Alfred Maximilien Bonnet an Hugo Schuchardt (01-01218)

von Alfred Maximilien Bonnet

an Hugo Schuchardt

Montpellier

04. 07. 1890

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Graz Revue des Langues Romaneslanguage Deutschlanguage Französischlanguage Vulgärlateinlanguage Rumänisch Paris, Gaston Paris Graz Sittl, Karl (1882) Paris, Gaston (1883) Melchior, Luca/Schwägerl-Melchior, Verena (2016)

Zitiervorschlag: Alfred Maximilien Bonnet an Hugo Schuchardt (01-01218). Montpellier, 04. 07. 1890. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.9482, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.9482.


|1|

Montpellier d. 4. Juli 1890

Hochgeehrter Herr Professor

Deutsch oder französisch gilt mir ungefähr gleich, und in jeglicher sprache wäre mir Ihr brief hocherfreulich gewesen. Er war mir einer der werthesten unter den vielen welche ich seit der versendung meines buches erhalten habe.1 Dass ich dies Ihnen gegenüber erst so spät ausspreche hat seinen grund nur darin dass ich die ganze zeit her sehr in anspruch genommen war. Eine reise nach Paris, wo ich in meinen alten tagen noch den französischen doctortitel erwerben musste um nun endlich ordinarius (titulaire) zu werden, und dann das universitätsjubiläum2 hatten den ganzen mai eingenommen, und da war denn im juli viel nachzuholen.

Ich wüsste wohl kaum jemand dessen urtheil über mein buch mir höher stehen müsste als das Ihrige, denn es bleibt auch heute noch bei dem was G. Paris bei gelegenheit von Sittl’s „Verschiedenheiten“3|2| schrieb: le fond de tout ce que nous savons du latin vulgaire est dans le livre de M. Schuchardt.4 Eine hochschätzung die durch Ihre jüngeren schriften nur noch erhöht werden konnte. Daher sollten Sie auch nicht sowohl von „schmeichelhafter berücksichtigung“ derselben meinerseits als von dankbarer benützung reden. Von niemand habe ich in diesen dingen mehr gelernt als von Ihnen. Und so gereicht es mir denn zur höchsten ehre und freude meinen versuch, dessen schwächen mir nur zu wohl bekannt sind, von Ihnen mit so grossem wohlwollen beurtheilt zu sehen. Ganz besonders freut es mich auch dass Sie in dem kapitel über das gallische latein unsere übereinstimmung betonen, denn an dieser konnte ich im grunde nicht zweifeln, und hob es auch s. 31 nur als einen Ihrem sinn nicht entsprechenden ausdruck hervor wenn Sie von „zwei idiomen“ redeten: „M. Schuchardt se laisse entraîner à écrire“, usw. Dass beide extreme, das feinste schriftlatein und das ungebildetste des niederen poebels, namentlich des national gemischten, sehr, sehr weit aus einander stehen ist auch |3| meine überzeugung. Und auch was die zeit betrifft kann ich mir ja nicht verhehlen dass sehr vieles was im romanischen allgemeine geltung gewonnen hat gelegentlich schon hier und da sehr frühe erscheint. Wogegen ich zu polemisiren meinte war nur die darstellung der sache als ob diese verschiedenen züge schon lange vor untergang des römerreichs zu einer besonderen in sich abgegränzten sprache vereinigt gewesen wären aus welcher sie da wo wir sie beobachten gewissermaassen entlehnt wären. Ich denke mir eine solche zusammenfassung alles dessen was man als vulgär zu bezeichnen pflegt zu einer wirklich herrschenden sprache (auch immer noch mit abstufungen, aber unendlich viel wenigeren) kann man sich eben durch das rasche sinken und fast völlige verschwinden aller litterarischen bildung seit ende des 6ten, namentlich aber im 7ten u. 8n jh. erklären. Doch verhehle ich mir nicht dass mir namentlich in dieser frage meine höchst ungenügende kenntniss des romanischen sprachbestandes grosse schwierigkeiten bereitet, und namentlich was Sie in Ihrem briefe von der frühen lostrennung des rumaenischen bemerken |4| von mir bis jetzt nicht genug in betracht gezogen sein mag. Noch will ich nicht versäumen für den nachweis des Ascolischen aufsatzes über keltische einflüsse5 zu danken.

Was Sie in bezug auf unser jubilaeum6 auch mit für meinen lieben collegen und nachbarn Chabaneau7 schrieben habe ich ihm, sowie Ihren ganzen werthen brief, sogleich mitgetheilt. Er lässt Ihnen bestens danken und Sie vielmals grüssen. Ihr ausbleiben hatte er und hatten wir alle sehr bedauert, die wir von ihrem früheren besuche die angenehmste erinnerung behalten hatten.8 Sehr freundlich war aber Ihre absicht eine adresse der universität Graz an die von Montpellier zu veranlassen. Ob Graz eingeladen worden weiss ich wirklich nicht, diese ganze sache ist hoch über unsere köpfe weg verhandelt worden, und sehr zum missfallen der meisten. Theils aus besorgnis einer zu grossen zahl von delegirten nicht einen hinreichend würdigen empfang bereiten zu können, theils aus anderen meines erachtens höchst verkehrten rücksichten wurde beschlossen aus jedem lande nur eine gewisse anzahl von universitaeten |5| einzuladen. Die wahl war natürlich schwer zu treffen und konnte nur unbefriedigend ausfallen. Jedenfalls aber war Ihr gedanke und die bereitwilligkeit Ihrer collegen auf denselben einzugehen höchst liebenswürdig und ist auch von den hiesigen collegen denen ich gelegenheit hatte davon zu sagen, so empfunden worden.

Die alte frau Chabaneau lebt noch, und man muss dem freunde wünschen dass sie ihm noch lange erhalten bleibe, denn er hängt mit ganzer seele an ihr und wird sich nicht darein zu finden wissen wenn sie ihm einmal fehlen wird.9

Die Revue des langues romanes ist allerdings sehr verspätet. Demnächst wird erst das januar-märzheft erscheinen. Dann wird die versäumniss manchmal schnell wieder eingeholt, eben durch ausgabe von mehreren heften auf einmal.

Mit vorzüglicher hochachtung

Ihr ergebenster

MBonnet


1 Bonnet, Le Latin de Grégoire de Tours, Paris: Hachette, 1890, 787 S.

2 Die Univesität Montpellier feierte in diesem Jahr ihr 600jähriges Bestehen.

3 Karl Sittl, Die lokalen Verschiedenheiten der lateinischen Sprache mit besonderer Berücksichtigung des afrikanischen Lateins, Erlangen: Deichert, 1882.

4 Gaston Paris, Romania 12, no. 45 (1883): 118-120.

5 Ascoli, Riv. di filologia, X (1881), p. 1ff.

6 Die Universität Montpellier konnte im Jahr 1890 ihr 600jähriges Jubiläum feiern.

7 Camille Chabaneau (1831-1908), franz. Romanist, erhielt 1878 einen Lehrstuhl an der Universität Montpellier, den er 25 Jahre bekleidete. Vgl. HSA 01603-01606.

8 Vgl. Luca Melchior / Verena Schwägerl-Melchior, “« Un félibre autrichien » : quelques remarques sur Hugo Schuchardt et le pays d’oc, accompagnées d’une nouvelle édition de sa correspondance avec Fréderic Mistral”, Revue des langues romanes, Tome CXX N°2 | 2016, 517-550.

9 Chabaneaus Mutter wurde 97 Jahre alt; vgl. Henri Teulié, „Camille Chabaneau (1831-1908), note biographique“, Annales du Midi 1909, 266-270, hier S. 269.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 01218)