Viktor Karlovič Poržesinskij
Einleitung
Die Korrespondenz zwischen Wiktor Porzeziński und Hugo Schuchardt wurde von Pierre Swiggers und Herman Seldeslachts bearbeitet, kommentiert und eingeleitet.
Bedeutung
Im Schuchardt-NachlassWir danken Dr. Hans
Zotter, Dr. Walter Slaje, Mag. Thomas Csanády und Dr. Michaela Wolf
(Schuchardt-Nachlass, Manuskriptabteilung der Universitätsbibliothek Graz) für die
Publikationserlaubnis. (Schuchardt-Archiv, Universitätsbibliothek Graz)
befindet sich eine Briefkarte von Wiktor Porzeziński (1870-1929)Wiktor Jan Porzeziński (Porzezinski) / Viktor
Karlovič Poržezinskij studierte indogermanische Sprachwissenschaft in Moskau (bei
F.F. Fortunatov) und wurde 1903 zum Professor für Indogermanische
Sprachwissenschaft in Moskau ernannt. Später wurde er Professor in Warschau (1922)
und Lublin (1923); vgl. Porzeziński (1927). Siehe Nitsch (1929), Szober (1929a;
1929b; 1929c), Doroszewski (1930), Safarewicz (1983) und Kaczmarkowski
(1996). an Hugo SchuchardtIm
Katalog von Wolf (1993) ist der Brief unter Nr. 08982 verzeichnet.. Der
Brief datiert aus dem Jahr 1912 und ist der einzige Hinweis auf wissenschaftliche
Kontakte zwischen Hugo Schuchardt und dem polnisch-russischen Indogermanisten und
allgemeinen Sprachwissenschaftler. In seinem Schreiben reagiert Porzeziński auf die
Zusendung einiger Publikationen durch Schuchardt („Ihre freundlichen Sendungen“) und
verspricht seinerseits einige der eigenen Arbeiten an den Grazer Gelehrten zu
schicken. Offenbar hatte Schuchardt an Porzeziński geschrieben, dass er bei einer
Durchreise in Graz (oder überhaupt in Österreich) bei ihm sehr willkommen sei, da
Porzeziński angibt, bei der ersten Gelegenheit „diese schöne Stadt“ besuchen zu
wollen (wo er, wie man annehmen darf, Schuchardt aufzusuchen gedachte, der in dieser
Stadt, in der er von 1876 bis 1900 Professor für Romanische Philologie war, bis zu
seinem Tod im Jahr 1927 gewohnt hatSchuchardt wohnte bis 1906 in der Elisabethstraße in Graz; 1906 bezog er die von
ihm gebaute Villa Malvina in der Johann-Fux-Gasse.).
Der Brief stammt aus der Zeit, als Porzeziński Professor für indogermanische
Sprachwissenschaft Porzeziński hielt
nicht nur Vorlesungen über indogermanische Sprachwissenschaft, sondern auch über
die historisch-vergleichende Grammatik der baltischen und slavischen Sprachen und
über allgemeine Sprachwissenschaft. an der Moskauer Universität war, wo er
unter seinen Schülern Roman Jakobson und Nikolaj Trubetzkoy zählte. Porzeziński war
vor allem auf dem Gebiet der Baltistik und Slavistik tätigVgl. Porzeziński (1901, 1903). — er sollte ja auch in
den folgenden Jahren eine unvollständig gebliebene vergleichende Grammatik der
slavischen Sprachen veröffentlichen (Porzeziński 1914) —, aber er hatte auch seine
Universitätsvorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft unter dem Titel
„Einleitung in die Sprachwissenschaft“ in Buchform herausgegeben (Porzeziński 1907).
Das Buch wurde einige Male neu aufgelegt und sogar ins Deutsche übersetzt
(Porzeziński 1910), wodurch es einen größeren Leserkreis erreichte. Es kann nicht
ausgeschlossen werden, dass infolge des Erscheinens der deutschen Übersetzung (bei
Teubner in LeipzigVgl. Porzeziński (1910:
Vorwort): „Nicht ohne Bedenken ging ich auf den Vorschlag der Firma B.G. Teubner
ein, eine deutsche Übertragung meiner ‘Einleitung in die Sprachwissenschaft’
erscheinen zu lassen. Einmal war klar, daß für das Buch, das einen kurzgefaßten
Leitfaden für die Hörer meiner Vorlesungen an der Universität Moskau und an den
Moskauer Frauenhochschulkursen darstellt, wesentliche Umgestaltungen nötig waren,
weil für alles speziell auf das Russische und die anderen slavischen Sprachen
bezugnehmenden Auseinandersetzungen eine neue, auf die Tatsachen des Deutschen
beruhende Fassung gefunden werden mußte. Sodann stützte ich mich vielfach auf die
Vorlesungen meines verehrten Lehrers Ph. T. Fortunatov (dessen Nachfolger auf dem
Katheder der Sprachwissenschaft an der Universität Moskau ich bin), die bisher
nicht im Buchhandel erschienen sind und nur in den lithographischen Ausgaben der
Studentenschaft vorliegen. Doch entschloß ich mich schließlich zu dem Schritt,
dessen Resultat das Buch in der hier vorliegenden Form ist. Weit entfernt von
einer Überschätzung meiner ‘Vorlesungen’ dachte ich lediglich meine engeren
Fachgenossen mit einigen Ideen meines Lehrers bekannt zu machen, die sich durch
Tiefe des Gedankenganges auszeichnen, und gleichzeitig schien mir das Erscheinen
einer solchen ‘Einleitung’ im deutschen Gewande nicht überflüssig als Ergänzung
der schon vorhandenen Hilfsmittel, um den Anfänger mit den modernen Auffassungen
der Grundprobleme eines hochinteressanten Wissenszweiges bekannt zu machen“. Siehe
auch Porzeziński (1910: 38) zur Moskauer Schule Fortunatovs und vor allem zu
Fortunatovs Stellenwert in der europäischen Sprachwissenschaft., also eben
dort, wo Schuchardt seinerzeit seine bekannte Dissertation über den Vocalismus des Vulgärlateins [1866-1868] publiziert hatte) Schuchardt sich
mit Porzeziński in Verbindung gesetzt hatte. Es ist wohl denkbar, dass Schuchardt
seinem Moskauer Kollegen diejenigen seiner Schriften zugeschickt hatte, von denen er
meinte, dass sie etwa in der Einleitung in die
Sprachwissenschaft hätten verwendet werden können. Auffällig ist ja, dass in
diesem Buch Schuchardts Name nie erwähnt wird, weder dort, wo die Lautgesetze
behandelt werden (Porzeziński 1910: 151-158), noch bei der Kritik an August
Schleichers Stammbaumtheorie, wo indessen Johannes Schmidt ein wichtiger Platz
eingeräumt wird (Porzeziński 1910: 209-211)„Gegen die Stammbaumtheorie trat im Jahre 1872 einer der hervorragendsten
Vertreter der vergleichenden Sprachwissenschaft der Periode nach Schleicher auf,
nämlich Johannes Schmidt. Nach seiner Ansicht stellt die Gesamtheit der
indogermanischen Sprachen eine kontinuierliche Reihe dar, in der immer benachbarte
Elemente spezielle Übereinstimmungen aufweisen, dabei erstreckten sich gewisse
Erscheinungen auf mehrere Nachbarsprachen, indem sie sich in verschiedenen
Richtungen gegenseitig durchkreuzten. Es erkläre sich das so, daß in
ursprachlicher Zeit an verschiedenen Punkten der noch eine kompakte Masse
darstellenden Ursprache Neuerungen aufkamen, die auf die benachbarten Gegenden
übertragen wurden und sich dort mehr oder weniger eingebürgert hätten. Das
Vorhandensein scharfer Grenzen, die es bei dieser Auffassung des
Differenzierungsprozesses eigentlich nicht geben dürfte, erklärt sich nach
Schmidt durch Verschwinden von Zwischengliedern infolge eines Übergewichtes, das
aus irgendwelchen Gründen ein Sprachgebiet über seine Nachbarn zu beiden Seiten
gewinnt. Es bleibt noch zu bemerken, daß man die jetzige Verteilung der
indogermanischen Sprachen als Reflex der Gruppierung in der Urheimat ansehen muß,
wenn es sich auch da um einen bedeutend kleineren Maßstab handelte. Schmidts
Ausführungen fanden überzeugte Anhänger unter den Spezialisten der modernen
Dialektforschung, aber ebenso entschiedene Gegner, die Schmidts Argumente nicht
gelten lassen wollten. […] Stammbaum- und Wellentheorie wurden verschmolzen von
dem bekannten Slavisten Leskien“ (Porzeziński 1910: 209-211). Merkwürdigerweise
scheinen weder Porzeziński noch sein Übersetzer Erich Boehme (Lektor an der
Handelshochschule zu Berlin) von Schuchardts Text von 1870 (vorgetragen in
Leipzig!), der schließlich 1900 erschien und in dem Schuchardt die
„Mitvaterschaft“ der Wellentheorie beanspruchte, Kenntnis gehabt zu haben..
Es ist also sehr wohl möglich, dass Schuchardt je ein Exemplar des Pamphlets Über die Lautgesetze (Schuchardt 1885) und der Abhandlung Über die Klassifikation der romanischen Mundarten (Schuchardt
1900) wie auch des Werkchens Slawo-deutsches und
Slawo-italienisches (Schuchardt 1884 [1971: 23-162]) an Porzeziński geschickt
hat; vielleicht hat er ihm zudem Aufsätze und Buchrezensionen, die sich auf die
Kontroverse um die Lautgesetze oder den Fragenkomplex der Misch- und Kreolsprachen
bezogen, zukommen lassen.
Zweifellos war es Schuchardts Absicht, Porzeziński auf einige wichtige
methodologische Erkenntnisse hinzuweisen, die in der Einleitung in
die Sprachwissenschaft hätten Aufnahme finden können. Was Porzezińskis
Gegengabe betrifft, so scheint es sich hauptsächlich um Aufsätze zu handeln, da von
„Sonderabzügen“ die Rede istMöglicherweise
sind hiermit auch Sonderexemplare der Universitätsdissertation (Porzeziński 1903)
gemeint.. Vielleicht hatte Schuchardt von Porzeziński eine andere Reaktion
erwartet, etwa die Anerkennung, dass einige seiner Arbeiten oder Ideen in der Einleitung eine Erwähnung verdient hätten. Offenbar wurde der
Briefwechsel (und Publikationsaustausch) nicht fortgesetztWahrscheinlich hat Porzeziński sich letztlich doch nicht in
Graz mit Schuchardt getroffen.. Es scheint somit ein möglicherweise
vielversprechender Dialog zwischen dem Moskauer Hochschullehrer und dem Grazer
Meister im Keim erstickt worden zu sein.
Bibliographie
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Nachlaß des Linguisten und Romanisten Hugo Schuchardt (1842-1927). Graz:
Leykam.
Herkunft der Digitalisate
Die von Viktor Karlovič Poržesinskij an Hugo Schuchardt verschickten Briefe befinden sich in:
[Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen](https://ub.uni-graz.at/de/bibliotheken/sondersammlungen)