Emil Fischer an Hugo Schuchardt (03-03045)

von Emil Fischer

an Hugo Schuchardt

Bukarest

25. 12. 1903

language Deutsch

Schlagwörter: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wienlanguage Ungarischlanguage Rumänischlanguage Albanischlanguage Türkischlanguage Slawische Sprachenlanguage Italienischlanguage Altgriechischlanguage Latein Bopp, Franz Densusianu, Ovid Graz Dalmatien Italien Sizilien Istrien Algier Tunis Österreich Frankreich Wien Rumänien Schweiz Mailand Florenz Lombardei Venedig Tomaschek, Wilhelm (1893) Densusianu, Ovid (1901) Roesler, Robert (1871) Gooss, Carl (1877) Hunfalvy, Paul (1883) Réthy, László (1880) Schwicker, J. H. (1881) Tamm, Traugott (1891) Meyer, Gustav (1883)

Zitiervorschlag: Emil Fischer an Hugo Schuchardt (03-03045). Bukarest, 25. 12. 1903. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9904, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9904.


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Bukarest, 25. 7. XII. I.
1902/03.

Sehr geehrter Herr Professor!

Nehmen Sie mir es nicht übel, dass ich mich, ohne dass Sie mich kennten, gleich mit einem langen Brief an Sie wende & Ihnen die kostbare Zeit raube. Aber als ehemaliger Grazer Student & zumal als ehemaliger Grazer stud. philos. halte ich mich dazu – auch heute noch – für ein wenig berechtigt.

Ich habe in den Siebziger & (Anfang der) Achtziger Jahre in |2|Graz Medizin studiert, habe den Doctor Medicinæ gemacht & war auch als Stud. philos. inscribirt. Ich musste leider eben die Universität früher verlassen, als ich auch die philos. Studien beendet hätte. So habe ich denn in den Mussestunden meines augbl. Berufes – ich habe solche, weil ich nicht rauche, nicht Biertrinker & nicht Vereinsmeier bin – die philos. Studien weitergetrieben, namentlich Philosophie im engeren Verstande, Geschichte & Philologie.

Ich bin seit 21 Jahren prakt. Arzt (Augenarzt) in Bukarest und habe seit etwa 18 Jahren mich mit der Frage |3| der Herkunft der Rumänen befasst. Als geborener siebenbürg. Sachse spreche ich Ungarisch & Rumänisch fast wie meine Muttersprache. Hier habe ich mich viel mit Albanesisch, Türkisch & Slavisch befasst. Als Jäger habe ich Land & Leute gründlich kennen gelernt; bin ausserdem seit 14 Jahren auch Leiter eines ländlichen Spitals. Durch vielfache Reisen kenne ich die Dobrudscha & Bulgarien, Kleinasien, habe Dalmatien* kennen gelernt und Italien wiederholt von Sicilien bis zu den Alpen durchkreuzt; ausserdem habe ich den

*) Croatien, Istrien & Krain ebenfalls

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Nordrand Afrikas ( Algier bis Tunis) und Südfrankreich besucht. Ich kenne Oesterreich, Deutschland & Frankreich.

Das sind meine Vorstudien. –

Im vergangenen Herbst (November) habe ich auf Veranlassung des „Deutschen Vortrags Verbandes” (Centralsitz Coburg) in Deutschland (und Wien) Vorträge gehalten über: Rumänien, Land & Leute und Siebenbürgen, Land & Leute. Die Vorträge haben so viel Erfolg gehabt, dass ich eingeladen wurde, diese & andere Vorträge*) nun auch

immer im Rahmen des „D. Vortrags-Verbandes”

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in Oesterreich, der Schweiz & in Italien (Mailand & Florenz') zu halten.

In meinen Vorträgen habe ich die Frage der „Herkunft der Rumänen” nur obenhin berühren können, meine Ansichten über diese räthselvolle Frage haben aber allerorts so viel Interesse erregt, dass ich mich nun daran gemacht habe, die Resultate meiner jahrelangen Bemühungen zu Papier zu bringen. –

Ich habe allmälig über 200 Quellen, theils im Original, theils bei andern Autoren, für mein Thema eingesehen und bin zu der Ueberzeugung gekommen, dass die

*) Deutsche Vereine dortselbst

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heutigen Rumänen keinen Dialekt sprechen, der romanisch genannt d. h. vom Latein der klassischen Zeit hergeleitet werden kann, sondern eine Sprache – nicht Dialekt & nicht Jargon* – die vom Italienischen des 6. u. 7. Jahrhunderts herkommt. Freilich beteiligten sich an der Bildung des Rumänischen auch die kargen römischen Sprachreste aus der Zeit der Dakerzeit (aus Siebenbürgen), aus jener Mösiens und die römischen Einflüsse, die Jahrhunderte lang auf Illyrien eingewirkt haben. Ist ja das heutige Albanesische noch so reich an (griechischen und) lateinischen Unregelwörtern (??)

der sprachwissenschaftliche Terminus fehlt noch für solch ein Sprachgebilde

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dass man es für eine Art Urgriechisch, ja dass Bopp1 es für einen ziemlich verlorenen Sanskritrest erklärt hat. Hat doch das Rumänische mit dem Albanesischen heute noch über 500 lateinische Wörter gemeinsam.

Dass das Rumänische kein eigentl. roman. Dialekt ist, glaube ich auch damit beweisen zu können, dass die Lateinischen (resp. Italienischen) Entlehnungen nicht in der Art & Weise verwenthet [sic] wurden, wie von den Iberern & Galliern. Den thrakisch-illyrisch-slavischen Völkermischmasch, den das (Lateinische) italienische Idiom*) vernahm, hörte es mit anderen Gehörwerkzeugen & ahmte

aus italienischem Munde

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es mit andern Sprachwerkzeugen nach, wie die westlichen Europäer. Man denke nur an die gutturalen Vocale & überhaupt an die eigenthümlichen Dumpflaute des Rumänischen, an die ganz eigenthümliche Phonation & Accentuation der Sprache. Auch die Grammatik ist durchaus nicht so (lateinisch) italienisch, wie vielfach behauptet wird. –

Geschichtlich weise ich nach, dass die Rumänen keine siebenbürg. Daker, sondern Balkan-Thraker + Illyrier sind, denen sich Slaven (ausserdem Bulgaren, Griechen, Petschenegen2 etc.) beigemengt haben. |9| Aus den „Fasten der Provinz Dacia”, aus den Verzeichnissen der Cohorten & Alen*), den Legionen, ferner aus den archaeolog. Funden in Siebenbürgen geht unwiderleglich hervor, dass die Daker in 150 Jahren der röm. Herrschaft nicht entnationalisirt werden konnten. Am wenigsten aber ist in den 150 Jahren der Römerherrschaft in Siebenbürgen etwa eine neue Sprache, das Rumänische entstanden. Die Daker sprachen in Siebenbürgen auch während der Römerherrschaft unter einander dakisch & nur die wenigen, die in röm. Diensten standen (Legionssoldaten, Städter u. drgl. spra-

*) sie [!] gehörten lauter Nicht-Italikern an

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chen mit den Römern römisch. Unter den römischen Hilfsvölkern (Cohorten & Alen), die in Dakien lagen, findet sich kein einziges italisches & selbst die einzige Legion XIII, die längere Zeit in Dacien lag, war keine italische; sie war zum grossen Theil aus Makedoniern zusammengesetzt. Als Dacien anno 272 p. Chr. geräumt wurde, da gingen die Legionen, Beamten & wol auch die romanisirten Städter (Handwerker, Kaufleute u. dgl.), vielleicht auch ein Theil der Provinzialen mit, die noch übrig gebliebene dakische und zwar dakisch gebliebene Landbevölkerung, die eben nicht römisch sprach, blieb |11| wol ruhig auf ihrer Scholle. Die oesterreich. Militärgrenze, Elsass-Lothringen sind in manchen Hunderten von Jahren nicht entnationalisirt worden, das röm. Heer der Kaiserzeit war am wenigsten imstande Barbaren vom widerspenstigen Schlage der Daker*) in 150 Jahren zu Römern zu machen.

Die dakische Periode des Römerthums hat auf die Bildung der rumän. Sprache blutwenig Einfluss gehabt, vielmehr die mösische*) und wol am allermeisten die römische Periode, die mit den Eroberungen

*) die Daker waren keine wirklichen Hermunduren3

**) die vortrajanische sowol, als auch die nachaurelianische

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der röm. Republik auf der Balkanhalbinsel begann, sich unter Diokletian (Salona4) sich machtvoll fortsetzte & bis zur Theilung des Gesammtreiches anhielt.

Ich habe (ganz unabhängig von Tomaschek5) die Cultur der alten Thraker, für meine Zwecke, durchforscht & gefunden, dass es für einen Rumänen wenigstens so ehrenvoll ist von einem Thraker (Illyrer) als von einem Daker abzustammen. –

Als Arzt & Naturforscher habe ich ausserordentlich viel Gelegenheit gehabt, die Rumänen anthro- |13| pologisch, als Jäger und Reisender, sie anthropographisch*) zu studieren, und auch von dieser Seite muss es gesagt werden, dass sie durchaus keine sog. Romanen, am wenigsten aber Römer sind.

Der Wortschatz des Rumänischen hat etwa (etwas über 1/5 lateinische (italien.) Lehnwörter, an Blutgehalt des Körpers aber hat der heutige Walache nicht einmal 1/10 röm. Blutes in sich. Nun braucht wer Italien (Sicilien**), Unteritalien**), Lombardei***), Venedig****)

*) Folklore. **) Grossgriechenland, Punier,
Araber, Normannen

***) Gothen, Langobarden, Kelten. ****) Veneter,
Illyrer, Levantiner

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durchwandert & dort nach Römern gesucht zu haben, um meinen Anspruch zu begreifen. -

Auch die allgemeinen Gründe sprechen zu Gunsten meiner Annahme.

Item, historisch, linguistisch und ethnographisch ist nachzuweisen, dass die Rumänen sowol phÿsisch, als auch sprachlich einzig & allein auf der Balkanhalbinsel, südlich der Donau, als ein Mischvolk mit einer Mischsprache entstanden sind und nur dort so entstehen konnten, wie sie sind. Dass sie sich |15| im Lauf der Zeit, auf ihren Wanderungen allmälig von dem Urrumänenthum entfernen konnten & mussten, ist nur natürlich. Heute noch haben wir eine Menge von Uebergängen: Kutzovlachen, Meglovlachen, Istrovlachen, Moten, mährische Vlachenreste u. drgl.

Das große Werk (60 Bogen)*) Nic. Densuşianu’s6, das sich mit der Ortsnamenforschung der rumänischen & der damaligen Länder, und ebenso mit der Volkskunde der Länder des alten Dacien befasst**), wird nur im Detail

*) von denen aber erst 30 Bogen gedruckt sind

**) aber auch Italiens u. der angrenzenden slav. Länder

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bestätigen & feiner ausführen können, was ich in grossen Zügen dargelegt habe.

Rössler7 & Gooss8 verfügten zu ihrer Zeit noch nicht über die Ergebnisse der Sprachforschung unserer Tage; Hunfalvy9 & Réthy10 sind trotz aller Gelehrsamkeit befangene Magyaren; Sulger11 und Schwicker12 können nicht rumänisch; Hasdeu13 & mit ihm die rumän. Gelehrten sind in den Römer-Aberglauben verrannt; Tamm war ganz ungenügend vorbereitet14. Alle aber haben die „Frage” nach der „Herkunft der Rumänen” nicht methodisch genug und nicht von allen drei Seiten her *) gleichmässig genug angepackt.

*) von der histor., von der linguistischen, von der ethnograph. Seite

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Eins kommt noch dazu, dass ich kein Rumänenfeind bin. Die „ Epoca”15 & die „Vointa nationala”16 haben (im vergangenen Herbst) in spaltenlangen Leitartikeln meine Vorträge*) über Rumänien, lobend besprochen. Was & wie ich über Rumänien gesprochen habe, hat ihren Beifall gefunden. Ich bin also gesichert gegen den Verdacht, dass ich den Rumänen etwa nicht wol wollte. Um so beachtenswerther muss Das nun sein – so meine ich wenigstens – was geeignet ist, die Eigenliebe der Rumänen so sehr zu verletzen. Nichts

*) die ich im Auslande gehalten habe

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kann nämlich die Rumänen mehr kränken, ja in Harnisch bringen, als zu hören: dass er kein Römer sei. – Da ich neben den Rumänen lebe & leben muss, so gewinnt die Veröffentlichung meiner Arbeit die allergroesste Aehnlichkeit: mit dem Stochern in einem Wespennest. Und um so ärgerlicher werden sie sein, als sie von meiner Seite so etwas nicht erwartet hätten. Meine Arbeit geht natürlich nicht darauf aus die Rumänen zu ärgern, dass sie sich aber um diesen (mit Sicherheit zu erwartenden) Aerger nicht kümmert, diese Unpartheilichkeit wird auch zu |19| ihren Gunsten anzurechnen sein. *) –

Der Zweck meines ungebührlich langen Briefes ist: Sie, sehr geehrter Herr Professor, zu fragen, was Sie von meiner Ansicht sagen? Als intimer Freund haben Sie gewiss an den albanisch. Studien Prof. G. Meyer’s Antheil genommen17 und so ist Ihnen diese Frage auch von dieser Seite nicht fremd. Ich glaube, dass die Circulationstheorie allein nicht genügt

*) Für den Ursprung der Rumänen von der Balkanhalbinsel spricht auch ihr griech. Christenthum. Alle Beweise, dass sie anfänglich lateinische Christen gewesen waren, sind hinfällig.

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um die „Nationalität” einer Sprache zu bestimmen. Das Lateinische wird im Rumänischen so fremd & so befremdend behandelt, dass die Circulation nicht ausreicht, sie für einen „romanischen Dialekt” zu erklären. –

Entschuldigen Sie nochmals meine Zudringlichkeit und seien Sie hochachtungsvoll gegrüsst von

Ihrem ergebenen

Dr. Emil Fischer
Strada Modei 12.


1 Franz Bopp (1791-1867), aus Mainz stammender deutscher Sprachwissenschaftler, Begründer einer wissenschaftlichen indogermanischen Morphologie.

2 Die Petschenegen waren ein bedeutender oghusischer Stamm, der zu den Turkvölkern gehörte.

3 „Die Hermunduren waren ein germanischer Volksstamm, der zur Gruppe der Elbgermanen zählt und am Oberlauf der Elbe siedelte. Die Römer rechneten sie zur großen Stammesgruppe der Sueben“ (wikipedia).

4 Hauptstadt der römischen Provinz Dalmatia.

5 Wilhelm Tomaschek, Die alten Thraker, eine ethnologische Untersuchung, Wien: Tempsky, 1893.

6 Ovid Densusianu, Histoire de la langue roumaine, Paris: Leroux, 1901 (mehrere Teilbände). Vgl. HSA 02284.

7 Vermutlich ist gemeint Robert Roesler, Rumänische Studien: Untersuchungen zur älteren Geschichte Romäniens, Leipzig: Duncker & Humblot, 1871.

8 Carl Gooss, „Skizzen zur vorrömischen Culturgeschichte der mittlern Donaugegenden“, Archiv des Vereines für Siebenbürgische Landeskunde; N.F. 13, 1877, Hefte 1-3.

9 Paul Hunfalvy, Die Rumänen und ihre Ansprüche, Wien [u.a.]: Prochaska, 1883. Vgl. HSA 04915-04919.

10 Réthy László, Magyar pénzverő izmaeliták és Bessarábia, Arad, 1880.

11 Kein Nachweis.

12 J. H. Schwicker, Die Deutschen in Ungarn und Siebenbürgen, Wien: Prochaska, 1881.

13 Bogdan Petriceicu Hasdeu (1838-1907), rumän. Gelehrter. Vgl. HSA 04428-04465.

14 Traugott Tamm, Über den Ursprung der Rumänen, ein Beitrag zur Ethnographie Südosteuropas, Bonn: Strauss, 1891.

15 Ab 1878 erscheinende rumän. Zeitung.

16 Voința națională. Diar national-liberal , rumän. Tageszeitung.

17 Gustav Meyer, Albanesische Studien, Wien: Gerold, 1892f. (mehrere Teile; abgedruckt in den Sitzungsberichten der Philosophisch-Historische Klasse der Wiener Akademie der Wissenschaften), Kollege und über Jahre enger Freund und Wohnungsnachbar Schuchardts in Graz.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 03045)