Beim Schreibtisch sitzt
S i e. Wann halten Sie Ihren
E r. Ich weiß noch nicht bestimmt. Ich muß noch Verschiedenes
nachsehen; ich muß auch noch ein paar Jahrgänge
S i e. Was plagen Sie sich - für diese Leute? Es ist gut
genug, so wie es heute ist - bemerkt einer, was noch daran fehlt?
E r. Das mag sein. Aber Joachim ...
S i e (unterbricht ihn). Ja, weil Sie immer alles mit ihm
besprechen.
Er (lächelt). Vielleicht nicht bloß darum. Und wenn auch. Ich mache es mir zuliebe. Die Arbeit macht mir jetzt Freude. Sie gefällt mir. Es ist so nett, mit den kleinen Tatsachen zu hantieren. Sie bringen mich auf vieles, was ich ohne ihre Hilfe wahrzunehmen zu faul gewesen wäre. Und doch denke ich nicht nach und muß mich nicht anstrengen. Ich lebe bequem - und nenne das „mein wissenschaftliches Gewissen“ und bin glücklich, ein „strenger Gelehrter“ zu heißen.
S i e (der die Sache sehr gefällt). Seien Sie nicht zynisch,
Vincenz. Ich weiß sehr wohl, wie ernst und wichtig Ihnen - zutiefst - diese Abrundung
ihrer Materie ist.
V i n c e n z (ist zwar nicht sehr überzeugt, doch gibt er
sich gern mit dieser für ihn schmeichelhaften Erklärung zufrieden. Dann nach einer
kleinen Pause): Möglich, daß Sie recht haben. Gewiß. (Wieder eine kleine Pause.) Ich
habe
S i e (nimmt das Buch in die Hand, streichelt den Einband).
Eine schöne Ausgabe.
V i n c e n z. Ja, die von 1808. Fein. Haben Sie vorne den
Reynolds angesehen? Fein, nicht wahr?
S i e. Und die übrigen Stiche, wie hübsch. Sehen Sie mal!
(Eine Weile betrachten sie die Stiche.) Was werden Sie mir daraus vorlesen?
V i n c e n z. Vielleicht fange ich mit der
V i n c e n z (ein wenig nervös, teils weil er sie gestört
hat, teils weil er die in der Frage versteckte Opposition herausfühlt). Sterne.
J o a c h i m (geht auf den Ton ein; lächelt). Hab ich etwa
gestört?
V i n c e n z (ebenfalls lächelnd). Jawohl. Der ist nichts
für Sie. Schön ist er. Amüsant. Reich. Und gar nicht regelmäßig.
S i e (böse über die Unterbrechung). Wollen Sie wieder einmal
disputieren?
J o a c h i m. Nein. Ich wenigstens nicht. Nie. Und heute am
wenigsten. (Zu Vincenz.) In einem nur hatten Sie unrecht - haben Sie keine Angst, ich
will nicht disputieren - nicht zu mir paßt Sterne nicht, - obgleich ich ihn nicht
liebe, das haben Sie erraten - sondern zu diesem hier. (Er zeigt auf den Band Goethe,
der noch immer im Schoß des Mädchens liegt.) Den haben Sie gelesen, bevor Sie mit
Sterne anfingen?
S i e (dankbar, daß es endlich jemand bemerkt hat und deshalb
warm zu Joachim mit verborgener Spitze gegen Vincenz).
J o a c h i m. Weil Sie gewiß, während Sie Sterne lasen,
gefühlt haben: was hätte er dazu gesagt? Wäre er diesem Durcheinander heterogener
Elemente nicht gram gewesen? Hätte er das, was Sie da lasen, nicht verachtet, wegen
seines Ungeordnetseins, seines Unverarbeitetseins? Hätte er Ihren Dichter nicht einen
Dilettanten genannt, weil er die
S i e (ein wenig unsicher, was sie mit angenommener
Festigkeit der Stimme maskieren will). Es ist ja gewiß etwas daran, an dem was Sie
sagen, gewiß, doch Goethe hat doch nicht ganz so ...
V i n c e n z. Ich glaube zu wissen, was Sie sagen wollen,
und, bitte, erlauben Sie mir zu vollenden, was Sie angefangen haben: Goethe war nie
Dogmatiker, „Laßt uns doch vielseitig sein!“ sagt er und das wollten Sie anführen,
nicht wahr?
S i e (nickt ein dankbares und warmes Ja und ebenso, wie
früher, vor dem Intermezzo, gibt ihr Schweigen Vincenz recht, was beide Männer
fühlen).
V i n c e n z (weiter sprechend). „Märkische Rübchen
schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien, und diese beiden edlen Früchte
wachsen weit auseinander!“ Und noch tausend andere Stellen könnte ich anführen. -
Nein! Im Namen Goethes gegen solche Genüsse zu sprechen, geht nicht an. Gegen keinen
Genuss, gegen keine Lust. Gegen nichts, was uns bereichert, was unserm Leben etwas
Neues geben kann!
J o a c h i m (ein wenig ironisch). Was Sie nicht sagen!
V i n c e n z (dessen Gereiztheit sich immer offener
kundgibt). Und wenn ich gar nicht wüßte - und es ist ausgeschlossen, daß Sie es nicht
ebenfalls wissen - was Sterne Goethe bedeutet hat, mit welch dankbarer Liebe er immer
von ihm spricht, als von einem der wichtigsten Erlebnisse seines Lebens. Erinnern Sie
sich nicht? Und können Sie sich nicht an die Stelle erinnern, wo er sagt, daß auch
das XIX. Jahrhundert erfahren müsse, was es Sterne schuldet und einsehen lernen, wo
es ihm überall noch verpflichtet werden könne? Erinnern Sie sich nicht? Und entsinnen
Sie sich nicht der Stelle, wo er sagt: „Yorick Sterne war der schönste Geist, der je
gewirkt hat; wer ihn liest, fühlt sich sogleich frei und schön!“ Erinnern Sie sich
nicht?
J o a c h i m (scheinbar sehr ruhig und überlegen).
V i n c e n z. Ich glaube, Sie sind es, der Goethe
mißversteht, nicht ich (er sieht das Mädchen an), nicht wir. Sie lieben etwas in ihm,
was ihm selbst nebensächlich in sich war. Doch in einem haben Sie Recht: sprechen wir
nicht in seinem Namen. Er wird keinem von uns Recht geben können, sondern bloß
Argumente; und überhaupt wäre es ihm, glaub ich, ziemlich gleichgültig, wer von uns
recht behält. Es ist auch wirklich durchaus gleichgültig, wer überhaupt Recht
hat.
Recht haben! Unrecht haben! Was für eine kleinliche, unwürdige Frage! Und wie wenig
berührt sie die Punkte, von denen die Rede ist!
J o a c h i m (ein wenig ironisch). So findet sich freilich
Alles in Allem, so -
V i n c e n z (unterbricht ihn heftig). Und warum denn nicht?
Wo ist das Gemeinsame und wo der Widerspruch? Das sind nicht Eigenschaften der Dinge,
es sind nur die Grenzen unserer Möglichkeiten. Und es gibt kein a priori den
Möglichkeiten gegenüber, und es ist nichts mehr an ihnen zu kritisieren, wenn sie
aufgehört haben, Möglichkeiten zu sein; wenn sie sich verwirklicht haben.
Einheitlichkeit bedeutet, daß etwas beisammen bleibt, und das Beisammensein ist hier
das einzige Kriterium der Wahrheit; über seinem Urteil gibt es keine Instanz
mehr.
J o a c h i m. Sehen Sie nicht, dass dies, zu Ende gedacht,
zur vollständigsten Anarchie führt?
V i n c e n z. Nein!
J o a c h i m. Freilich ist das wahr. Doch wir dürfen nie
vergessen, daß es Grenzen in uns gibt, die nicht unsere Schwäche, Feigheit oder
Empfindungslosigkeit gegen unsere Eindrucksmöglichkeiten ziehen, sondern das Leben
selbst. Unser Leben. Und wenn eine mahnende Stimme in uns sie zu überschreiten
verbietet, so ist sie die Stimme des Lebens und nicht die des Zurückschreckens vor
seinem Reichtum.
V i n c e n z (höhnisch). Im Namen des Lebens und seines
Reichtums! Das klingt ganz schön, solange Sie Ihre Theorie auf nichts anwenden
wollen. Sobald Sie mit ihr aus der Einsamkeit des
J o a c h i m. Ja.
V i n c e n z.
Sterne hat nun in seine Menschenbetrachtung die Relativität hineingebracht. Beide
Brüder Shandy sind Don Quixote und Sancho Pansa zugleich. Und in jedem Augenblick
erneuert sich dieses Verhältnis, kehrt sich um und verwandelt sich wieder zurück.
Jeder von ihnen besteht Windmühlenkämpfe und jeder ist verständnislosnüchterner
Zuschauer bei den fruchtlosen und ziellosen Kämpfen des anderen. Dieses Verhältnis
auf irgend eine Formel zurückzuführen, ist unmöglich. Keiner der Brüder Shandy trägt
die typische Maske eines ständigen Weltgefühles. Was sie tun, worin sie als Enkel des
edlen Ritters erscheinen, alles wird so nebensächlich neben der erhaben-grotesken
Inadäquatheit der Verhältnisse. Man pflegt nicht ohne Recht zu sagen, Walter Shandys
ohnmächtige Fremdheit den Dingen gegenüber sei das ewige Unvermögen des Theoretikers
vor den Realitäten. Ich weiß, daß man dies sagen kann und vielleicht hat noch niemand
die gewaltige Symbolik dieses Verhältnisses mit genügender Schärfe und Tiefe
ausgedrückt. Und doch sind die Verhältnisse der Menschen zu einander hier das
wirklich Tiefe, nicht die einzelnen Menschen; die alles umfassende Mannigfaltigkeit
und Fülle des Kreises, den sie bilden, ob er gleich nur aus einigen Menschen besteht.
Wie reich ist allein das Verhältnis der Brüder zu einander! Ist es nicht rührend, wie
sie ihrer Zusammengehörigkeit bewußt sind, wie das Gefühl einer inneren Gleichheit -
in einer dem Gedanken
Diese Welt hat Sterne gesehen und hat den Reichtum aus ihr herausgesehen, das
Tieftraurige und das Lächerliche auf einmal und beides als unzertrennlich. Und er sah
den Reichtum, den die Allseitigkeit dieses aus zwei Seiten verschlungenen Kreises in
sich schließt: das Weinen, das zum Lachen wird, und das Lachen, woraus ein Weinen
entsteht;
(Pause.)
D a s M ä d c h e n (plötzlich). Wie schön! Das Zentrum ...
(Vincenz sieht sie an, auf die fällige Begeisterung wartend; das Mädchen wird rot,
weil es merkt, daß es sich verredet hat; in großer Verwirrung). Ja - die
Zentrumtheorie - die romantische Zentrumtheorie ...
J o a c h i m (ist ebenfalls verlegen; aber er, weil er
fühlt, daß er auf Grund aller seiner Überzeugungen und besonders auf Grund der
augenblicklichen Situation, vom Prinzip der abstrakten Form her, Vincenz
widersprechen muß; nur weiß er noch nicht, wie. Es geht ihm vieles im Kopfe herum,
doch fühlt er, daß jeder Widerspruch gegen diese schöne und aufrichtige Begeisterung
kleinlich wäre, und fürchtet, daß er sich dem Mädchen gründlich verleidet, wenn auch
es seinen Widerspruch als kleinlich empfindet; andererseits weiß er aber, daß er sich
aus dem nämlichen Grunde doch mit seinen Einwänden hervorwagen muß und daß er eine
von Vincenz heraufbeschworene
V i n c e n z (ist im Grunde auch verlegen. Er spürt
berechtigte Gegenargumente in der Luft und - weil er Joachim kennt - ahnt er auch,
von welcher Seite ungefähr der Angriff kommen kann. Nur weiß er freilich doch nicht
bestimmt, wie der Angriff sein wird und noch weniger, wie er sich verteidigen soll.
Er hat die dumpfe Empfindung, daß seine Worte ihn zu weit getragen haben, aber er
fühlt auch, daß er jetzt - schon des Mädchens wegen - nichts von seiner Begeisterung
aufgeben darf. Darum fängt er sehr nervös, abgerissen, in der Form hingeworfener
Bemerkungen zu sprechen an). Hätte werden können! Lächerlich! (Er trachtet das
Gespräch so lange als möglich vom Formproblem fernzuhalten). Sie wissen ganz gut, daß
ich aus diesem unendlichen Reichtum nur einige Details gezeigt habe. Hätte werden
können! Lächerlich!
J o a c h i m (gleichfalls unsicher und sehr vorsichtig). Ja.
Sie haben nicht alles gesagt, was in diesen Schriften ist und gewiß mußten Sie vieles
beiseite lassen, was Ihre Begeisterung für sie noch hätte steigern können. (Das
Mädchen, das der Rede Vincenz’ mit Begeisterung zugehört hat, jetzt jedoch bemerkt,
daß ihr Inhalt vielleicht doch fragwürdig ist, will vorderhand nicht Stellung nehmen
und macht eine Kopfbewegung, gekränkt darüber, daß Joachim wegen ihres begeisterten
Zustimmens sie einfach mit Vincenz identifiziert. Joachim, diese Bewegung als
Zustimmung deutend, spricht freier weiter - und doch gilt das Gefühl des
Gekränktseins ihm, wegen der unbequemen Situation, in die er sie versetzt hat), doch
vergessen Sie bitte nicht, daß Sie manches andere daraus ebenfalls verschwiegen
haben. Daß Sie manches beiseite gelassen haben, dessen Fehlen - Sie dürfen mir
glauben - ihrem Standpunkt viel genützt hat.
V i n c e n z (hat gleich Joachim die Bewegung des Mädchens
mißverstanden. Er spricht jetzt noch heftiger, um die Stimmungsüberlegenheit, die
sich von ihm abzuwenden droht, zurückzugewinnen). Ich glaube zu verstehen, wohin Sie
zielen, doch - Sie verzeihen - ich halte Ihren Einwurf für sehr kleinlich.
J o a c h i m (ihn unterbrechend). Ich bin noch nicht zu Ende
...
V i n c e n z (einfach fortfahrend). Sie sagten ungefähr:
welch schöner Roman wäre aus „Tristram Shandy“ geworden, wenn Sterne ihn bloß
geschrieben hätte. Und daß ich ihn ganz und rund gefälscht hätte, als ich von ihm
sprach, indem ich alles weggelassen hätte, was dieser großen Rundung Abbruch ...
J o a c h i m. Aber ich -
V i n c e n z. Verzeihen Sie einen Augenblick. Sie denken
gewiß an die Exkurse Sternes, an seine scheinbar gar nicht zur Sache gehörigen
Episoden, an seine grotesk philosophischen Einlagen und noch an vieles andere - ich
weiß. Aber wie oberflächlich ist es, alles, was im ersten Moment, vielleicht nur auf
Grund eines vorgefaßten, allzu theoretischen Gesichtspunktes nicht am Platze
erscheint, gleich als die Konzeption störend und ihre Größe beeinträchtigend
anzusehen. Bedenken Sie, daß eine, vielleicht nur Ihnen nicht klargewordene, doch
tiefe und richtige Absicht vorhanden sein kann, wo Sie nur Verwirrung und Unordnung
sehen. Ich glaube, Sterne wußte sehr wohl, was er machte, und er hat seine -
zugegeben, recht individuelle - Gleichgewichtstheorie: „to keep up that just balance
betwixt wisdom and folly," schreibt er im „Tristram“, „without which a book would not
stand together a single year!‘ Und ich glaube zu wissen, welche Gefühle diesen
Gleichgewichtsgedanken geradezu forderten. Sie erinnern sich vielleicht, was ich über
die Allseitigkeit seiner Menschenbetrachtung gesagt habe. Nun also: zur Einführung
und später zur Bewegung solcher Menschen ist seine Methode die einzige oder - einzig
hin, einzig her! - zum mindesten eine sehr vorzügliche Methode. Am kürzesten könnte
ich sie vielleicht so charakterisieren: eine Tatsache und drumherum ein ungeordneter
Schwarm von Assoziationen, die sie heraufbeschwört. Ein Mensch tritt hervor, spricht
ein Wort, macht eine Geste, oder wir hören bloß seinen Namen und er verschwindet in
der Wolke von Bildern, Einfällen, Stimmungen, die um seine Erscheinung herum
entstanden ist. Er verschwindet, damit alle unsere Gedanken von jeder Seite her ihn
umgehen können, und wenn sein neuerliches Erscheinen auch vieles zerstört von der
Mannigfaltigkeit, die das Frühere in uns aufsteigen ließ, so entsteht um den neuen
Moment herum derselbe Reichtum, nur noch reicher durch die Erinnerung an das
Vorhergegangene. Das
J o a c h i m (spricht noch immer ein wenig unsicher und
gerät nur langsam während des Sprechens in Schwung). Es ist vielleicht etwas daran,
an dem. was Sie sagen. Doch mein Gefühl sagt auch jetzt noch dasselbe wie zuvor: wie
schön hätte dieser Roman werden können. Denn Sie helfen auch hier mit Weglassungen
V i n c e n z (nervös). Das ist nicht wahr.
J o a c h i m. Nur ein Beispiel, doch eines von prinzipieller
Wichtigkeit; die vielen toten, heute schon unlesbaren Stellen würden hier sowieso
meinen Standpunkt stützen. Ich habe einmal bei einem englischen Literarhistoriker
gelesen, daß Sterne das Wort „humour“ auch noch im alten Sinne braucht, im Sinne des
elisabethanischen Zeitalters. Und wirklich, was sonst ist in jeder einzelnen seiner
Gestalten die ewige Melodie der Blindheit und des Unsinns, der „Hobby Horse“, als der
„humour“ der Gestalten Ben Jonsons? Die feststehende Eigenschaft des Menschen, die
sich mit solcher Kraft durch alle seine Taten zieht, daß Sie schon fast auffiört,
seine Eigenschaft zu sein, daß der ganze Mensch nicht mehr anders wirkt, als wie wenn
alle seine Lebensäußerungen nur Eigenschaften dieses „humours“ wären. Eine
Eigenschaft, die nicht der Mensch an sich trägt, sondern die den Menschen trägt. Ich
könnte auch sagen: der „humour“ ist die Maske, die aus der uralten, noch ganz
allegorischen Typik des Lebens und des Schauspiels übrig geblieben ist. Jene Prägung,
kraft welcher das ganze Wesen eines Menschen in eine Aufschrift, in ein Epigramm
gedrängt war; und er konnte keinen Augenblick heraustreten solange das Schauspiel
dauerte. Und dies nur nebenbei: jede Maske, sei sie noch so fadenscheinig und
durchlöchert, wie etwa die der Menschen Sternes, verhindert doch immer die
Wechselwirkungen zwischen den
V i n c e n z (triumphierend). Versuchen Sie einmal ganz
unbefangen das zu durchdenken, was Sie soeben gesagt haben. Ich meine nicht sein
Verhältnis zu Cervantes: nur begrifflich schließen sich Gesicht und Maske aus; in
Wirklichkeit sind es bloß Pole und man kann nie präzis feststellen, wo der Übergang
vom einem zum anderen stattfindet.
J o a c h i m (rasch einfallend). Doch eben hier ja!
V i n c e n z. Aber das ist, wie gesagt, nicht eigentlich
wichtig. Haben Sie denn nicht bemerkt, in welchem Grade alles, was Sie über den
„humour“ sagten, eine Ergänzung dazu ist, wie ich seine Menschenbetrachtung zu
charakterisieren versuchte? Nur daß Sie (ein wenig ironisch), c‘est votre métier,
mein Sehen auch formell begründet haben.
J o a c h i m. Ich sagte schon: ich will nicht streiten (
Vincenz lächelt und Joachim spricht erst nach einer kleinen Pause weiter) - und
streite auch nicht. (Vincenz lächelt von neuem, doch fällt sein Blick dann auf das
Mädchen; er sieht, daß sie nicht mitgelächelt hat, und für einen Moment hat er das
Gefühl: wie weit sind wir jetzt beide von ihr entfernt, und beide in gleicher
Entfernung. Er erschrickt und möchte dem ganzen Streite ein Ende machen. Darum hört
er Joachim ungeduldig zu und wartet auf die Gelegenheit, um dieser Stimmung Ausdruck
geben zu können. Joachim hat aber inzwischen immer weiter gesprochen): Nur eine
Bemerkung möchte ich noch machen. Wie schön wäre all das, wovon wir da sprechen, -
wenn es so wäre. Wenn
V i n c e n z (spricht nun nervös und sehr ungeduldig. Er
möchte den Disput irgendwie beenden, nur kann er auch jetzt nicht umhin, eine einzige
Bemerkung, die er selbst für die alleserledigende hält, vorzubringen. Jedes weitere
Wort aber reißt ihn unwillkürlich mit, so daß es ihm schwer fällt, seinen Standpunkt
nur in einigen Sätzen anzudeuten).
J o a c h i m. Oder besser: die Impotenz ...
V i n c e n z (hätte alles andere eher erwartet, als diesen
Zwischenruf. Sein Entschluß, der Debatte ein Ende zu machen, schwindet immer mehr und
er geht immer tiefer auf die Sache selber ein, alles andere vergessend, und sagt mit
starker „sachlicher“ Entrüstung): Nein! Wie können Sie das nur sagen? Man muß doch
einen Unterschied machen können zwischen Spiel und Schwäche, zwischen Wegwerfen und
Fallen-lassen!
J o a c h i m. Gewiß, doch eben darum -
V i n c e n z (unterbricht ihn). Ja, aber ich sehe hier
dasselbe Raffinement von naiver Sicherheit, wie in allen seinen Kompositionen. Die
J o a c h i m. Impotenz, ja. Denn bei jedem solchen Falle ist
zu fragen: womit
V i n c e n z. Zum Beispiel?
J o a c h i m. Zum Beispiel darin, daß sein Werk uns nie eine
Befriedigung gibt.
V i n c e n z. Absichtlich natürlich -
J o a c h i m. Nicht immer. In den seltensten Fällen sogar.
Glauben Sie nicht, daß ich den Humor solcher Stellen nicht empfinde, wie etwa die, wo
Tristram nach langen und die Spannung immer mehr steigernden Vorbereitungen endlich
beim Grabe der unglücklichen Liebenden anlangt, um dort, in Tränen aufgelöst,
sentimentale Sensationen zu erleben - und es sich auf einmal zeigt, daß das berühmte
Grab gar nicht existiert. Nein, ich denke an solche Stellen - ich will nur ein
kleines Beispiel geben - wo er in eine angefangene und nie zu Ende geführte Erzählung
fein und lang die Liebesepisode des Korporals Trim mit der belgischen Nonne einflicht
- um dann mit einem entsetzlich schwachen und banalen Satze allem sorgfältig
Vorbereiteten die Wirkung zu nehmen. So empfinde ich vieles in den Abenteuern Tobys
und der Witwe, die Coleridge, der doch viele Partien Sternes liebte, „stupid and
disgusting“ nannte. Überall dies: dort, wo er zum wirklich entscheidenden Punkt
gekommen ist, läßt er das Wichtige fallen und verwandelt es in ein Spiel. Weil er es
nicht gestalten kann, tut er, als ob er es nicht gestalten wolle.
V i n c e n z. Sie vergessen, daß beide Bücher, so wie wir
sie heute haben, Bruchstücke sind. Wer weiß, wohin Sterne den Roman von „uncle Toby“
und „Widow Wadmann“ geführt hätte, wenn er so lange gelebt hätte, um sie fertig
schreiben zu können.
J o a c h i m. So lange hätte er eben niemals gelebt. Seine
Werke sind als
V i n c e n z (fühlt die Überlegenheit Joachims während der
letzten Repliken und wartet darum gespannt darauf, daß sein Gegner sich eine Blöße
gibt; er hört deshalb sozusagen nur die Worte). Nun ja, wenn Sie’s so erklären, dann
ist alles so, wie Sie meinen, dann lesen Sie aber ganz anders und -
J o a c h i m. Sie haben mich mißverstanden. Auch ich weiß –
glauben Sie mir – daß es sich hier nur um einen Spaß handelt. Doch eben hinter
solchen Späßen sehe ich die Geste Sternes, von der ich vorhin gesprochen habe. Sterne
zeigt sich hier - und das ist wohl immer die Technik seiner (höhnisch) spielenden
Souveränität - nur in einer anderen Richtung zynisch, als in welcher er es in der Tat
ist. Er entblößt eine Schwäche seiner selbst und seiner Werke, die doch, wie Sie so
richtig bemerkt haben, gar keine Schwäche ist; aber er tut es nur, um unsere
Aufmerksamkeit von den dort vorhandenen, andersgearteten, wirklichen Schwächen
abzulenken. Ganz und gar nicht aber, um seine Kraft fühlen zu lassen. Er ist hier
überlegen zynisch, weil wir nicht sehen dürfen, daß er auch dann nicht komponieren
könnte, wenn er es wirklich wollte.
V i n c e n z (fühlt Joachim noch stärker im Vorteil, aber er
will es sich nicht eingestehen und lenkt darum die Debatte wieder den entscheidenden
Punkten zu). Sie haben da vorhin eine Stelle aus dem Tristram Shandy zitiert; Sie
haben aber vergessen, anzugeben, was Kerr damit belegen will -
J o a c h i m (hat das Gefühl, als wenn er schon alles, was
zu sagen war, gesagt hätte, und empfindet – wenn auch nur vorübergehend – eine starke
Abneigung gegen alles Sprechen. Während Vin- cenz nun spricht, sieht er das Mädchen,
das er während der letzten Repliken ganz vergessen hatte, aufmerksam an, und eine
Stimmung, wie sie Vincenz vorher hatte, hat ihn plötzlich überfallen; er sagt darum
gleichgültig): Weil ich es nicht für wichtig hielt.
V i n c e n z. Es ist aber sehr wichtig. Es handelt sich hier
darum, was die von Ihnen so stark beanstandete Komposition eigentlich hätte
ausdrücken sollen. Und über die seelischen Grundlagen, die den Ausdruck zustande
bringen, läßt sich nicht streiten, und eine Debatte hat nur Sinn, wenn diese
Grundlagen festgestellt sind. Die Debatte
J o a c h i m (möchte am liebsten immer noch nicht antworten;
aber er hat es doch nicht fertiggebracht, nicht achtzugeben, und so fühlt er bei dem
Wort „würdig“ die Überlegenheit seines Standpunktes und Vincenz’, wenn auch unbewußte
Anerkennung, so stark, daß er ihn doch unterbricht). Ja, ein Spiegel, der würdig ist
...
V i n c e n z. Wenn wir bis zur Weltanschauung zurückgehen
und es uns gelungen ist, irgend etwas als Weltanschauung zu begreifen, dann sind alle
Ihre Einwürfe über angebliche Impotenz entkräftet. Dann kann nur davon die Rede sein:
die Intensität dieser Kräfte zu fühlen und ihre Wirkungen geniessen und lieben zu
können. Und Sternes souveränes Spiel mit allem ist Weltanschauung. Kein Symptom,
sondern der geheimnisvolle Mittelpunkt von allem, der alle Symptome sogleich
verständlich macht und in dessen Symbolik alle Paradoxie sich sofort auflöst. Alle
romantische Ironie ist Weltanschauung.
„Die Wesen sind weil wir sie dachten.
Im trüben Schimmer liegt die Welt,
Es fällt in ihre dunklen Schachten Ein Schimmer, den wir mit uns brachten:
Warum sie nicht in wilde Trümmer fällt?
Wir sind das Schicksal, das sie aufrecht hält!“
Fühlen Sie nicht diese erhabene Steigerung zum Spiel und Herabwürdigung zum Spiel von
allem, die einem solchen Lebensgefühl entwachsen muß? Alles ist wichtig, gewiß, denn
das alles-schaffende Ich kann aus allem etwas schaffen, doch aus demselben Grunde
kann nichts in Wahrheit wichtig sein, weil es aus allem alles schaffen kann. Die
Dinge sind gestorben, nur ihre Seelenmöglichkeiten sind lebendig geblieben, nur
diejenigen ihrer Momente, auf welche das allein lebenspendende Ich seine
Sonnenstrahlen fallen ließ. Und fühlen Sie nicht, daß dieses
J o a c h i m. Sie haben zweimal den Spiegel als Symbol für
die Weltgestaltung des Dichters gebraucht, doch beim ersten Male haben Sie dem Worte
ein Epitheton gegeben, und mit Hilfe dieses Epithetons werde ich wieder auf Sterne
zurückkommen, von dem Ihre Worte Sie so weit weggeführt haben.
V i n c e n z. Ich habe immer von ihm gesprochen. Von ihm
allein!
J o a c h i m. Sie wollten die Kritik der Ausgangspunkte aus
der
Debatte fortschaffen, doch ganz unwillkürlich - ich kann mich auf ihre eigenen Worte berufen - waren Sie gezwungen, die Möglichkeit einer solchen Kritik zuzulassen. Die Strahlen, sagten Sie, werden von einem Spiegel reflektiert, der würdig ist, daß alle Strahlen von ihm zurückgeworfen werden. Des Zurückwerfens würdig - was heißt das? Ich könnte nun davon sprechen, wer zu uns reden darf; denn nicht wahr, auch hier gibt es doch Grenzen, auch hier besteht ein Würdig und Nicht-Würdig ?
V i n c e n z. Sie übertreiben zu sehr die Wichtigkeit dieses
Epithetons.
J o a c h i m. Vielleicht unterschätzen Sie seine wahre
Bedeutung.
V i n c e n z (ungeduldig, aggressiv). Sie haben dem, was ich
sagte, ebenso zugehört, wie die Brüder Shandy sich zuhören. In ihrem Munde wird alles
zum Wortspiel, denn Sie hören nur das Wort - und die Möglichkeit zu einem
Einfall.
J o a c h i m (ebenfalls ein wenig ungeduldig). Kann sein.
Aber mir ist hier doch dieses das einzig Wichtige: welcher Teil eines menschlichen
Ichs würdig ist, einen Spiegel für alle Strahlen dieser Welt abzugeben?
V i n c e n z. Das ganze Ich! Sonst hat’s keinen Sinn. Sonst
ist es Fälschung, bewußte oder feige Verleugnung, was als „Stil“, als „wirklich
Gestaltetes“ zustande kommt.
J o a c h i m. Natürlich das Ganze; es ist nur die Frage,
wessen Ganzes. Ich werde sehr kurz und - scheinbar - sehr dogmatisch sein, damit Sie
mich gut verstehen. Kant macht einen Unterschied zwischen „intelligiblem“ und
„empirischem Ich“. Ganz kurz gefaßt: der Künstler darf das ganze Ich ausdrücken - er
muß es sogar - doch nur das „intelligible Ich“, nicht das „empirische“.
V i n c e n z. Das ist leere Dogmatik.
J o a c h i m. Vielleicht doch nicht ganz leere. Sehen wir
uns die Berechtigung der vollständigen Subjektivität - wenn Sie wollen ihre
V i n c e n z.
J o a c h i m. Das Wort ist gut und bezeichnend. Sehen Sie,
mit seiner Hilfe kann ich vielleicht noch genauer und verständlicher das, was ich
sagen will, ausdrücken: das Ich ist der Spiegel, der uns die Strahlen der Welt
zurückwirft, und -, er sollt doch alle Strahlen zurückwerfen?
V i n c e n z (ungeduldig).Ja.
J o a c h i m. Dann also - sehen Sie, wie sich die ganze
Frage durch ein Bild von trivialer Einfachheit beleuchten läßt - dann also ist es gar
nicht fraglich, welcher Teil des Spiegels die Strahlen zurückwirft? Freilich, der
ganze! Doch fraglich ist es: wie muß der Spiegel beschaffen sein, damit er alle
Strahlen zurückwerfe, damit er von der Welt ein vollständiges Bild gebe?
V i n c e n z. Es kann ein Zerrspiegel sein.
J o a c h i m. Möglich. Doch er darf nicht trübe sein.
V i n c e n z. Sie wollen ihn doch nicht etwa zitieren!
J o a c h i m. Ich kann mir denken, Sie lieben nicht, was er
über Sterne schreibt, auch mir ist vieles an seiner spießbürgerlichen Moralisiererei
unangenehm, doch wichtiger als das erscheint mir, daß hierin er und ich
übereinstimmen: „He fatigues me,“ schreibt er, „with his perpetual disquiet and his
uneasy appeals to my risible or sentimental faculties. He is always looking in my
face, watching his effect.“ Hier, sehen Sie, ist einmal ganz präzis gesagt, was mich
an Sterne und
V i n c e n z (will etwas sagen).
J o a c h i m (rasch fortfahrend). Ich weiß, was Sie denken.
Aber ich spreche jetzt nicht von den wenigen Stellen, wo es symbolisch ist - wie Sie
es nannten: Symbol des großen Spieles - daß Sterne sich selbst vordrängt; ich spreche
jetzt von tausend anderen Stellen, wo dieses der Wirkung seiner Symbole im Wege
steht. Und nicht so sehr von den Einzelfällen, als vielmehr von jener stil-ethischen
Verkommenheit, die sie im Gefolge hat, will ich sprechen. Daß diese fortwährende
Koketterie sich in alle seine Bilder und Gleichnisse eingefressen hat, daß er keine
Zeile geschrieben hat, die von diesem Gifte heil wäre. Seine Beobachtungen,
Erlebnisse, Schilderungen: immer muß ich daran denken, was
V i n c e n z (sehr rasch). O doch!
J o a c h i m. Wieso?
V i n c e n z (wünscht eigentlich, daß die Debatte zu Ende
ginge, - aber die letzten Bemerkungen lassen ihn doch nicht ruhen, und so versucht er
wenigstens das Mädchen hineinzuziehen). Sie werden freilich, was ich jetzt sagen
will, allzu paradox finden, doch Sie (er wendet sich dem Mädchen zu), werden mich
gewiß verstehen.
D a s M ä d c h e n (ist zwar dankbar, daß sich wieder jemand
mit ihm beschäftigt,
V i n c e n z (ist ein wenig
J o a c h i m (ganz im Thema aufgehend, empfindet die
Bemerkung des Mädchens als durchaus leer, und in seiner „sachlichen“ Ereiferung
darüber ruft er vorschnell, zugleich mit Vincenz’ Worten aus): Die unendliche
Melodie?!
D a s M ä d c h e n (ist
V i n c e n z (bemerkt das natürlich sofort und macht sich
ihren Standpunkt heftig zu eigen und zunutze). Ja - die unendliche Melodie als
Lebenssymbol - daran dachten Sie doch?
D a s M ä d c h e n. Natürlich.
V i n c e n z. Als Symbol des Ins-Unendliche-Greifens, der
Unbegrenztheiten des Lebens und seines extensiven Reichtums. Unendliche Melodie ist
hier nur Metapher, doch eine tiefe Metapher, denn sie deutet mit geschlossener
Prägnanz Dinge an, die man sonst selbst mit vielen Worten nicht sagen könnte.
Trotzdem versuche ich es vielleicht auseinanderzusetzen, was wir darunter
verstehen.
J o a c h i m (hat gleich nach seiner letzten Bemerkung
gemerkt, wie ungeschickt und beleidigend sie war, und zuckt jetzt bei dem Wort „wir“
nervös zusammen; doch sieht er am Gesicht des Mädchens, daß Protestieren schon keinen
Zweck mehr hat und schweigt).
V i n c e n z. Wie gesagt, wenn der Begriff Kunstform einen
wirklichen Sinn hat, so habe ich das Wesen von Sternes Form bereits dargelegt. Jetzt
müßte ich noch hinzufugen: die Form ist eine so weit verdichtete Essenz alles zu
Sagenden, daß wir nur mehr die Verdichtung herausfühlen, und kaum mehr, wovon sie die
Verdichtung ist. Vielleicht wäre das noch besser so zu sagen: die Form ist
Rhythmisierung des zu Sagenden und der Rhythmus wird dann - nachher - etwas
Abstrahierbares, etwas selbständig Erlebbares, und manche empfinden ihn sogar - immer
nachher - als ewiges Apriori jedes Inhalts. Ja:
Aus solchen
J o a c h i m. Gewiß, es ist viel Wahres in dem, was Sie
jetzt ausgeführt haben; aber denken Sie auch an das, was Friedrich Schlegel
unmittelbar nach dem von Ihnen angeführten Satze sagt. Abgesehen davon, daß er diese
Arabeskenform nicht besonders hoch stellt.
V i n c e n z. In mancher Hinsicht war er eben noch
Dogmatiker der alten Formen.
J o a c h i m. Als er dieses schrieb, nicht mehr. Doch
wichtiger ist, daß er innerhalb dieser, wie immer gewerteten Form[,]
V i n c e n z. Jean Paul aber schätzte diesen höher, und
hatte recht. Freilich ist die „Sentimental Journey“ die Pforte, durch die man zum
tiefsten Verständnis Sternes gelangt und sie ist es zugleich, durch die wir, mit den
Schätzen seines Reiches schwer beladen, ins Leben zurückkehren können.
J o a c h i m. Sie haben Unrecht! Unrecht! Ich leugne, daß es
eine Ethik der Augenblicke geben könnte und leugne, daß die Lebensform
Die Ethik! Das von außen Kommende! Das uns aufgedrängte, unübertretbare Gesetz! Sie
sprechen von all dem so, wie wenn es stets nur seelische Verkümmerung brächte. Sie
tun’s freilich im Namen Sternes und da haben Sie recht: auch er empfand es so - doch
aus Selbsterhaltungstrieb. Aus der Selbstverteidigung der schwachen Menschen heraus,
die sich vor jeder Wertung hüten, weil sie sich fürchten, daß, wenn sie nur ein wenig
ehrlich sind, jedes ihrer Gefühle oder Erlebnisse - auch vor ihnen selbst - zu leicht
befunden würde. Die jedem Zwang entschlüpfen, weil der sie ein- für allemal erdrücken
würde; die vor jedem Kampfe ausreißen, weil sie in jeder Schlacht nur Besiegte
bleiben könnten. In deren Leben alles gleich wichtig ist, weil sie nicht imstande
sind, das wirklich Große auszuwählen, zu durchfühlen und zu erleben. Ein seelischer
Episodismus ist das ganze Leben Sternes, und - das ist wahr - viele kleine Dinge
wirken in ihm mit größerer
V i n c e n z (ein wenig überlegen-spöttisch). Das ist die
Weltanschauung von Gregers Werle.
J o a c h i m. Gewiß!
V i n c e n z. Doch vergessen Sie bitte nie, daß in Gregers
immer etwas - Sie verzeihen - Närrisches und Lächerliches ist.
J o a c h i m (sehr heftig). Aber nur, weil er einer Null,
einem Hjalmar gegenüber seine idealem Forderungen durchsetzen will! Aber noch hier,
wieviel Reichtum und wieviel Kraft, jeder äußeren Armseligkeit und Komik zum Trotz.
Und wie gräßlich ist die innere Armut in einem Reichtum, wie Sie ihn beschrieben
haben. Sie halten es wohl für Ironie, wenn Sterne einmal von sich erzählt, wie
jämmerlich ihm in seiner Zerrissenheit zumute sei, einer Zerrissenheit, in die ihn
würdigere Gefühle nie bringen könnten; doch müssen Sie sich auch des Briefes
erinnern, wo er mit trauriger Offenheit diesen großen seelischen Bankrott der
Gefühlsanarchie bekennt: „I have torn my whole
S i e (
E r (versteht auf einmal die Situation,
S i e. Gut...
E r (ist ihr ganz nahe, steht hinter ihr; leise). Ein
andermal... (Beugt sich plötzlich zu ihr hinab und küßt sie.)
S i e (
1909