte.

Aus solchen Gefühlen sind auch die Werke Sternes geboren. Doch er hat die seligen Reichtumsgefühle einer naiv-poetischen Welt nicht ererbt; was er schuf, schuf er seinem unpoetischen und armseligen Zeitalter zum Trotz. Darum ist alles in ihm so bewußt und so ironisch; weil die Möglichkeit eines naiven, das Leben dem Spiel spontan gleichsetzenden Gefühles für ihn erloschen ist. Friedrich Schlegel fand einen schönen Namen für diese Form, er nannte sie Arabeske, und hat schon die Wurzeln dieser Poesie und ihre Stellung im heutigen Leben klar erkannt, als er von ihr sagte, der Humor Sternes und Swifts „sei die Naturpoesie der höheren Stände unseres Zeitalters“.

J o a c h i m. Gewiß, es ist viel Wahres in dem, was Sie jetzt ausgeführt haben; aber denken Sie auch an das, was Friedrich Schlegel unmittelbar nach dem von Ihnen angeführten Satze sagt. Abgesehen davon, daß er diese Arabeskenform nicht besonders hoch stellt.

V i n c e n z. In mancher Hinsicht war er eben noch Dogmatiker der alten Formen.

J o a c h i m. Als er dieses schrieb, nicht mehr. Doch wichtiger ist, daß er innerhalb dieser, wie immer gewerteten Form[,] Jean Paul höher als Sterne stellt, „weil seine Phantasie weit kränklicher, also weit wunderlicher und phantastischer ist“. Und vielleicht deute ich dieses Urteil richtig, indem ich sage: die Formen Sternes und Jean Pauls sind einander ähnlich, doch in der Form Jean Pauls ist die Arabeske organischer aus dem Stoffe, aus dem innersten Wesen seines Weltgefühls und Menschenbetrachtens geboren; seine Linien können sich deshalb kühner, reicher und leichter schlängeln, als bei Sterne und trotzdem gestaltet sich das Bild harmonischer. Sie selbst sprachen vorher von der Zusammensetzung der Welt Sternes aus mehreren Materien und diese Vielstofflichkeit ist vielleicht der wahre Grund jeder störenden Widerwärtigkeit seiner Schriften. Jedes Jetzt bei Sterne widerlegt Vergangenheit und Zukunft, jede seiner Gesten kompromittiert seine Worte und seine Worte verderben die Schönheit der Gesten. Ich denke an diese großen Materialdissonanzen - ich kann natürlich nur ganz kurz daraufhinweisen in „Tristram Shandy“ ist jeder Mensch und jedes menschliche Verhältnis so schwerfällig, aus so schwerer Materie und so jeder Grazie bar, daß die auf Leichtigkeit stilisierten Konturen in ihrer Arabeskenhaftigkeit in jedem Augenblicke dem von ihnen Eingeschlossenen widersprechen. Sie sagten freilich; die Illusion ihrer Schwere wird durch das Spiel, das man mit ihnen treibt, gesteigert. Das könnte wahr sein, wenn Schwere ein Ziel wäre und dieser Gegensatz die Zahl der grotesken Kontraste vermehrte. Wir wissen jedoch, daß dem nicht so ist. Auf Schritt und Tritt fühlen wir, daß das Eine das Andere kompromittiert und schwächt; die Schwerfälligkeit die Arabeske, und die Grazie die natürliche Schwere. Und vielleicht noch deutlicher ist diese Disharmonie in der „Sentimental Journey“ zu sehen, obgleich die Gründe dafür dort bei weitem subtiler sind. Dort quillt das zerfallende Wesen jeder einzelnen Phrase aus der Dissonanz des das Ganze begründenden Gefühles. Um mit einem Worte vorwegzunehmen, was ich sagen will: Inhalt dieses Buches ist das Gefühls-Amateurtum und das spielerische Genießen jedes Gefühls. Doch Amateurtum der Gefühle ist eine contradictio in adiecto; nur ein Amateurtum der Sensationen ist überhaupt denkbar: nämlich wenn jede innere Reaktion gegen die Dinge innerlich so distanziert ist, daß ihre Einfügung in bizarre Arabesken ihre natürliche Erscheinungsform sein kann; oder wenn die Stimmungen schon so krankhaft verfeinert sind, daß sie sich selbst von links nach rechts und wieder zurück biegen. Doch Sternes Gefühle sind einfach und - oft - gewöhnlich. Sie sind gesund und es ist nichts Sensationenartiges in ihnen. Nur er sieht sie so und fügt sie in sein Leben ein, als ob sie so wären; nimmt ihnen also die schöne Kraft ihrer Gesundheit, ohne sie mit der feinen Biegsamkeit des Krankhaften beschenken zu können. Und doch: die Dissonanz ist hier weniger stark und ich verstehe die Franzosen, denen sie mehr bedeutet als der großartiger gedachte „Tristram Shandy“.

V i n c e n z. Jean Paul aber schätzte diesen höher, und hatte recht. Freilich ist die „Sentimental Journey“ die Pforte, durch die man zum tiefsten Verständnis Sternes gelangt und sie ist es zugleich, durch die wir, mit den Schätzen seines Reiches schwer beladen, ins Leben zurückkehren können. Denn was wir auch über den rein künstlerischen Wert oder Unwert dieser Werke sagen mögen - und hier werden wir einander wohl nie überzeugen - der Grund, daß sie uns wirklich wichtig sind, ist doch dieser: daß sie uns einen Weg zum Leben weisen, einen neuen Weg zur Bereicherung des Lebens. Sterne selbst sagte, wohin dieser Weg führt; in einem Briefe über die „Sentimental Journey“ schreibt er: „My design in it was to teach us to love the world and our fellow creatures better than we do.” Und wenn wir das nicht nur als Programm auffassen, sondern zusammen mit seiner Verwirklichung betrachten, was mit so hinreißender Kraft in seinen Schriften zu finden ist, dann wird uns weit darüber hinaus, was den „ästhetischen Wert", die „literarhistorische Bedeutung“ dieser Bücher ausmacht, der Ethiker, der Erzieher Sterne wichtig werden. Der Reichtum als Ethik, das Leben-können, das Aus-allem-Leben-schöpfen-können: das lehren uns diese Schriften. „I pity the man,“ schreibt er, „who can travel from Dan to Bersheba and cry, ,Tis all barren‘; and so is it: and so is all the world to him who will not cultivate the fruits it offers!“ Und alle seine Werke verkünden dies mit den begeisterten, überzeugenden Worten eines Predigers, mit der immer wiederholten Geste des Welt-Erschließens, sie alle verkünden einen solchen Gottesdienst des Lebens. Und jeder Unterschied zwischen Großem und Kleinem, Gewichtslosem und Gewichtigem, Kurzweiligem und Langweiligem hört auf; sinnlos wird jede Unterscheidung zwischen Materien oder Qualitäten - wovon Sie soeben gesprochen haben - weil alles sich begegnet und alles eins wird in der Einheit des großen, intensiven Erlebnisses; ohne es, als bloße Möglichkeit, aber kommt nichts in Betracht - und alles ist in dem selben Maße irrelevant. Nur aus Augenblicken besteht das Leben und jeder Augenblick ist so mit der Kraft des ganzen Lebens angefüllt, daß neben seiner lebendigen Realität alles sich ins leere Nichts verliert, wovon wir nur wissen, daß es war, und wovon wir nur ahnen können, daß es einmal sein wird; alles, was nur verknüpft und verpflichtet, ohne unser Leben zu befruchten. Es ist die stärkste Bejahung des Lebens, durch alles und trotz allem. Denn dieses „Ja“ findet auf dieser Welt nirgends ein „Nein“, das mit ihm auch nur den Kampf aufnehmen könnte. Sternes „Ja“ begegnet immer nur Augenblicken, und es gibt keinen Augenblick, der ihm nicht alles bringen könnte. „Was I in a desert,“ sagt er, „I would find out wherewith in it to call forth my affections!“ Sie erinnern sich, als er in Paris ankommt und ihm einfällt, daß er keinen Paß hat und weiß, daß er, wenn er sich in ein paar Stunden keinen beschaffen kann, auf Monate in die Bastille kommen kann, Sie erinnern sich, wie er dann einen Paß suchen geht! Was ihm nicht alles während des Suchens passiert! Wie vieles erlebt er und jedes Erlebnis ist ihm wichtiger, als das, was er sucht. Das fällt ihm einmal, am Ende, ganz zufällig und nebensächlich in den Schoß - und ist ihm nicht wichtiger, wie alles andere war. Fühlen Sie hier nicht, daß alle Digressionen und Abschweifungen seiner Schriften Lebensphilosophie sind? Daß das Leben nur ein Weg ist; was wissen wir, wohin er führt und was wissen wir von seinem Warum? Doch der Weg selbst ist der Wert, der Weg ist das Glück, der Weg ist schön und gut und Reichtümer spendend und jede Abschweifung müßten wir mit heller Freude empfangen, und einerlei, woher sie kam, und einerlei, warum. Und wenn ich die Menschen und ihre Schicksale im „Tristram Shandy“ von diesem Punkte aus betrachte, so bekommt ihre ganze Konzeption neue Tiefen: weil alles, was sie von einander trennt, alles, was sie der Realität gegenüber mit tragikomischer Blindheit schlägt, all das ihr Leben unendlich reicher macht, als irgend eine Realität es je hätte tun können. Ihre Einbildungen und Luftschlösser, Phantasien und verspielten Augenblicke: das ist das Leben, und daneben wirkt alles als leeres Schema, womit verglichen wir ihr Leben irreal zu nennen pflegen. Und so wird aus der tiefen Fremdheit der Menschen unter einander eine frohlockende Freude, weil, was sie trennt, ihnen Leben gibt, weil ein anderes, mitteilbares Leben leer wäre, ein Schema ohne Inhalt.

J o a c h i m. Sie haben Unrecht! Unrecht! Ich leugne, daß es eine Ethik der Augenblicke geben könnte und leugne, daß die Lebensform die Sie eben beschrieben haben, wirklicher Reichtum wäre. (Ein wenig ruhiger.) Ich denke an Sterne, den Sie wieder vergessen haben, und ich leugne, daß er wirklich reich gewesen, und daß die chaotische Unordnung seiner Erlebnisse bereichernd wäre. Nein! Das Chaos an sich ist nie Reichtum. Was Ordnung schafft, stammt von ebenso ursprünglicher seelischer Wurzel her, wie es selbst, und vollständig und somit reich kann deshalb nur eine Seele sein, worin beides gleich gewaltig vorhanden ist: Chaos und Gesetzmäßigkeit, Leben und Abstraktion, der Mensch und sein Schicksal, Stimmung und Ethik. Und nur wenn sie zusammen vorhanden sind, wenn sie in jedem Augenblick zur unzertrennlichen, lebendigen Einheit verwachsen sind, nur dann ist der Mensch wirklich Mensch und sein Werk wahre Totalität, ein Sinnbild der Welt. Und nur hier, in solchen Werken eines solchen Menschen ist das Chaos erst das Chaos; hier, wo jeder ursprüngliche große Zwiespalt zur sinnfälligen Einheit zusammenwächst dadurch, daß in den Kerkern der Schemata doch alles lebt und lebendig ist, dadurch, daß unter dem Eise der Abstraktionen doch alles glüht und siedet. Wenn in einem Werk nur das Chaos da ist, wird selbst das Chaos schwach und kraftlos, weil es nur roh vorhanden ist, nur empirisch, ruhend, unveränderlich, ohne Bewegung. Nur der Gegensatz macht alles in Wahrheit lebendig; nur der Zwang bringt die wahre Spontaneität hervor und nur im Geformten fühlt man die Metaphysik der Formlosigkeit: man fühlt, daß das Chaos Weltprinzip ist.

Die Ethik! Das von außen Kommende! Das uns aufgedrängte, unübertretbare Gesetz! Sie sprechen von all dem so, wie wenn es stets nur seelische Verkümmerung brächte. Sie tun’s freilich im Namen Sternes und da haben Sie recht: auch er empfand es so - doch aus Selbsterhaltungstrieb. Aus der Selbstverteidigung der schwachen Menschen heraus, die sich vor jeder Wertung hüten, weil sie sich fürchten, daß, wenn sie nur ein wenig ehrlich sind, jedes ihrer Gefühle oder Erlebnisse - auch vor ihnen selbst - zu leicht befunden würde. Die jedem Zwang entschlüpfen, weil der sie ein- für allemal erdrücken würde; die vor jedem Kampfe ausreißen, weil sie in jeder Schlacht nur Besiegte bleiben könnten. In deren Leben alles gleich wichtig ist, weil sie nicht imstande sind, das wirklich Große auszuwählen, zu durchfühlen und zu erleben. Ein seelischer Episodismus ist das ganze Leben Sternes, und - das ist wahr - viele kleine Dinge wirken in ihm mit größerer Kraft, als bei manchem anderen, doch jedes wirklich Große wird tausendmal kleiner. Bedenken Sie - um nur das Handgreiflichste vorzubringen - daß in den Tagebüchern seiner französischen Reise alles drin ist, nur Paris nicht, nur Frankreich nicht. Und hier handelt es sich nicht um eine Umwertung, nicht um ein Vorläufertum des „Trésor des Humbles“; nicht darum, daß die großen Dinge klein sind, weil die kleinen groß sind, es handelt sich um Anarchie, um die Anarchie der Unfähigkeit. Weil durch die Episoden Sternes - wie durch ein schmutziges Fenster - die Ahnung der verschwommenen Umrisse der großen Dinge durchschimmert, doch eben nur ihre Ahnung und weder ihr Ergreifen, noch ihre Verneinung. Die Dinge bleiben bei ihm die selben, wie bei denen, die werten können, nur gibt es Dinge, die für ihn zu stark und zu groß sind. Doch der wirkliche Reichtum ist nur im Werten-können und wahre Kraft nur in der Kraft des Wählens, in dem von episodischen Stimmungen befreiten Teile der Seele; in der Ethik. Darin, daß man fürs Leben fixe Punkte bestimmen kann. Und diese Kraft schafft mit souveräner Macht Unterschiede zwischen den Dingen, schafft ihre Hierarchie; diese Kraft, welche aus der Seele selbst heraus ein Ziel für ihre Wege projiziert und dadurch den innersten Gehalt der Seele fest und geformt gestaltet. Die Ethik oder -, da wir jetzt von Kunst sprechen - die Form, ist jedem Augenblicke und jeder Stimmung gegenüber ein Ideal außerhalb des Ichs.

V i n c e n z (ein wenig überlegen-spöttisch). Das ist die Weltanschauung von Gregers Werle.

J o a c h i m. Gewiß!

V i n c e n z. Doch vergessen Sie bitte nie, daß in Gregers immer etwas - Sie verzeihen - Närrisches und Lächerliches ist.

J o a c h i m (sehr heftig). Aber nur, weil er einer Null, einem Hjalmar gegenüber seine idealem Forderungen durchsetzen will! Aber noch hier, wieviel Reichtum und wieviel Kraft, jeder äußeren Armseligkeit und Komik zum Trotz. Und wie gräßlich ist die innere Armut in einem Reichtum, wie Sie ihn beschrieben haben. Sie halten es wohl für Ironie, wenn Sterne einmal von sich erzählt, wie jämmerlich ihm in seiner Zerrissenheit zumute sei, einer Zerrissenheit, in die ihn würdigere Gefühle nie bringen könnten; doch müssen Sie sich auch des Briefes erinnern, wo er mit trauriger Offenheit diesen großen seelischen Bankrott der Gefühlsanarchie bekennt: „I have torn my whole frame into pieces by my feelings.“ Und nicht nur mit seinen Gefühlen, auch mit seinen Einfällen, Stimmungen, Späßen zerriß er sein ganzes Werk, zog seine Größe herab, und machte sein Leben kläglich und wertlos. Sie kennen doch dieses Leben und wissen, woraus es bestand: aus lauter spielend begonnenen, spielend wieder fallengelassenen, nicht zu Ende genossenen, nicht zu Ende gelittenen Liebschaften; aus lauter zärtlichen und schwächlichen, feinen und frivolen, gefühlvollen und empfindsamen platonischen Flirts. Und das war der Inhalt dieses Lebens: Anfänge, die nie eine Fortsetzung erleben konnten, die kamen und ohne jede Spur zurückzulassen, wieder verschwanden und ihn keinen Fußbreit vorwärts brachten. Episoden, die immer dieselben blieben und immer und überall den selben Menschen wiederfanden, den selben schwachen, weinerlich-witzigen, weder wirklich lebensfähigen, noch wirklich lebensformenden Menschen. Denn nur das Werten-können gibt Kraft zum Wachsen und zur Entwicklung, das Ordnung-schaffen-können, das Anfang- und Ende-machen-können; denn nur das Ende kann der Anfang eines Neuen werden und wir können nur am fortwährenden Beginnen groß werden. In den Episoden aber ist nicht Anfang und nicht Ende, und ihre ungeordnete Vielheit ist so kein Reichtum, sondern eine Rumpelkammer; und der Impressionismus, der sie zutage fördert, ist keine Kraft, sondern eine Unfähigkeit. (Lange und ein wenig unangenehme Pause. Das Mädchen hat die ganze Zeit über kaum auf den gegenständlichen Inhalt der Reden geachtet, doch eben deshalb sehr stark das Persönliche, Werbende herausgefühlt. Doch weil sie eben nur diesen - halb unbewußten - Inhalt herausfühlt, mißversteht sie beide Männer und hört noch mehr aus ihren Worten heraus, als darinnen ist. Diese persönliche Auffassung des Ganzen äußert sich besonders in einer Gereiztheit gegen Joachim, den sie besonders taktlos und zuletzt als störend empfindet. Auch Vincenz spürt gegen Schluß das Persönliche, wenn auch ganz anders: als Ausdruck von Joachims Weltanschauung; und er spürt hier eine Kraft, die größer ist als die seine, und er hält es für unmöglich, daß das Mädchen es nicht ebenso empfindet. Beide haben sich der Debatte so hingegeben, daß Vincenz seine Niederlage in ihr, - die er momentan sehr stark fühlt - für eine Niederlage auf der ganzen Linie halten muß, und er sich nicht zu sprechen traut, bevor er nicht weiß, wie jetzt die Situation steht. Einen Augenblick fühlt er sich so geschlagen, daß er am liebsten fortgehen und den Kampf aufgeben möchte. - Joachim deutet das Schweigen noch unrichtiger. Er erwartete von Seiten Vincenz’ eine sehr starke Replik, hat er ihn doch persönlich und vielleicht mit unberechtigter Schärfe angegriffen. Daß keine Antwort kommt, deutet er also folgendermaßen: ich rede hier sowieso umsonst, man hört mir gar nicht zu. Diese Empfindung wird jetzt, besonders weil er die Stimmung des Mädchens sehr feindselig fühlt, so stark in ihm, daß er glaubt, gehen zu müssen. Nach einigen oberflächlichen und offenbaren Ausreden geht er auch. Nach dem gemacht-freundlichen Abschiednehmen entsteht wieder eine Stille zwischen den beiden Zurückbleibenden und wiederum mißversteht jeder das Schweigen des andern. Vincenz empfindet jetzt den abwesenden Joachim noch mehr als Sieger und fürchtet, das Mädchen empfinde das selbe. Doch fühlt er auch, daß irgend etwas geschehen muß, und zwar sofort. Da fällt sein Auge plötzlich auf das Buch und in seiner nervösen Unentschlossenheit nimmt er es in die Hand). Diese Debatte hat uns unsere schöne Lektüre ganz verdorben. Und wie unfruchtbar ist jede Debatte den lebendigen Schönheiten des Lebens gegenüber. (Das Mädchen sieht ihn an; er bemerkt es nicht.) Hören Sie nur. (Er fängt an zu lesen, doch jetzt mit einer sehr warmen und mit einer Nuance zu sentimentalen Stimme; er möchte eben die Stimmung der ersten halben Stunde, welche die Debatte zerrissen hat, durch Sterne selbst zurückgewinnen. Das Mädchen kann zunächst seine Enttäuschung darüber, daß wieder von Literatur die Rede sein soll, nicht verbergen. Aber es findet sich drein und sucht seine Nervosität mit großer Aufmerksamkeit zu maskieren; und da Vincenz auch sehr nervös ist, so mißversteht er natürlich, als nun wirklich eine stillose Stelle kommt, die schlecht verhehlte Unruhe des Mädchens dahin, daß es dem Weggegangenen recht gibt, - und klappt das Buch zu.) Das ist wirklich keine schöne Stelle. (Er blättert dann noch nervöser im Buch umher, und schlägt es mit einer gewissen Trotzigkeit eben an der sentimentalsten Stelle - bei der Begegnung mit Maria of Moulins - auf und fängt an zu lesen. Das gleiche Spiel von Enttäuschung und Mißverständnis. Er begleitet jedes Wort mit ängstlicher Aufmerksamkeit, fühlt immer stärker das Falsche und Schwache in der Sentimentalität und legt das Buch schließlich ärgerlich aus der Hand, steht auf und geht nervös im Zimmer auf und ab). Es geht nicht! Diese Debatte hat unsere Lektüre ganz verdorben! Heute kann ich nicht weiter lesen.

S i e (sehr sentimental). Schade. Und es war doch so schön - nicht?

E r (versteht auf einmal die Situation, sehr sentimental). O ja. (Noch leiser.) Wir werden es ein andermal fortsetzen - gut?

S i e. Gut...

E r (ist ihr ganz nahe, steht hinter ihr; leise). Ein andermal... (Beugt sich plötzlich zu ihr hinab und küßt sie.)

S i e (drückt durch ihr verklärtes Gesicht ihre Erleichterungaus, das endlich geschehen ist, wozu die ganze lange Debatte nur eine höchst überflüssige Vorbereitung war, und erwidert seinen Kuß).

1909