Placi Condrau an Hugo Schuchardt (01-01581)
von Placi Condrau
an Hugo Schuchardt
24. 07. 1869
Deutsch
Schlagwörter: Romanische Sprachen Ladinisch Rätoromanische Sprachen Deutsch Engadin Carigiet, Peider Basilius (1882) Flaminio Da Sale, (1729)
Zitiervorschlag: Placi Condrau an Hugo Schuchardt (01-01581). Disentis, 24. 07. 1869. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann und Bernhard Hurch (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9699, abgerufen am 14. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9699.
Disentis 24 Juli 1869
Hochgeehrter Herr!
Ihr werthes Schreiben vom 26 Juni erhielt ich erst Anfang Juli, wo ich nach dem Schluß der Großrathsitzung in Chur wieder nach Disentis zurückkehrte. Gleich darauf war ich hier so beschäftigt, daß ich nur die dringendsten Correspondenzen besorgen konnte.. Daher die Verspätung meiner Antwort. Bezüglich Ihrer Anfragen kann ich Ihnen Folgendes mittheilen. 1) Die Klassifizirung unserer romanischen Dialekte ist eine schwierige Aufgabe. Wir nehmen drei Idiome an: a) das Oberländische, das wieder in das katholische u. reformirte Idiom zerfällt, für letzteres ist die romanische Bibelübersetzung die Basis1, b) das Oberhalbsteinische u. c) das Ladinische mit den zwei Mundarten von Ober- u. Unter engadin. Nur in den hiergenannten Dialekten existiren gedruckte Bücher. Flims u. Frins gehören zu dem reformirt-oberländischen Dialekt. Karadas, Rhäzüns u. Ens (Bezirk Boden oder Plaue) haben wie Schams, Domleschgn (mit Heinzenberg) einen eigenen Dialekt; überhaupt hat jede romanische Gemeinde etwas |2| Eigenthümliche[s] in ihrer Sprache. Bergün und Filisur haben eine mit dem Ladinischen verwandte Mundart. Das Oberhalbsteinische wird unter dem R[h]ein (Sutsès): Alvaneu, Krienz, Lenz, Surava, Ahernatz, Tiefencastel, Alvaschein, Mon u. Stärvis gesprochen so wie in ob dem Rhein (Sursès), das Thal vom Julier bis Tiefencastel.2 Surmeir ist das romanische Oberhalbstein, ein vielgebrauchter Name, wenn auch nicht offiziell. Amtlich werden nur die Namen der Kreise und Bezirke aufgeführt. Zu Sutsés gehören die Kreise Alvaschein u. Bellfort, Sursés hat nur einen Kreis genannt Oberhalbstein (im engeren Sinn).
2) Partsura heißt Oberland, u. obwohl Lugnetz, Medels u. Sanetsch ihre Besonderheiten haben, gebrauchen sie doch die gleiche Schriftsprache, wie sie in Disentis u. Trun am meisten gesprochen wird; der protestantische Dialekt wird vorzüglich in der Gruob (Foppa, um Ilanz) gesprochen u geschrieben. Da man aber in der romanischen Literatur keine rechte sprachliche Autorität hat, wie in den übrigen Sprachen, so variieren die romanischen Autoren so viel in der Grammatik u. Orthographie. Daher die vielen Abweichungen, wie Sie in Ihrem Schreiben erwähnen; so schreiben manche nach dem |3| Volksdialekt ira statt das richtige ir. Ihre erwähnte fliegende Literatur ist bei uns nicht zu finden.
3) Auf Ihre Anfrage wegen ch u. lg bemerke ich daß erstere Form in der reformirten Bibel u. im Engadin vorkommt, während die kath. Oberländer u. auch Oberhalbsteiner lg schreiben.
4) Ihre Anfrage, welchen Ausdruck man für das Oberländische dem Engadinischen gegenüber gebrauche, ist schon unter Nr. 1 beantwortet, wo die drei Hauptdialekte benannt sind. Der Name Romansch della ligia grichka (??) ist nicht gebräuchlich u. nicht ganz passend. Domleschg gehörte zum Gotteshausbund,3 die dortige Schriftsprache ist wie in Schams für die Protestanten die reformirt-oberländische. Die Bünde haben jetzt keine Bedeutung mehr.
3) Was die Orthographie betrifft, so ist diese der wunde Fleck oder Erisapfel4 der Romanischen. Vergeblich hat man wiederholt versucht eine Vereinigung hier anzubahnen. In den letzten Jahren hat man eine fusionirte Sprache schaffen wollen, wofür namentlich Herr Bühler5 mit seiner romanischen Zeitung „Il Novellist“ sehr thäig war. Trotz aller Anstrengungen scheiterte diese angestrengte Vereinbarung. Diejenigen, die mehr auf die Ableitung sehen, schreiben maun, saun|4| (von manus, sanguis), andere, denen „schreibe wie man spricht“ als erste orthographische Regel gilt, schreiben seun, meun. Aus diesem Wirrwar kommt kaum ein Romane, geschweige ein Fremder. Am besten thut man, die Orthographie als solche nicht zu sehr zu berücksichtigen, wie die wenigsten Autoren thun, ihre Hauptregel ist nur konsequent zu schreiben, sei es denn auf diese oder die andere Art. Wollen Sie Ihre Aufgabe nicht zu schwierig machen u. in ein Labyrinth u. Widersprüche gerathen, so abstrahiren Sie so viel wie möglich von der Orthographie.
Das romanische Element verschwindet mehr u. mehr, viele romanische Gemeinden sind halb germanisirt, u. die deutsche Sprache in der Volksschule kommt immer mehr in Aufnahme. Gerade die Spaltung der Romanen u. daß sie sich nicht vereinigen können, leistet der Germanisirung den besten Vorschub. Wäre die Lukmaniserbahn6 durch das Oberland, wo das Romanische am meisten blüht, zu Stande gekommen, so wäre diese europäische Bahn der Todesstoß für die romanische Sprache gewesen.
Als romanische Sprachkenner im Oberland kann ich Ihnen Pater Basilius Carigiet im Kloster Disentis7 u. Pfarrer Darms in Flims8 bezeichnen.
Achtungsvoll zeichnet
P. C. Cendrars
Flaminius de Sales9 ist schwerlich zu erhalten; es existiren wenige Exemplare u. unter 10 fr. jedenfall nicht verkäuflich. Die grammatic romanschu ist auch vergriffen,10 vielleicht kann ich eine schicken. Bühlers II. Teil ist nicht erschienen.
1 Bibla da Scuol, 1679.
2 Im Text „Tiefencasten“; die Schreibung der Ortsnamen entspricht in einigen Fällen nicht der heute üblichen Lautfolge.
3 Territorialverbund, am 29. Januar 1367 gegründet, um dem wachsenden Einfluß des Bischofs von Chur und der Habsburger Einhalt zu gebieten.
4 „Zankapfel“.
5 Gion Antoni Bühler / Bieler (1825-1897) Schweizer Redakteur und Lehrer, versuchte ab 1864 mit dem Romontsch fusionau eine bündnerromanische Einheitssprache zu schaffen.
6 Lukmaniserpass, 916 m ü. M., Schweizer Alpenpass an der Grenze zwischen den Kantonen Graubünden und Tessin.
7 Carigiet (keine Lebensdaten); Verf. von Raetoromanisches Wörterbuch, Bonn: Weber, 1882.
8 Gion Martin Darms (1823-1907), Schweizer reform. Theologe; gab gemeinsam mit Luci Gabriel und Lucius Candrian Il Niev Testament da Niess Segner Jesus Christus: Il cudisch dils psalms. Societad biblica britannica ad externa, 1869, heraus.
9 P. Flaminio da Sale, Fundamenti principali della Lingua Retica, o Griggiona Con le Regole del Declianre i nomi, e congiugare i verbi, all’uso di due delle principali Valli della Rezia, cioè di Sopraselva e di Sorset: Che può servire alli Italiani per imparare la lingua Reta facilmente / ed in particolare a‘ Giovani Capucini, che vengono mandati in quelle Partidalla Sacra Congregazione de Propaganda Fidei, ad utile di quell’Anime. Coll. Aggiunta d’un Vocabolario Italiano, e Reto di due lingue Romancie, Disentis: Francesco Antonio Binn, 1729; X, 328 p. ; kl.-4°.
10 Kein Bibliotheksnachweis.