Das Hugo Schuchardt Archiv widmet sich der Aufarbeitung des Gesamtwerks und des Nachlasses von Hugo Schuchardt (1842-1927). Die Onlinepräsentation stellt alle Schriften sowie eine umfangreiche Sekundärbibliografie zur Verfügung. Die Bearbeitung des Nachlasses legt besonderes Augenmerk auf die Erschließung der Korrespondenz, die zu großen Teilen bereits ediert vorliegt, und der Werkmanuskripte.
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Die Korrespondenz zwischen Volcy Focard und Hugo Schuchardt wurde von Philipp Krämer bearbeitet, kommentiert und eingeleitet.
Auf der Insel La Réunion (früher Île Bourbon, französisches Übersee-Département und
ehemalige französische Kolonie im Indischen Ozean zwischen Madagaskar und Mauritius)
hatte Hugo Schuchardt eine Reihe von Korrespondenzpartnern, die ihn mit
Sprachbeispielen und Textquellen versorgten (so etwa Louis Héry und sein Sohn, vgl.
Briefnummern 04670, 04671, sowie der Historiker Emile Trouette, vgl. Briefnummern
11845 - 11861). Eigene Studien über das Kreolische betrieben allerdings nur Volcy
Focard und Auguste Vinson, dessen Briefwechsel mit Schuchardt schon zu Lebzeiten als
Beitrag im Bulletin de la Société des Sciences et Arts de l’île de
la Réunion veröffentlicht wurde (vgl. Vinson 2006).
Volcy Focard gehörte ebenfalls dieser Gelehrtengesellschaft an und veröffentlichte
seine Studie über das Kreolische in ihrer Jahresschrift (vgl. Focard 1885). Als
Jurist war er im philologischen Bereich eher als Laie tätig, er wurde jedoch in der
Société in die Kommission für lettres gewählt und galt als kompetent in Fragen der Sprache und Literatur.
Focard wie Vinson hatten ihre Überlegungen über das Kreolische beide zunächst in der
Wochenzeitung Le Sport Colonial publiziert und erst
anschließend im Bulletin noch einmal abgedruckt. Focards Text erschien erstmals im
Januar 1884 (Payet 2006: 5), der Abdruck im darauffolgenden Jahr. Der erste Brief von
Focard an Schuchardt ist auf Oktober 1884 datiert und antwortet auf ein Schreiben
Schuchardts. Dieser wurde also praktisch unmittelbar nach dem Erscheinen des Textes
im Sport Colonial auf Focard aufmerksam und kontaktierte ihn
umgehend. Focard eröffnet seinen ersten Brief ausdrücklich mit einem Hinweis darauf,
dass Schuchardt ihn aus Anlass dieses Artikels angeschrieben habe, den Emile Trouette
nach Graz geschickt hatte. Diese Vermittlung Trouettes verdeutlicht erneut die
Effizienz von Schuchardts Korrespondenznetz bei der Beschaffung neuer Ansprechpartner
und Materialien.
Gegenbriefe sind bisher nicht verfügbar.
Als Diskussionsfaden durchzieht den Briefwechsel zwischen Focard und Schuchardt vor
allem die Frage nach den Zusammenhängen zwischen den Kreolsprachen von La Réunion und
Mauritius. Schuchardt treibt das Problem um, dass beide Sprachen sich deutlich
unterscheiden und bittet Focard um eine Erklärung dazu. Schuchardt rezensierte
Focards Arbeit später und macht auch darin noch einmal auf das Problem der
Ähnlichkeit beider Kreolsprachen aufmerksam (vgl. Schuchardt 1885: 515,
Brevier-/Archivnr. 181). Focard bietet als wichtigste Begründung die Vermutung an,
dass die unterschiedliche Sozialgeschichte der beiden Inseln für die sprachlichen
Differenzen verantwortlich sein könnte: Auf La Réunion sei das Kreolische
ausschließlich aus dem Französischen der europäischen Siedler hervorgegangen und
hauptsächlich auf einen Mangel an Bildung zurückzuführen, insbesondere weil man in
den Kolonien nicht ausreichend Lesen und Schreiben unterrichtet habe. Erst später
seien die Kinder der Sklaven hinzugekommen und hätten an der Kreolisierung
mitgewirkt. Auf Mauritius dagegen habe bereits von Beginn an eine ethnisch gemischte
Bevölkerung gelebt, in der insbesondere die spezifische Gruppe der petits créoles, also der unterprivilegierten Einwohner europäischer
Abstammung, gefehlt habe.
Focards Erklärung liegt hier insgesamt schon sehr nah an heutigen Überlegungen zur Entstehung der Kreolsprachen beider Inseln: Es wird angenommen, das Kreolische von La Réunion habe anfangs durch die soziale Konstellation und die intensive Interaktion weniger Sklaven mit einer ausreichenden Anzahl von Europäern noch starke strukturelle Nähe zum Französischen gehabt. Erst nach und nach sei die Interaktion durch eine höhere Zahl von Sklaven zurückgegangen und das Kreolische habe sich vom Französischen fortentwickelt, um anschließend durch bestehenden Kontakt mit dem Standard wieder akrolektale Merkmale aufzunehmen (Mufwene 2005: 23, Chaudenson 1981: 250). Auf Mauritius dagegen wird der verhältnismäßig frühere Einstieg in die Massensklaverei für eine raschere und weiter gehende Kreolisierung verantwortlich gemacht (Baker/Corne 1982: 131ff.).
Neben diesen großen Denklinien liefern die Briefe von Focard noch einige eher
anekdotische Details zu seiner Person und seiner kreolistischen Arbeit. Es wird
beispielsweise deutlich, wie die Arbeit von Charles Baissac über das Kreolische von
Mauritius rezipiert wurde, die wenige Jahre vorher erschienen war (Steiner 2010, vgl.
die auch Briefe Baissacs an Schuchardt, Briefnummern 00419-00442, ediert von Steiner
2012; Krämer 2013). Focard schreibt in seinem ersten Brief, er kenne die Etude sur le patois créole mauricien nicht, obwohl diese
immerhin vier Jahre vorher bereits erschienen war. Erst über Schuchardt wird er
darauf aufmerksam, und er braucht einige Monate, um sich das Buch zu beschaffen: Erst
in seinem Brief vom November 1885 berichtet er, dass er es gelesen hat. In Europa
wurde Baissacs Arbeit dagegen relativ rasch in der kleinen Gemeinschaft derjenigen
bekannt, die sich für Kreolsprachen interessierten. Schuchardt hatte einen
exzellenten Überblick nicht nur über die verfügbaren Quellen und Arbeiten, sondern
auch über deren Grad der Verbreitung. Ihm war bewusst, dass Baissacs Etude auf Réunion wenig bekannt war (Baggioni 1984: 122).
Focards Mitteilung dürfte für diesen Eindruck wichtig gewesen sein. In der Rezension
zur Arbeit Focards schreibt Schuchardt über Baissacs Etude: „Freilich scheint
dieselbe […] auf der Schwesterinsel nicht sehr bekannt geworden zu sein“ (Schuchardt
1885: 515). Diese kleine Episode zeigt, wie sehr Schuchardt auch als eine Art
Koordinator der kleinen kreolistischen Gemeinschaft wirkte, indem er nicht nur sich
selbst Materialien besorgte, sondern auch deren Zirkulation förderte.
Keine verlässlichen Aufschlüsse erlauben die Briefe dagegen zum Problem der
uneinheitlichen Schreibweise von Focards Namen, der bereits zu seiner Zeit und bis
heute als Volcy und als Volsy zu finden
ist. Die Briefe sind stets nur mit V. Focard unterschrieben,
lediglich die letzte Karte mit der Empfangsnotiz schreibt den Namen mit ‚s‘ aus. Die
Briefe könnten eigentlich als die persönlichsten Dokumente gelten, die von Focard
überliefert sind und daher eine verlässliche Quelle bieten. Alles deutet jedoch
darauf hin, dass auch diese nicht von Focard persönlich niedergeschrieben wurden: Zum
Einen wechselt die Handschrift – der dritte Brief ist eindeutig von einer anderen
Person geschrieben worden –, zum Anderen bestätigt die Karte den Empfang des letzten
Briefes von Schuchardt in der dritten Person. Die Karte wiederum wurde
höchstwahrscheinlich von derselben Person geschrieben wie die restlichen Briefe. In
der Notiz ist auch von einer Krankheit Focards die Rede, die ihn eventuell daran
hinderte, selbst zu schreiben: „il aurait le plaisir de lui écrire une lettre s’il
n’était malade.“ Falls es eine Schreibweise gab, die Focard selbst bevorzugte, so
lässt diese sich auch aus der Korrespondenz nicht zweifelsfrei ableiten.
Die Briefabschriften folgen der Schreibweise im Original ohne Korrekturen.
Die von Volcy Focard an Hugo Schuchardt verschickten Briefe befinden sich in: