Johann Gottlieb Christaller an Hugo Schuchardt (01-01617)

von Johann Gottlieb Christaller

an Hugo Schuchardt

Schorndorf

16. 08. 1882

language Deutsch

Schlagwörter: language Portugiesischlanguage Französischlanguage Englischlanguage Yoruba (Sprache)language Niederländisch Accra Brasilien Jamaika Sierra Leone Liberia Java England Lagos München Oberlaender, Richard (1878) Christaller, J. G. (1874) Brusciotto, Giacinto (1659) Cust, Robert Needham (1878)

Zitiervorschlag: Johann Gottlieb Christaller an Hugo Schuchardt (01-01617). Schorndorf, 16. 08. 1882. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9573, abgerufen am 03. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9573.


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Schorndorf 16/8.82

Hochgeehrter Herr! 1

Auf Ihre Postkarte von gestern erwidere ich:

Von den portugiesisch redenden Mulatten in Whydah (Peta, Weta, Wheta)2 ist mir nichts näheres bekannt, auch weiß ich Sie an niemand, der Auskunft geben könnte, zu weisen. Dr. Stepin’s Bericht in Oberländer’s Westafrika3 wird wol richtig sein.4 In Akrā (Gã, Accra) wohnen auch freigewordene Negersklaven aus Brasilien, deren Stadtviertel, Sprache, Religion (in der Regel mohammedanisch) von den Akranern Tabõn genannt wird, von einem bei ihnen gebräuchlichen Grußwort, welches nach Zimmermann5 „well“ bedeute. Ich suchte es genauer zu erklären, auf S. 468 meines Dictionary6, wie Sie auf mitfolgendem Blatt sehen werden, ebenso die entsprechende Frage, für die mein Negergehilfe kúnìsotâ sagte. Ich bin für Berichtigungen dankbar. Wird bem wie das französische bon gesprochen? Wir hatten od. haben in Akropong einige christl. Negerfamilien aus Jamaica welche von den Tschiern auch Tabõrifo genannt wurden. Nach Zimm[ermann] wird der Name auch auf Sierra Leone Neger übertragen. Unsere Basler Missionshandlungsgesellschaft, gegründet von der Mission befreundeten Privatleuten, deren europ. Agenten nach religiösen u. sittlichen Erfordernissen u. finanzieller Stellung den Charakter von Missionaren tragen, hat solche auch in Akra 7, wie in Christiansborg8, sie werden aber das Portugiesische, das die dortigen Tabõriffoi od. Taboni-tšemi etwa noch reden, kaum zu beurteilen vermögen, u. deswegen schwerlich mit dem erwünschten Erfolg zu Mitteilungen über sie aufgefordert werden können.

Auf Ihren Brief vom 10 Juli.

Daß Sie mir meine Briefe 9so bald zurücksandten that mir leid u. war mir unerwartet; bei dem Ausdruck „in beliebiger Zeitferne“ dachte ich mir etwa die Zeit, wann Ihre Arbeit einmal zu Druck komme u. Sie Ihr Material bei Seite legen können, also in meinen Briefen nichts mehr nachzusehen od. zu benützen haben, wie z. B. die Citate von Stömer, Mourad, Protten10 über das Portugiesische auf der Guinea-Küste.11

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In Sierra Leone war die Adoptierung des Englischen als Landessprache unumgänglich nötig, weil die Regierung englisch ist u. das Volk nicht aus Eingeborenen12, sondern aus befreiten Sklaven von Hunderten von Völkerschaften, Sprachen u. Mundarten bestand.

Wo die Angehörigen eines afrik. Volkes zalreich genug vertreten waren, da pflegten sie auch ihre Heimatsprache, wie z. B das Yoruba, aber für den allgemeinen Verkehr konnte weder dieses, noch das Temne oder Bullom der angrenzenden Eingeborenen an die Stelle des Englischen treten. Auch aus andern benachbarten Negervölkern sind Angehörige in Freetown ansässig geworden, hauptsächlich mohammedanische Neger; diese eignen sich natürlich auch das Negerenglisch der Colonien an, ohne die Sprache oder ihrer Heimat aufzugeben. In Liberia haben die aus Amerika gekommenen Farbigen u. ihre Nachkommen keine andere Sprache als das von Amerika mitgebrachte u. in Liberia weiter gepflegte Englisch; die unter ihnen lebenden in ein Bundes- oder Unterthanenverhältniß eingegangenen ursprünglichen Landesbewohner sind mit den eingewanderten noch nicht eigentlich zu Einem Volk verschmolzen; nur durch Annahme des Christentums u. fortgehenden Unterricht kann das geschehen. Aber so lange die Kru- u. Vai- und andere Neger numerisch stärker sind u. um des der Sprache nach negerischen Hinterlandes willen, wird ihnen das Englische noch lange innerlich fremder bleiben als eine benachbarte Negersprache. Ebenso wird auf der Goldküste die Landessprache in den Familien noch lange fortbestehen, wenn auch die boys noch englisch verstehen und sprechen zu können an der Küste zumal seit die Engländer (1874) eigentliche Landesherren geworden sind, fortwährend im Zunehmen sein sollten. Auch die Mulatten sprechen unter sich u. mit ihren Volksgenossen ihre „Muttersprache“ leichter u. lieber als das Englische; nur in Westindien oder sonst in anderen engl. Besitzungen geborene u. nach der Goldküste gekommene Mulatten verachten die Landessprache u. bedienen sich derselben nicht. Die Befehle u. sonstigen Mitteilungen |3| der engl. Regierung an die ihnen jetzt untergebenen Könige u. ihre Ältesten müssen daher stets gedolmetscht werden. Letzteres ist gewiß auch in Liberia der Fall; aber in Sierra Leone muß von jedem Unterthanen vorausgesetzt werden, daß er das Englische versteht, wenn nicht, so muß man einen Nachbar oder Angehörigen desselben Stammes rufen.

In Elmina13 hat es natürlich, so lange die Holländer dort waren, immer mehr od. weniger Neger gegeben, die Holländisch verstanden u. auch sprachen; aber das Volk im ganzen hat immer Fante gesprochen, eine Mundart des Tschi.14 Die Europäer, u. bes. die Holländer, waren auch nie die Herren des Landes, sondern nur ihrer Forts u. Häuser, u. für die Erlaubniß, da Forts haben erbauen zu dürfen, zalten die Europäer Jahrhunderte lang jeden Monat eine bestimmte Summe, die Engländer nur bis zum Asantenkrieg 1824, die Holländer aber für Elmina bis zur Übergabe an den Engländer 1872, u. zwar an den König von Asante monatl. 2 Unzen Gold. Ja die Engländer versprachen dem König von Asante, der Elmina mit Unrecht als sein ansah, statt 24 Unzen ein Jahresgeschenk von 48 Unzen Gold. Weil trotzdem Asante lieber Krieg begann, u. darin unterlag, fiel die Abgabe auch für Elmina weg. (Die seit Erbauung der Forts geleisteten Zalungen waren nicht ein Tribut, sondern geschahen, um die Könige od. Häuptlinge freundlich gestimmt zu erhalten zum Schutz der Niederlassung u. des Handels, u. die 24 Unzen für das Fort in Elmina wurden auch erklärt „aus dem Verdienste welches sich der König von Asante durch Einführung von schwarzen Rekruten für Java um die Nachbarländer erworben hatte“. (Dr. Gundert Vier Jahre in Asante, Tagebücher der Missionare Ramseyer und Kühne aus der Zeit ihrer Gefangenschaft 2. Aufl. 1875.15) Der Tschi Wortschatz hat sich sich nach den 500 Wörtern von W. J. Müller (cf. meine Gramm. S.VI u. 186 zu urteilen), nicht so sehr verändert, als man hätte denken mögen. (Von der Kongo Language wurde e. lat. Grammatik von 1659 od. 169916? u. ein Kongo French Dictionary in der British Museum Library aufgefunden u. sind beide in Englisch jetzt gedruckt worden.17 Da werden sich auch Vergleichungen anstellen lassen oder über die Veränderungen in der Kongo Sprache seit jener Zeit bis jetzt.)

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17. Aug. – Wegen des Buchs, das Kaufleuten eine Anleitung zum Negerenglischen bietet will ich an einen Agenten unserer Mission in England schreiben, sobald ich dazu komme, an Mr. R. N. Cust18 who intends to publish an account of our existing knowledge of the languages of Africa, zu schreiben. Na[h] der Goldküste habe ich neulich Briefe abgehen lassen, aber leider konnte ich Ihre Fragepunkte wegen des Negerenglischen noch nicht mitschicken, da ich doch (außer dem was ich früher schrieb) noch bes. dazu schreiben muß. Mr. Mann19 schrieb mir kürzlich von Lagos: Dr. Schuchardt hat an mich geschrieben by last mail; by and bye I shall answer him“. Er erwähnt das Wort follo now in use (in Yoruba) for „bricks“; hierfür finde ich in Wollheim da Fonsecas Wörterb. tijolo20.

Nun erlaube ich mir noch „aufs Gerathewohl“ eine Privatangelegenheit zu erwähnen.

Diesen Morgen, als ich eben diesen Brief vollenden wollte, erhielt ich e. Brief von einem meiner Söhne, derzeit in München. Mein ältester studirte in Tübingen Theologie u. bestand das Examen, ist aber durch Kritik u. Philosophie vom Glauben abgekommen u. wollte darum keinen kirchlichen Dienst annehmen, hat sich jetzt der klass. Philologie zugewandt. Mein dritter Sohn studirte 2 Jahre Philosophie u. Philologie in Tübingen, mußte aber voriges Spätjahr ½ Jahr aussetzen, weil er seinem älteren Bruder dessen vegetarianische Lebensweise u. Selbstverköstigung nachmachen wollte, auch nach seines Bruders Abgang (u. a. in entschiedener Abneigung gegen Kneipenluft) keinen geselligen Umgang pflegte u. darob an der Gesundheit Schaden litt. Bei Verwandten in Frankfurt a/M. hat er sich körperlich gut erholt, aber weigert sich, auf das letzte Sommersemester nach Tübingen zurückzukehren, sondern gieng zu seinem Bruder nach München. Nun hat er aber die Mittel nicht, um dort noch 2 volle Jahre Philologie zu studiren, was er in Tübingen gekonnt hätte, hielt sich ohnedies einer größeren Schule als Staatslehrer nicht gewachsen, sondern wünschte, Privatlehrer zu werden, u. hält es nun für‘s gerathenste, sich nach einer Hauslehrerstelle umzusehen. Er wird bis 11. Nov. 21 Jahre, hat gute Kenntnisse u. Betragenszeugnisse, aber noch wenig Lebenserfahrung. Er will jetzt eine Arbeit über Juvenal, die er in Tübingen gemacht u. die von Hrn. Prof. Rhode21 gelobt wurde, zu verwerten suchen. Sollten Sie im Bad oder sonst mit Leuten zusammentreffen, die einen Hauslehrer für alte Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften brauchen könnten, so wäre ich Ihnen für eine Direction in dieser Hinsicht dankbar. Zwei andere Söhne u. eine Tochter machen mir in jeder Beziehung Freude. –

Hochachtungsvollst Ihr ergebenster
J. G. Christaller


1 Die Angaben der Seitenzahlen im HSA können nicht übernommen werden, da die Reihenfolge nicht stimmt und auch Doppelungen vorkommen.

2 Ouidah, Stadt in Benin

3 Richard Oberlaender, Westafrika vom Senegal bis Benguela, Leipzig: Spamer, 31878.

4 Dazu wurden keine näheren Hinweise gefunden.

5 Eberhard August Wilhelm von Zimmermann (1743-1815), Herzogl. Braunschweigischer Hofrat, deutscher Geograph, Anthropologe und Biologe. Unklar, auf welches Werk aus dem umfangreichen Oeuvre sich Christaller hier bezieht.

6 Rev. J. G. Christaller, A dictionary, English, Tshi (Asante), Akra; Tshi [Chwee] comprising as Dialects: Akán (Asànté, Akém, Akupém) and Fànté; Akra [Accra] connected with Adangme; Gold Coast, W. Africa, Basel: Basel Evang. Missionary Society, 1874.

7 Heute meist „Akkra“.

8 Die Christiansborg, auch bekannt als Osu Castle, in Ghanas Hauptstadt Accra ist eine 1652 gebaute Burg an der Küste des Golfs von Guinea.

9 Diese müssen wohl leider als verloren gelten.

10 Christian Protten (1715-1769), Introduction tot he Fante and Accra (Gã) languages, London: Afro-Press, 21971. – Die Arbeiten von Stömer und Mourad konnten nicht identifiziert werden.

11 Offenbar hatte Christaller Schuchardt Material zur Verfügung gestellt, das dieser zurücksandte. Erfreulicherweise hat Schuchardt diese Unterlagen exzerpiert, davon sind 12 Blatt im Nachlass Schuchardts unter 11.2.6.5. als “Exzerpte aus Briefen von Christaller” vom April 1882 erhalten.

12 Die Bullom-Sprache (auch: Mmani, Mandingi) ist eine heute vom Aussterben bedrohte westatlantische Sprache, die im Grenzgebiet zwischen Guinea und Sierra Leone gesprochen wird.

13 Elmina (port. São Jorge da Minha), Stadt im heutigen Ghana (Central Region), Fort mit wechselhafter Geschichte.

14 Fante, auch Fanti, Fannti, Odschi und Fante-Twi (meist als Mfantse ausgesprochen) wird in der „Central Region“ des heutigen Ghana gesprochen.

15 Vgl. jetzt 2. verb. und verm. Aufl., Faks.-Reprint, Saarbrücken: Fines Mundi, ca. 2005.

16 Giacinto Brusciotto, Regulae quaedam pro ... Congensium idiomatis faciliori captu ad Grammaticae normam redactae, Roma 1659.

17 Hiacinto / Giacinto Brusciotto. 1882 [1659]. Grammar of the Congo language as spoken two hundred years ago, and translated from the Latin of Brusciotto. Translated by James Mew, edited by H. Grattan Guiness edn. London: Hodder & Stoughton. 133pp.

18 Robert N. Cust (1821-1905), vgl. HSA 02192-02205. Bei Wolf fälschlich als Robert Curt verzeichnet. - Vgl. sein bei Trübner erschienenes Buch A Sketch of the modern languages of Africa, London: Trübner, 1883.

19 Vgl. Brief 06839 von Mann an Schuchardt.

20 Von ihm ist bibliothekarisch nur ein mehrfach aufgelegtes Diccionario portatil das linguas portugueza e allemã nachweisbar.

21 Verschrieben für Erwin Rohde (1845-1896), Spezialist für griechische Literatur-, Kultur- und Religionsgeschichte; er wechselte nach Leipzig, später nach Heidelberg.

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