Karl Engler an Hugo Schuchardt (02-02745)
von Karl Engler
an Hugo Schuchardt
29. 05. 1876
Deutsch
Schlagwörter: Universität Halle Wolf, Michaela (1993)
Zitiervorschlag: Karl Engler an Hugo Schuchardt (02-02745). Halle, 29. 05. 1876. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9881, abgerufen am 01. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9881.
Halle d. 29. Mai 76
Lieber Schuchardt! 1
Vor Allem zur Beruhigung die Mittheilung, daß das Armband noch zu rechter Zeit abgeliefert wurde. Ich wollte selbst den Mohren machen, war auch zweimal an Ort & Stelle, fand jedoch die „Braut“ niemals zu Hause, weßhalb ich dann schließlich Armband sammt Kreuzchen dem Dienstbesen in Anwesenheit der Kleinen (Marie’chen heißt sie ja wohl) überreichte.
Mariechen war sichtlich hocherfreut über das ihr zu Theil gewordene Präsent & tanzte im bedenklichsten Negligee vor meinen Augen & wie toll im Zimmer herum vor Vergnügen. Gerne hätte ich Ihnen auch Einiges über |2| die Wirkung berichtet, die das Armband auf die Alte hervorgebracht hat, konnte aber selbst via Schum2 nichts Authentisches erfahren. Immerhin können Sie darüber beruhigt sein, denn so schöne Armbänder wie das von Ihnen gesandte müssen eigentlich immer gute Wirkung hervorbringen, wenn man wenigstens absieht von dem Unheil, das mit Armbändern, Medaillons, Broschen etc. zur Unzeit schon angerichtet worden ist! –
Sie schreiben in Ihrem Briefe, es ginge Ihnen schlechter als je, hoffentlich geht’s jetzt besser, es ist ja auch schon lange her, daß Sie’s geschrieben. Unter allen Umständen aber beneide ich Sie, daß Sie nicht in dem edeln Halle zu sein brauchen, denn ich bin allmälig auf dem Standpunkte angelangt: lieber krank, aber auswärts, als gesund in Halle. Ich versichere Sie, es lebt sich im |3| Augenblick recht scheußlich hier: Kaltes Wetter, Schmutz oder Staub auf den Straßen im Handumdrehen, keine Theater, kein Concert, nichts Geist erhebendes, nichts Herz erfrischendes, Kraus3 mit dickem Oelkopf4 oft bei Tische fehlend und selbst die „kleine Bertha“ ist nicht mehr da, sie ist den 1. Mai nach Eisleben in ihre Heimath gefahren, um zu heirathen.
Seit einiger Zeit ist Schlieckmann5 wieder aus Karlsbad zurück, sieht aber sehr angegriffen und herunter aus; hoffentlich erholt er sich bald; denn er hat es bei seiner enormen Arbeitslast sehr nöthig.
Ihre Flamme, Frau L. aus F.6, habe ich in den Osterferien zweimal getroffen; einmal nur kurz bei Schlieckmanns7, einmal aber einen ganzen Abend auf dem Ball bei Domänenpächter Wenzel8 (reicher Kaffer mit zierlicher Frau) in Brachwitz bei Salzmünde, wohin ich |4| als Begleitung mit Frau Schlieckmann gefahren war. Frau L., mit der ich übrigens circa 6 Tänze getanzt habe, erkundigte sich genauestens nach Ihrem Befinden & blinzelte „in der Zeiteinheit“ mindestens einmal mehr als gewöhnlich mit den Augen als ich ihr sagte, daß Sie sich gar nicht wohl befinden. Sonntag bin ich dorthin zum Diner eingeladen, gehe aber nicht hin, da ich außer Schlieckmanns dort nur eine Masse Fremder treffen würde. Meinetwegen können sich also die Hunde blutig rutschen. 9
Heute Mittag hat es in Stadt Hamburg gebrannt, das hintere Gebäude ist ausgebrannt10. Ich glaube Achtelstetter11 ist im Grunde genommen nicht unglücklich darüber, da er so wie so umbauen wollte & nun jedenfalls eine anständige Versicherungssumme erhält.
Zu melden ist sonst nicht viel von Belang; einen Reisebericht über meine „schöne“ Reise kann ich Ihnen |5| leider nicht liefern, es wäre indiscret & würde Sie außerdem nur unnöthigerweise aufregen. Aber schön war’s doch.
Studenten sind schließlich noch mehr gekommen als man Anfangs glaubte, es sollen schon 30 mehr neu inscribirt sein als mit Schluß des Semesters abgegangen sind. Werden Sie wohl noch practische Uebungen abhalten können & wann glauben Sie wieder hieher zu kommen? – Bei Tische finden Sie einen weiteren Fuchs, den Staatsanwaltsgehülfen Voswinkel, Weytusch’s Nachfolger12, ein recht netter Mann.
Verlobt hat sich noch keiner von uns, compromitirt auch nicht, wenigstens nicht öffentlich; es geht Alles seinen alten Lauf & auf Veränderungen dürfen Sie sich also bei Ihrer Rückkehr nach Halle nicht freuen.13
Mit herzlichem Gruß & dem Wunsche, daß Sie diese Zeilen möglichst wohl antreffen
Ihr ergebenster
K. EnglerZuvor unterzeichnete der Absender mit „C. Engler“.
Nasse15 war heute zum ersten Mal wieder in der Höhle16 ; Sie hatten wohl noch gehört, daß der Pechvogel mit Gelbsucht von der Hochzeitsreise zurückkam!
1 Schuchardt hat inzwischen den Ruf nach Graz erhalten und wird von Engler noch mit Nachrichten aus Halle und seiner Universität versorgt.
2 Wilhelm Schum (1846-1892), histor. Mediävist in Halle.
3 Gregor Kraus (1841-1915), Ordinarius für Botanik in Halle u. Leiter des botanischen Gartens; 1891 Rektor, später Rufannahme nach Würzburg.
4 Bez. für einen Kopf mit „pomadisierter“ Frisur, was man auf einem Schwarz-Weiß-Photo von Kraus nicht sieht.
5 Albrecht Heinrich Carl Schlieckmann (1835-1891), Verwaltungsjurist (verschiedene Berufsstationen); vgl. HSA 10061-10063.
6 Nicht identifiziert.
7 Albrecht Heinrich Carl und Clara (keine Daten) von Schlieckmann; vgl. HSA 10061-10063 u. 10064-10073.
8 Domänenpächter Oberamtmann Friedrich Phillipp Karl Ludwig Wentzel (gest. 1907) auf Brachwitz.
9 Der Sinn dieses Vergleichs erschließt sich nicht: Ein Hund, der derartige Symptome aufweist, ist krank und versucht sich, durch das „Rutschen“ Erleichterung zu verschaffen.
10 Halle, Große Steinstraße 73. Das Hotel wurde danach renoviert und erweitert.
11 J. L. Achtelstetteer (keine Daten), Hotelier in Halle.
12 Beide nicht identifiziert.
13 Wolf, Nachlaß, 631 vermerkt für Juni eine Reise Schuchardts nach Töplitz-Schönau.
14 Zuvor unterzeichnete der Absender mit „C. Engler“.
15 Otto Nasse (1839-1903), Prof. f. Geburtshilfe, Pharmakologie u. physiologische Chemie, später in Rostock.
16 Offenbar der Name eines Lokals oder der Sitz einer Burschenschaft.