Winterreise

Textausschnitte

Herbst, Freiheit, Werk 3, S. 30

[...] – Mit Herrn Kistner, Kistner wie Beziehung, ist das richtig? – Wieso denn Beziehung? Kistner wie Kiste, ist das so schwer zu verstehen? Ob Sie den Bolero, den 34er-Knappertsbusch-Bolero gehört haben, würde mich interessieren? – Ich bedaure, lieber Kistner, ich – Nennen Sie mich nicht lieber Kistner, verflucht noch mal, wir werden beobachtet –, ich bedaure, lieber Kistner, aber ich habe die Winterreise gehört, mit Brendel und Fischer-Dieskau, die Winterreise, verstehen Sie, fremd bin ich eingezogen / fremd zieh ich wieder aus [...]

Kalte Herberge, Werk 3, S. 271

[...] Die Wandererfantasie, die Winterreise? Und wer spricht, in welchem Stück? Ich, der stille Wanderer? Ich der stille Wanderer im Bärengebiet, im Bleistiftgebiet, ein Wanderer, so leise, so sehr nicht vorhanden, daß nicht einmal ein karnischer Braunbär mich näher kommen hören würde; – doch dann, würde ich den Bären aufgestört haben, was dann, dann was, so what? RUHIG AUF DEN BÄREN EINREDEN UND LANGSAM DAVONGEHEN, empfiehlt der Zoologe, empfiehlt, aus gegebenem Anlaß, der Zoologe der Kleinen Zeitung; ruhig auf den Bär einreden und langsam davongehen [...]

Kalte Herberge, Werk 3, S. 275

[...] Halblaut vor sich hinreden und langsam davongehen, sich entfernen; nur wohin und wovon? sich davonmachen, nach Böheimkirchen oder Zeiselmauer, oder von Böheimkirchen und Zeiselmauer, von Knittelfeld und Krähwinkel, sich entfernen wovon? Von den Niederungen des Alltags, des Gewöhnlichen, des Politischen? Von der kalten Herberge, aus der Winterreise sich davonstehlen, nicht ohne vorher sich am Schlitten zu schaffen gemacht zu haben, am Schlitten für die Schlittenfahrt, die Petersburger Schlittenfahrt mit Doktor Schüssel, oder Kochtopf, oder wie dieser Kutscher Europas, kling kling, auch heißen mag, dieser notorische Erster – sein, Erster – werden – woher, dieser lippenlose Musterschüler, Punkti Punkti strichi strichi, der auch mit besserer Ausstattung noch nie eine Fut geschleckt haben würde; ihm und seinen Vorgängern sei ein kräftiges FRONT HEIL! ausgebracht [...]

Kalte Herberge, Werk 3, S. 277

[...] Schüssel! – Müßige Hoffnung, denn dieses Würstchen wäre ja nicht einmal eines Seitensprunges fähig, was wollte denn so ein Würstchen in einem Stundenhotel? Kein Ende der Winterreise [...]

Zu spät – Tiefland, Obsession, Werk 3, S. 313

[...] geglückte Vorstellung der Geliebten an meiner Seite, una bella figura, in guter Form auch ich, als wäre ich so alt wie meine Geliebte, also 25 Jahre jünger; am Tag der Rückreise aber, der Rückreise in die Niederungen, die Niederungen des Alltags, und am Abend davor schon gedrückte Stimmung, der Zauber verflogen, die Geliebte erhielt ständig schlechte Nachrichten aus dem familiären Hinterland, und in Zürich, wiederum im Café Les Arcades, am selben Tisch wie vor vier Tagen, hatte sich die Mißstimmung schon zu einem stummen Zerwürfnis ausgewachsen, wie ich es nur von meiner römischen Geliebten kannte und zwischen meiner jenischen Geliebten und mir nie für möglich gehalten hätte; auf der Weiterreise, im Speisewagen durch Tirol, Auseinandersetzungen um Nichtigkeiten wie: ob die Bezeichnung KARRNER für Jenische abwertend sei oder nicht, oder: warum die Jenischen, die sich von Nicht-Jenischen in kaum etwas unterschieden, Nicht-Jenische als GADSCHE, Fremde bezeichneten – die Koflerischen nennten die Nicht- Koflerischen ja auch nicht Gadsche, oder die Weberischen die Nicht-Weberischen – eine Anmerkung, die auszusprechen ich mir, nach Vorwarnung, versagte, sonst wäre ein Aschenbecher, wäre einer vorhanden gewesen, an meiner Stirn zerschellt; in Salzburg, im heruntergekommenen Marmorsaal der Hauptbahnhofsrestauration, wo, gespenstische Szenerie, an einem gewöhnlichen Montagabend einige häßliche ältere Paare zur Musik aus einem mitgebrachten Tonbandgerät Rock’n’Roll tanzten, in Salzburg vollends in unwegsames Gelände geraten, ins Beziehungsgestrüpp, und in Villach, gegen Mitternacht, nach vierzehnstündiger Bahnreise, weiteren schlechten Nachrichten aus dem jenischen Biotop und einer letzten, mir, ihr gegenübersitzend, gewissermaßen ins Gesicht geschriebenen Nachricht – In Leukerbad, am Keltischen, am Römischen, an den Karrnern vorbei – ENT-ZWEIT, FREMDER – trennten sich unsere Wege, die Geliebte ging zu ihrem in Bahnhofsnähe abgestellten Wagen, um heimzukehren ins Moos, ins Moor, ich hinwieder, ich als Fremder, befremdet von diesem Ende, plötzliche Winterreise [...]


Zitiervorschlag:
Winterreise. In: Werner Kofler: Kommentar zur Werkausgabe. Hrsg. v. Wolfgang Straub und Claudia Dürr. hdl.handle.net/11471/1050.10.2625, 2019-02.