Carl Dietrich an Hugo Schuchardt (01-02308)
von Carl Dietrich
an Hugo Schuchardt
03. 08. 1902
Deutsch
Schlagwörter: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Wien) Universität Graz Volapük
Esperanto
Zitiervorschlag: Carl Dietrich an Hugo Schuchardt (01-02308). Dresden, 03. 08. 1902. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9502, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9502.
Dresden, A. Schulgutstr- 1II, 1902, VIII, 3.
Sehr geehrter Herr Professor!
Ihre Karte und das zurückgesendete Buch habe ich soeben erhalten. Die Veranlassung der Zusendung meines Werkes war die fettgedruckte und blau angestrichene Stelle in dem État der „Délégation pour l’ adoption!! d’une langue international[e]: - „L’Académie impériale des Sciences de Vienne a chargé un de ses membres, M. le professeur Hugo Schuchardt, de l’Université de Graz, de suivre le mouvement relatif à la création d’une Langue auxiliaire et de lui en faire rapport à l’occasion“. Ich fasste es als einen Wink des Herrn Prof. Couturat1 auf mit Ihnen in Verbindung zu treten.
Dies zu meiner Entschuldigung für meine Kühnheit Sie belästigt zu haben.
Bei dieser Gelegenheit wollen Sie mir gütigst nachfolgende Erklärung für die richtige Beurtheilung meiner Arbeiten gestatten.
Ich gehöre nicht in die Liste jener Autoren, die eine „Weltsprache“ geschaffen haben. Es fehlen die nötigen Merkmale. Ich habe keine Sprache „geschaffen“, sondern gebe nur „Entwürfe“, „Grundlagen“. Will auch keine Sprache schaffen; - dies muß eine philologische Körperschaft thun.
Ich suche keine Jünger, keine Anhänger; - höchstens Mitarbeiter, wenn sich jene Körperschaft nicht bildet.
Ich habe der Sprache keinen Namen gegeben, weil sie noch nicht existiert; das Wort „Völkerverkehrssprache“ drückt am besten aus, was wir erstreben müssen.
Meine Grundlagen sind nur der Niederschlag meiner Studien der Compromißsprachen. Sie sind nicht gesucht, - sondern erlebt.
Voraussetzungslose Abwägungen waren die Triebfeder.
|2|Also jene Abwägungen, die nicht finden, was sie nach Zweckerwägungen und Rücksichtsnahmen auf eine oder die andere Nationalität finden soll und finden möchte, - - und andern Zwecken dient, sondern was logisch mir das Richtige erschienen ist.
Der Nationalismus ist der Todfeind der Völkerverkehrssprache.
Die philologischen Arbeiten, welche die Völkerverkehrssprache schaffen, müssen sich während der Zeit der Arbeit außerhalb v. Nationen stellen, damit die Frucht der Arbeit für die Gesammtheit der Völker geeignet ist.
Die Kompromißsprachler stehen innerhalb der Nationen. Sie kopieren einfach die oft vieldeutigen natursprachlichen Wörter, schneiden hier ein Stück ab, oder flicken dort ein Stück zu. (cf. Volapük, Esperanto, Idiom „neutral“ (!), Lingua komun …).
Diese Kopierarbeit finde ich unwürdig des hohen Zieles, das wir erstreben.
Die Völkerverkehrssprache darf nicht Flickwerk sein, sondern ein eigener Organismus. Darin unterscheidet sich meine Auffassung von den bereits bestehenden Altdialekten.
Die Kompromißsprachler haben eng begrenzten Horizont; die alten Kulturvölker, – 600 Millionen – ziehen sie nicht [in] betracht. Das ist ein großer Fehler.
Fassen Sie meine Gedanken über Völkerverkehrssprache als schlichte Proletarierkinder auf, die als Bettler geboren seit Jahren auf der Nachtseite des Lebens ein ärmliches, unbeachtetes Dasein führen und nur darauf warten, von Aristokraten des Geistes, – unter Verzichtleistung des eigenen Namens – adoptiert u. ausgearbeitet zu werden.
Mit der Bitte meine Kühnheit zu entschuldigen zeichet sich
Hochachtungsvoll
Ihr ergeb.
CDietrich
1 Louis Couturat (1865-1914), franz. Philosophieprofessor; vgl. HSA 01959-02026.