Mathias Murko an Hugo Schuchardt (02-07610)

von Mathias Murko

an Hugo Schuchardt

Wien

15. 12. 1895

language Deutsch

Schlagwörter: Indogermanische Gesellschaft k. u. k. Akademie der Wissenschaften in Wien Archiv für slavische Philologie Universität Wienlanguage Altkirchenslawischlanguage Serbisch Miklosich, Franz von Miklosich, Franz (1860) Novaković, Stojan (1875)

Zitiervorschlag: Mathias Murko an Hugo Schuchardt (02-07610). Wien, 15. 12. 1895. Hrsg. von Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9766, abgerufen am 10. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9766.


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Wien, VII. Breite G. 4.
15/12 95.

Sehr geehrter Herr Professor!

Ich sende Ihnen gleichzeitig das ungar. Namensverzeichnis mit bestem Dank zurück. Über Ihre Schrift habe ich ausführlich referirt.1 Für eine Discussion blieb keine Zeit mehr übrig und sie wurde daher auf die erste Sitzung im Jan. verschoben. Ich kann Sie jedoch versichern, dass Ihre Anschauungen allgemeinen Beifall haben und sich die Zusätze hauptsächlich auf dem psychologischen Gebiet der Namensgebung bewegen werden. Ich selbst habe darauf hingewiesen, dass die Entsprechungen schon bei den deutschen Namen verfehlt und unconsequent sind. Komisch ist es geradezu, dass die Ungarn die Rumänen noch mehr zu echten Römern machen wollen, |2| indem sie ihre nationalisirten häufig slavischen Namen ganz latinisieren. Dass es gar einen hl. Quadratus gebe, erweckte bei Hofr. Buehler2 so lebhaftes Kopfschütteln, dass ich beweisen musste, dass in den altslav. Chroniken (z. B. im Cod. Suprasl. 3) in der Tat ein Sv. Kodrat vorkommt. Das Unglaublichste wird aber an Entsprechungen bei den slavischen speciell den serbischen Namen geleistet. Die ungarischen Ober- und Vicegespäne wissen eine Menge von Sachen, die weder Vuk Karadžić4 und sein Gehilfe bei der Ausarbeitung des Wörterbuches, Kopitar5, noch Miklosich6 noch andere Slavisten wissen. Boža, Božo sollen Hypocor. von Božidar und dieses wieder = Theodor sein. Doch wie viel Ableitungen von „bog“ (s. Mikl. Personennamen 7) gibt es noch, wie alt ist Božidar (s. Stojan Novaković *8) und warum haben die Serben daneben Todor, Toša u. s. w!

(*Glasnik s. učenog dr. 42, Namen votiv 15-18 Jhr.9 )

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Viele der Entsprechungen gehen einfach auf die Überübernahme des deutschen bardisch-romantischen Plunders zurück. Branko, Branislav werden z. B. deshalb zu Sandor, weil der Dichter Branko Radičević sich statt Alexander den nationalen Namen Branko beilegte. Das war in den Jugendjahren des slav. Romantismus überall üblich, z. B. bei den Böhmen in der Form, dass man einen nationalen Namen hinzunahm; so heißt Čelakovský František Ladislav10. Curios ist es, dass häufig blos der männliche Name, seltener nur der weibliche magyarisiert wird oder dass solche Hypocor. wie Stana, Stanka im Serb. nicht geduldet werden, während sie für die Rumänen zulässig sind. Ich verwies auch darauf, dass die orthodoxe Kirche bei den Serben bezüglich der Namensgebung in Jahrhunderten dasselbe nicht durchführen |4| konnte, was jezt [sic!] der ung. Staat möchte, nur dass sogar die kath. in dieser Hinsicht dzt eine grosse Toleranz an den Tag legt, indem sie nur die Hinzunahme eines Heiligennamens fordert. Man kann z.B. im Küstenlande ein Kind auf Italia taufen und es fehlt nur noch irridenta daheim. Mir blieb keine Zeit mehr, um in Ihrem Sinn das Problem auch auf Ortsnamen auszudehnen. Ich wollte auf die unsinnigen Verdeutschungen zu Ende des vorigen Jahrhunderts verweisen. Z.B. im Bez. Luttenberg machten bureaukratische Schafsköpfe aus Gljaševci (aus N.pr. Gljáš = Elias) Igelsdorf, Bez. Pettau aus Girsovci (N. Pr. Girsa) Kirchendorf *), in Krain heißt eine Sinja gorica Schweinsbüchel, ein Račje selo Rapelgeschiess! Solcher Unsinn muss grundbücherlich einverleibt bleiben, weil er zum Amtsschimmel und zum deutschen „Besitzstand“ gehört. Natürlich bin ich auch gegen Slavisierung von Namen und mir gibt es

*) daneben ein Janscherdorf in Janežovci, was man sich noch gefallen lässt (setzt eine interessante Form Gan voraus; heute ist in der Gegend nur Ganž, Ganža oder Ganšek üblich).

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immer einen Stich, wenn ich die übrigens falsche Übersetzung č. Solnohrad slov. skr. Solnograd oder Inomost11 lese.

Ich wollte diese Gedanken im „Archiv f. slav. Phil.“12 weiter ausführen, aber Hofr. Jagić13 meinte, Ihre Ausführungen seien so einleuchtend, dass es genüge davon nur Notiz zu nehmen. Er nimmt da mehr gewisse Rücksichten als es ich getan hätte, obwohl mein Chef der magyarisirte Jude Hofr. Doeri, der bekannte Dramatiker, ist. Das sind doch Fragen, die man vom wissenschaftlichen Standpunkt behandeln kann und soll. Viele nationale Streitfragen hätten nie eine solche Gestalt angenommen, wenn man sie |6| mit mehr Wissen und Verständnis behandelt hätte. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie in Ihrer kritischen Schrift über die Unübersetzbarkeit der Namen auch den Ortsnamen Aufmerksamkeit schenkten. Ich weiß z. B. auch nicht, was die Deutschen in Böhmen durch solche Namensformen wie Hořowitz, Hořitz gewinnen? Wenn es einmal mit dem Übersetzen nicht geht, lasse man überall die locale Namensform. Wie viele Poststampiglien und ähnliche Fragen wären uns damit |7| erspart geblieben! In dieser Hinsicht gefällt mir in der Tat das Vorgehen der bosnischen Landesregierung, welche consequent die Namen beibehält, die sich in die interne deutsche Amtssprache ganz gut fügen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebener

M Murko

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1 Siehe den Brief 07609.

2 Georg (Johann) Bühler (1837-1898), Indologe, Gründer der Indogermanischen Gesellschaft, Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.

3 Der Codex Suprasliensis ist eine Handschrift in altkirchenslawischer Sprache und in kyrillischer Schrift. Sie stammt wahrscheinlich aus dem frühen 11. Jahrhundert aus dem nordöstlichen Bulgarischen Reich (Schule von Preslaw).

4 Vuk Stefanović Karadžić (1787-1864), serbischer Philologe, wichtigster Sprachreformer der serbischen Schriftsprache, Ethnologe, Dichter, Übersetzer, Diplomat und Volksliedsammler.

5 Bartholomäus (Jernej) Kopitar (1780-1844), slowenischer Sprachwissenschaftler und Slawist.

6 Franz Miklosich / slowenisch Franc Miklošič (1813-1891), Begründer der modernen slawischen Sprachwissenschaft („Wiener Schule der Slawistik“).

7 Franz Miklosich, Die Bildung der slawischen Personennamen. Wien: Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei, 1860.

8 Stojan Novaković (1842-1915), serbischer Staatsmann, Historiker, Schriftsteller und Akademiker.

9 Stojan Novaković, Srpski pomenici XV-XVIII veka, in: Glasnik srpskog učenog društva, knjiga XLII, Beograd, 1875.

10 František Ladislav Čelakovský (Pseudonym Marcian Hromotluk) (1799-1852), tschechischer Slawist, Dichter und Übersetzer.

11 Solnohrad / Solnograd sind die tschechische, slowenische und serbokroatische Übersetzungen von Salzburg und Inomost die slowenisch Übersetzung von Innsbruck.

12 Archiv für slavische Philologie ist die älteste slawische philologische Zeitschrift, gegründet 1875 von Vatroslav Jagić.

13 Vatroslav Jagić (1828-1923), kroatischer Sprachwissenschaftler, einer der wichtigsten Slawisten der Zeit, Nachfolger von Franz Miklosich an der Slawistik der Universität Wien. Im HSA findet man auch eine Korrespondenz zwischen Schuchardt und Jagić ( 05015-05054).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 07610)