Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (171-3518)

von Theodor Gartner

an Hugo Schuchardt

Bozen

12. 09. 1914

language Deutsch

Schlagwörter: Erster Weltkrieg Gartner, Erich

Zitiervorschlag: Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (171-3518). Bozen, 12. 09. 1914. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9628, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9628.


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Bozen, 12. Sept. 14

Verehrter Freund!

Meine Frau und meine Tochter hatten diesmal Gossensaß zu unserer Sommerfrische ausgewählt, und wir befanden uns dort wohl – als plötzlich der Weltkrieg aufflackerte. Die beiden Frauen eilten noch zur rechten Zeit nach Bozen, weil wir wußten, daß mein Schwiegersohn infolge der Mobilmachung sofort nach Riva in eine militärische Apotheke einrücken mußte und deshalb meine Tochter im Geschäft unentbehrlich sein werde. Ich blieb noch einige Wochen bei den |2| Kleinen und den Mädchen in Gossensaß, kürzlich sind auch wir hierher übergesiedelt. Ich habe nicht aufgehört, meine kleinen Arbeiten zu machen, aber die Gedanken fliegen öfter als sonst darüber hinweg, zu dem großartigen und erschütternden Stück Weltgeschichte, das uns noch zu erleben beschieden ist. Beschieden, nicht gegönnt sage ich; denn wenn wir auch siegen, wie die österr. und mit noch festerer, fast unheimlicher Zuversicht die deutschen Ztgn. voraussagen, so ist doch Leid und Jammer im Übermaß über Europa ausgegossen. Materieller Schaden – davon bin auch ich betroffen –, Tod |3| und Krankheit, ferner der niederdrückende Gedanke, daß uns die hohe Kultur noch immer nicht vor dem männermordenden Krieg und vor tierischen, mehr als tierischen Grausamkeiten schützt. Ich hoffe übrigens, daß die meisten Scheußlichkeiten, die vom Krieg erzählt werden, erfunden sind und nur den kriegerischen Sinn erhöhen sollen. Persönlich kommen wir ganz gut weg. Der Schwiegersohn arbeitet, wie gesagt, gemütlich in der Festungsapotheke zu Riva, meine Frau hilft dem Roten Kreuz Obst dörren und einsieden, ihr Bruder in Pola arbeitet als Pfleger im Lazarett,1Erich,|4| der sein Staatskrüppeltum nicht ertragen konne, bildete sich hier in Bozen als Krankenpfleger aus und versieht nun, nach mehreren vergeblichen Versuchen in die Front zu kommen, in einem Reservistenspital zu Innsbruck Pflegerdienste. Dabei sind wir, alle drei Generationen, vollkommen gesund.

Der Brief ist lang geworden. Nehmen Sie es mir nicht übel und seien Sie versichert, daß ich auch die kürzeste Kartennachricht über Ihr Befinden als Erwiderung dankbarst annehme.

Sie waren so gütig, den Besuch meiner Frau in Graz so freundlich aufzunehmen, sie schließt sich daher meinen herzlichen Grüßen an.

Ihr treuer
Gartner


1 Hermann Veit Graber (1873-1939), Geologe und Mineraloge.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 3518)