Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Drei Briefe an einen Knaben

Lou Andreas-Salomé

Source: Andreas-Salomé, Lou. Drei Briefe an einen Knaben. Leipzig: Kurt Wolff Verlag, 1917: 29-47.
First edition: Andreas-Salomé, Lou. Drei Briefe an einen Knaben. Leipzig: Kurt Wolff Verlag, 1917.
Cite as: Andreas-Salomé, Lou. Drei Briefe an einen Knaben. Leipzig: Kurt Wolff Verlag, 1917: 29-47, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.2

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Domains: education, gender

Frame: body and psyche, family and school

Genre: essay

Mode: essayistic

Transgression: literature/science

[29]

Antwort auf eine Frage

Alvastra (Schweden), im Sommer 1911.

Lieber Bubi!

Bis jetzt schrieb ich Euch immer gemeinsam (sogar dann, wenn nicht jedesmal Eure beiden Namen in der Anrede standen) und nun ist es mit einem Male doch so, daß Du ein großer Junge geworden bist, während Schnuppi noch ein kleines Mädchen bleibt. Auch sind es nicht mehr nur gemeinsame Kameraden, die Ihr habt, und selbst wo sie es sind, gelten die Unterhaltungen nicht immer Euch beiden zusammen. Diese Änderung geschieht ja ganz natürlich durch die Schule. Und so konnte es kommen, daß etwas, was Schuljungen Dir mitteilten, was sie mit Dir teilen wollten, Dich plötzlich ihnen entfremdete und doch gleichzeitig Dich auch innerhalb Deiner eignen Familie fremder werden ließ. Denn in Schnuppis sorgloses Spiel paßte es so wenig hinein wie eine Kellerratte in ihre Puppenstube gepaßt hätte, und zu Deinen Eltern konntest Du nicht davon sprechen, weil, was Du hörtest, für Dich eben grade sie betrifft. Allerdings unterschreibst Du auch heute noch aus vollem Herzen, was Schnuppi kürzlich in ihrer schönsten Kalligraphie ihrer Mutter etwas un- [30]erwartet in deren Wäschebuch zwischen die Hemden, Strümpfe und Zahlen eintrug: »Meine Mutts ist die allerliebste Frau in der ganzen Welt.« Aber schon vor ein paar Jahren warst Du ärgerlich darüber, daß Eure Katze es ablehnte, ganz aus sich selber kleine Kätzchen hervorzubringen und fandest ihren Anspruch auf einen Kater absolut unangebracht.

Dennoch würde es Dich weder verwundern noch verletzen, führte man Dich vor ein Wasser, worin eine Fischmutter ihre Eiermasse abgesetzt hat, und erläuterte man Dir, wie, an dieser Masse vorüberschwimmend, ein Fischvater sie erst mit seiner Flüssigkeit begießen muß, damit die junge Fischbrut draus entstehe. Von Ei und Samen hast Du in der Naturgeschichte gehört, und wenn Ihr bei Eiern auch meist nur an die Frühstücksstunde denkt, so weißt Du doch, daß sie den weiblichen Anteil beim Brutgeschäft darstellen, wie der Samen den männlichen. Auch von den Säugetieren weißt Du, deren Brut nicht zustande kommen könnte unter so schutzlosen Verhältnissen wie etwa der Froschlaich draußen in Wind und Wetter sich zu Fröschlein entwickelt, — ja, nicht einmal in der geschützten Lage, die das Vogelei unter der brütenden Wärme der Vogel- [31]mutter erhält, sondern nur im Leihe der Mutter selbst. Dadurch ist das Entstehen des neuen Lebens in doppelter Weise an das Weibchen gebunden: sowohl durch den Stoff, den es zur Zeugung beiträgt, als auch durch den Leib, worin es das Gezeugte bis zur vollen Geburtsreife trägt. Wo dies der Fall ist, da hat die Zweiheit der Geschlechter, als Mannheit und Weibheit, ihren besondern Charakter darin, daß das Weib der tragende Mutterkörper ist, der Mann aber derjenige, dessen Samen bis zu dem in ihr bereit ruhenden Ei gelangen muß, also anstatt wie bisher sich außerhalb zu ergießen, nun in den weiblichen Leib einzudringen hat. Du siehst, wie hierin das wichtigste Geschlechtsereignis besteht: das neue Leben hängt davon ab, ob im Innersten des Weibes Ei und Samen aufeinandertreffen können. An derselben Stelle, aus der später, beim Menschen in ungefähr 9 Monaten, das Kind zur Welt geboren wird, ist deshalb der weibliche Körper dem männlichen zugänglich, öffnet er sich in den besonderen Leibesraum, wo das Kind keimen und groß werden kann, und an der gleichen Stelle sammelt sich im Manne der kostbare Lebenssaft in zwei Behältern (den Hodensäcken), aus denen seine Kraft ihn dem weiblichen Ei entgegenstößt.

[32]Aber ich höre Deinen Einwand, Deine Frage, die es nicht glauben mag, daß bei diesem Vorgang alles immer so »mit rechten Dingen« zugehe. Denn wenn nicht doch etwas Häßliches an der Sache wäre, warum dann überhaupt dieser Aufwand von Heimlichkeit, der sie unzweifelbar überall umgibt und sich mit so viel Scham, so viel absichtsvollem Versteckspiel verbindet? Darauf gibt es indessen eine schöne Antwort, Junge: es sind nämlich nicht nur die häßlichsten Dinge, die man am heimlichsten tut, sondern auch die herzlichsten. Hast Du nicht etwas wie eine feine Vorahnung davon schon erfahren, neulich, als ich Dich mit Schnuppi von der Schule holte und Du Deinen Mantel abwarfst, um sie vor dem strömenden Regen zu schützen, — darauf jedoch vor den lächelnden Schuljungen rot und verlegen zur Seite gingst? Und nun denke, wie das Gefühl, welches Dich zum kleinen brüderlichen Ritterdienst trieb und nicht gern bemerkt sein wollte, doch noch ganz anders von aller fremden Gegenwart gestört werden muß in dem, was zwei Menschen zueinander treibt im Liebesdienst vor dem Kinde. Denke, wie jede Zärtlichkeit, deren Du Dich seit klein auf entsinnst, dieser einen herzlichsten aller menschlichen Zärtlichkeiten [33] gegenüber kaum so viel bedeutet wie das flüchtige Aufblinken eines Fünkchens gegenüber einer ganzen, starken, hellen Lichtglut. Denn es ist ein Unterschied, ob wir, fröhlich und zärtlich, an unserm Leben unsere Nächsten teilnehmen lassen in Kuß und Händedruck, Anschmiegung und Liebkosung, oder ob wir Leben weitergeben in seinem eignen, leibhaftigen, leiblichsten Sinn, worin es, auf diese Stunde wartend, in jedem Wesen verborgen ruht. Deshalb scheint es uns, als ob um Menschen herum, die einander offenstehen für dies gemeinsamste Erlebnis, sich Wände aufrichten müßten, unsichtbare Schutzwände von selbst, um sie zu verbergen vor den Blicken Unbeteiligter wie vor einer Entweihung. Gibt es doch nur zwei Arten, wie darauf geblickt werden kann: entweder mit der Ehrfurcht, die darin das Geheimnisvollste der Natur achtet, oder aber mit der Neugier, die daran nicht das Geheimnis zu sehen weiß, sondern nur ein aufregendes, interessantes Heimlichtun.

Und hier sind wir, glaube ich, an dem Punkt angelangt, wo Deine Schulkameraden Dir das Verständnis durch ihre Bemerkungen verwirren mußten, anstatt es zu klären. Es ist der Punkt, wo zweierlei Heimlichkeiten aufeinander zu stoßen, [34] sich zu kreuzen scheinen, — sagen wir einstweilen: die »häßliche« und die »schöne«, — und aus begreiflichen Gründen konnten sie Dir nur von der ersten sprechen, nämlich von äußern, körperlichen Handlungsweisen, von der heimlich-gehaltenen Außenseite solcher Vorgänge, deren Innenseite, deren Gefühlsbedeutung für sie noch nicht existierte. Denn während bei jeder andern Zärtlichkeitsform (denke an irgendeine, die du kennst) der körperliche Ausdruck und der Gefühlsausdruck einander ohne weiteres gegenseitig erklären, ist es bei dieser einzigen vollständigen Verbindung zwischen Menschenkörpern ja nicht so, — und zwar deshalb, weil ihre Annäherung nicht nur sich selber zum Ziele hat, sondern außerdem noch unwillkürliche Bemühung ist um das Ziel darüber hinaus, — eben in dem, was sie fruchtbar machen soll: in der Annäherung von Ei und Samen. Deswegen ist dies Innerlichste und Verborgenste am leichtesten zu mißdeuten oder zu verhöhnen. In der Tat, sobald man die Liebe der Geschlechter derjenigen Bedeutung entkleidet, die sich von außen her nicht in die Augen drängt, all der Gefühle, die sie unsichtbar begleiten, dann steht sie in so armer Nacktheit und Wehrlosigkeit da, wie keinerlei sonstige Liebesbezeugung zwi- [35]schen Menschen, und ist jeder Scham, jeder Erniedrigung durch die Neugier oder den Unverstand preisgegeben. Vielleicht ist das deutlichste Beispiel dafür die Art, wie wir alle auf das Geschlechtsleben von Wesen blicken, die uns ferner stehen: zum Beispiel auf das der Tiere. Was wir davon sehn, kommt uns meistens gar nicht als Zärtlichkeit, sondern als eine wunderliche Anstrengung, als drolliges oder unbeholfenes Geberdenspiel zum Eindruck. Denn da verstehn wir ja wirklich fast nur die körperlichen Bewegungen dran, während wir vor dem Übrigen ähnlich dumm dastehn, wie ein Elefant oder eine Maus vor unsern Erlebnissen stände. Wir müssen lachen, wenn einmal im Gequake eines Frosches sein inneres Liebesleben Sprache zu gewinnen sucht, und nehmen von unserm menschlichen Standpunkt aus an, daß es ein solches in unserm Sinn nicht oder doch nur kaum gäbe: trotzdem uns mitten aus der Tierwelt heraus ein Geschöpf erstanden ist, das uns auf süße und eindringliche Art eines Bessern belehren könnte, — im Singvogel. Denn dessen Lieder sind ja seine Liebes- und Hochzeitslieder, und wenn wir ihnen im Frühling lauschen, kommt es uns vor, als sprächen die kleinen Vogelstimmen unsere eignen Gefühle manchmal inniger und [36] wahrer aus, als wir es mit unsern groben Menschenzungen zuwege bringen.[1]

[37]Erscheinen unserer Organisation Lebewesen, noch fremder als Tiere es schon sind, hören wir schließlich nicht nur auf, ihren Gefühlsmöglichkeiten nachzugehn, sondern auch an ihren Außenformen noch entfernte Menschenähnlichkeiten zu erkennen, so finden wir an ihnen auch nicht mehr irgendwas »häßlich« oder »drollig«, auch an ihrer Geschlechtlichkeit nicht: denn wir vergleichen sie nicht länger mit der unsern. Dies ist der Fall mit der Welt der Pflanzen. Wir verwundern uns nicht einmal über die Tatsache, daß die lebendigen Gewächse ihre Geschlechtswerkzeuge hinaufhalten in die Luft und Sonne, und direkt bestrebt sind, sie durch Geruch und Buntheit noch kenntlicher und in die Augen fallender zu machen: was wir die »schöne Jahreszeit« nennen, das ist ja nichts als dieser große öffentliche Hochzeitsrausch der Pflanzenwelt, deren Samenstaub uns umweht und deren gesteigertes Leben uns zu des Sommers Poesie wird. Wir erwarten hier am Geschlechtlichen nichts Geheimgehaltenes, weil dermaßen das Pflanzendasein als Ganzes uns geheim und verborgen bleibt im Innersten, — es verrät uns selbst in dieser Offensichtlichkeit deshalb von sich so gut wie nichts. Was daran so farbig, duftig und ausdrucksvoll herauskommt, hat man mit Recht [38] einer bloßen List, Verstellung, Maske verglichen, — »bunten Wirtshausschildern«, womit doch nur die Insekten angelockt werden sollen, zum Honig in den Kelchen hinabzusteigen und so den Samen mit sich hinauszutragen als unfreiwillige Heiratsvermittler der Pflanze, — wenn nicht gar (wie die Windblütler tun) der Samen einfach vertrauend dem Gutdünken des Windes übergeben wird. Denn selbst im Liebesgeschehen, wo Mensch und Tier ihr engstes Zueinanderkommen suchen, — wohl weil sie nur an diesem Punkt ihre engen Grenzen brechen können und eins werden mit dem Andern, — selbst da also bleibt die Pflanze uns entgegengesetzt. Hat sie doch das alles gar nicht erst nötig, — sie, die von vornherein in so wunderbarer Einheit mit allem lebt, daß sie noch Stein und Staub, »toten« Stoff, zu Leben zu wandeln vermag, und dadurch ja auch erst unseres Leibes Allzusammenhang, seine Luft und Nahrung, für uns vorbereitet. Dort, wo sie dies schafft: in den dunkelsten Wurzeln, die sie ebenso tief in der Erde vor uns verbirgt, als sie Samen und Stiele hochstreckt an die Sichtbarkeit, können wir ihr in der Tat deshalb nicht mehr nachdenken, — können wir von ihrem wirklichen Wesen nur noch reden wie aus Märchen und [39] Bildern, als träumten wir im Grunde nur dieses Pflanzenreich, das allein unter allem, wovon wir wissen, mit seinem Dasein zugleich beheimatet ist im Lebendigen wie im Toten. Den stärksten Ausdruck, meinem Gefühl nach, erhält diese Besonderheit des Pflanzlichen in dem Umstände, daß die Pflanzenfrucht, das schon geschaffene Kind der Pflanze, erst nochmals in die Erde zurück muß, um sich in der Oberwelt entfalten zu können. Nicht wie Menschenkind und Tierbrut wird sie einmalig geboren, sondern zweimal, in zwei Reichen; fertig gezeugt erst in jener unterirdischen Tiefe, darin sie nochmals getötet, in ihre Urgestalt zersprengt wird, um alsdann in unsere Welt hineinzureichen, unser Dasein an der Sonne zu teilen, sodaß, was uns »Tod« heißt, für sie noch mitumfaßt ist in dem, was uns Leben heißt.

Unserm Verständnis noch weit entrückter als die Vegetation sind diejenigen Lebewesen, die weder in unsere wissenschaftlichen Schubfächer für die Fauna, noch für die Flora — um diese Dir bekanntgewordenen Fremdwörter zu benutzen — hineinpassen wollen, indem sie nicht, wie diese alle, aus einem Bau mehrfacher, von vielen Körperzellen zusammengesetzter Organe bestehen, sondern aus einer einzigen Zelle allein. Bei der Pflanze [40] nehmen wir noch das Sinnenfällige am vollsten wahr, wir lassen es dadurch wenigstens noch als Bild, als »ästhetischen Eindruck«, nämlich als Schönheit, uns erfreuen, was soviel heißt, wie: fast nichts an ihr in direkte praktische Vergleiche mit uns selbst ziehen können; — doch die Miriaden der Einzeller, die viel zahlloser die Welt erfüllen als alle Pflanzen und Tiere zusammengenommen, entziehen sich meist überhaupt der Wahrnehmung durch unsere Sinne. Wo sie deshalb dem Menschen merkbar zu Leibe rücken, wie in den verschiedenen Bazillen (Bakterien, Kocken, Spirillen usw.), da wirken sie beinahe wie eine, sei es uns nützliche oder uns schädigende, unfaßbar-unsichthare Geistermacht. Erst unter dem Mikroskop kehren sie unserm Auge zur Wirklichkeit zurück, dadurch daß ihre Organisation sich uns in ihrer besonderen Welt enthüllt. Wir sagen auch dann noch: eine einfachere Organisation als unsere komplizierte ist, aber im Grunde können wir damit doch nur meinen: eine total von der unsrigen verschiedene. Denn wenn ihr z. B. unsre Füße zur Fortbewegung fehlen, so vermag solch ein Zellklümpchen dafür gliedmaßähnliche Fortsätze hervorzustrecken und hinterher wieder in sich aufzulösen, sobald es sie nicht mehr braucht; [41] und ebenso märchenhaft hilft es sich auch im Geschlechtlichen: da teilt es sich ohne weiteres in zwei Teile und in jedem lebt das Ganze als in einem neuen Exemplar fort. Ungefähr so also, wie wenn Du einmal fändest, daß Du zu lang oder dick geworden seiest, und vorziehen würdest, lieber in kleinere Bubi-Exemplare auseinanderzugehen, die sich später, nachdem sie ebenso dick geworden sind, wiederum teilen, so daß, ohne Geburt und Tod, immer ein und dasselbe Bubi es endlich zu ungeheurer Lebensdauer bringen müßte. Das Wichtigste an dieser Tatsache ist für uns aber, daß auch wir selber etwas von solcher Ewigkeit in unserm Körper beherbergen, und zwar gerade in unsern Geschlechtsstoffen, im Ei und Samen. Inmitten der Vielzelligkeit unserer Organe sind Ei und Samen allein derartige Einzeller geblieben, die ein klein wenig vom gesamten Körperinhalt in sich beherbergen, und nur deshalb kann immer wieder ein ganzes neues Menschenkind hervorgehen aus ihrer scheinbar allereinfachsten, weil tatsächlich »alles« in sich vereinigenden Organisation. Bei uns müssen, damit das geschehe, allerdings zwei Einzeller, Ei und Samen, sich dazu zusammentun: aber auch bei denjenigen Einzellern, die außerhalb der [42] tierischen und pflanzlichen Körper leben, hat mau beobachtet, daß wenigstens hin und wieder eine solche Verbindung, Verschmelzung, vorangehn muß, damit der Zerfall in viele neue Teilchen seine Kraft behalte: also auch hier ist das Letzte, was unsere Augen erkennen, die Zweiheit, die allem Leben zugrunde liegt.

Freilich sehn wir hierin kaum noch »Geschlecht« und »Geschlechtsgeschehn«: denn wie wenig nehmen wir noch überhaupt »lebendiges Geschehen wahr an Stelle von unbelebten Vorgängen. Das will heißen: so fremd und fern von unserm Verstehen gehen sie vor sich, daß wir kaum noch etwas von uns selber an ihnen erfahren, und das allein ist uns ja »Leben«. Woran wir gar keiner Ähnlichkeit mit uns mehr bewußt werden (mag sie noch so sehr da sein), woran wir also in all unsern Ausdrücken im Grunde nur noch zu schildern vermögen, was wir nicht sind, wie wir uns nicht verhalten, das nennen wir »tot«, »toten Stoff«, »Gegenstand«, »Ding«, — was alles durchaus nur heißt: »unverstanden«. Darum hat da auch unser lebendig begleitendes Gefühl eine Grenze: Zuneigung sowie Unwillen fühlen wir vollmenschlich nur noch dem Tier gegenüber. Die Pflanzenwelt kann nur noch uneigentlich vom [43] Menschen geliebt und gehaßt werden, und in die Einzellerwelt fast schon wie in die des Unbelebten — die Welt der Physik und Chemie, — finden wir uns mit starken Gemütsäußerungen (soweit sie direkt, nicht bloß gleichnisweise erregt werden!) im Grunde nur mit einer Abwehräußerung hinein. Nämlich da, wo dies scheinbar Unbelebte, das wir ausdrücklich als nicht Unseresgleichen von uns ausschalteten, sich an den Platz unseres Lebens zu drängen scheint, da wehren wir ihm mit Ekel: d. h. mit der Abwehr einer Verunreinigung durch Fremdes. Ekel entsteht sofort, wo wir an eine solche Verunreinigung des Lebendigen denken, auch falls sie tatsächlich nicht eintritt. Wenn wir uns z. B. vor in Fäulnis übergegangenen Vegetabilien ekeln, so gilt das nicht ihnen, die für den Pflanzenboden kostbaren Lebensdünger bedeuten können, sondern einer Verwechslung, wodurch wir sie, etwa als Nahrung, in unsern menschlichen Mund und Magen hineindenken. Am unmittelbarsten drückt sich dies deshalb aus gegenüber den Stoffen, die unser eigner Organismus als tote aus sich hinauswirft, nachdem er ihnen entnommen hat, was ihn lebendig fördern kann. Indem solche Ausscheidungsstoffe durch unsern Körper durchgehen [44] und demnach so tun, als wären sie er selber, liegt in bezug auf sie das Gefühl der Verunreinigung am nächsten, und bildet gewissermaßen die Ausgangsstelle für allen Ekel. Allerdings ja nicht von vornherein: denn ganz kleine Kinder, ehe sie dergleichen unterscheiden, hegen daher auch noch keinen Ekel, sondern zählen auch die ausgeschiedenen Stoffe ihrem Besitztum zu, bekunden folglich lebhaftes Interesse für sie als für ein Stück ihrer selber, auf das sie einigermaßen stolz sind, und von dem sie sich nicht ganz ohne Bedauern trennen, als gebührte ihnen eigentlich dafür eine Entschädigung. Ein kindisches Verhalten übrigens, unter dem doch eine erste, wichtige Erfahrung zum Ausdruck kommt, die schon wenig später, nachdem der Ekel erlernt worden ist, nicht mehr wirksam geworden wäre: die Erfahrung nämlich, daß wir uns schaffend verhalten können, und nicht nur aufnehmend, — daß überhaupt etwas, das wir sind, außer uns, also getrennt von uns, da sein kann; als ein Teil der Welt existieren kann, ohne uns selber doch zu verringern.

Es gibt aber einen besondern Grund, weshalb ich auf diese scheinbare Abschweifung komme, weshalb sie mir zur Sache zu gehören scheint, so [45] wenig hübsch sie sich auch anhört. Wir wollen ja nicht hübsch miteinander reden, sondern nach Möglichkeit ehrlich, und da meine ich nun: daß der Eindruck der Schuljungen-Bemerkungen auf Dich mit diesem ganzen Sachverhalt zusammenhängen mag. Denn längst habt Ihr alle den Ekel reinlich erzogener Kinder vor manchen Vorgängen, und doch erinnert Ihr Euch alle noch dessen, daß es nicht von Anfang an so gewesen ist. Vielleicht auch dessen, daß Ihr damals noch ohne Ekel den Ursprung der kleinen Kinder Euch aus ähnlichen Vorgängen zurechtphantasieren konntet. Und als Ihr nun zu erfahren .glaubtet, wie nahe tatsächlich im Körper beisammen liegt, was Ekel erregt und was die Liebe erregt, da hat sich Euch beides fast wieder in eins verwechselt: grade deshalb, weil früher einmal für Euch selber ein Vergnügen, ein Behagen, mit dem jetzt nur noch Ekelerregenden zusammenhing. Das bißchen böses Gewissen, das Ihr aus Eurer damaligen Erziehung zur Reinlichkeit lerntet, hängt sich dadurch jetzt an die Handlungen der erwachsenen Leute; es verwirrt Dich, und erniedrigt die Geschlechtlichkeit in Deinen Augen, daß der Ausgang, durch den der Leib sich seines toten Abfalls entledigt, so wenig unterschieden [46] sein soll vom Zugang zum Kostbarsten und Lebendigsten, das sich in ihm zusammenschließt. Aber auch wenn für den äußeren Blick der räumliche Abstand zwischen beidem noch so groß wäre: es würde trotzdem für Dein Gefühl das Ungeheure des Abstandes von »Lebensspende« und »Auswurf« sich nicht genügend kennzeichnen können, bevor nicht dieses Gefühl selber dafür gereift wäre. Umgekehrt geschieht es darum ja auch dem kleinen Kinde, daß es das Tote, Ausgeschiedene seinen lebendigen Körpergliedern ähnlich wertet, ehe das Unterscheidende ihm innere Erfahrung geworden ist. Was eine solche Unendlichkeit legt zwischen Leben und Tod, Liebe und Ekel, Umarmung und Leibesreinigung, Zeugungsstoff und Abfallstoff, geht uns auf an unserm Erleben des Geschlechts. Das Geschlechtliche überwältigt uns von dorther, wo das Leben sich in seinen unscheinbarsten, dem Auge von totem Stückwerk kaum unterscheidbaren Kern zusammengezogen hat, um ewig neu Leben aus sich zu entlassen; von dorther, wo es sich am undurchsichtigsten verbirgt, um am durchgreifendsten zur Wirkung zu kommen. Deshalb fühlt es sich in der Tat so an, als walte hier im Allerunvermutetsten etwas von Wunder, Zau- [47]ber, Hexerei; als sei im Geschlechtsgeschehen ein wenig von dem, was in den Märchen vorzukommen pflegt: daß die Liebe aus dem Frosch den Prinzen entzaubert, aus Staub blühende Blumen, — daß sie das: »Es werde!« über die Dinge spricht; hallt ihr Auferstehungswort doch unaufhaltsam weiter und weiter, wirkend durch die Geschlechter, bis in alle Zukunft. Deshalb ist es hier, wo alle Kenntnisnahme von den Vorgängen, und sei es die ausführlichste und genaueste, nicht mehr vorwärts bringt, denn an das Wunder des Lebens kann das Leben immer nur wieder durch sein eignes Wunder heranbringen, und dann wie an das Selbstverständlichste, ja einzig aus sich selbst Verständliche. Das Wissen bleibt dem gegenüber doch immer wieder an den äußerlichen Anschein und damit an das bloß Todähnliche gefesselt, — und in diesem Punkt gleicht das Viertelwissen Deiner Kameraden dem gelehrtesten der edelsten Forscher. Nur daß diese wissen: daß es nicht an irgendwelchen Heimlichkeiten liegt, die man nicht lüften dürfte, sondern an dem, jedem Einzelnen, ewig-neuen, Geheimnis, das sich auch Euch erschließen wird, wenn ihm die Zeit erfüllt ist, — als der Märchen letztes, das »Märchen des Erwachsenen«.

1Hierzu möcht ich Dir eine Briefstelle ausschreiben, die Antwort war auf diese Blätter: je tiefer Du sie später erfassen wirst, desto mehr wirst Du Dich an ihr freuen:

»Schön hab ich’s aufgefaßt, wie mir’s noch nie sich darstellte: dieses immer weiter Hineinverlegtsein des entstehenden Geschöpfs aus der Welt in die Innenwelt. Daher die reizende Lage des Vogels auf diesem Wege nach Innen; sein Nest ist ja fast ein von der Natur ihm bewilligter äußerer Mutterleib; den er nur ausstattet und zudeckt, statt ihn ganz zu entfalten. So ist er dasjenige von den Tieren, das zur Außenwelt eine ganz besondere Gefühlszutraulichkeit hat, als wüßte er sich mit ihr im innigsten Geheimnis. Darum singt er in ihr, als sänge er in seinem Innern, darum fassen wir einen Vogellaut so leicht ins Innere auf, es scheint uns, als übersetzten wir ihn, ohne Rest, in unser Gefühl, ja er kann uns, für einen Augenblick, die ganze Welt zum Innenraum machen, weil wir fühlen, daß der Vogel nicht unterscheidet zwischen seinem Herzen und ihrem. — Einerseits wird nun dem Tierischen und Menschlichen viel zugenommen durch die Hineinverlegung des ausreifenden Lebens in einen Mutterleib: denn er wird um soviel mehr Welt, als draußen die Welt Beteiligung an diesen Vorgängen einbüßt (als wäre sie unsicherer geworden, hat man’s ihr fortgenommen, —) andererseits: (aus meinem Taschenbuche, voriges Jahr eingeschrieben, in Spanien, — Du wirst es erinnern, die Frage:) »Woher stammt die Innigkeit der Kreatur? aus diesem Nicht-im-Leibe-herangereift-sein der übrigen, das es mit sich bringt, daß sie eigentlich den schützenden Leib nie verläßt (lebenslang ein Schoßverhältnis hat).«

Hinzugefügter Brief aus Paris, vom 20. Februar 1914

von Rainer Maria Rilke.

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