Gengnagel, Tessa; tessa.gengnagel@uni-koeln.de
Dieser Artikel basiert auf der älteren Version von N.N.
Einem klassischen Verständnis nach bereiten Archivausgaben historische Quellen mit diplomatischen Transkriptionen und parallelen Faksimiles sowie zusätzlichen Sekundärinformationen (Überlieferung, Schrift-Erschließung, inhaltliche Erschließung und Kommentierung) auf, um – quasi als Archiv – den Benutzerinnen und Benutzern die Überlieferung in vollem Umfang und teils mit hyperdiplomatischer Transkription zur Verfügung zu stellen: “Dem Namen steht dabei der Gedanke des abzubildenden Bestandes und der noch nicht erfolgten inhaltlichen Verarbeitung Pate, wie er mit dem klassischen Archiv als Dokumentenspeicher assoziiert wird” (Sahle 2013, I, S. 218). Ziel ist dabei, die Quelle möglichst objektiv ohne Interpretation der Befunde darzustellen. Kritikerinnen und Kritiker sprechen dieser Publikationsform den Charakter einer Edition ab (Sahle 2013, I, S. 218–20), wobei Archivausgaben von vornherein nicht für sich beanspruchen, kritische Editionen zu sein. Hieraus leitet sich eines der Unterscheidungsmerkmale zu den Ansprüchen des Documentary Editing ab, das sich jedoch stets ähnlichen Kritiken ausgesetzt sieht.
Im Digitalen hat ein deutlicher Wandel des editorischen Archivbegriffs eingesetzt. Dabei ist festzuhalten, dass die sprachliche Praxis, in diesen zumeist literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen von ‘dem’ Archiv (bzw. ‘the archive’) zu sprechen, ohne sich mit Diskursen der Archivwissenschaften auseinanderzusetzen, von Vertreterinnen und Vertretern der angloamerikanischen Archival Studies bemängelt worden ist (Caswell 2016). Nichtsdestotrotz gibt es neben ‘der digitalen Edition’ auch ‘das digitale Archiv’ als Publikationsform für Sammlungen von Material in unterschiedlichem Erschließungsgrad. Im Gegensatz zur Vorstellung einer Faksimileausgabe, aufbereitet mit (hyper-)diplomatischer Transkription, wie sie im Gedruckten gegolten haben mag, zeichnen sich digitale Archive meist durch ein Streben nach Vollständigkeit, nicht aber zwangsläufig durch eine editorische Tiefenerschließung aus.
Kenneth Price hat das Verhältnis von Edition und Archiv im Digitalen folgendermaßen charakterisiert: “[A]rchive in a digital context has come to suggest something that blends features of editing and archiving. To meld features of both – to have the care of treatment and annotation of an edition and the inclusiveness of an archive – is one of the tendencies of recent work in electronic editing” (Price 2007, S. 345). Dieses Verständnis deutet auf eine Begriffsverwendung hin, wie sie in verschiedenen Editionen realisiert ist: Das ‘Archiv’ als Bereich der Edition, der ergänzend zum edierten Text eine Materialsammlung der Textzeugen zur Verfügung stellt und im Zuge dessen als primär editorisch motivierte Komponente tatsächlich mit textgenetischen und diplomatischen Darstellungen einhergehen kann (s. das Beispiel der Faustedition https://faustedition.net/ Henzel 2015).
Ungeachtet dessen bewegt sich das Spektrum, das, wie von Paul Eggert beschrieben, zwischen ‘archival impulse’ und ‘editorial impulse’ changiert (Eggert 2019), bei digitalen Archiven, die nicht Teil digitaler Editionen sind, jedoch tendenziell in die entgegengesetzte Richtung: Hier werden die Archive zu kuratierten Sammlungen, die werk- und materialübergreifend sind und sich eher der Gesamtheit des Schaffens einer Künstlerin oder eines Künstlers (s. das William Blake Archive, https://blakearchive.org/) sowie eines Personenkontinuums (s. das Shelley-Godwin Archive, http://shelleygodwinarchive.org/) widmen. Weitere bekannte, klassische DH-Projekte, die in diese Kategorie fallen, bei der es um eine materialorientierte Breite der Erschließung und Zusammenführung geht, wären – um nur einige Beispiele zu nennen – das Rossetti Archive (http://www.rossettiarchive.org/) und das Walt Whitman Archive (https://whitmanarchive.org/).
Literatur:
- Caswell, Michelle. 2016. ’The Archive’ Is Not an Archives: On Acknowledging the Intellectual Contributions of Archival Studies. In: Reconstruction: Studies in Contemporary Culture 16.
- Eggert, Paul. 2019. The Archival Impulse and the Editorial Impulse. In: Variants, S. 3-22.
- Escobar Varela, Miguel. 2016. The Archive as Repertoire: Transience and Sustainability in Digital Archives. In: Digital Humanities Quarterly 10, S. 1-9.
- Henzel, Katrin. 2015. Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung. Am Beispiel des Modells der historisch-kritischen Edition von Goethes Faust. In: Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Berlin, Boston, S. 75–95.
- Nutt-Kofoth, Rüdiger. 2013. Sichten - Perspektiven auf Text. In: Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin/Boston, S. 19-29.
- Price, Kenneth M. 2013. Electronic Scholarly Editions. In: A Companion to Digital Literary Studies. Hrsg. von Susan Schreibman und Raymond Siemens. Oxford, S. 434-450.
- Price, Kenneth M. 2009. Edition, Project, Database, Archive, Thematic Research Collection: What's in a Name. In: Digital Humanities Quarterly 3.
- Sahle, Patrick. 2013. Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 1: Das typografische Erbe. Norderstedt.
- Shillingsburg, Peter L. 1996. Principles for Electronic Archives, Scholarly Editions, and Tutorial. In: The Literary text in the Digital Age. Hrsg. von Richard J. Finneran. Ann Arbor, S. 23-35.
- Stadler, Peter. 2013. Die Grenzen meiner Textverarbeitung bedeuten die Grenzen meiner Edition. In: Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin/Boston, S. 31-40.