Tessi Dessau-Leeder an Hugo Schuchardt (04-02291)
an Hugo Schuchardt
18. 02. 1912
Deutsch
Zitiervorschlag: Tessi Dessau-Leeder an Hugo Schuchardt (04-02291). Wien, 18. 02. 1912. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9834, abgerufen am 03. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9834.
Wien 18.2.12
IX. Elisabeth-Promenade 11.
Sehr verehrter, lieber Herr Hofrat!
Die findige „Wr. Post“ hat mir wirklich sofort Ihr offenbar sprechend-ähnliches, wunderhübsches Bild gebracht. 1
Es war ein sehr liebenswürdiger Gedanke mich damit zu erfreuen und ich danke Ihnen ganz herzlich dafür. Zu Ihrem prächtigen Aussehen kann ich Ihnen nur wärmstens gratulieren. Ihre Augen blitzen mir so schalkhaft und lebenslustig entgegen, Ihre ganze Erscheinung hat etwas so jugendlich Frisches, daß man Ihnen die 70 Jahre eigentlich unmöglich glauben kann. Jedenfalls wäre mein Conterfey dafür |2|absolut keine würdige Revanche. Übrigens besitze ich auch Keines, hätte ich aber Eines, so wie ich jetzt aussehe, wäre ich natürlich zu eitel, um es Jemandem zu schicken, der sich meiner vielleicht noch ein bischen erinnert, wie ich vor 31 Jahren aussah.2
Das Schicksal hat mich, nachdem es mir auf die sonnige Zeit in Graz noch ein paar schöne, glückliche Jahre beim geliebten Theater gönnte, eine Weile tüchtig gezaust. Ich würde wohl das zwölfjährige Martyrium meiner Ehe leichter verwunden haben, wenn nicht meine früher so feste Gesundheit, dadurch sehr erschüttert worden wäre. Schließlich aber hat sich aber doch noch Alles so ziemlich zum Guten gewendet.
Es war mir immer ein großes, unverhofftes Glück, daß ich in den letzten 13 Jahren wieder in der Heimat und noch so lange mit meinen geliebten Eltern (vor 2 Jahren wurden sie uns leider jäh entrissen) leben konnte. |3| Nun hause ich mit meiner lieben jüngeren Schwester zusammen, zufrieden und in bester Harmonie, die durch meine gute Schwester Scherer3, unsere Brüder und treue Freunde in liebenswürdigster Weise ergänzt wird.
Verzeihen Sie verehrter Herr Hofrat, daß ich Ihnen ungefragt so viel von mir erzähle, aber ich hoffe, daß Sie doch noch ein wenig freundschaftliches Interesse von alter Zeit her, für mich übrig haben.
Wie ich vor 14 Jahren einen Winter in Berlin bei meiner Schwester Scherer verbrachte und viel in ihrem schönen Freundeskreis verkehrte, kam ich auch öfter mit Professor Tobler zusammen4 u. als er mir einmal erzählte, daß Sie, lieber, verehrter Herr Hofrat, sich einstmals bei ihm freundlich nach mir erkundigt hätten, empfand ich natürlich |4| eine lebhafte Freude darüber, denn ich habe die frohen Stunden, die ich in Ihrer so ungemein liebenswürdigen Gesellschaft verlebte, immer dankbar im Gedächtnis behalten.
So oft ich Jemanden aus Graz sah, z. B. vor 2 Jahren meine alte Freundin Frl. Emmy von Ettingshausen5, die mich hier besuchte, fragte ich jedesmal gleich eifrigst nach Ihnen, lieber, verehrter Herr Hofrat und freute mich stets Gutes zu hören.
Wenn Ihr Weg Sie wieder einmal nach Wien im Winter führen sollte (die schönere Hälfte des Jahres verbringen wir in unserem kleinen Landhäuschen in Stixenstein in N. Oe.)6 würden Sie durch einen freundlichen Besuch sehr erfreuen,
Ihre, Sie herzlich verehrende,
treu ergebene
Tessi Dessau-Leeder.
1 Aus Anlaß von Schuchardts 70. Geburtstag.
2 In der Tat datiert der letzte erhaltene Brief vom 17. April 1881.
3 Marie Scherer, geb. Leeder (1855-1939), Musikerin und Sängerin, Ehefrau des bekannten Germanisten Wilhelm Scherer (1841-1886), der, zuletzt in Berlin lehrend, bereits mit 45 Jahren an einem Schlaganfall starb.
4 Adolf Tobler (1835-1910), bedeutender Schweizer Romanist, der seine akademische Karriere in Berlin machte, wohin er 1867 berufen wurde.
5 Tochter des Grazer Paläobotanikers Constantin Frhr. von Ettingshausen (1826-1897)
6 Stixenstein, NÖ, Bez. Neunkirchen (Nähe von Schloß Ternitz).