Das Hugo Schuchardt Archiv widmet sich der Aufarbeitung des Gesamtwerks und des Nachlasses von Hugo Schuchardt (1842-1927). Die Onlinepräsentation stellt alle Schriften sowie eine umfangreiche Sekundärbibliografie zur Verfügung. Die Bearbeitung des Nachlasses legt besonderes Augenmerk auf die Erschließung der Korrespondenz, die zu großen Teilen bereits ediert vorliegt, und der Werkmanuskripte.
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Die Korrespondenz zwischen Karl von Ettmayer und Hugo Schuchardt wurde von Hans Goebl bearbeitet, kommentiert und eingeleitet.
Karl von Ettmayer (Ritter von Adelsburg)
Geboren am 22.7.1874 auf Schloß Jessenetz / Jesenece in der Nähe von Littau / Litovel, Mähren, gestorben am 24.3.1938 in Wien; Sohn deutsch-mährischer Eltern (Vater: höherer Offizier der k.u.k. Armee, Mutter: Spross einer sehr bildungsnahen Familie von Großgrundbesitzern). Durch die Versetzung des Vaters Umsiedlung nach Trient (Welschtirol) im Jahr 1881. Ebendort Durchlauf von Volksschule und Gymnasium (Matura 1892), beide mit deutscher Unterrichtssprache. Ab 1894 definitive Zuwendung zum Studium der Romanischen Philologie an der Universität Graz; 1899 ebendort Promotion mit einer auf im westlichen Trentino gesammelten Dialektdaten beruhenden Dissertation bei dem damals längst weltberühmten Romanisten Hugo Schuchardt; 1900 Wechsel an die Universität Wien zum nicht weniger bekannten Romanisten Wilhelm Meyer-Lübke; ebendort Habilitation im Jahr 1903. Zwischen 1900 und 1905 im Brotberuf Bibliothekar an der Universität Wien.
Karl von Ettmayer besetzte in kontinuierlicher Abfolge drei Ordinariate:
1905-1911: Freiburg im Üchtland (Schweiz)
[als Nachfolger von Josef Huonder, 1869-1905]
1911-1915: Innsbruck
[als Nachfolger von Theodor Gartner, 1943-1925]
1915-1938: Wien
[als Nachfolger von Wilhelm Meyer-Lübke, 1861-1936]
Er starb in Folge der mit dem „Anschluss“ verbundenen universitätspolitischen
Verwerfungen. Am 22.4.1938 wurden die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht entlassenen
Professoren zur Eidesleistung auf Adolf Hitler in die Universität bestellt. Ettmayer
nahm daran teil und erlitt einige Stunden darnach einen Gehirnschlag, an dem er am
übernächsten Tag (24.4.1939) im Alter von 63 Jahren verstarb
Zu seiner Biographie cf. Goebl 1995, 199-243 sowie Tanzmeister 2010, passim.
Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete:
Ettmayer arbeitete, abgesehen von panromanischen Fragestellungen, vor allem im Bereich der Sprachen Italienisch, Rätoromanisch, Französisch und Vulgärlatein. In methodischer Hinsicht betätigte er sich auf den folgenden Gebieten: Sprachgeschichte, historische Grammatik, Phonetik, Prosodie und Metrik, Syntax und Stilistik, Etymologie mit Wortgeschichte, Ortsnamenforschung, Dialektologie, ältere französische Literatur, Fachgeschichte.
Zu seiner Bibliographie: cf. Goebl 1995, 245-258.
Zu einer Würdigung seines wissenschaftlichen Schaffens: cf. Goebl 1995, 259-299.
Der Bruch mit Schuchardt (Oktober 1917)
Das innerhalb des erhaltenen Brief-Korpus zweifellos bedeutendste und auch wissenschaftshistorisch interessanteste Ereignis ist der von Ettmayer ausgehende Bruch mit Schuchardt im Oktober 1917 (Briefe 27-02814 und 28-02816 vom 9. und 20.10.1917). Auslösende Momente waren die Lektüre von Schuchardts Schrift über “Sprachverwandtschaft“, die dieser knapp zuvor Ettmayer als Sonderdruck zugesandt hatte, und der sich daran entzündende Groll Ettmayers. Im wissenschaftshistorischen Rückblick lassen sich die Hintergründe der offenbar ziemlich tief gehenden Verstimmung Ettmayers aber durchaus plausibel machen bzw. schlüssig darstellen.
Eingangs mögen aber die zwei von Ettmayer in seinem Brief vom 9.10.1917 inkriminierten Stellen – Schuchardts Fußnote auf Seite 520 und die von Schuchardt nicht zitierte Stelle aus einer Ettmayer-Schrift des Jahres 1911 – in extenso präsentiert werden:
Schuchardt, Sprachverwandtschaft (1917), 520, Note 1
In der „Einführung“ erwähnt Meyer-Lübke die von mir 1868 und 1870 erörterte
geographische Abstufung mit keinem Wort, obschon sie sich auch auf andern Gebieten
deutlichst offenbart (s. H. Paulladino
entsprach vollkommen das von Th. Gartner im Jahr 1883 (in: Raetoromanische
Grammatik, Heilbronn: Henninger) in Umlauf gesetzte Glottonym Rätoromanisch.
Ettmayer, Tirolische Ortsnamenkunde und Ethnologie (1911), III
9
Leider hat aber die tirolische Ortsnamenforschung noch viel schlimmere derartige
Seifenblasen, die vom Lufthauch augenblicklicher, politischer Tagesströmungen in
unser Gebiet verweht wurden, aufzuweisen. Namentlich in der Tagespresse, doch auch in
pseudowissenschaftlichem Gewande, hat sich eine ganze Gruppe von Phantasten über die
Tiroler Etymologie hergemacht, um aus ihr herauszulesen, was der jeweiligen
Einbildungskraft am besten passte. Begonnen hat die Sache mit dem Streite über die
Tiroler „Urvölker“. Die Keltenfrage geriet in einen ganz überflüssigen Kampf mit der
Illyriertheorie, der sich in einer ganzen Serie von Feuilletons austobte. Bald fand
man damit nicht sein Genüge. Ligurer, Hethiter und andere dunkle Existenzen mussten
die Grundlage zu einer alpinen Rasse abgeben, welche im Handumdrehen zu einer
„ladinischen Rassenfrage“ wurde, die nun allen Ernstes im Archivio per l’alto
Adige
In aller Kürze: Ettmayer ist seit seiner im Jahr 1902 veröffentlichten Dissertation
Verfechter einer nach einer ganz speziellen Methode erstellten Klassifikation der
Dialekte Oberitaliens und der Südschweiz, welche im Jahr 1873 von G. I. Ascoli, dem
Begründer der wissenschaftlichen italienischen Dialektologieladino, deren geographische Erstreckung (vom
Oberalp-Paß – gelegen am Westrand Graubündens – bis nach Triest) Ascoli durch eine
diesem Band beigegebene große Karte
Die genaue Definition dieser Methode („particolar combinazione“ einer ausgewählten
Anzahl von Sprachmerkmalen) wurde von Ascoli allerdings erst im Jahr 1876 publiziert,
und zwar im Zuge einer relativ scharfen Polemik mit dem französischen Mediävisten und
Dialektologen Paul Meyerfranco-provenzale, der
sich in sprachklassifikatorischer Hinsicht fortan als dritter zu den zwei seit
langem, allgemein akzeptierten Geotypen der Galloromania (langue
d’O
ïl und langue d’Oc)
hinzugesellen sollte.
Paul Meyer und zahlreiche andere französische Linguisten, zu denen vor allem Gaston
Parisfranco-provenzale und leugneten zum
anderen die Wissenschaftlichkeit der von Ascoli praktizierten Merkmalssynthese.
Zusätzlich postulierten sie, dass in der Dialektologie einzig und allein das Studium
der räumlichen Verbreitung einzelner Sprachmerkmale „wissenschaftlich“ und jede
darüber hinaus gehende Suche nach typologischen Konstrukten wie Dialekten sinnlos und Zeitverschwendung sei.
Man erkennt in diesem Konflikt sehr deutlich eine als klassisch zu bezeichnende Konfrontation zwischen den folgenden wissenschaftlichen Positionen, die auch in zahlreichen anderen Human- und Naturwissenschaften zu beobachten war und teilweise noch immer ist:
Atomismus versus Synthese
einzelteil- versus ganzheits-orientiertes Vorgehen (Teil versus Ganzes)
qualitativ versus quantitativ
ausgerichtete Forschung
Blick auf das Besondere versus Blick auf das Allgemeine etc.
In meinen zahlreichen wissenschaftshistorischen Aufarbeitungen dieser Konflikte und
MissverständnisseTypophobie
(bzw. typophob) [für die von Paul Meyer eingenommene Position]
und Typophilie (bzw. typophil) [für die
von Graziadio Ascoli eingenommen Position] verwendet
Im wissenschaftshistorischen Rückblick ist als besondere Crux dieser Diskussionen festzustellen, dass vor allem die typophob agierenden Forscher die grundlegenden methodischen Prämissen ihrer typophilen Gegner allem Anschein nach weder verstanden noch zur Kenntnis genommen haben.
So lautete die von typophober Seite gegen die geotypologischen Postulate ihrer Gegner
vorgebrachte Argumentation stereotyp wie folgt: zum einen hätten die
Verteilungsareale der zur Erstellung eines Geotyps (wie ladino
oder franco-provenzale) herangezogenen Merkmale stets variable
Dimensionen bzw. fielen deren Umgrenzungslinien („Isoglossen“) fast nie zusammen, und
zum anderen beträfe diese räumliche Divergenz erst recht die räumliche Extension des
postulierten Geotyps und jene der zu dessen Definition herangezogenen Merkmale.
Man erkennt darin zweierlei:
die theoretische Vorerwartung, dass die Areale bestimmter Merkmale im Namen des
Ideals sprachlicher Einheitlichkeit „eigentlich zusammenfallen
müssten“,
· zwei methodische bzw. sogar kognitive Unfähigkeiten:
a) in den Verbreitungsarealen der einzelnen Merkmals das „Besondere“ und in der räumlichen Extension eines Geotyps das „Besondere“ zu sehen,
b) zu erkennen, dass die Daten eines Merkmals-Areals qualitativer Natur und jene eines Geotyps quantitativer Natur sind.
An dieser Engpassführung, die schon lang vor dem Aufkommen der eigentlichen
Sprachatlanten existiert hat, hat sich eigenartigerweise auch nach dem Erscheinen der
ersten Faszikel des ALF nicht viel geändert. Man sah nunmehr viel deutlicher als
früher, dass in der Tat die Merkmals-Areale bzw. deren isoglottische Umrandungen
nicht konvergierten und gewann daraus den Eindruck einer sehr großen individuellen
Spontaneität der diese Merkmals-Areale konstituierenden Wörter bzw. Formen. Daraus
erwuchs das Schlagwort „Jedes Wort hat seine eigene Geschichte – Chaque mot a son
histoire
Nur ganz wenige Forscher – zu denen Karl Jaberg und Karl von Ettmayer zählten –
applizierten auf die Daten der neu zur Verfügung stehenden Sprachatlanten die von
Ascoli benützte Geotypologie bzw. Datensynthese; sie bedienten sich dabei eines
heuristischen Instruments, dessen Wert und Bedeutung man nicht unterschätzen sollte
und das nur in der Romanistik existierte: nämlich der „stummen Karte“. Darauf mussten
zur Erreichung eines bestimmten Erkenntniszieles qualitativ oder quantitativ
angelegte kartographische Signaturen aufgebracht werden, wobei diese Tätigkeit
zeitgleich (und in interkollegialer Konkurrenz!) von sehr vielen Romanisten ausgeübt
wurde. Zudem wurden sehr viele dieser Kartierungen (oft auch in Farbe)
publiziert
Erst mit dem Aufkommen der auf der Analyse von Massendaten beruhenden
Dialektometriesystemische
Charakter und die Matrizen-Natur (N
Messpunkte mal p Atlaskarten) von Sprachatlanten.
Doch zurück zur Konfrontation zwischen Ettmayer und Schuchardt: Ettmayer hatte die
von ihm zur Erstellung seiner Dissertation im westlichen Welschtirol gesammelten
Daten gleich am Beginn seiner Arbeit (328 -335) sehr intensiv nach den Richtlinien
Ascolis analysiert und dabei einen synthetischen, quantitativ konzipierten
Dialekt-Begriff entwickelt, womit er die in seinen Daten deutlich sichtbaren
Mischungsverhältnisse (zwischen Ladinisch, Lombardisch und Venezianisch) beleuchten
wollte. Insofern hatte er zur Frage der Klassifikation von Dialekten eine sowohl theoretisch wie empirisch wohl
unterfütterte Kompetenz
Anders bei Schuchardt: aus der Sicht dessen, was seit Ascoli (1873) in
sprachklassifikatorischer Hinsicht entwickelt worden war, stellt seine Schrift zur
Sprachverwandtschaft von 1917 in der Tat weder ein methodisch innovatives
„Meisterwerk“ dar, noch repräsentiert sie den damaligen „state of the art“. Sie ist
auch bei weitem nicht auf der Höhe seines Leipziger Habilitationsvortrags zur
„Klassifikation der romanischen Mundarten“, worin bereits – horribile dictu – auch
aus der Sicht außerlinguistischer (!!!) Klassifikationsstandards
So erwähnt Sch. weder 1870 noch 1917, dass die von ihm offenbar sehr geschätzte
Metapher der „geographischen Abänderung“ (1870) bzw. „Abstufung“ (1917) [von „dialektischen“ Differenzen; 1870,
6]Diffusion einzelner
Sprachmerkmale
Und wenn er hinsichtlich der „Wellen“-Metapher“ gegenüber Johannes Schmidt (1872) Priorität beansprucht, so zeigt eine nähere Lektüre der beiden Stellen („Vokalismus des Vulgärlateins“ [1868] versus „Verwandtschaftsverhältnisse“ [1872]) deutlich, dass sich Schmidt der methodischen Prämissen seiner (auf Einzelsprachen und nicht auf Dialekte bezogenen) Typo-Diagnose bewusster ist.
Jedoch hat Schuchardt im Jahr 1870 erstaunlicherweise schon eine sehr klare Vorstellung davon, wie es auf Kartierungen einzelner Sprachmerkmale zugehen kann bzw. wie solche aussehen können, und sieht auch ziemlich deutlich, dass sich dabei die Frage ergeben kann, ob die Verläufe verschiedener „Umfassungslinien“ koinzidieren oder nicht.
An einer Stelle blitzt aber in der Schuchardtschen Klassifikationsschrift von 1870 so
etwas wie eine tiefere methodische Erkenntnis auf, die in illis temporibus
erstaunlicherweise von allen Rezenten dieser Schrift zitiert und kommentiert wurde.
Die fragliche Passage, die am Ende einer Diskussion der räumlichen Verteilung der
gerundeten Vokale ö und ü (in
Frankreich, Okzitanien, Oberitalien, Graubünden, Tirol) steht, lautet wie folgt
Hier hat es in der Tat den Anschein, dass sich Schuchardt des Kontrasts zwischen dem
Besonderen und dem Allgemeinen bzw.
zwischen dem Teil und dem Ganzem
kurzfristig bewusst ist. Nur vernichtet er fünf Seiten später diesen Eindruck mit der
expliziten Feststellung, dass er die romanischen Mundarten für unklassifizierbar
halte und in seiner Schrift letztendlich gegen die Machbarkeit einer Klassifikation
der romanischen Sprachen habe sprechen müssen.
Kurioserweise hat sich Schuchardt nie zu den ab 1876 zwischen G. I. Ascoli und Paul Meyer (etc.) abgeführten Diskussionen geäußert. Kurzum: Schuchardts Klassifikationsvorstellungen waren im Jahr 1917 in ihrer Substanz sowohl unausgegoren als auch meilenweit von jenen Ettmayers entfernt.
Jetzt ist aber noch ein Blick auf die inkriminierte Schrift Salvionis „Ladinia e
Italia“ notwendig. Diese besteht eingangs (SS. 41-61) aus einer typophoben Attacke
auf die Positionen Ascolis, die genau nach der weiter oben erwähnten Technik erfolgt,
und endet (61-69) mit der Aufforderung an die Ladini (hier:
die Bündnerromanen der Schweiz), doch endlich die großen Gefahren zu erkennen, denen
sie von Seiten des Deutschen bzw. des Deutschtums ausgesetzt sind, und sich endlich
zur Sanierung dieser tödlichenmoribondo.Ladini dabei zu
unterstützen. Salvionis Text endet wie folgt: „Desiderare e promuovere una tale
situazione, ciascuno per la propria parte e secondo le proprie speciali mire e
contingenze, è diritto è [sic] dovere degl’italiani d’Elvezia, è diritto
degl’italiani del Regno.“
Vielleicht hat Schuchardt bei Abfassung seiner Verwandtschafts-Schrift nur eine
Besprechung der Salvioni-Schrift zur Verfügung gehabt und den ganzen, überaus
untergriffig geschriebenen Text nicht direkt einsehen können. Letzteres traf ganz
sicher auf Ettmayer zu, der ja in Brief 27 (Nr. 2814) um Zusendung der Vollversion
des Salvioni-Textes
Ettmayer waren aber die von Salvioni gegen Ascolis Typen-Lehre geübten Praktiken (und
auch gewisse italo-irredentistische Töne) aus den Schriften seines Wiener
Romanistik-Kommilitonen
Die mit Battisti seit damals gemachten Erfahrungen haben Ettmayer auch dazu
veranlasst, sich im Juli 1918 im Rahmen einer Sitzung der Philosophischen Fakultät
der Universität Wien gegen dessen Antrag zu stellen, ihm ein schon 1915 in Aussicht
gestelltes Extraordinariat für Italienisch zuzuerkennen. Im von mir im Jahr 1995 im
Original mit begleitender Transkription publizierten Protokoll der betreffenden
Sitzung vom 5. Juli 1918 kann man nachlesen
Überdies hat die angezeigte Schrift Salvionis völlig unabhängig von Ettmayer auch in der Schweiz zu zwei scharfen Entgegnungen geführt, und zwar von Seiten des Romanisten Jakob Jud (1882-1952) (im „Bündnerischen Monatsblatt“ vom Mai 1917) und des Indogermanisten und Rätoromanisten Robert von Planta (1864-1937) (in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 24.-25. Mai 1917): zu den vollen Titeln sei auf die nachfolgende Bibliographie verwiesen.
Sicherlich sind die vorhandenen Spannungen noch durch die Lage mitten im Weltkrieg
verschärft worden. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass am 24. Oktober
1917 die zwölfte Isonzo-Schlacht begann, in deren Folge der Durchbruch der
Mittelmächte bei Flitsch (Plezzo / Bovec), Tolmein (Tolmino / Tolmin) und Karfreit
(Caporetto / Kobarid) erfolgte. Zudem waren Ettmayer (und sicher auch Schuchardt) die
Italien im Rahmen des „Londoner Vertrags“ (vom 26.4.1915)idioma
ladino sprachen, ungefragt zur politischen Disposition.
Die Ettmayer’sche Passage
Die Reaktion von Schuchardt auf Ettmayers „Fehdehandschuh“
Die für Sch. sowohl unerwarteten wie auch weitgehend unverständlichen Reaktionen Ettmayers vom 9. und 20. Oktober auf eine Stelle in seiner Schrift zur „Sprachverwandtschaft“ haben ihn allem Anschein nach dermaßen verunsichert, dass er ihm besonders vertraute Kollegen um solidarische Unterstützung gebeten hat. Die Art und Weise, wie er dies getan hat, und auch die von diesen Kollegen an ihn zurückgeflossenen Bekundungen vermitteln einen sehr „intimen“ Einblick in den damaligen Wissenschaftsbetrieb. Eine detaillierte Rekonstruktion der Abläufe auf der Grundlage der Grazer und Münchner Archivbestände ist daher vollauf gerechtfertigt.
Sch. muss schon nach Erhalt der Postkarte Ettmayers vom 9. Oktober davon Leo Spitzer in Kenntnis gesetzt haben. Dies ergibt sich eindeutig aus einer von Spitzer am 12. Oktober an Sch. geschickten Postkarte. Doch scheint sich Sch. erst nach Eingang der zweiten konfliktuellen Botschaft Ettmayers am 20. Oktober dazu entschlossen haben, die bislang im Oktober 1917 abgeführten postalischen Kontakte in der Form eines mit ausgewählten Zitaten belegten Aide-mémoire zusammenzufassen, davon im Wege der damals üblichen Technik der Hektographie mehrere Exemplare herzustellen und diese an ausgewählte Fachgenossen zu verschicken.
Zwei dieser von Sch. verschickten Hektogramme sind erhalten:
· in Graz: das an Adolf Zauner
· in München: das an Karl Vossler gesandte Exemplar, das dieser, ohne darauf zu antworten, abgelegt hat.
Ich beginne mit der kommentierten Darstellung des Zauner’schen Exemplars:
Maschinschriftlich, hektographiert (beides höchstwahrscheinlich von Hugo Schuchardt
selber besorgt, darauf nach dem Absatz [E]
Graz, 24. Oktober 1917
[A] H. Schuchardt schickt ohne Begleitschreiben Ende Sept. an Prof. Dr. Karl v. Ettmayer seinen Aufsatz „Sprachverwandtschaft“ (S.B. der kön. preuss. Akad. d. W. 1917 S. 518-529). In diesem findet sich S. 520 Anm. 1 die Stelle „So konnte kürzlich das von Ascoli schön zusammengefügte Ladinisch (Rätoromanisch) von Ascolis Schüler und Nachfolger C. Salvioni als eigene Mundartengruppe aus dem Grundbuch der Romania getilgt werden (Ladinia e Italia, Pavia 1917), Natürlich mit durchaus wissenschaftlichen Mitteln; aber auch ohne außerwissenschaftlichen Antrieb?“
[B] K.v.E. schickt an H. Sch. am 9. Okt. von Wien aus folgende Karte
[C] An der eben zitierten Stelle (Krit. Jahresbericht über die Fortschritte der Rom. Phil. XIII, III 9) heisst es: „Vergebens legte hier C. Salvioni in sachlicher Weise – wenn auch für Battisti und Jud voreingenommen und deren (nach Ref. Ansicht unhaltbaren) Argumenten gegenüber unentschlossen und nachgiebig – die selbständige Stellung des ladinischen Sprachzweiges dar.“
[D] H. Sch. antwortet K.v.E. mit einer Karte
[E] K.v.E. schreibt an H. Sch. am 20. Okt. von Razenberg
[F] (Am unteren Rand der zweiten Seite des maschinschriftlich befüllten Dokuments befindet sich eine ebenso maschinschriftliche Fußnote, worin Schuchardt in erster Person spricht.):
In meiner Schrift ist nicht von „Sprachgrenzen“ die Rede, sondern von Grenzen der Mundarten. Meine Ansichten über diese habe ich schon 1870 in meiner Leipziger Probevorlesung dargelegt, und sie haben damals so wenig wie jetzt die deutsche Wissenschaft gefährdet. H. Sch.
[handschriftlicher Zusatz von Sch.]
Dieser Brief bleibt unbeantwortet.
[darunter ein Stenogramm in Gabelsberger Kurzschrift, dessen Urheber abschließend mit
Z.[auner] firmiert]
Sehr geehrter Herr Hofrat! Ihre Mitteilung Ihres Briefwechsels mit Ettmayer erinnert
vorab daran, daß ich Ihnen für die Übersendung des in Frage stehenden Anfangssatzes
noch gar nicht gedankt habe. Ich trage dies hiemit nach, indem ich bitte, die
Verzögerung zu entschuldigen. Was Ihren Briefwechsel mit [Ettmayer] betrifft, so kann
ich darüber wegen [sic] „mangels Literaturkenntnis“ – weil eine solche Antwort auf
seine erste Karte nicht im Wortlaut mitgeteilt wird – wohl keine abschließende
Meinung abgeben. Als ich die kritische Stelle von 520 [2 Wörter unleserlich]
Die Annahme, dass Zauner hier einen von ihm an Sch. zu richtenden Brief skizziert hat, trifft zu. Im Grazer Schuchardt-Archiv befindet sich unter der Nummer 13004 dessen maschinschriftliche Ausfertigung:
Graz, am 28.Oktober 1917
Sehr geehrter Herr Hofrat.
Die Mitteilung Ihres Briefwechsels mit Ettmayer erinnert mich vor allem daran, dass ich Ihnen für die Zusendung Ihres in Frage stehenden Aufsatzes noch nicht gedankt habe. Ich trage dies hiemit nach, indem ich wegen der Verzögerung um Entschuldigung bitte,
Was Ihren Briefwechsel mit E. betrifft, so kann ich darüber wohl wegen „unvollständiger Literaturkenntnis“ – da ja Ihre Antwort auf seine erste Karte nicht im Wortlaute mitgeteilt wird – keine abschliessende Meinung abgeben.
Als ich die kritische Stelle, S. 520 Ihres Aufsatzes, zum erstenmale las, hatte ich den Eindruck, dass Sie Salvionis Ansicht bloss berichtend erwähnen. Indem ich nun mit Rücksicht auf Ettmayers Karte die Stelle noch einmal überlese, muss ich allerdings sagen, dass der Satz für sich genommen als eine Zustimmung auf Salvionis Meinung aufgefasst werden könnte. Allerdings lässt der Zusammenhalt mit dem vorhergehende Satze („Der Willkür…“) diese Deutung kaum zu; und der auszugsweise wiedergegebene Inhalt Ihrer Antwortkarte hätte Ettmayer wohl beruhigen können. Auf keinen Fall scheint mir die deutsche Wissenschaft gefährdet zu sein und, das „neurasthenische Unbehagen“ aber ist, finde ich, nicht auf Ihrer, sondern auf Ettmayers Seite
Hochachtungsvoll
Ihr sehr ergebener
Zauner
Zauner blieb allerdings nicht der einzige, der Sch. auf die Verschickung des Hektogramms geantwortet hat. Weitere Antworten erfolgten (mindestens) von Philipp August Becker, Theodor Gartner, Leo Spitzer und Wilhelm Meyer-Lübke.
Dazu meine Kommentare:
1) Die stenographische Skizze Zauners ist tatsächlich die Grundlage seines textlich fast identischen Briefs an Sch. vom 28.10.1917. Bemerkenswert ist dabei die Präzision der Entzifferung dieser in Gabelsberger Kurzschrift gehaltenen Skizze durch den von mir im Jahr 1993 in Wien konsultierten Stenographen (Friedrich Baumgartner).
Die Intention des maschinschriftlich redigierten Briefes Zauners ist eindeutig kalmierend, wobei er allerdings Sch. deutlich mitteilt, dass die von diesem gegenüber Salvioni ausgesprochene Zustimmung als problematisch gedeutet werden könne. Dass sich Zauner in dieser Causa sachlich gut ausgekannt bzw. darin sogar eine prononcierte eigene Meinung vertreten hätte, ist eher zu bezweifeln.
Ein genauer optischer Vergleich der beiden Typoskripte (hinsichtlich „hängender Buchstaben“ etc.) zeigt, dass sie auf verschiedenen Schreibmaschinen entstanden sind. Das wiederum bekräftigt meine Annahme, dass die am 24.10.1917 erstellte Übersicht zunächst von Sch. (oder in seinem Auftrag) maschinschriftlich kompiliert und darnach in mehreren Exemplaren hektographiert wurde. Eines davon muss anschließend in Zauners Hände geraten sein, der wiederum darauf die stenographische Skizze angebracht hat.
2) Sch. hat mit dem „Fall Ettmayer“ keineswegs nur Zauner, sondern – soweit derzeit eruierbar – auch die folgenden Korrespondenzpartner befasst: Philipp August Becker, Theodor Gartner, Wilhelm-Meyer-Lübke, Leo Spitzer und Karl Vossler. Von Becker, Gartner, Meyer-Lübke und Spitzer sind im Grazer Archiv diesbezügliche Antworten an Sch. vom Ende des Monats Oktober 1917 erhalten, aus denen eindeutig hervorgeht, dass Sch. ihnen allen allerspätestens am 24.10.1917 ein an diesem Tag von ihm erstelltes Hektogramm (obigen Inhalts) zugeschickt hat. Das an Karl Vossler nach München geschickte Hektogramm – worauf dieser aber allem Anschein nach nicht geantwortet hat – trägt unterhalb des handschriftlichen Vermerks von Sch. „Dieser Brief bleibt unbeantwortet“ den auf zwei Zeilen verteilten handschriftlichen Text: „Um Kenntnisnahme ersuchend //HSchuchardt“.
Neben dem Brief von Zauner haben zwei weitere Antwort-Briefe „kalmierenden“
Charakter, nämlich jene von Ph. A. Becker
Becker schreibt
Die Antwort Meyer-Lübkes wurde in Bonn
In seinem am 29.10.1917 in Bozen abgeschickten Antwortbrief
Ganz besonders scharf geht aber Leo Spitzer mit Ettmayer ins Gericht. Von ihm
existieren im Grazer Schuchardt-Archiv drei Poststücke
Aus einer am 12.10.1917 in Wien abgeschickten Postkartezensorischen Behandlung wieder zurückgeschickt;
siehe dazu Hurch 2006, XLI.
Noch deutlicher wird Spitzer in einer Postkarte
Aus der am 27.10.1917 in Wien verfassten und erst am 29.10. an Sch. abgeschickten
Postkarte
3) Zwar hat Ettmayer nach der „Oktober-Episode“ des Jahres 1917 den Briefkontakt mit Sch. nicht wieder aufgenommen, doch hat ihn das nicht daran gehindert, diesem nach dessen Ableben († 21. April 1927) am 27. Mai 1927 im Wiener Neuphilologenverein einen in sehr warmen Worten gehaltenen Nachruf zu halten (siehe dazu BIB 59 in Goebl 1995, 254). Er spielte darin – die Dauer des Dissenses sehr überschätzend – folgendermaßen auf seinen Konflikt mit Sch. an: „Es ist kein Zufall, daß wir uns durch 20 Jahre nicht gesehen haben. Doch das waren Herzenssachen, und die Herzen sind eben paradox.“ (1927, 242).
Zu den hier präsentierten Briefen Ettmayers an Schuchardt existieren keine Gegenstücke. Der wissenschaftliche Nachlass Ettmayers ist bald nach dessen Tod dem Wiener romanischen Seminar übergeben und ebendort im Keller deponiert worden. Die fragliche Adresse war bzw. ist: Liebiggasse 5, 1010 Wien. In diesen Räumlichkeiten wurde im Jahr 1989 von Frau Dr. Maria Aldouri-Lauber, der damaligen Bibliothekarin der Wiener Romanistik, vergeblich nach noch vorhandene Beständen dieses Nachlasses gesucht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Verlust noch im Jahr 1945 oder unmittelbar darnach eingetreten ist. (cf. dazu Goebl 1995, 237-238)
Im Grazer Schuchardt-Archiv befinden sich 28 Poststücke (Postkarten und Briefe im
landläufigen Sinn), die Ettmayer zwischen 1900 und 1917 an H. Schuchardt geschrieben
hat. Die zwischen 1900 und 1907 geschriebenen Stücke sind allesamt in Kurrentschrift
gehalten. Dies betrifft auch den undatierten Brief (Laufnummer 04-02817), der sich am
Ende der Sammlung befindet
Für die souveräne Lektüre und Transkription der in Kurrentschrift gehaltenen Stücke bin ich meiner Frau Uta Goebl zu sehr großem Dank verpflichtet.
Der von Ettmayer gegenüber Schuchardt verwendete Ton ist durchgehend von großem Respekt und Verehrung gekennzeichnet und wechselt auch nicht zu freundschaftlicher Vertraulichkeit nach dem Einrücken Ettmayers in den Professoren-Stand. Eine gewisse Ausnahme stellen die Poststücke 26-02814 und 28- 02816 dar, die von scharfem Protest bzw. Enttäuschung getragen sind.
Auffällig ist die in allen Briefen sehr deutlich sichtbare Kommunikationshaltung der beiden Briefpartner: dieser liegt eine sehr intensive Pflege des Austausches von Sonderdrucken zu Grunde, die allem Anschein nach sowohl vom jeweiligen Autor in sehr überlegter Weise an bestimmte Adressaten verschickt und von diesen auch genau gelesen wurden. Nicht nur aus den hier zur Diskussion stehenden Briefen Ettmayers lässt sich ableiten, dass zwischen den über Sonderdrucke kommunizierenden Autoren ein stillschweigender Konsens darüber bestand, dass diese von den Empfängern auch genau gelesen werden mussten.
Überdies scheinen Postkarten, Briefe und auch Pakete von der damaligen Post erstaunlich rasch und zuverlässig transportiert und zugestellt worden zu sein. Aus der Perspektive des weitgehend „elektronisierten“ 21. Jahrhunderts, wo die Brief- und Paketpost de facto viel schlechter (und v. a. langsamer) als früher funktioniert und auch von den Zeitgenossen weniger intensiv in Anspruch genommen wird, ist dieser Umstand bemerkenswert bzw. lässt gewisse Nostalgien aufkommen.
Bei der Kommentierung wurde versucht, alle jene von Ettmayer getätigten Anspielungen, die einem Leser des Jahres 2016 nicht unmittelbar verständlich sein könnten, aufzulösen bzw. zu erhellen. Zudem habe ich mich bemüht, den wissenschaftlichen bzw. historischen Gesamtkontext, auf den sich die einzelnen Briefe beziehen bzw. aus dem heraus sie entstanden sind, weitest möglich zu rekonstruieren.
Ich habe die damals wie heute in Manuskripten eher defizitäre Setzung von Beistrichen (Kommata) zur Aufrechterhaltung der flüssigen Lesbarkeit bei Bedarf zwischen eckigen Klammern ergänzt. Überzählig gesetzte Beistriche wurden dagegen beibehalten.
Nur ganz wenige Briefe sind als „rein privat“ einzustufen. Der weit überwiegende Großteil hat genuin wissenschaftlichen bzw. universitären Charakter. Darunter ragen vor allem einige „Programm“-Briefe hervor, wo Ettmayer seinen Lehrer im Detail mit seinen Vorstellungen und Plänen konfrontiert: dazu zählen ganz besonders die Briefe 02-02791, 03-02792, 07-02795, 09-02797, 10-02798, 11-02800, 12-02799 und 23-02811.
Die von Karl von Ettmayer an Hugo Schuchardt verschickten Briefe befinden sich in: