Conrad Borchling an Hugo Schuchardt (01-01223)
von Conrad Borchling
an Hugo Schuchardt
31. 03. 1910
Deutsch
Schlagwörter: 50. Versammlung deutscher Schulmänner und Philologen (Philologentag) in Graz (1909) Wörter und Sachen Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Polnisch
Niederdeutsch [o. A.] (1910)
Zitiervorschlag: Conrad Borchling an Hugo Schuchardt (01-01223). Emden, 31. 03. 1910. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann und Bernhard Hurch (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9483, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9483.
Emden, den 31. März 1910.
Hochgeehrter Herr Hofrat,
Meine Antwort auf Ihren ausführlichen Brief kommt etwas reichlich spät, aber hoffentlich doch noch nicht spät genug, um Sie zu versichern, dass mir jede, auch nur die geringste Absicht fern gelegen hat, Ihnen durch meinen Grazer Bericht zu nahe zu treten.1
Mir waren die Tatsachen, die ich aus Ihrem Brief und der beigelegten Drucksache erfahren habe, bis dahin völlig unbekannt. Hätte ich davon gewusst, würde ich allerdings das von Ihnen beanstandete Beiwort nicht gebraucht haben. Persönlich stehe ich Herrn Prof. Meringer2|2| nicht nahe, ich habe ihn erst jetzt in Graz kennen gelernt und eigentlich nur wenige Worte mit ihm gewechselt.
Meine näheren österreichischen Freunde wie Zwierzina,3 Jellinek,4 Schatz,5 Walzel6 und Singer7 , haben mir zwar mehrfach von Meringer erzählt, aber niemals diese Angelegenheit erwähnt.8 Wenn ich also von Hause aus auch reiner Wortphilologe bin, so habe ich doch als alter Schüler Moriz Heynes9 die Entwicklung der Sachphilologie immer aufmerksam verfolgt, um so mehr seitdem ich als Docent an der Posener Akademie10 auch die mehr an der Peripherie gelegenen Gebiete der deutschen Philologie in Vorträgen zu behandeln habe und speciell der hier noch sehr brach liegenden Praehistorie näherge- |3| treten bin. Zusammen mit einem jungen Posener Praehistoriker,11 einem Schüler G. Kossinnas12, habe ich die ersten Hefte auch von „Wörter und Sachen“ mit grosser Freude begrüsst und sie eifrig durchgearbeitet. Je länger ich aber an der deutsch-slavischen Grenze sitze, desto mehr kommt doch jetzt das sprachliche Interesse wieder obenauf, die Frage der deutschen Lehnwörter des Polnischen, und im weiteren Sinne der deutschen Lehnwörter des Gesamtwestslawischen, beschäftigt mich jetzt eigentlich mehr als meine ältere Hauptarbeit, die Herausgabe der Niederdeutschen Rechtsquellen Ostfrieslands, und die damit verknüpfte Untersuchung der altfriesischen Reste im ostfriesischen Niederdeutschen. Bei all diesen Arbeiten über Lehnwörter oder sonstige Beziehungen |4| benachbarter Mundarten habe ich aber sehr viel aus Ihren grundlegenden Arbeiten aus parallel gehenden Sprachberührungen gelernt, und ich möchte die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, sehr geehrter Herr Hofrat, Ihnen dafür meinen herzlichen Dank abzustatten. Herr Professor Max Vasmer aus St. Petersburg13, mit dem ich während des Grazer Philologentages14 mein Zimmer im Hotel Florian teilte, hat mir auch über einen Abend berichtet, den er damals in Ihrem Hause zugebracht hat. Wenn ich selber bald wieder einmal nach Graz kommen sollte, würde ich nicht verfehlen, Ihnen persönlich meine Aufwartung zu machen, um mich zu überzeugen, dass Sie mir die unbewusst begangene Schuld nicht weiter nachtragen.
Mit den besten Empfehlungen und Wünschen für Ihr Wohlergehen bin ich, hochgeehrter Herr Hofrat,
Ihr sehr ergebener
Conrad Borchling
1 Schuchardt bezieht sich wohl auf den Vortrag “Die niederdeutschen Elemente in den deutschen Lehnwörtern im Polnischen”, den Borchling im Rahmen der 50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Graz gehalten hat (Vgl. die Verhandlungen dieser Tagung, Teubner, Leipzig 1910, S. 127-132). Was Schuchardt an diesem Beitrag auszusetzen gehabt hat, können wir aufgrund des Fehlens seines Schreibens aus dem Folgenden nur vage erschließen. Wahrscheinlich hat er ihn auf die eigene Bedeutung (im Verhältnis zu Meringer) für die Wörter und Sachen-Diskussion hingewiesen.
2 Rudolf Meringer (1859-1931), Indogermanist u. Sprachwissenschaftler, seit 1899 in Graz.
3 Konrad Zwierzina (1864-1941), österr. Germanist; vgl. HSA 13191-13203.
4 Max Hermann Jellinek (1868-1938), österr. Germanist.
5 Josef Schatz (1871-1950), österr. Altgermanist und Mundartforscher.
6 Oskar Walzel (1864-1944), österr. Germanist und Literaturwissenschaftler.
7 Samuel Singer (1860-948), Schweizer Germanist österr. Herkunft.
8 Zum Streit zwischen Schuchardt und Meringer, der sich an dem Begriffspaar „Wörter und Sachen“ entzündete und immer mehr eskalierte, vgl. z. B. die Heidelberger Hausarbeit (2001) von Thorsten Plath. „Wörter und Sachen – Sachen und Wörter“
9 Moriz / Moritz Heyne (1837-1906), deutscher Germanist in Göttingen.
10 Die Provinz Posen war die letzte preußische Provinz ohne eine Universität; als Kompromißlösung wurde 1903 die Königliche Akademie zu Posen gegründet, die jedoch kein Promotions- bzw. Habilitationsrecht hatte und somit als eine Hochschule minderen Ranges betrachtet wurde
11 Nicht identifiziert. Die zuverlässige Studie von Christoph Schutte, Die Königliche Akademie in Posen (1903-1919), Marburg: Herder-Institut, 2008 , nennt keine Person, auf welche diese Beschreibung passen würde.
12 Gustaf Kossinna (1858-1931), deutscher Prähistoriker und Professor der „Deutschen Archäologie“ an der Universität Berlin.
13 Max Vasmer (1886-1962), deutsch-russischer Slavist; vgl. HSA 12345-12357.
14 50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Graz vom 28. September bis 1. Oktober 1909. (Möglicherweise war Borchling bei dieser Versammlung Schuchardt persönlich begegnet).